Mallorquinische Strafe - Lilly Alonso - E-Book

Mallorquinische Strafe E-Book

Lilly Alonso

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Beschreibung

Die Guardia Civil auf ungewohntem Terrain: Eine Mordserie hält die gemütliche Inselpolizei auf Trab

Es geht vergnüglich zu auf Mallorca: Beim Es Firó, dem wichtigsten traditionellen Fest, wird ausgelassen die Inselgeschichte zelebriert. Im lauschigen Hafen von Sóller, zwischen azurblauem Meer und majestätischem Tramuntana-Gebirge, stürzen sich die Sóllerics, in historischer Verkleidung und bewaffnet mit Holzschwertern, ins Getümmel. Etwas schrullig ist das schon, aber so sind sie hier eben. Sargento Lluc Casasnovas liebt das jährliche Spektakel. Umso ärgerlicher, dass genau dort eine Leiche gefunden wird. Auch Llucs Kollegin Fina ist ratlos. Wer ermordet jemanden in einem Schaukampf? Die Lösung des Falls reicht tief in die mallorquinische Geschichte zurück. Und die Guardia Civil muss sich beeilen, denn bei einem Opfer bleibt es nicht.

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Seitenzahl: 383

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Das Buch

Auf der paradiesischen Insel wird gern gefeiert: Am traumhaften Strand des kleinen Örtchens Sóller auf Mallorca, wo zahlreiche kleine Boote auf azurblauem Wasser vor sich hin schaukeln, feiern die Sóllerics ausgelassen eines der größten Feste des Jahres. Auf dem Es Firó wird das Schlüsselereignis der mallorquinischen Identität aus dem 16. Jahrhundert originalgetreu nachgestellt: die auf der Insel einfallenden Freibeuter gegen die mutigen Bäuerinnen von Sóller. Auch dieses Jahr sind wieder alle Bewohner*innen begeistert dabei – samt Verkleidung, Holzschwertern und Plastiksäbeln. Doch eine der Waffen ist keine Attrappe: Während des Spektakels wird ein Mann erstochen am Strand gefunden. Ein Unfall? Sargento Lluc Casasnovas und seine Kollegin Fina Garcia von der Guardia Civil schauen sich den Fall näher an, der schnell größere Kreise zieht als befürchtet. Und es bleibt nicht bei einem Opfer …

Die Autorin

Geboren und aufgewachsen in Hannover, hat Lilly Alonso in Berlin studiert und gelebt, bis die Liebe sie schließlich nach Mallorca geführt hat. Hier genießt sie seit fast 20 Jahren das Inselleben, arbeitet als Zahnärztin, beobachtet Land und Leute und schreibt Krimis.

LILLY ALONSO

MALLORQUINISCHE STRAFE

KRIMINALROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ingola Lammers

Covergestaltung: zero-media.net unter Verwendung von Getty Images/Holger Leue

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27406-1V002

www.heyne.de

Für Lula

1

11. Mai 1561, Finca Can Tamany, Sóller

Der Kuchen war der zündende Auslöser für die Ereignisse, die Jahrhunderte später in den Geschichtsbüchern verewigt werden sollten. Weder die drohende Gefahr, gewaltsam entehrt zu werden, noch die Aussicht, die letzten Momente dieses bedauernswerten Daseins zu erleben, hatten es vermocht, jene erstaunlichen Kräfte zu mobilisieren.

Vor Raub fürchtete sich Catalina Casasnovas nicht. Wer kaum etwas besaß, hatte wenig zu verlieren. Außer ihrer Würde. Und dem nackten Leben.

Die frühe Morgensonne arbeitete sich über die hohen Gipfel der Tramuntana und warf dämmriges Licht durch die schmalen Fenster des Erdgeschosses der Sandsteinfinca.

Catalina lehnte sich gegen das verwitterte Holz des Esstisches in der Küchenstube und starrte auf den unförmigen Teigberg vor sich: in drei Tagen erhungert, in einer Stunde zubereitet.

Der Duft nach frisch Gebackenem hing in der Luft und versprach mehr, als das armselige Gebilde hergab. Es hatte Catalina Mühe gekostet, die spärlichen Zutaten in eine ansehnliche Form zu bringen. Die letzte Tasse Johannisbrotkernmehl und ein im Tausch für eine Näharbeit ergattertes Ei hatten letztlich die Masse verdickt, sodass sie nun auf einem Tonteller abkühlen konnte.

Es gab nie genug Nahrung, und zu mehr hatte es nicht gereicht. Doch angesichts der Ereignisse dieser Nacht war es absurd, sich über Kuchen den Kopf zu zerbrechen.

Catalina schloss die Augen in der vergeblichen Hoffnung, nach dem Öffnen aus dem Nachtmahr zu erwachen. Doch die Wirklichkeit löste sich nicht einfach auf. Dreiundzwanzig vor Anker liegende Piratengaleeren in der Bucht von Sóller! Die Korsaren hatten tatsächlich in dieser Nacht angegriffen.

Die Alarmglocken, die Capitán Angelats auf der Dorfplaza geläutet hatte, waren bis hier draußen zu hören gewesen und hatten Catalina und ihre Schwester Francisca aus dem Tiefschlaf gerissen.

Sie betastete die brennende Schürfwunde am Ellenbogen, die sie sich vor Schreck beim Stolpern über die Bettpfanne zugezogen hatte.

Zwar war die Warnung eines geplanten Großangriffs schon vor Tagen angekommen – gebenedeit seien die mallorquinischen Spione im Mittelmeer. Dennoch hatte man in Sóller der Dinge geharrt und im Stillen gehofft, wenigstens dieses Mal verschont zu bleiben. Schließlich gab es andere wohlhabende Häfen wie Andratx oder Pollença.

Catalina seufzte. Hoffnung, das Elixier der Träumer.

Während sie hier ihren Geist mit Kuchenbacken vor der Hysterie bewahrte, kämpften die Sóllerics draußen am Strand um ihrer aller Leben. Glücklicherweise hatten die Männer des Ortes gleich nach der Warnung ein Heer formiert und den vermaledeiten Piraten die Überraschung verdorben. Doch würden sie es schaffen, die Angreifer in die Flucht zu schlagen?

Dreiundzwanzig Galeeren … Ihre Gedanken sprangen sofort zu Juan, und die Angst griff mit kalten Fingern nach ihrem Herzen. Im Stillen bat sie dessen Santo, den heiligen Johannes, in der anstehenden Schlacht seine schützende Hand über ihren Bruder zu halten. Nach kurzem Zögern bekreuzigte sie sich. Schaden konnte es nicht.

Von Catalinas Mangel an Glauben ahnte außer ihren Geschwistern niemand etwas. Die Inquisitoren zu der langen Liste ihrer Misslichkeiten hinzuzufügen, fehlte zu ihrem Glück wie die Beulenpest. Dem Himmel war es gewiss egal. Verlorene Tochter und der ganze Kramanz … Gott sei gnädig, hieß es.

Himmel und Erde verbündeten sich dieser Tage, um die Menschen mit geeinter Härte zu bestrafen. Der letzte Starkregen lag seit Allerheiligen zurück, und die resultierende Dürre machte das Angebot der Marktstände spärlicher, die schmalen Antlitze der Leute knochiger und die Schultern gebeugter. Als reichte das nicht aus, spielte das Leben ihnen noch mit niederträchtigen Piratenangriffen übel mit.

Catalina richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Ergebnis ihrer Backkunst. Wenn Francisca schon das Pech hatte, an diesem schwarzen Tag volljährig zu werden, sollte sie wenigstens einen Geburtstagskuchen bekommen. Seitdem ein hohes Fieber die Eltern im letzten Winter dahingerafft hatte, fühlte Catalina sich verantwortlich für ihre Schwester, obwohl Francisca zwei Jahre älter war. Sie lächelte zum ersten Mal an diesem Tag, entfernte mit den Zähnen die klebrigen Krümelreste unter ihren Fingernägeln und ließ sie auf der Zunge zergehen. Ihr durch den ständigen Hunger geschrumpfter Bauch reagierte sofort mit einem Knurren auf die charakteristische Süße der gemahlenen Johannisbrotschoten.

Im ersten Stock fiel etwas mit lautem Poltern zu Boden. Ein Aufschrei folgte.

Catalinas Herz machte einen Satz. »Francisca?«, rief sie besorgt in das obere Geschoss hinauf.

»Alles in Ordnung.« Am Treppensatz erschien das Antlitz ihrer Freundin María, kugelrund im Gegensatz zu Catalinas hohlwangigem – ein Resultat der letzten Monate im Dienste der Gräfin de Falcó, deren Mägde selten Hunger litten. Wie die anderen Frauen Sóllers, die außerhalb des Dorfs und in den Bergen vor dem Angriff Unterschlupf gesucht hatten, war María vor zwei Tagen in die abgelegene Finca der Casasnovas-Schwestern geflüchtet.

Catalina presste die Hand auf ihren Brustkorb, bis ihr Herz in den gewohnten Takt zurückfand. Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen ruhigen Ton zu verleihen. »Franciscas Überraschung ist gleich fertig, ihr könnt bald runterkommen.«

María musterte sie einen Augenblick und schien Catalinas aufgesetzte Zuversicht zu durchschauen. »Es wird alles gut, meine Liebe. Wir werden diese Barbaren schlagen.« Ihre Worte klangen überzeugt.

»Und wenn nicht?« Catalina schluckte hart. Dies war der größte Überfall, den die Insel bisher erfahren hatte, und es gab nur zwei Alternativen für Sóller: Triumph oder Untergang. Die Auslöschung ihres Dorfes.

»Fünfhundert Männer. Das ist ein beachtliches Heer. Nicht eingerechnet die Verstärkung der hundert Burschen aus Bunyola und der Bandoleros aus den Bergen.«

»Bandoleros.« Catalina schnaubte. »Wer hätte gedacht, dass selbst Banditen einen Funken Anstand und Ehre besitzen.« Dennoch setzte sie auf die Straßenräuber, denn sie verfügten als Einzige über Gerissenheit und Kampferfahrung. »Aber da draußen liegen dreiundzwanzig Schiffe. Ich schätze über tausendfünfhundert Piraten.«

María zuckte unbeeindruckt die Schultern. »Die haben erwartet, ein unvorbereitetes Dorf im Schlaf zu überraschen. Wir sind im Heimvorteil. Sie kennen unsere Berge nicht.«

Catalina seufzte. Sie hatten diese Gedankenschleife allstündlich durchgespielt. »Es bleibt uns nichts anderes, als abzuwarten. Wie weit seid ihr?«

»Wir haben es endlich geschafft, den Stein aus der Wand zu lösen. Dabei ist er mir leider auf den Fuß gefallen.«

Catalina nickte halbherzig, die Sorge um die Schlacht ließ sich nicht einfach abschütteln. »Und?«

»Man muss gezielt danach suchen, um es zu entdecken.«

Bei ihnen würde niemand etwas Wertvolles vermuten. »Beschäftige Francisca noch ein paar Minuten. Der Kuchen ist fast so weit.«

María nickte und verschwand im oberen Stockwerk.

Gedankenverloren starrte Catalina auf den Holztisch, wo ihr Finger durch die Krümelansammlung um das Gebäck fuhr und ein M hineinzeichnete. M für Molt anys – Glückwünsche zum Geburtstag.

Ihre Lese- und Schreibfähigkeiten gehörten ebenfalls zu den Kenntnissen, die es in Aussicht auf eine problemlose Zukunft zu verbergen galt. Statt über Gott hatte Catalina sich von den Mönchen über die Schriftkunst belehren lassen und diesen Gefallen mit kleinen Näharbeiten vergütet.

Lesen und Schreiben schickte sich nicht für eine Frau, pflegte Juan zu sagen. So würde sie niemals einen Ehemann finden. Als ob die Fähigkeit, drei zusammenhängende Linien in den Staub zu zeichnen und ihnen einen Sinn zu entlocken, der Niederkunft eines Säuglings im Wege stünde.

Das altbekannte Zündeln des Ärgers loderte in ihr auf. Ungerechtigkeit schmeckte nach saurem Wein. Die Abhilfe für solche Momente stand griffbereit. Catalina trank einen Schluck aus dem Wasserkübel und löschte ihre Wut, bevor sie das Denken verhinderte und die Vernunft in Dunkelheit versenkte. Denn von der Leine gelassen, führte dieses Ungetüm, das sie in sich trug, wahrlich zu unziemlichem Benehmen.

Es hieß, es sei ein Erbe der Alcovers, der mütterlichen Seite ihrer Familie, die diesen Zug schmeichelhaft carácter nannten, obwohl Jähzorn es präziser traf. Muhme Eugenia besaß ihn, deren sanftmütiger Mann eines windstillen Tags friedlichere Gewässer gesucht hatte und nach dem Fischen auf spiegelglatter See nicht zu seiner Frau zurückgekehrt war. Auch Oheim Jaimes lautstarke Weigerung, den Gesandten des Königs drei Säcke Getreide abzutreten, wurzelte in dieser Wut. Cojones hatte er besessen, der gute Jaime – wenn auch danach kein Haupt mehr.

Catalina wischte sich die feuchten Hände an der Schürze über ihren schweren Leinenröcken ab, die ursprüngliche Farbe des Stoffs war vom häufigen Waschen und Flicken bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Nachdenklich betrachtete sie den Kuchen. Eingefallen, trocken und krustig wie das Gemüsefeld hinter dem Haus.

Während sie mit dem Reisigbesen letzte Erdklumpen vom Lehmboden entfernte, durchquerte Catalina die L-förmige Stube zum Eingangsportal. Sie schob den schweren Riegel zurück und zog den massiven Holzbalken aus den Haltehaken. Eine Blume würde das Gebäck gebührlich verzieren und die hässlichsten Dellen verbergen.

Kühle Morgenluft schlug ihr entgegen, als sie in den von Oliven- und Orangenbäumen bewachsenen Garten trat. Auch an diesem Morgen folgte sie dem Ritual, das Panorama der Tramuntana in sich aufzunehmen, das sich vor ihrer Haustür entfaltete: Eine kolossale Wand aus grünen Bergen kesselte das Tal ein und trennte Sóller vom Rest der Insel, wo Catalina noch nie gewesen war. Doch die beruhigende Naturgewalt vermochte sich nicht gegen die vibrierende Unruhe dieses Tages durchzusetzen, die sich wie ein Vorbote des Unheils über Catalinas Gemüt gelegt hatte.

Ein Sonnenstrahl zwängte sich zwischen den Gipfeln des L’Ofre und des Teix, brachte glühendes Leben ins Lila der hüfthohen Lavendelsträucher und brach sich im Tau der Zitronenblätter. Die Früchte waren noch unreif, eine letzte weiße Blüte klemmte zwischen zwei grünen Zitrusknollen. Ohne die feinen Blätter zu beschädigen, pflückte Catalina sie vorsichtig und verstaute sie in ihrer Schürzentasche.

Ihr Blick streifte das ordentlich gestapelte Brennholz unter dem Feigenbaum, das Juan vor seinem Weggang für seine Schwestern gehackt hatte. Tränen schossen Catalina in die Augen, die sie geflissentlich fortblinzelte. Entschlossen lud sie sich einen Armvoll Scheite auf und lief zum Haus zurück. Sie quetschte sich durch das offene Eingangsportal, drückte mit der Fußspitze die Tür zu und warf das Holz neben die Feuerstelle.

Vorsichtig befreite Catalina die nun leicht zerquetschte Blüte aus den Tiefen ihrer Leinenschürze und drapierte sie auf die dickste Delle des Kuchens. In Erwartung des zarten jasminähnlichen Duftes beugte sie sich über das Gebäck und sog die Luft ein.

Ihr Kopf schoss in die Höhe.

Catalina rümpfte die Nase, schnupperte nach dem unverkennbar sauren Geruch, der sich wie eine Wolke in der Stube ausbreitete: stechender Männerschweiß.

Sie schreckte auf, doch in dem Schenkel des Raumes, den die kleine Küche einnahm, war niemand. Zwei Schritte weiter konnte sie den rechtwinklig zulaufenden Teil der Stube einsehen. Ihr Blick flog zur Eingangstür und fiel auf die blank polierte Klinge eines erhobenen Säbels. Der Pirat war unbemerkt eingedrungen, kein Geräusch hatte sein Kommen angekündigt. Lautlos und hinterrücks, wie es sich für eine Kreatur der Hölle gehörte.

Die Sekunde gefror in eine Ewigkeit, in der nur das Rasen ihres Pulses und das gespiegelte Morgenlicht auf der Waffe existierten. Catalinas Herz löste die Erstarrung, als es ihr in die schweren Leinenunterröcke rutschte.

Der Mann hatte ihr seinen mächtigen Rücken zugewandt und sah sich im Eingangsbereich um, sein erhobener Säbel vor ihm, als würde er Licht spenden. Das ärmellose graue Obergewand entblößte schweißglänzende Arme, dick wie Ibérico-Schinkenkeulen. Ein um den Kopf gebundenes rotseidenes Tuch verbarg sein Haar und betonte die güldenen Kreolen an seinen Ohrläppchen.

Der vermaledeite Kuchen, dachte Catalina und zog sich leise in die Küchenecke zurück, die den kürzeren Schenkel des L-förmigen Raumes bildete. Sie hatte vergessen, mit dem Balken die Tür zu versperren, nachdem sie aus dem Garten zurückgekehrt war.

Mögliche Szenarien spulten sich in ihrem Kopf ab. Der Tod war ihnen gewiss. Es stellte sich nur die Frage, wie viele Grenzpunkte der Hölle sie vorher passieren musste: geschändet, entehrt, als Sklavin verschleppt zu werden? Catalina wagte es, leise auszuatmen, obwohl ihr wummernder Herzschlag sie sicherlich schon verraten hatte.

Auf Zehenspitzen schlich sie zum Wandvorsprung, der ihnen für die Lagerung der nun leeren Getreidesäcke und Gemüsekisten diente, und duckte sich hinter den Leinenvorhang. Ein sinnloses Unterfangen, sie würden alle qualvoll sterben, durch ihre Schuld.

Die Schritte des Piraten klackten auf der schmalen Steinbodenstufe in der Stube und kamen bedrohlich näher.

Catalina kauerte sich in ihrem Versteck zusammen, froh über die verwaschene Farbe ihrer zerschlissenen Kleidung, die mit den Getreidesäcken ununterscheidbar zu einem einzigen Stoffmeer verschmolz. Blieb sie unentdeckt, bestand eine kleine Chance, dass der Pirat zu vielversprechenderen Orten ins Dorf weiterzog. Hier gab es nichts zu holen. Sie sandte eine stumme Botschaft zur Decke. Hoffentlich hielten Francisca und María oben still.

Die Schritte verstummten vollständig. Falls der Korsar sich rührte, geschah es wieder lautlos. Oder der Himmel hatte Catalina in einer seltenen Geste der Gnade erhört und den Mann zum Verschwinden bewogen.

Durch den Riss eines Mottenlochs im Vorhang spähte sie in die Küche.

Der Himmel schien noch immer taub für ihre Gebete zu sein, denn der Pirat stand nun in ihrem direkten Blickfeld. Das Ausmaß seines Körpers stockte ihr den Atem. Sie hatte nicht geahnt, dass es so hochgewachsene Menschen gab: größer als die goldverzierte Jesusstatue in der Kirche, die mittig hinter dem Altar türmend ihren mahnenden Finger erhob und niemanden in der Gemeinde im Zweifel ließ, dass Gehorsam der Weg und das Ziel war.

Der Barbar war beinahe vier Ellen groß, denn beim Passieren unter dem Querbalken vor der Steinspüle musste er den Kopf einziehen. Catalina schätzte Juans Junggessellenbett als zu schmal ein, um als Ruhestätte für diese Schultern zu dienen, über die sich das schmutzige Obergewand spannte.

Sie duckte sich tiefer hinter den Vorhang.

Der Pirat hob das Schwert und fuhr durch die aufgereihten Kräutersäckchen auf der Ablage über der Feuerstelle. Eine Wolke aus getrocknetem Oregano, Minze und Rosmarin tanzte durch die Luft.

Doch es war der Ring, der Catalinas Blick einfing: ein walnussgroßer grüner Stein in goldener Fassung, der am Mittelfinger der rechten Hand funkelte. Sie versuchte zu schlucken, doch ihr trockener Mund klebte die Zunge an ihren Gaumen.

Heilige Muttergottes.

Als Catalinas Herz für einen Moment sein Wummern aussetzte, durchströmte sie Dankbarkeit, auf sanfte Art vom befreienden Tod heimgesucht zu werden. Denn so bliebe ihr das fürchterliche Geschehen erspart, das so sicher folgen würde wie die Sonne der Erde. Doch das trügerische Ding schlug einfach weiter.

Ein Riese. Der Ring. Die Legende. Es bestand kein Zweifel, um wen es sich bei diesem Mann in ihrer Küche handelte: der Protagonist der Schreckensgeschichten, die man Kindern erzählte, um sie gefügig zu machen. Die Bestie im Kleiderschrank. Der fleischgewordene Gehörnte, dessen Gräueltaten das gesamte Mittelmeer fürchtete.

Catalina sah sich in ihrem Versteck um, auf der Suche nach einer Waffe, um sie im Notfall gegen sich selbst zu richten. Gegen diesen Koloss konnte sogar ein Messer nichts bewirken.

Trotz vielfältiger Charakterschwächen rechtfertigte keine von Catalinas Sünden, ausgerechnet von diesem Piraten heimgesucht zu werden.

Sein Ruf eilte ihm voraus. Lang war die Reihe seiner geschändeten Opfer, die bei vollem Bewusstsein Zeuge der Verstümmelung ihres Leibes geworden waren, verrichtet von dieser Hand, an der der Estrella del Este, der Stern des Ostens, harmlos funkelte. Der Überlieferung zufolge hatte der Ring Hannibal dem Karthager persönlich gehört und verlieh dem Träger Unverwundbarkeit.

Catalinas Lid zitterte, als ihr Auge das Mottenloch aufsuchte, um den Piraten im Blick zu behalten.

Der Mann wandte sich um und sah auf den Tisch.

Eine fleischige Narbe entlang der Unterkante des Kinns beherrschte das sonnengegerbte Gesicht. Die mit dunklem Kohlestift umrandeten Augen leuchteten im Bernsteinton einer Raubkatze.

Sein Name hing drohend über dem Mittelmeer wie ein nahender Wintersturm: Kiliç. Das Schwert. Ausführende Hand des Piratenhauptmanns Uluç Alis.

Wenn sie genug Geschrei verursachte und Kiliç vom ersten Stockwerk ablenkte, konnten Francisca und María aufs Dach klettern und von dort über die Wipfel der Steineichen in den Wald flüchten.

Catalina atmete tief aus. Gefeit für den Tod. Ihr Körper spannte sich, bereit zum Sprung aus dem Verschlag.

Ein schmatzendes Geräusch ließ sie innehalten. Kiliç hatte den Kuchen entdeckt. Seine suppentellergroße Pranke griff in das Gebäck und brach ein Stück heraus. Es zerbröselte zwischen seinen Fingern, als er den Teigbrocken zum Mund führte. Der Seeräuber kaute zweimal, hielt inne, verzog das Gesicht und spuckte die Masse angewidert aus. In abfälliger Geste wischte er den Rest des Kuchens vom Tisch, wo er sich auf dem Lehmboden verteilte.

Catalina starrte auf den traurigen Haufen. Das Bild brannte sich in ihren Kopf.

In drei Tagen erhungert. In einer Stunde zubereitet. In einer achtlosen Sekunde zerstört.

Etwas in ihrem Geist zerbrach. Wut regte sich erneut in ihrem Bauch, nur war dieses Mal das rettende Wasser nicht zur Hand. Catalinas Kehle entflammte, als der Ärger ihren Hals hinaufpeitschte. Der gefürchtete rote Schleier legte sich über ihre Gedanken, bedeckte ihre lähmende Angst. Ein letzter Blick zum Wasserkübel– doch das Gefäß stand direkt neben dem Piraten.

Aus dem oberen Stock ertönte ein ersticktes Geräusch. Noch bevor Catalina über dessen Ursprung sinnieren konnte, versank es schon in dem Rauschen des Zorns in ihren Ohren. Die Glut loderte auf und erfüllte ihren Leib mit summender Vibration. Fast wie Musik.

Kiliç schnellte geräuschlos herum, wandte sich zur Treppe und spähte in die obere Etage hinauf. Sie hätten ihn besser La Sombra, den Schatten, nennen sollen, so still und unbemerkt waren seine Bewegungen.

Der grobmaschige rote Schleier vor Catalinas Augen verdichtete sich, selbst die Angst um Francisca vermochte ihn nicht zu lichten.

Nach einem letzten Blick auf die braune Masse des Kuchens, jämmerlich verteilt auf dem Boden, verließ sie ihr Versteck. Auf leisen Sohlen, traumberückt wie eine Mondsüchtige, schlich sie die Wand entlang zur Tür. Die Oberfläche des Holzbalkens war warm und weich und schien in ihrer Hand nicht mehr zu wiegen als ein Weidenstab.

An die Schritte bis zur Treppe erinnerte Catalina sich nicht mehr.

Die Zeit stand still. Eine Sekunde? Oder waren es zehn?

Kiliç hatte seinen Fuß auf die erste Stufe gesetzt und blickte am Geländer vorbei in die Dunkelheit des oberen Stockwerks. Sein Rücken türmte sich bedrohlich und unüberwindbar vor Catalina auf.

Kraftvoll holte sie aus. Ihr Schlag zerteilte pfeifend die Luft, befeuert von den Ungerechtigkeiten des Daseins: dem jämmerlichen Teighaufen auf dem Boden, Sinnbild ihrer kargen Versuche, das Beste aus dem gegebenen Moment zu machen. Von jedem unausgesprochenen Wort, das sie wegen Unschicklichkeit geschluckt hatte. Dem Kneifen ihres Bauchs vor Hunger und dem unaufhörlichen Kratzen der billigen Wolle ihrer Strümpfe.

Catalinas Schrei mischte sich mit dem Laut, der nach berstender Wassermelone klang. Der Schleier vor ihren Augen verdichtete sich, umschloss Zeit und Raum und sog alles in sich auf.

Als er sich wieder hob und eine klare Sicht erlaubte, starrten ihr auf dem Treppenabsatz die entsetzten Antlitze Marías und Franciscas entgegen.

Benommen lenkte Catalina ihre Aufmerksamkeit auf den schweren Körper des Piraten, der ausgestreckt auf der Treppe lag. Sein Hinterkopf hatte eine neue Form angenommen, wo eine tiefe Beule sich unter dem seidigen Tuch senkte. Ein rotes Rinnsal lief seinen Hals hinab und sammelte sich in dem unebenen Relief der Steinstufen.

»Heilige Muttergottes.« Der Ausruf ertönte wie ein Echo, aus welchem Munde vermochte Catalina nicht zu sagen, vielleicht aus allen dreien.

Der gefürchtetste Pirat des Mittelmeers, niedergestreckt von einer halb verhungerten Bäuerin.

In Catalinas Kopf erklang ein irres Gelächter, das sich auf ihre Stimmbänder übertragen haben musste, denn sie erntete befremdete Blicke der anderen zwei Frauen.

Laute Männerstimmen aus dem Garten rissen sie aus ihrer Erstarrung.

María sprang die Stufen hinab und eilte zur hinteren Fensternische neben dem Spülstein. »Da draußen ist eine ganze Mannschaft.«

»Schnell. Legt den Riegel vor«, befahl Catalina.

María und Francisca hoben den Balken von der Treppe, rannten zur Tür und versperrten das Eingangsportal. Ein Ende des Holzes schimmerte dunkel und feucht.

Kaum war der Pfosten in der Vorrichtung eingerastet, zog jemand von außen an der Tür und versuchte, sich rüttelnd Einlass zu verschaffen. Doch der alte Riegel hielt.

»Was sollen wir denn jetzt bloß tun?«, erklang Marías Stimme schrill.

Catalinas Gedanken rasten. »Helft mir, ihn hochzuziehen«, sagte sie und wies mit dem Kinn aufs obere Stockwerk.

Selbst mit vereinten Kräften gelang es ihnen kaum, den Koloss die Treppe hinaufzubefördern. In dem Land, aus dem der Korsar stammte, schienen weder Entbehrung noch Hunger zu herrschen, die Mallorca seit vielen Jahren unterjochten.

María hatte sich in ein heulendes Wrack verwandelt, ein sinkendes Schiff, das mit Hingabe dem unausweichlichen Untergang entgegensah, während Francisca benommen und stumm die Befehle ihrer Schwester ausführte.

Eisige Ruhe legte sich über Catalinas aufgewühlten Geist. »Zum Fenster.«

Francisca öffnete die hölzernen Fensterläden. Unten im Hof hatte sich eine Horde Piraten versammelt, ein Bataillon des Bösen. Bunte Kopftücher und pluderige Beinkleider leuchteten rot, gülden und tiefblau im lehmigen Garten wie Gewächse der Hölle. Das alte Holzportal hielt noch immer dem Schulterrammen und den Fausthieben stand. Doch wie lange noch?

»Es sind so viele … Hat das ganze Piratenheer den Umweg über diese Finca genommen?«, kreischte María beim Anblick der zahlreichen Männer.

»Raus mit ihm.« Catalina zog an Kiliçs unbeweglicher Schulter.

Francisca erwachte blinzelnd aus ihrer Entrückung: »Das ist unmöglich. Er passt niemals durch den Rahmen.«

Catalina ignorierte ihre Schwester und ergriff den Mann unter den Achseln. Feucht, klebrig und warm – die Berührung seiner Haut ließ sie erschaudern. Doch der Oberkörper war zu mächtig.

»Die Beine zuerst. Schnell.«

Im Erdgeschoss verstärkte sich das Hämmern, als würde sich die ganze Piratenhorde gleichzeitig gegen die Tür werfen.

María wimmerte, gehorchte aber und ergriff die Oberschenkel des Mannes. »Wir werden alle sterben. Heilige Muttergottes.«

»Gewiss. Nur habe ich einen anderen Zeitpunkt im Sinn. Also hör auf zu heulen und pack zu.« Catalina presste die Kiefer zusammen und zog mit letzter Kraft.

Die blutende Kopfwunde hinterließ eine rote Schleifspur auf dem Boden, während die Mädchen Kiliçs Beine immer weiter an die frische Luft beförderten.

Als die Schulterblätter des Piraten auf dem flachen Fenstersims ruhten, fehlte nur ein letzter Schubser.

Catalina ergriff den kopfüber baumelnden Arm des Mannes und zögerte. Der Stern des Ostens leuchtete in hellem Grün an seiner behaarten Pranke. Das innewohnende Feuer des Steins verhieß Verbrennen, doch wider Erwarten fühlte sich die glatte Oberfläche kalt an. Der Ring mochte seinem Träger Ruhm und andere Vorzüge verleihen. Unverletzbarkeit zählte jedoch nicht dazu.

Mit letztem Kraftaufwand schubsten und pressten sie Kiliçs massive Schultern, die wie ein Korken in dem Rahmen feststeckten, nach draußen. Dabei rutschte María ab und traf Catalinas Hand. Ein abgebrochener Fingernagel bohrte sich schmerzhaft in die Risswunde, die sie sich am splitterigen Holz des Fensters zugezogen haben musste.

Sie schrie auf, was María wohl als Einladung verstand, ihr Kreischen zu verstärken.

Schrill, ohrenbetäubend, furchterregend. Die höchsten Töne, die Catalina jemals aus einer menschlichen Kehle vernommen hatte.

Sie widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten, denn beide Hände benötigte sie zum Schieben. »Hör auf zu schreien«, brüllte sie ihre Freundin an, die es offensichtlich als Ansporn verstand, noch lauter zu werden.

Wie ein Säugling, der auf einen Schreck reagierte, stimmte nun auch Francisca in das Wehgeheul ein.

Der Lärm war unerträglich.

Das Feuer der Verzweiflung loderte in Catalinas Adern, als sie voller Inbrunst schrie, bis ihre Stimme sich überschlug und schließlich brach.

Begleitet von der Kakophonie des Wahnsinns, wurde Kiliçs Aufprall im Vorgarten von den Körpern seiner Kameraden und deren überraschten Ausrufen gedämpft. Die Männer sprangen erschrocken auseinander und rannten fort, um in sicherer Entfernung in Deckung zu gehen.

Kauernd in den Büschen, starrten sie erschrocken nach oben zum Haus, als erwarteten sie weitere vom Himmel fallende Piraten. Ein dicker Einäugiger mit Augenklappe hob die Faust zum Zeichen gegen den bösen Blick, den kleinen und Zeigefinger gespreizt.

»Sie halten uns für Hexen«, schrie Catalina und klang selbst in ihren eigenen Ohren wie eine Braut des Leibhaftigen.

»Hexen, Hexen«, warf das Echo der nahen Berge zurück.

Die Männer im Garten schienen die Wendung der Geschehnisse zu begreifen. In gebückter Haltung, kampf- und abwehrbereit, rannte eine kleine Gruppe zurück zum Haus, um den leblosen Körper ihres Anführers zu bergen.

Auch sie schrien wild durcheinander, und obwohl Catalina kein Wort verstand, war der Schrecken in den gutturalen Rufen nicht zu überhören. Entsetzen kannte keine Sprachbarrieren, klang in allen Ländern gleich. Eine hitzige Diskussion in kehligen Lauten entbrannte, haarige Arme zeigten zu ihrem Fenster.

Catalinas Herz drohte ihre Brust zu sprengen.

Vier Korsaren ergriffen den toten Kiliç und schulterten ihn in einer geschmeidigen Bewegung, als wiege er nicht mehr als ein Strohballen. Mit ihrer kostbaren Last traten sie hastig den Rückzug an.

Der Rest der Bande formierte sich in einer Verteidigungsflanke, spaltete sich und öffnete einen Fluchtweg für die Leichenträger.

Als sie die grundstücksbegrenzende Oleanderhecke erreichten, verließen sie ihre einstudierte Ordnung. Und rannten davon.

Catalina entließ den angehaltenen Atem in einem warmen Schwall.

»Sie sind fort! Glaubt ihr, sie kommen wieder? Heiliger Himmel, wir haben die rechte Hand ihres Hauptmannes getötet.« Marías normale Sprechstimme hallte zu laut in der plötzlich entstandenen Stille.

»Ich denke nicht, dass sie wiederkommen. Wir haben ihren Kampfgeist untergraben.«

Ich habe ihn umgebracht, dachte Catalina und lauschte dem Echo des Gedankens in ihrem Kopf. Nachdenklich schloss sie die Faust um den Gegenstand in ihrer Schürzentasche und starrte den Männern hinterher, die einer nach dem anderen hinter der baumhohen Blütenhecke verschwanden.

2

11. Mai, Gegenwart, Port de Sóller

Zwei Heere standen sich gegenüber und warteten mit erhobenen Plastikschwertern auf den Klang des traditionellen Blashorns. Den Startschuss für das Gefecht. Bauern gegen Piraten.

Die alljährliche Veranstaltung, die die legendäre Schlacht von 1561 zwischen den Korsaren und den Sóllerics nachspielte, war für viele Dorfbewohner eine Herzensangelegenheit. Und wie immer nahm der ganze Ort an dem Spektakel teil. Federico Fiol war überzeugt, dass nur die dramatischen Trommelschläge das Knistern in der Luft übertönten.

Er sah auf seine Smartwatch – zwanzig Minuten Verspätung – und verlagerte seinen Fuß, bevor dieser im weißen Puderzuckersand der Playa de Port Sóller versank.

Glücklicherweise hatte es sich bei der Niederschlagsfront vorgestern nur um einen Platzregen gehandelt, der einer für diese Jahreszeit ungewöhnlich heißen Woche gewichen war. Federico öffnete einen weiteren Knopf des weißen Hemdes seiner mallorquinischen Bauerntracht und fächerte sich mit dem Stoff Luft auf die verschwitzte Brust.

Das Festival Es Firó war einer der Gründe, warum der Mai zu Federicos Lieblingsmonaten zählte. Menschenmassen in traditionellen Trachten und Piratenkostümen tummelten sich am Hafenstrand, und die nicht aktiv am Festival teilnehmenden Zuschauer sahen in Freizeitkleidung von der Promenade aus zu, tranken Wein aus Pappbechern und verewigten das Schauspiel mit ihren Handys.

Noch fand alles gesittet statt, doch schon bald würde es hier wilder zugehen als auf der Tanzfläche des ibizenkischen Amnesia im Hochsommer. Dichtes Gedränge schwitzender Körper in ausgelassener Stimmung, so wie Federico das mochte, obwohl er sich mit seinen sechsunddreißig Jahren fast schon zu alt für das Nachtleben der Nachbarinsel fühlte. Das Gleiche galt für die feuchtfröhliche Party, die sich im Anschluss an die Schlacht im Dorf fortsetzte. Eine ganze Woche lang.

Federico verzog das Gesicht beim Gedanken an die bevorstehenden Kopfschmerzen. Die Regeneration hatte letztes Jahr acht Tage in Anspruch genommen und sein Aktivitätslevel beachtliche Einbußen erlitten. Auch hier machte sich sein Alter bemerkbar, mit fünfundzwanzig hatte Komasaufen keine Delle im Tagesablauf hinterlassen. Doch das konnte er sich als Businessman – wie er dieses Wort liebte – mit eigener Firma nicht mehr leisten.

Federico lüftete seinen Strohhut und blinzelte in die Sonne. Das helle Licht reflektierte auf den weißen Fischerbooten und Jachten an der Mole und verlieh ihnen einen Heiligenschein. Der Himmel und die hohen Berge rings um den Hafen leuchteten strahlend blau und grasgrün um die Wette.

Breitbeinig, sprungbereit und beflügelt hob Federico sein Holzschwert und rief laut: »Firó, Firó, Firó!«

»Tío. Alter, was hast du denn getrunken?« Joan, der zu Federicos Linken mit der Klinge seines Plastikschwertes eine Linie in den Sand zog, warf ihm einen skeptischen Blick zu. Er zupfte die rote Schärpe auf dem Bund der grauen, über die Knie reichenden Pluderhose zurecht. In Kombination mit dem weißen Leinenhemd und karierten Halstuch stand Joan die traditionelle Tracht besser als die einfallslosen Jeans und billigen T-Shirts, die er sonst trug.

»Nix getrunken. Ich freu mich nur.« Federico sah sich am überfüllten Strand um, wo vor fünfhundert Jahren trotz der Überzahl und Kampferfahrenheit der damaligen Seeräuber die Sóllerics durch Scharfsinn und Mut das Unmögliche geschafft hatten: den überraschenden Sieg gegen die Korsaren. Auch Federico hatte Grandioses vor.

Vom anderen Ende des muschelförmigen Hafens wehte eine Meeresbrise mittelalterliche Flöten- und Dudelsackmusik herüber, die sich zum Rhythmus der Trommeln gesellte. Ein dunkel gebeiztes Holzboot mit zwölf Rudern glitt über das smaragdgrüne Wasser, näherte sich unter Kanonenschüssen dem Ufer und zog eine Wolke aus blutrotem Rauch hinter sich her. Das schwarze Segel trug den typischen Halbmond der Korsaren, gekrönt von einer im Wind flatternden Totenkopfflagge der Piraten.

Der Seeräuberhauptmann Uluç Ali, gespielt vom Bäcker aus der Gran Vía, hielt seinen gebührenden Einzug. Federico erkannte ihn schon von Weitem auf dem Bug des Bootes – mit wehendem Umhang und knallrotem Turban eine imposante Galionsfigur. Sobald der Piratenchef den Strand erreichte, würde die Schlacht beginnen.

Federico zurrte seinen Hut zurecht und scannte die gegnerische Truppe der Freibeuter. Welcher von ihnen würde seinem geplanten Kampfrekord im Wege stehen?

Männer mit rußbeschmierten Gesichtern, viele davon alte Bekannte und Freunde, starrten unter bunten Seeräubertüchern mit entschlossenen Mienen zurück. Satinpluderhosen in allen Farben des Regenbogens, mittelalterliche Westen, goldene Ohrringe, Lederbänder und lange Ketten – wie immer hatten die Verkleideten kein Detail gescheut. Alles wirkte authentisch.

Doch keiner von ihnen besaß Federicos Disziplin, sich in der Kunst der Schlacht zu üben, wie sein zerlesenes Exemplar von Sun Tzus Die Kunst des Krieges bezeugte, das er mit Tesafilm vor dem Auseinanderfallen bewahrte. Nun übernahm sein Alter Ego, General Federico.

Fünfzehn zu drei war der Rekord vom Vorjahr, den er zu brechen gedachte: fünfzehnmal gewonnen, nur dreimal gestorben. Während die meisten Sóllerics aus reinem Vergnügen und Traditionsbewusstsein am Festival teilnahmen, weckte es in Federico den Sportsgeist. Den Duft des Abenteuers. Den Scharfsinn des Feldherrn.

Nuria, seine Frau, sagte stets, mallorquinische Männer seien infantil, nie erwachsen gewordene Kinder. Federico sah nichts Falsches daran. Wenigstens hatten sie Spaß, den er zu steigern gedachte, indem er Nuria mit Vollgas aus seinem Leben katapultierte.

Sein Blick huschte zum Café an der Strandpromenade, wo sie heute Nachmittag am Terrassenausschank Getränke an die Teilnehmer des Festivals verkaufte. Doch glücklicherweise stand sie gerade nicht an ihrem Platz hinter der Bierzapfanlage des eigens für das Fest installierten Tresens.

Rote und weiße Nebel stiegen aus versteckten Dampfmaschinen auf und hüllten den Strand in ein dramatisches Rauch- und Feuerszenario. Das Horn erklang. Der Nebel wurde dichter und schob sich in einer Wand zwischen die zwei Heere.

Der Piratenhauptmann Uluç Ali, alias der Bäcker, hatte angelegt. Aus der undurchsichtigen Suppe ertönte ein Kampfschrei – in den die gesamte Seeräuberfraktion einfiel. Die Trommler schlugen ein Crescendo.

Wie ein Untoter sprang Uluç Ali aus dem dichten Rauch hervor. Die pluderigen Ärmel seines roten Satinhemdes flatterten in der Frühlingsbrise, als er mit weit ausgestreckten Armen seine beiden Säbel in die Luft stieß. Rußverschmiert und mit dunklem Bart, den er sich eigens für das Fest hatte wachsen lassen, sah er so furchterregend aus, dass selbst General Federico schluckte. Ein Turban mit riesigem Stein zierte Uluçs Haupt, und lange dicke Goldketten hüpften schwer auf seinem opulenten Bauch auf und ab.

Die Bauern grölten im Chor und liefen auf die Piratenschar zu. Der Kampf begann.

Federicos Strohhut löste sich von seinem Kopf und fiel ihm in den Nacken, gehalten durch eine Schnur, die ihn fast erwürgte.

Sein Holzschwert traf den ersten feindlichen Säbel aus Plastik, und in spielerischer Manier tanzte er lachend um seinen Piratengegner. Eine Finte zur Rechten, die der Seeräuber wie erwartet abwehrte, sodass sich der Weg links zum krönenden Schlag öffnete. Federico stellte einen tödlichen Stich nach und der Pirat krümmte sich. Mit theatralischem Stöhnen fiel er in den feuchten Sand in einen qualvollen Tod.

Eins zu null.

Federico grinste, hielt dem Mann eine Hand hin und half ihm auf. Der Seeräuber klopfte lachend den Sand aus der grünen Pluderhose, fasste sich ins verrußte Gesicht und verteilte mit Zeige- und Mittelfinger die dunkle Schmiere auf Federicos Wangen. Auch das gehörte zum Ritual des Firó, eine Schnittmenge der unvereinbaren Gegensätze zu bilden. Erschienen zu Beginn der Feier die Bauern hell und sauber, präsentierten sich die Piraten dunkel verschmiert, bis am Ende des Tages alle zusammen in Graunuancen feierten.

Nach einer kurzen Umarmung lösten sie sich voneinander und stellten sich dem nächsten tödlichen Widersacher. Der Kampf verging im Flug mit dumpfem Klacken von Holz und Plastik des Säbelrasselns und dem ausgelassenen Gelächter der Männer.

Federico hüpfte von Gegner zu Gegner und ließ virtuos sein Holzschwert tanzen. Die Kunst des Krieges.

Eine Gruppe Payesas, mallorquinische Bäuerinnen, die am Rande des Schlachtfelds an ihren Pappbechern nippten, verlieh mit Klatschen und Grölen ihrer Begeisterung Ausdruck. Wie alle Frauen, die aktiv am Firó-Spektakel teilnahmen, trugen auch sie die traditionelle Tracht.

Federico vollzog eine aufwärts gerichtete Drehung seines Schwerts und landete in der Position der zentralen Hut des Alber, breitbeinig die Waffe vor dem Körper, die Klinge gen Boden gerichtet. Verstohlen sah er zu den Frauen hinüber. Eine von ihnen winkte.

Federico blinzelte, sein Herz mit plötzlichen Flügeln versehen. Diese verdammten Trachten. Sie war es! Er hatte zweimal hinsehen müssen, um sie unter dem weißen Spitzen-Rebosillo der mallorquinischen Bäuerin zu erkennen. Eine Mischung aus Haube und Kopftuch, ließ er nur den Haaransatz und Scheitel frei, wurde unter dem Kinn zusammengehalten und fiel ausschnittverdeckend über die Brust.

Federico winkte glücklich zurück, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Nuria nicht unter ihnen weilte, um ihm später den Tag zu vermiesen.

Seine Frau hatte ebenfalls vorgehabt, in Tracht zur Arbeit zu erscheinen. Selbst mit einer Plastiktüte über dem Kopf hätte Federico sie erkannt – an der schwarzen Wolke der schlechten Laune, die sie immer umgab. Er verscheuchte den Gedanken an Nuria, ein Thema, das sich eh bald erledigt haben würde.

Euphorie stieg in Federicos Brust auf und ließ ihn über den Sand schweben wie einen Samurai. Alles verlief nach Plan. Im Geiste beglückwünschte er sich zum letzten großartigen Schachzug, den er gestern Abend eingefädelt hatte. Bald musste er sich um seine Zukunft nicht mehr sorgen.

Das Getümmel am Strand wurde dichter. Piraten und Bauern kämpften Rücken an Rücken.

Ein in Purpur gekleideter Seeräuber lief Federico direkt vors Schwert. Der Stoff seines Turbans setzte sich im unteren Bereich des Gesichts fort, verdeckte Nase und Mund, wie sich das für einen Banditen gehörte. Obwohl er nur die Augen frei ließ, war zu erkennen, dass der Pirat lächelte. Federico grinste zurück und hüpfte in einem kleinen Satz mit erhobener Klinge auf Purpur zu. Dieser parierte, sie entfernten sich voneinander.

Ein zweiter Seeräuber mit um die Arme gewickelten Lederbändern und Palästinensertuch schob sich dazwischen und übernahm den Tanz mit Federicos Schwert. Grinsend kreisten sie umeinander, bis Federico ihn überraschte und in blitzschnell angedeuteter Geste seine Waffe über die Kehle des Mannes zog. Dieser griff sich an den Hals, lachte, und wandte sich einem neuen Schwertduell zu seiner Linken zu.

Es stand sieben zu null für General Federico. Das harte Training hatte sich ausgezahlt.

Mit seiner Hingabe und Disziplin hätten die Dorfbewohner 1561 trotz dreifacher Überzahl der Piraten auch die ersten beiden Schlachten gewonnen. Und nicht wie Schlappschwänze die Hilfe der gewieften Frauen benötigt, um im Dorf die plündernden Seeräuber in die Flucht zu schlagen.

Rechter Hieb. Linker Hieb. Treffer. Acht zu null.

Jemand schob sich an seinen Rücken. Er spürte die Wärme und Härte des anderen Körpers, während ihm der Duft von Orangen und Anis, der an seinen Lieblingsgin Cabraboc erinnerte, in die Nase stieg.

Obwohl gleich zwei Piraten auf ihn losstürmten, drehte Federico sich zu dem Angreifer hinter ihm herum. Ein flüchtiger Blick auf purpurfarbenen Stoff, ein Schwert, das auf ihn zukam.

Er schnellte herum zum Parieren. Doch der purpurne Korsar war schneller.

Der Hieb durchbrach Federicos Verteidigungslinie. Anstatt kurz vor der roten Schärpe zu stoppen, zog die Bewegung der Klinge weiter, durchtrennte den schon fleckigen Stoff des vormals blütenweißen Hemdes. Und machte auch hier nicht halt. Der tiefrote Fleck um die Eintrittsstelle vergrößerte sich, als das Leinenhemd sich mit Blut vollsog.

Ungläubig starrte Federico auf die Säbelspitze, die in seinem Bauch verschwand.

Der Schmerz setzte verzögert ein, als hätte auch sein Körper die Überraschung erst überwinden müssen.

Federico hob den Blick und sah in die dunklen Augen des lila gekleideten Korsaren. Sie lächelten noch immer.

Acht zu eins für Federico.

Sein Blick trübte sich in einer schwarzen Wolke, als er in die Knie sackte und im Schatten der Promenadenmauer zu liegen kam.

Achtmal gewonnen. Einmal gestorben.

3

Sargento Lluc Casasnovas drückte sich in die Fensterecke im Rathaussaal und träumte von einem kühlen Bier. Überall wäre er jetzt lieber gewesen als bei der Abschlussfeier des Es Firó. Er schwitzte, seine Kiefermuskeln schmerzten vom stundenlangen freundlichen Lächeln, und die Müdigkeit des langen Tages holte ihn ein.

Doch der Dienst rief, und wie es schien, der Bürgermeister ebenfalls.

»Wieso sind die Dones immer noch nicht da?«, raunte Bürgermeister José Cadena ihm zu, ohne dass eine Bewegung seiner Lippen das aufgesetzte Lächeln ins Rutschen brachte.

Auch der Rest des Endfünfzigers wirkte poliert und aufgeräumt: teurer grauer Anzug, gestärktes Hemd, glitzernde Manschettenknöpfe. Selbst auf seinem Kopf herrschte penible Ordnung – seine Glatze strahlte mit den Hochglanzschuhen um die Wette.

Rasch widmete Cadena sich wieder dem Gespräch mit der Gräfin Condesa Isabel de Falcó und bezeugte ihr durch bestätigendes Nicken seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

Der Sektempfang des neuen Bürgermeisters zum krönenden Abschluss des Piratenschauspiels war in vollem Gange. Ein Dutzend Gäste erwartete mit erhobenem Glas, dass der historische Hauptmann der Sóllerics den Sieg gegen die Seeräuber vom Balkon des Rathauses aus verkündete. Während die Sonne langsam über dem Meer versank, leuchteten im Dorf schon die Laternen und bescherten der feierlichen Stimmung ein andächtiges Ambiente.

Doch Lluc Casasnovas entging nicht das nervöse Kneten der Papierserviette in Cadenas Hand, genauso wenig wie der unruhige Blick durch die offenen Flügeltüren auf die Terrasse, wo die Darsteller der historischen Rollen schon ihren Platz vor dem Publikum eingenommen hatten.

Ein Menschenmeer ergoss sich über die große Dorfplaza vom Rathaus bis zu den mediterranen Sandstein- und Jugendstilhäusern der gegenüberliegenden Seite und ließ nicht ein Fleckchen Asphalt unbedeckt. Tausende waren gekommen, um am wichtigsten Fest des Ortes teilzunehmen. Eine Flaggenflut wogte über den Köpfen der Leute: rote mit dem Halbmond für die Piraten, ein Andreaskreuz auf weißem Grund für die Sóllerics.

Vielleicht war Cadenas übertriebene Nervosität der hübschen Gräfin geschuldet, oder auch sein Tag wich, genau wie Llucs, vom Drehbuch ab.

Lluc drückte sich in seine Fensterecke und warf einen verstohlenen Blick auf den unscheinbaren Mann mit Nickelbrille, der etwas abseits an seinem stillen Wasser nippte. Madrugada.

Die ersten Anzeichen von Komplikationen hatten sich früh angekündigt: Noch bevor der Bürgermeister am Morgen im Revier erschienen war und in seinem unbeholfenen Neulingselan Madrugada zum Empfang mit eingeladen hatte. Lluc konnte es ihm nicht verübeln, Cadena war höflich und wusste nicht um den Rattenschwanz, der an dem unauffälligen Mann hing.

Ausgerechnet heute, am stressigsten Tag des Jahres, an dem wegen des Festivals Ausnahmezustand herrschte, musste die kleine Tochter seiner Assistentin Francisca Gual in ihrer kindlichen Respektlosigkeit für traditionelle Kalenderereignisse krank werden, sodass Lluc ohne Guals Organisationskünste dastand. Stattdessen stemmte er die Anforderungen alleine mit seiner Kollegin Sargento Fina Garcia, zu der das Verhältnis bestenfalls als ambivalent zu bezeichnen war und sich in einem fragilen Burgfrieden befand. Und dann war der Tag vollends gekippt.

Das stumme Vibrieren seines Handys buhlte erneut um Llucs Aufmerksamkeit, die er der vermutlich sechsundsechzigsten Textnachricht in Folge nicht schenken wollte. Er biss die Zähne zusammen, ignorierte das Telefon und blickte aus den hohen Fenstern hinaus auf die menschenvolle Dorfplaza.

»Wo bleiben die verdammten Dones?« In Cadenas Frage steckte nun mehr Dringlichkeit.

»Sie haben die Frechheit besessen, sich nicht bei mir abzumelden.« Woher zum Teufel sollte Lluc wissen, wo die beiden Frauen steckten? Personenschutz war nicht seine Abteilung – nicht dass die Schwestern Hidalgo einen gebraucht hätten.

Gräfin Isabel schien über ein exzellentes Gehör zu verfügen. »Wer oder was sind die Dones?« Sie strich sich ihre langen braunen Haare hinters Ohr und zog fragend eine Augenbraue hoch.

Cadena knetete sein Taschentuch vehementer und warf Lluc einen vorwurfsvollen Blick zu, als hätte dieser das Gespräch mit der Zwischenfrage nach den Dones unterbrochen. »Ich hatte ja schon erklärt, meine liebe Isabel, dass die Inszenierung dieses Festivals einem Skript folgt, das auf den damaligen Ereignissen beruht.« Wie um seine Worte zu ordnen, nahm er einen gemächlichen Schluck aus dem Weinglas. »Bei dem Großangriff von 1561 gewannen die Piraten zwei Schlachten unten im Hafen und zogen dann weiter ins Dorf. Sie belagerten dieses Rathaus und wurden von den zahlenmäßig unterlegenen Sóllerics geschlagen.«

Isabels schwarze Augen, die ihrem Aussehen einer südspanischen Flamencotänzerin das i-Tüpfelchen verliehen, weiteten sich überrascht. »Und wie haben sie das geschafft?« Obwohl sie jünger aussah, schätzte Lluc sie aufgrund ihrer souveränen Art auf Ende dreißig, so gelassen amüsiert, wie sie den peinlich geiernden Blicken der anderen Männer um sie herum begegnete, als wären sie nicht ernst zu nehmende Kinder.

»Der Legende nach haben die Frauen des Dorfes einen großen Anteil geleistet«, fuhr Cadena fort. »Besonders hervorgetan hatten sich zwei Schwestern, Catalina und Francisca Casasnovas. Ganz alleine sollen sie eine Horde Piraten aus ihrem Haus vertrieben haben. Verängstigte arme Bauernmädchen, denen es auf mysteriöse Weise gelang, die rechte Hand des Piratenhauptmanns zu töten und damit an der Vertreibung der Seeräuber maßgeblich beteiligt waren.«

Cadena runzelte die Stirn und sah zur festlich geschmückten Terrasse. Umringt vom Piratenchef im edelsteinbesetzten Turban und von mittelalterlich kostümierten Bauern begann der historische Hauptmann der Sóllerics die Siegesrede. Seine Begrüßungsworte versanken im ohrenbetäubenden Jubel der Menge auf der Plaza.

»Ihnen allen zu Ehren tragen die Sóllericas die mallorquinische Tracht und vertreten die mutigen Frauen, die den Piraten damals den Garaus gemacht haben. Auf Mallorquín: die Valentes Dones.« Und deren direkte Repräsentantinnen, die Schwestern Casasnovas, auf dem Balkon vor ihnen nun vermisst wurden.

Auch Lluc zog die Stirn in Falten. Die Unruhe des Bürgermeisters war begründet und die Abwesenheit der Schwestern mehr als merkwürdig. Diese geballte Aufmerksamkeit, die die Valentes Dones beim Es Firó bekamen, ließ sich niemand freiwillig entgehen.

»Valentes Dones, die mutigen Frauen! Das gefällt mir. Endlich wird der weiblichen Courage mehr Gewicht beigemessen. Schade, dass wir in Madrid nicht solche historischen Traditionen haben.«

»Es bedeutet mehr als nur Respekt für ihren Mut. Ohne diese Frauen würde es Sóller heute vermutlich nicht geben. Die ganze Ehre gebührt ihnen, sie werden hier gefeiert«, entgegnete Lluc, bevor er sich zurückhalten konnte. Er bereute seine Einmischung sofort. Bisher hatte er sich unauffällig im Hintergrund gehalten. Sollten sie doch denken, der Polizist hätte nichts beizutragen.

Isabel legte den Kopf schief und sah ihn interessiert an. Ihr direkter und leicht belustigter Blick durchleuchtete ihn wie ein Suchscheinwerfer.

Bürgermeister Cadena setzte seine Erklärung fort: »Das dort ist der Hauptmann des damaligen Sóller-Heers, Capitán Angelats.« Er deutete auf den Mann in ockerfarbener mittelalterlicher Uniform in der Mitte der Terrasse. Jedem seiner Sätze folgte eine kleine Pause, die Raum für den Beifall des Publikums schuf. »Der beendet heute den kostümierten Teil des Festivals. Danach wird bis spät in die Nacht weitergefeiert.«

»Wie werden die Rollen besetzt?«

»Sie werden gewählt. Es gibt das Kollektiv der Piraten, das der Bauern und Bäuerinnen, jeweils mit Tausenden von Mitgliedern, die zum alleinigen Zweck existieren, die jährlichen Inszenierungen des Festivals zu planen und zu organisieren. Sie vergeben auch die Rollen. Es ist eine große Ehre, Capitán Angelats spielen zu dürfen, der auf vier Jahre gewählt wird. Und besonderes Ansehen gebührt den Rollen der Valentes Dones, der Schwestern Casasnovas, die jährlich neu besetzt werden.« Der letzte Teil des Satzes ging in einem Murmeln unter.

Die jungen Frauen des Dorfs rissen sich ein Bein aus, um die Rolle der Schwestern zu ergattern – umso unverständlicher war es, nun mit Abwesenheit zu glänzen. Erst gestern war ein Bericht über Francisca und Catalina Hidalgo im lokalen Fernsehsender IB3 gesendet worden, und die Última Hora hatte ein doppelseitiges Interview publiziert mit dem Titel: »Die Schwestern spielen die Schwestern.«

Isabels Blick wanderte über das Publikum, das sich auf der Plaza des Rathausplatzes versammelt hatte. Menschen in Trachten und Piratenkostümen drängten sich dicht zwischen der gotischen Kirche Sant Bartomeu und dem Gaudí-inspirierten Bankgebäude. Sogar die für gewöhnlich geschlossenen grünen Holzfensterläden vor den balkonartigen Austritten der mediterranen Wohnhäuser waren geöffnet und von klatschenden, singenden oder Fahnen schwingenden Leuten bevölkert. »Was für eine schöne Geschichte. Vereint besiegen wir den überlegenen Feind«, sagte Isabel und legte die Hände an ihren Brustkorb. »Mir war gar nicht bewusst, dass die Piraten im Mittelalter so einen Einfluss auf diese Region hatten.«

»Nicht nur in der Vergangenheit«, meldete sich eine Stimme aus dem Hintergrund. »Die Piratenkultur im Mittelmeer lässt sich nur schwer ausrotten.«

Lluc unterdrückte ein Stöhnen.

»Gerónimo Madrugada«, stellte der Mann sich vor und reichte der Gräfin die Hand. »Guardia Civil.« Obwohl er mit seinem schwarzen Schal, den er nie abzulegen schien, eher wie ein Künstler wirkte. Von kleinem Wuchs, mittlerem Alter und mausbraunem Haar war er ein Muster unauffälliger Harmlosigkeit. Ein Mann, der übersehen wurde, selbst wenn er als einzige Person mitten im Raum stand, ein Meister der Camouflage.