"Man reise vorzugsweise mit der eigenen Bettdecke" - Christian Eisert - E-Book

"Man reise vorzugsweise mit der eigenen Bettdecke" E-Book

Christian Eisert

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Beschreibung

Wie die Briten Deutschland entdeckten - die skurrilste Reiseerzählung des Jahres Bayerns Straßen sind eine einzige Katastrophe, unter deutschen Hotel-Bettdecken droht dem Reisenden der Tod durch Erfrieren und die einheimische Küche ist einfach nur zum Abgewöhnen. Der erste britische Deutschland-Reiseführer, verfasst von keinem Geringeren als dem Erfinder des Genres John Murray, lässt kaum ein gutes Haar an dem damals beliebtesten Reiseziel der Welt. 200 Jahre später macht sich Christian Eisert auf den Weg um herauszufinden, was sich seitdem verändert hat. Im Camper, statt mit der Postkutsche und mit ganz viel Neugierde auf seine Heimat heute und vor 200 Jahren.

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Seitenzahl: 328

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Impressum

© eBook: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2021 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

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Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Redaktion und Projektmanagement: Silke Tauscher

Bildredaktion: Christian Eisert

Kartographie: © FAVORITBUERO, München

Schlusskorrektur: Christiane Schwabbaur, Ulla Thomsen

Covergestaltung: Favoritbüro Gbr, Elke Krauß

eBook-Herstellung: Viktoriia Kaznovetska

ISBN 978-3-8464-0881-0

1. Auflage 2021

Bildnachweis

Coverabbildung: Christian Eisert

Illustrationen: © FAVORITBUERO, München

Fotos: Christian Eisert, mauritius images: Alamy/The Natural History Museum

Syndication: www.seasons.agency

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GRÄFE UND UNZER VERLAG Grillparzerstraße 12

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Die Daten und Fakten für dieses Werk wurden mit äußerster Sorgfalt recherchiert und geprüft. Wir weisen jedoch darauf hin, dass diese Angaben häufig Veränderungen unterworfen sind und inhaltliche Fehler oder Auslassungen nicht völlig auszuschließen sind, zumal zum Zeitpunkt der Drucklegung die Auswirkungen von Covid-19 auf das Hotel- und Gastgewerbe vor Ort noch nicht vollständig abzusehen waren. Für eventuelle Fehler oder Auslassungen können Gräfe und Unzer und die Autoren keinerlei Verpflichtung und Haftung übernehmen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch bei Personenbezeichnungen das generische Maskulinum verwendet. Es gilt gleichermaßen für alle Geschlechter.

»Es gehört zu den unverständlichsten Eigenheiten der meisten Touristen, ohne eigene Bettdecke zu verreisen. Auch warum so viele auf die Mitnahme eines kleinen Heizlüfters verzichten, erschließt sich nur schwer. Und die Notwendigkeit, in Folie eingeschweißte Wurstwaren mitzuführen, liegt wohl auf der Hand. So würde John Murray, der Welt erster Reiseführer-Verleger, wohl heute seine britischen Landsleute auf den Besuch solch exotischer Reiseziele wie Bayern oder Baden-Württemberg vorbereiten. Ein kluger Mann.

Mit dem fremden Blick des Briten Murray auf mein Geburtsland lässt sich eine Auslandsreise im Inland unternehmen. Außerdem weiß ich, wie’s da schmeckt. Laut Murray fürchterlich! Und mehr noch: Die bald 200 Jahre alten Werke ermöglichen eine Zeitreise. Los geht‘s!«

Christian Eisert

Originalzitate aus John Murrays Handbüchern für britische Reisende in Deutschland sind im Folgenden in Rot gedruckt.

Mit * gekennzeichnete Routen wurden vom Autor entgegen der von Murray angegebenen Richtung gefahren.

Vorwort

Es empfiehlt sich für alle Touristen, stets mit der eigenen Bettdecke zu verreisen. Ebenso wenig verzichten sollten Reisende auf einen kleinen Heizlüfter im Gepäck. Und die Notwendigkeit, in Folie eingeschweißte Wurstwaren mitzuführen, liegt wohl auf der Hand.

So würde John Murray (1808–1892), der Erfinder des modernen Reiseführers, wohl heute seine britischen Landsleute auf den Besuch solch exotischer Reiseziele wie Bayern oder Baden-Württemberg vorbereiten. Ein kluger Mann.

Einen Nachdruck der Originalausgaben seiner »Reise-Handbücher« schenkte mir mein guter alter Freund Olaf zu Weihnachten mit der Frage: »’N Vorfahre von dir?« Wie er darauf kommt? Keine Ahnung.

Zugegeben, Nordkorea durchquerte ich vor einigen Jahren trotz ausschließlicher Übernachtung in Hotels mit eigenem Schlafsack. Bei Hunger im Ausland ziehe ich Filialen amerikanischer Fast-Food-Ketten einheimischen Garküchen vor. Was nebenbei dazu führte, dass ich nunmehr in der Lage bin, den Unterschied zwischen einem Pekinger und einem in Casablanca erworbenen Big Mac zu schmecken. Auch weiß ich inzwischen, spanische Sommer lassen eingeschweißte Minisalamis tranig werden, während Kanada die Einfuhr europäischen Schweinefleisches gar nicht erst zulässt.

Fernreisen sind etwas Feines. Ich wünschte nur, sie würden weniger Auslandsaufenthalte erfordern. Oder zumindest weniger Abweichung vom Gewohnten bei Ernährung, Raumtemperatur und Bettenausstattung. So gesehen war Olafs Idee, mir den ersten Deutschland-Reiseführer der Welt zu schenken, keine schlechte. Denn mit dem fremden Blick des Briten Murray auf mein Geburtsland konnte ich eine Auslandsreise im Inland unternehmen. Ich würde Altbekanntes neu betrachten und viel Neues kennenlernen – ich sage nur Bad Sülze, Schrobenhausen, Oberlungwitz! Ich würde Abenteuerchen erleben. Kleine Herausforderungen ohne Lebensgefahr. Lebensgefahr strengt ja nur an.

Beruhigend war es zu wissen, wie die Landesküche schmeckt. Laut Murray fürchterlich!

Und nicht zuletzt ermöglichten die bald 200 Jahre alten Werke eine Zeitreise. Ist das nicht wunderbar?

Ein Vorteil von Reisen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand in der Unmöglichkeit, Anschlusszüge zu verpassen oder gar wegen Streik des Bodenpersonals nicht abheben zu können. Zug und Flug steckten noch in ihren Anfängen. Reisende waren auf Kutschen angewiesen, die zudem den Vorzug besaßen, weder zu explodieren noch abzustürzen. Sie wurden allenfalls von Räubern überfallen, was die Bekanntschaft mit Menschen ermöglichte, die außerhalb der eigenen Filterblase lebten.

Aus all diesen Gründen entschied ich, meine Inlandsauslandszeitreise ebenfalls per Kutsche zu unternehmen. Allerdings nicht von zwei oder vier, sondern von 140 Pferdestärken bewegt. Und doch der schaukligen Kastenförmigkeit der von Murray empfohlenen »Eilwagen« sehr nahekommend: Ich reiste mit einem Wohnmobil. Von Ost nach West, über Südost nach Südwest, in den Mittleren Osten und schließlich ans Kap. Und das alles in Deutschland!

Was klug klingt, erwies sich im Nachhinein als gar nicht so wohlüberlegt, denn es handelte sich um meine erste Reise mit einem Wohnmobil. Ich hätte das vorher üben sollen.

BERLIN – DANZIGSCHEITERN, SCHWITZEN, GUMMIBÄRCHEN

Droht ein Reiseplan zu scheitern, lässt sich das leicht erkennen. Beispielsweise daran, dass man seinen Namen nennt und das Gegenüber erwidert: »So, jetz is’ dit Problem da.«

Möglicherweise trug ich Mitschuld an dem unglücklichen Start meiner Deutschlandreise, denn mein Reiseplan beinhaltete zunächst 13 historische Routen. Zwölf oder 14 wären wohl weniger unheilprovozierend gewesen.

Das Ende einer jeden Reiseroute bildete den Anfang der folgenden. Was zusammenzustellen einige Tage in Anspruch genommen hatte. Alle gemeinsam formten sich zu einer krakeligen Acht. Die steht – krakelig oder nicht – in der christlichen und jüdischen Zahlensymbolik für Neuanfang oder Übergang. Mit jedem achten Tag beginnt eine neue Woche. Eine neue Reise. Und so sollte an diesem Montag meine Reise beginnen: Mit Route 77 aus John Murrays Handbuch für Norddeutschland.1

Murray zufolge verkehrte zwischen der preußischen Residenzstadt Berlin und der westpreußischen Küstenstadt Danzig zweimal die Woche eine Kutschenverbindung, die die Strecke in 65 Stunden bewältigte. Dabei wurden an festen Stationen regelmäßig Pferde und Kutscher ausgewechselt. Die Fahrzeit beträgt durchschnittlich 5 ½ Meilen die Stunde.2 Englische Meilen wohlgemerkt, ergibt knapp 9 km/h. Fanden die Briten nicht sehr flott, so dass Murray anmerkt3, die in Preußen Schnellpost genannten, nach Fahrplan verkehrenden Pferdewagen hießen zwar wortwörtlich übersetzt quick-posts, jedoch würden die Engländer die Schnellpost lautmalerisch zu snail-post verballhornen.

Mein Reisetempo übertraf an diesem Montagmorgen das einer Schnecke um ein Vielfaches. Dafür fuhr ich nicht ganz bis Danzig. Mein Ziel hieß Hoppegarten. Ein Ort vor der ersten Murray’schen Wegmarke Vogelsdorf, 1600 Meter hinter der Berliner Stadtgrenze. Dort wartete meine Kutsche auf mich.

Weil in den 1830er-Jahren keine S-Bahnen fuhren und heute keine Schnellpostwagen mehr, hatte ich mich für einen Kompromiss entschieden und mich in den Sattel eines kleinen grauen und bisweilen störrischen Transportmittels geschwungen. Mit fast einem Meter neunzig, davon mehr als die Hälfte Bein, sah ich auf meinem Eselchen recht albern aus. Aber ich liebte es, auch, weil sich mein Drahtesel zusammenklappen ließ. Dann passte er in jede Kutsche.

Meine Reise von Berlin-Mitte Richtung Osten folgte neben Murrays Empfehlungen einem 2000 Jahre alten Heer- und Handelsweg. In Gänze verlief er zwischen dem heutigen Belgien und Russland. Von Aachen über Düsseldorf, Dortmund, Magdeburg, Berlin bis Küstrin-Kietz quert er Deutschland noch immer. Als Bundesstraße 1.

Während ich durch die abgasgeschwängerten Straßenschluchten Berlins strampelte, malte ich mir mein Leben in den bevorstehenden Wochen aus. Ich würde schlafen, wo es schön war, kochen, wo es mir gefiel. Und sogar duschen, wann immer ich Lust danach verspürte.

Was ich nicht ahnte: Nur eine dieser Wunschvorstellungen würde wahr werden.

Dabei bestanden für alle drei beste Voraussetzungen: Bett, Küche und Bad hatte ich an Bord. Was fehlte, wartete in Taschen und Kisten darauf, verstaut zu werden. Das wollte ich am Nachmittag erledigen und morgen früh würde ich frisch, fröhlich und ausgeruht losfahren. Nicht der Sonne entgegen, sondern von ihr geschoben. Gen Westen.

Vorfreude auf Freiheit erfasste mich. Und beinahe ein abbiegender Transporter.

»Warte nur«, schimpfte ich in Gedanken, »bald bin ich so groß wie du!«

Berlin-Mitte hatte ich längst verlassen, Friedrichshain und Lichtenberg gleich darauf, nun war ich im Begriff, den Stadtteil Mahlsdorf und damit Berlin hinter mir zu lassen. Zu Murrays Zeiten wäre Berlin seit der Hälfte von Friedrichshain zu Ende gewesen.

Von der Gegend zwischen der preußischen Metropole – Murray gibt eine Einwohnerzahl von 256 000 an – und den Städten an der Oder hielt der Brite wenig, wäre es doch ein Landstrich, der bis Frankfurt sandig, öde und dünn bevölkert ist. Die Gasthäuser sind meistens schlecht.4

Daran hat sich wenig geändert. Kurz vor der Stadtgrenze reihen sich Filialen von Burger King, City Döner und McDonald’s aneinander. Jedoch sei die Straße gut in Schuss4. Was in diesem Abschnitt stimmt.

Da die B1 in den letzten fünf Jahrzehnten nach und nach verbreitert wurde, spendeten die ursprünglichen Alleebäume keinen Schatten mehr und ich war auf meinem Eselchen kilometerlang der gleißenden Sommersonne ausgesetzt.

Schweißgebadet erreichte ich den Hof des Reisewagen-Vermieters. Weiße Wohnmobile glänzten um die Wette. Keines entsprach den Internet-Abbildungen meines gebuchten Modells, das der sogenannten Activity-Klasse angehörte: »Kompakt und wendig – für Pärchen und junge Familien«.

In der schummrigen autohausähnlichen Anmeldungshalle entbot ich dem Mann hinter dem Empfangstresen einen »Guten Morgen« und sagte meinen Namen. Und er sagte: »So, jetz is’ dit Problem da«.

Das Problem ist schnell erklärt: Mein Reisewagen war nicht nur nicht reisebereit. Er war gar nicht vorhanden. Nur ich. Einen Tag zu früh. Dunkel erinnerte ich mich an Terminschwierigkeiten bei der Buchung.

Der Vermieter meinte, er hätte sich schon gewundert, warum ich Montag kommen wolle, als ich ihm einige Tage zuvor telefonisch mein Erscheinen ankündigte.

»Sie hätten ja was sagen können«, erlaubte ich mir anzumerken.

»Na, so hattense schon mal die Chance, den Weg zu üben.«

Positiv denken, so wichtig!

Mein Wohnmobil sollte morgen eintreffen und mir um 14 Uhr übergeben werden. Ungünstig.

»Wenn wir pünktlich um zwei mit der Übergabe beginnen …«

»Wenn!«, unterbrach mich eine Frau, die bisher im Hintergrund am Computer herumgetippt hatte. Sie hatte zwei dünne geflochtene Zöpfe, die sie etwa zehn Jahre jünger machten, so dass sie aussah wie Anfang dreißig.

»Naja, ich gehe mal vom Besten aus«, sagte ich, weil ich auch positiv denken wollte. »Also, wenn … wäre ich hier kurz vor drei weg, dann muss ich zu meiner Wohnung und das Gepäck einladen. Das heißt, vor halb fünf komme ich nicht los. Ich muss aber spätestens halb sieben in Magdeburg sein. Sonst lässt man mich nicht mehr auf meinen Übernachtungsplatz.«

»Und?«, fragte die Zopffrau, deren Chef dieselbe Frage mimisch darstellte, indem er die Augenbrauen hob.

»A10, A2, 2 Stunden«, sagte er.

»Höchstens!«, ergänzte sie.

»Ich darf keine Autobahn fahren!«

Sie wechselten einen Blick. Manche dürfen nur Automatik fahren, andere nicht ohne Sehhilfe, vielleicht gab es ja Menschen mit Autobahnbenutzungsverbot. Man verlangte nach meinem Führerschein.

Zu ihrer Überraschung fanden sie keine behördliche Einschränkung bezüglich deutscher Schnellverkehrsstraßen.

Ich erklärte, warum meine Fahrt nach Magdeburg mindestens vier Stunden dauern würde. »Ich reise nach Empfehlungen aus dem 19. Jahrhundert. Und da gab es noch keine Autobahnen.«

Sie bemühten sich, ihre Gesichter unter Kontrolle zu halten.

»Gibt’s denn gar keine Möglichkeit, früher zu starten?«

»Nee, wenn der morgen früh rinkommt, denn müssen wa’ den putzen und denn is’ eine Stunde Pause. Müssen wa’ einhalten vom Gesetzgeber her.« Sie warf einen ihrer Zöpfe über die Schulter und guckte mich an, als warte sie auf etwas.

Ich erinnerte mich eines Eintrags im Handbuch für Norddeutschland. Dort steht unter Schmiergeld (grease-money):Beim Halt an einer Poststation wird der Reisende oft gefragt: »Wollen Sie schmieren lassen?«5

Diese Frage steht auf Deutsch im englischen Text. Und in Englisch wird erklärt, es handele sich um das Nachfetten der Räder. Was ein wenig ungenau ist. Geschmiert wurden an jeder Poststation die Achsen, damit die Räder sich nicht festfraßen. Egal ob es gemacht wird oder nicht … die Gebühr wird erhoben.6 So hat diese Sitte angefangen.

Man kann Schmiergeld – inzwischen sorgt es für den leichteren Lauf von Geschäftsverbindungen – als Betriebsausgabe geltend machen, allerdings darf es keine rechtswidrigen Handlungen als Gegenleistung zur Folge habenI und muss vom Empfänger als sonstige Einkünfte versteuert werdenII.

Mein dickes Portemonnaie in der Hand, beugte ich mich leutselig über den Tresen: »Ich bin sicher, wir finden eine Möglichkeit, den Vorgang zu beschleunigen …«

Die Vorlaute blickte zum Vorgesetzten. Der nickte.

»Naja, ohne Pause könnten se den um elwe abholen.« Sie warf den anderen Zopf über die andere Schulter. »Krieg ick aber ’ne Tüte Gummibärchen für!«

Das ließ sich machen. Zumal es sich nicht um Schmiergeld handelte, sondern um ein Schmiergeschenk.III

Distanz: 33 km

BERLIN – KÖLN IGEPÄCK, GEFÄHRT, GARTENZWERGE

»Auszug oder Urlaub?«, fragte mein Nachbar, als ich am folgenden Tag vor dem Haus meine Kutsche belud. Die Frage war aus zwei Gründen berechtigt.

Zum einen, weil mein Gepäck neben Taschen und Kisten einen Sonnenschirm, einen Campingtisch, eine Schreibtischlampe, einen 3-in-1-Tintenstrahldrucker und einen Router für mobiles Highspeed-Internet umfasste. Zum anderen wegen des Aussehens meines Gefährtes. Zunächst zum Gepäck. Oder genauer: der Garderobe für eine Deutschland-Reise.

Die Schuhe sollten doppelt besohlt sein, mit Eisenabsätzen und Nägeln, wie sie in England beim Schießen getragen werden. Das Gewicht eines Schuhs dieser Art steht der wirksame Schutz der Füße vor spitzen und losen Steinen gegenüber, die Quetschungen verursachen können sowie Müdigkeit und Schmerzen. Sie sollten groß genug sein, um keinen Teil des Fußes einzuklemmen. Der erfahrene Fußgänger beginnt nie eine Reise mit neuen Schuhen, sondern mit einem Paar, das bereits der Fußform angepasst ist.7

Zwar war ich kein Fußreisender, doch beabsichtigte ich an die 100 Orte und Örtchen, laute wie stille, aufzusuchen, weshalb ich Schuhwerk, bereits der Fußform angepasst, für alle Witterungen, Weguntergründe und Anlässe mitführte.

Baumwollstrümpfe schneiden die Füße auf einem langen Spaziergang in Stücke; an ihrer Stelle sollten ausnahmslos dicke Kammgarnsocken getragen werden.8

Entgegen dieser Empfehlung hatte ich vier Paar Baumwollsocken neu gekauft, dazu kamen mehrere Paar Sneakersöcklinge und zwei Paar Wollkniestrümpfe, damit ich es des Nachts oder an kühlen Tagen untenrum warm hatte.

Es ist ratsam in Stoffhosen zu reisen, nicht in Leinen, die keinen Schutz bieten gegen Regen oder Temperaturschwankungen in Bergregionen.8

Keine meiner Hosen bestand aus Leinen. Es handelte sich vielmehr um baumwollene, zum Teil mit Elasthan. Drei lange und zwei kurze. Dazu kamen eine Schlafhose (Baumwolle) und eine Trekkinghose aus Polyamid, die in eine kurze verwandelbar war, weil man die Hälfte ihrer Beine abnehmen konnte.

Ein Gehrock ist besser als eine Jagdjacke, die zwar für abgelegene Orte ausreicht, aber in fremden Städten unangenehm auffällt.8

Ich würde in einige fremde Städte kommen. Magdeburg zum Beispiel. Da wollte ich nun wirklich nicht unangenehm auffallen. Also verzichtete ich auf eine Jagdjacke. Was leichtfiel, weil ich gar keine besitze. Nicht mal ein Jagdgewehr. Auch ein Gehrock fehlte meinem Hausstand. Dafür nannte ich andere Jacken mein Eigen und folgte der Schuhstrategie: je eine passend zu Witterung, Gegend und Anlass.

Dass Murray nichts über T-Shirts und Hoodies schreibt, ist nachvollziehbar. Eine Empfehlung für Leibwäsche hätte er wenigstens geben können. Ich packte nach Gutdünken ein. Und auch eine Badehose.

Aber wem vertraute ich mich da in punkto Hosen, Schuhen und Reiserouten eigentlich an?

Oder anders gefragt: Wer iss’n John Murray?

Dafür beginnen wir mit seinem Großvater. Der hieß mit Vornamen John und suchte 1768 nach einer Verdienstmöglichkeit. Obwohl er sich in geschäftlichen Dingen für einen totalen Dummkopf9 hielt, lieh er sich von seiner Frau 700 Pfund und gründete in der Londoner Fleet Street eine Verlagsbuchhandlung. Dank Druck und Verkauf der Werke des dichtenden Lords George Gordon Byron brummte der Laden und Großvater Murray expandierte. Räumlich wie geschäftlich. Er produzierte weitere Erfolge. Darunter Englands erstes Kochbuch für den Massenmarkt. Sein Sohn, er taufte ihn John, führte die Geschäfte fort. 1808 wurde dieser Sohn Vater eines Sohnes, den er überraschenderweise John nannte.

Damit sind wir bei unserem John angelangt. Der studierte ab 1827 an der Universität von Edinburgh, wo er neben Chemie und Mathematik Kurse in Mineralogie und Geologie sowie Französisch und Deutsch belegte. Und Reitstunden nahm. Wovon er später profitierte. Oft legte er größere Reisestrecken im Sattel zurück. Fahrrad fuhr er nicht. Das erste Fahrrad, wie wir es heute kennen, wurde 1892 vorgestellt, im Jahr seines Todes.

Porträt von John Murray, 1904

Quicklebendig und jung, verkehrte unser John in Edinburghs Intellektuellenkreisen und lernte unter anderem den schottischen Schriftsteller Sir Walter Scott kennen, dessen abenteuerliche Historienromane, allen voran »Ivanhoe«, Bestseller der europäischen Literatur waren.

1828 erlebte Murray in den Sommerferien sein erstes Reiseabenteuer. In Schottland. In den nächsten Sommerferien reiste er bereits ins Ausland. Eine Tradition, die er bis ins hohe Alter beibehielt, schreibt John Murrays Sohn – er hieß übrigens John – in seinen Erinnerungen an den Vater.10

Wie und warum John III. die Welt der Reiseliteratur revolutionierte, davon schreibt er 1887 höchstselbst in »Murray’s Magazine«11: Da ich seit meiner frühen Jugend von einer leidenschaftlichen Reiselust besessen war, kam mein sehr nachsichtiger Vater meiner Bitte [reisen zu dürfen] nach, unter der Bedingung, dass ich die Sprache des Landes beherrschte, in das ich reiste. So betrat ich 1829, nachdem ich mein Deutsch aufgefrischt hatte, zum ersten Mal den Kontinent in Rotterdam. … So etwas wie einen Reiseführer für Deutschland, Frankreich oder Spanien gab es damals noch nicht.12

Zwar existierten Reisebeschreibungen für Italien, die Schweiz und Belgien, jedoch fehlte ihnen, Murray zufolge, jede Systematik.13

Ich machte mich auf den Weg nach Nordeuropa, ohne mit irgendeinem Führer versehen zu sein, mit Ausnahme einiger handschriftlicher Notizen über Städte und Gasthäuser in Holland … Es beschämte mich, dass ich bei der Ankunft in Hamburg auf freundliche Hilfe angewiesen war. Dies war es, was mich den Wert praktischer Informationen vor Ort erkennen ließ und ich machte mich daran, alle Informationen zu sammeln, die ein englischer Tourist wahrscheinlich benötigen oder nützlich finden würde. So reiste ich mit dem Notizbuch in der Hand umher. Ob auf der Straße, im Eilwagen oder in der Gemäldegalerie, ich notierte alles, was sich ereignete. Diese Notizbücher (von denen ich viele Dutzend besitze) wurden bei meiner Rückkehr ausgewertet, in Routen geordnet zusammen mit anderen Informationen, die ich über Geschichte, Architektur, Geologie und andere für die Bedürfnisse eines Reisenden geeignete Themen sammeln konnte; und schließlich übergab ich sie meinem Vater. Er … hielt meine Arbeit für veröffentlichungswürdig und gab ihr den Namen »Handbuch«.14

Neu für die damalige Zeit war der umfangreiche Prüfungs- und Überarbeitungsprozess des »Handbook for Travellers«.

Nachdem ich meine Routen erstellt und grob typisiert hatte, fuhr ich fort, sie zu testen, indem ich sie an reisende Freunde auslieh, damit sie an Ort und Stelle überprüft oder kritisiert werden konnten. Ich begann erst nach mehreren aufeinanderfolgenden Reisen und Aufenthalten in Kontinentalstädten mit der Veröffentlichung, nachdem ich nicht nur ausgetretene Pfade durchquert, sondern auch verschiedene Gegenden erkundet hatte, in die meine Landsleute noch nicht vorgedrungen waren.15

1836 erschien der erste Band der Reihe, das »Handbuch für Norddeutschland«. Zwei Jahre später das für Süddeutschland. Der Nord-Band beinhaltete zudem einen umfangreichen Routenteil für Belgien und die Niederlande, der Süd-Band bestand zu zwei Dritteln aus Reiserouten durchs Gebiet des Kaisertums Österreich inklusive seiner Herrschaftsgebiete in Ungarn, Böhmen, Mähren und Galizien, also Teilen des heutigen Tschechiens, Polens und der Ukraine. Die Norddeutschland-Ausgabe hatte einen roten Umschlag. Die süddeutsche erschien in der ersten Auflage zur besseren Unterscheidbarkeit in grünem Einband. Ab der zweiten dann auch in Rot.16 Was zum Markenzeichen der bald »Red Books« genannten Reihe wurde. Erstmalig setzte man auf das Prinzip des Sehenswerten. Also: Wo muss man was gesehen haben und warum. Das später von Murray erfundene Bewertungssystem mit Sternen half bei der Einordnung. Bis 1901 erschienen Handbücher für fast jedes Land Europas. Hinzu kamen ausgewählte außereuropäische Ziele.

Für Sternstunden sorgte der John-Murray-Verlag nicht nur mit seinen Reise-Handbüchern. 1859 brachte John Murray ein Buch heraus, das ebenfalls Neuland beschritt: Charles Darwins »Die Entstehung der Arten«.

An diesem Dienstag um halb zwei wurde nun ich mit Starten des Motors meines vollgepackten Wohnmobils zu einer anderen Art Mensch: zum Camper.

Wir Camper, wir halten zusammen. Helfen uns, unterstützen uns … und grüßen uns. Das hatte ich bereits auf der Fahrt von Hoppegarten nach Berlin-Mitte entdeckt. Während ich über die auf Berliner Stadtgebiet gar nicht mehr so gut in Schuss befindliche B1 geholpert war, hoben entgegenkommende Camperlenker eine Hand zum Gruß. Ab dem dritten hatte ich verstanden, zu welcher Kaste ich nun gehörte. Und grüßte lässig zurück.

Es ist nicht so, dass ich keine Camping-Kenntnisse besäße. In meinen Kindertagen machte ich mehrmals Familienurlaub in einem Wohnwagen. Der den ganzen Sommer an derselben Stelle stand.

Ein Wohnmobil ist kein solch unselbstständiges Anhängsel. Ein Wohnmobil ist etwas Erhabenes. Ein rollendes Königreich. Von meinem Thron herab schaute ich auf all die Kleinst-, Klein-, Kompakt-, Mittelklasse- und Oberklassewagen. Ja, selbst auf SUV. Denn ich fuhr CUV. Ein Crossover Utility Vehicle.

Utility bedeutet Nutzen oder Nützlichkeit. Treffend, weil Basis meines Wohnmobils ein Nutzfahrzeug war: ein Fiat Ducato-Kastenwagen. Fahrerhaus und Laderaum gehen nahtlos ineinander über.

Ursprünglich und hauptsächlich dienen die zwischen fünf und achteinhalb Meter langen Vehikel Handwerkern, Lieferanten oder Menschen, die umziehen, als Transportfahrzeug.

Doch nicht nur Maurerkellen, Möhren und Möbel lassen sich darin kommod unterbringen. Auch Urlaubswillige. Sofern am und im Kasten ein wenig geschraubt wird. Das tun Karmann, Malibu, Hymer, Adria, Pössl und viele andere Vertreter der Freizeitindustrie und sorgen für das Crossover. Wer selbst einen Kastenwagen umbauen will, findet dafür inzwischen umfangreiche Bausätze im Fachhandel oder gestaltet selbst nach Lust, Laune und Fingerfertigkeit. Zum Wohnmobil werden die Lieferwagen durch Einbau von Dachluken, bis zu sieben zusätzlichen ausstellbaren Fenstern, einem Küchenblock vor der seitlichen Schiebetür, einem Doppelbett im Heck sowie einer Nasszelle mit Chemieklo gegenüber der Küche und einer Sitzgruppe, die sich aus einer festen Bank, unterm Fenster einzuhängendem Tisch und den drehbaren Fahrer- und Beifahrersesseln bauen lässt. Dazu kommen Wassertanks, Lichtinstallation, Heizung, Staufächer und im Laufe der Zeit Krümel an schwer erreichbaren Stellen.

Bei den fertig konfektionierten CUV bilden neben dem Fiat Ducato häufig Peugeot Boxer oder Citroën Jumper die Basis. Spielt keine Rolle. Technik und Chassis sind aufgrund von Konzernverwandtschaften weitgehend identisch. Dem Sprinter von Mercedes und dem Crafter von VW, bis 2017 ebenfalls baugleich unterm Blech, begegnet man seltener in Camperform.

Egal welche Form ihr Wohnmobil hatte, ich grüßte alle Camper, die mir begegneten. Wie ich es gelernt hatte durch einmal Handheben. Denen in CUV winkte ich enthusiastisch mit wedelnder Hand, weil wir zur selben Camper-Kategorie gehörten. Was mehrere Handwerker irritierte. Von vorn bleibt ein Kastenwagen doch ein Kastenwagen.

Meiner war außen nicht wohnmobilweiß, sondern grau. Wie ein Esel. Zu meinem kleinen, der zusammengeklappt im Gepäckabteil unterm Doppelbett lag, hatte ich einen großen bekommen. Das Muttertier.

Sechs dynamisch geformte, auf alle Karosserieteile gepappte schwarze Aufkleber verliehen meinem grauen Kastenesel das nötige Outdoor-Freedom-Fun-Outfit.

Mit dem Passieren des Brandenburger Tors hatte ich das Berlin des John Murray verlassen und befand mich auf dem Weg nach Charlottenburg, ein kleines Dorf an der Spree, hauptsächlich geprägt von Villen und Tavernen, eine Sommerresidenz der Reichen und im Sommer Erholungsgebiet der bescheideneren Klassen von Berlin17.

Abgesehen von ein paar einstöckigen Häusern aus dem 17. Jahrhundert Haubach-/Ecke Wilmersdorfer Straße, hatten vor Stuck triefende Vier- und Fünfstöcker des ausgehenden 19. und mehr oder weniger formschöne Bauten des 20. Jahrhunderts das dörfliche Charlottenburg verdrängt. Geblieben war das Selbstverständnis der Charlottenburger. Wer in diesem Berliner Stadtteil wohnt, gehört meist zu den Betuchteren oder hält sich dafür. In vielen Straßen reiht sich eine moderne Taverne an die nächste und am Lietzensee sucht auch der bescheidenere Berliner Erholung.

Ich suchte den Weg nach Potsdam. Über die Autobahn A115 ist er leicht zu finden. Eine Strecke, die natürlich ausschied.

»Plopp«, machte mein Telefon, was den Eingang einer Nachricht bedeutete.

»Na, wo steckt mein Hasenmann gerade?«, las ich nicht, da ich ja am Steuer saß.

Die vertrauliche Anrede offenbart, die Absenderin steht mir recht nahe. Manchmal ruft sie mich sogar »Hasi«, was insofern erstaunlich intim ist, als dass sie kulturkreisbedingt ihre Großeltern siezt.

Weil ich am Steuer saß, antwortete ich nicht, dass ich auf der Bundesstraße 5 fuhr, eine Fernstraße, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Gebiete an der dänischen Grenze im Nordwesten mit denen an der Oder im Osten verbindet. Auf ihr reiste – das lässt sich leicht aus der Reihung der Orte in den Routen-Beschreibungen erkennen – schon der selige John. Und da ich auf seinen Spuren wandelte, würde ich in den kommenden Wochen ausschließlich auf Landstraßen unterwegs sein.

Was für die östlichen Berliner Ausfallstraßen galt, traf ebenso auf die im Westen zu: Die Gasthäuser am Wegesrand boten keine Haute Cuisine. Ich kehrte kurz vor der Stadtgrenze im Rasthaus Zum Goldenen M ein.

Den McDrive zu nutzen traute ich mich nicht, dafür erschien mir mein Reisemobil zu hoch. Seine exakte Höhe herauszufinden, indem ich ein Vordach rammte, hielt ich für kontraproduktiv. So holte ich mir drinnen ein Menü to go und speiste bei offener Schiebetür auf dem Boden meiner Behausung sitzend, die Füße auf dem Parkplatzasphalt. Davon nur wenige Zentimeter entfernt schob sich eine Schlange aus Autos vorbei, die samt Insassen am Fahrzeugschalter anstanden.

»Ihr fahrt gleich wieder in euer Wohnungsgefängnis«, rief ich den Insassen in Gedanken zu. »Ich fahre in die Freiheit!«

Ich schrieb der Hasenfrau eilends ein paar Zeilen, dann musste ich weiter. Spätestens 18 Uhr 30, wenn die Schranke an meinem Übernachtungsplatz schloss, endete meine Freiheit.

»In sechzig Metern rechts abfahren«, wies mich eine Stimme auf den Abzweig hin, der dreißig Meter hinter mir lag. Auf einer vierspurigen Bundesstraße mit Mittelstreifen wendet es sich schlecht. So fuhr ich weiter westwärts, statt mich gen Süden nach Potzdam zu orientieren.

Ich nahm es als Wink des Schicksals, denn um diese Tageszeit würde Potzdam zur Staufalle werden. Jawohl, Potzdam. Das steht bei Murray. Die dort befindliche Sommerresidenz Sanssouci von Preußenkönig Friedrich II. und seiner Nachfolger schreibt er Sans Souci, was im Sinne französischer Rechtschreibung korrekt ist und übersetzt »ohne Sorge« bedeutet. Ich befand mich im gegenteiligen Zustand, da ich mich, kaum unterwegs, schon verfahren hatte.

Dadurch entging mir das preußische Versailles. Man kann es als Stadt der Paläste bezeichnen, nicht nur wegen der vier königlichen Residenzen darin und drum herum, sondern weil selbst die Privathäuser bekannte Bauwerke nachahmen, allerdings mit Wohnungen für mehrere Familien darin. Die Ödnis der Straßen steht oft im eigenartigen Kontrast zur Pracht ihrer Architektur18.

Infolge meines schlafmützigen Navigationsgerätes stand meine Fahrstrecke in eigenartigem Kontrast zu Route 58, die eigentlich nicht die Strecke Berlin–Köln, sondern Köln–Berlin beschreibt. Für einen fortlaufenden Reiseweg reiste ich einige Routen verkehrt herum. Jetzt war ich unfreiwillig richtig herum unterwegs, allerdings auf Route 61, Berlin–Hamburg.

Dorthin führte der Weg über Nauen. Das zu beschauen, klang wenig lohnenswert: Der größte Teil wurde 1830 bei einem Feuer zerstört.19 Wenngleich ich vermute, die größten Schäden wurden inzwischen beseitigt.

Es galt, auf die ursprünglich geplante Route zurückzufinden, die südlicher verlaufende B1, um über Großkreutz, Brandenburg, Genthin und Burg nach Magdeburg zu gelangen.

Ich war noch nie in Magdeburg!

Bei der nächsten Gelegenheit schwenkte ich nach Süden und geriet ins brandenburgische Nebenstrecken-Nirvana.

Frau Navi irritierte das. Während ich auf einer frisch asphaltierten Straße fuhr, zeigt sie mich auf ihrem Display in Form eines blauen Pfeils an, der über glattes Grün glitt.

Irgendwann entsprach die Strecke auf Frau Navis Anzeige wieder dem Weg vor der Windschutzscheibe. Natürlich abzüglich der bis zu hundert Meter, die ihre Angaben von meiner tatsächlichen Position abwichen.

Puristen mögen einwenden, moderne Orientierungshilfen wie ein Navigationsgerät widersprächen dem Gedanken, möglichst authentisch historische Routen abzureisen. Müsste ich nicht mit papierenen Karten reisen? Historischen gar?

Ich hatte die neuesten an Bord. Zwölf Stück, die die Bundesrepublik im Maßstab 1:300 000 abbildeten. Die Routen hatte ich mit Bleistift eingezeichnet.

Karten zu nutzen wäre dennoch viel weniger authentisch gewesen, als sich kundiger Führung anzuvertrauen.

Ein Führer ist, obwohl es sich um einen teuren Luxus handelt, ein Luxus, der die Leichtigkeit und das Vergnügen des Reisens sehr fördert und nur wenige, die es sich leisten können, werden auf den Vorteil seiner Dienste verzichten. Er bewahrt seinen Herrn vor Ermüdung des Körpers und Ratlosigkeit des Geistes, löst Schwierigkeiten mit langen Abrechnungen und fremden Währungen … [und] schlichtet Streitigkeiten mit Gastwirten, Postmeistern und dergleichen. Ein Reiseführer ist, sofern klug und erfahren … eine sehr nützliche Person.20

Okay, Murray meint echte Menschen. Streitigkeiten mit Postmeistern und Schwierigkeiten mit fremden Währungen würde ich auf meiner Reise wohl keine bekommen. Ratlosigkeit meines Geistes konnte Frau Navi durchaus lindern, denn drückte man die richtigen Touchscreenfelder, gab sie schriftlich Hinweise auf Sehenswürdigkeiten, kannte die Adressen von in der Nähe befindlichen Gasthäusern und wusste, wo ich Futter, sprich Diesel, für meine 140 Pferdchen bekam. Dass sie ein bisschen Schwierigkeiten mit der Orientierung hatte … Herrje, sind Menschen fehlerfrei?

Die Fehler vieler Führer, die Reisenden ihre Dienste anbieten, sind zahlreich und ernst: obwohl sie … bezahlt werden, leben sie auf Kosten des Reisenden, das heißt, sie zahlen nichts in den Gasthäusern. Wäre das alles, wäre es unwichtig. Tatsache ist, dass sie regelmäßig ihre Schützlinge bestimmten Gastwirten zuführen, die sie kennen. Dafür verlangen sie eine Provision im Verhältnis zur Anzahl und Aufenthaltsdauer der Reisenden. Diese wird dem Reisenden wiederum [vom Wirt] … in Rechnung gestellt.21

Frau Navi kostete mich vor allem Zeit. Einerseits. Andererseits lernte ich – hatte sie mal wieder einen Abzweig zu spät angesagt – wie man ein Wohnmobil schnellstmöglich in drei Zügen wendet. Außerdem war die Gegend schön, durch die wir irrten.

Auf den Feldern wogten grüne Ähren, rot leuchtete der Klatschmohn darin und die Kornblumen blau. Üppig belaubte Bäume standen am Straßenrand Spalier und die von skelettgleichen Masten gespannten Überlandleitungen säumten wie vergessene Girlanden den Horizont.

Brandenburg: Land

Verkehr herrschte kaum. Und wenn, löste er Herzrasen aus. Zum ersten Mal in meiner ein Vierteljahrhundert andauernden Fahrzeugführerkarriere steuerte ich ein Wohnmobil. Es verführt zum Bummeln. Weil man auf einem dicken Sessel thront. Weil es hinter einem in den Kisten, Stau- und Geschirrfächern unentwegt klappert und rappelt und weil vorbeibrausende Fahrzeuge den Wohnkasten wanken lassen.

Auf den schmalen Alleen genügten mir 70 Kilometer die Stunde, 80 fühlten sich schnell an, 60 sicher.

Die auf dem Nachhauseweg befindlichen Eigenheimbewohner der umliegenden Dörfer sahen das anders. Besonders, wenn 100 Kilometer pro Stunde gestattet waren. Die meisten klemmten sich dicht hinter mich, sodass ich sie trotz meiner extragroßen Außenspiegel nicht sah. Ein Innenspiegel fehlte meinem Gefährt (was mich nicht davon abhielt, bis zum Ende der Reise regelmäßig an die gewohnte Stelle zu schauen).

Gerne schoss die Landbevölkerung unvermittelt und ohne Rücksicht auf kommende Kurven und Überholverbote hinter mir hervor und vorbei. Oder tat dasselbe bei LKW auf der Gegenfahrbahn, so dass wir – für meinen Geschmack viel zu lange – aufeinander zu rasten.

Gelegentlich geriet ich auf Straßen, denen ob ihrer geringen Breite die Markierung in der Mitte fehlte und leider auch Schilder, die 40-Tonnern verbot, diese Straßen zu benutzen.

Als der erste auf mich zuhielt, steuerte ich soweit wie möglich an die rechte Seite und hielt an.

Ein Hupen hinter mir ließ mich die Augen wieder öffnen.

Dabei fuhr ich die zweitschmalste Wohnmobilausführung, breitenmäßig unter mir kamen nur Campingbusse wie der berühmte Bulli von VW, alle anderen Camper waren breiter als mein Kastenwagen.

Um meinen Puls zu entschleunigen, pausierte ich in einer Feldzufahrt, fotografierte Mohnblumen und maß aus Spaß in Ein-Meter-Schritten die Straßenbreite. Von der einen bis zur anderen Seite benötigte ich fünf Schritte. Die Breite meines Gefährtes betrug zwei Meter fünf. LKW dürfen höchstens fünfzig Zentimeter breiter sein. Kühllastern gestattete die StVO wegen ihres Dämmmaterials fünf weitere Zentimeter. Schlechtestenfalls blieben 35 Zentimeter zwischen mir und den Entgegenkommenden. Sofern beide am Rand der Fahrbahn fuhren, reichte das.

Darauf vertrauend hielt ich bei den nächsten Lastzügen nicht mehr an, sondern stattdessen den kleineren rechten Außenspiegel im Blick, der, unter dem Großen montiert, den Straßenrand zeigte. Allmählich bekam ich den Bogen raus und zirkelte millimetergenau auf der Außenmarkierung entlang.

Retzow, Möthlow, Marzahne hießen Dörfer, durch die mich Frau Navi führte. In letzterem buhlte eine Filmtierschule mit angeschlossenem Tierpark um Besucher. Die Gans aus dem DDR-Fernsehfilm »Die Weihnachtsgans Auguste« von 1988 war hier geschlüpft und trainiert worden. Die Kühe und Pferde in Tarantinos »Inglourious Basterds« stammten aus Marzahne. Und Rennschwein Rudi Rüssel.

Brandenburg: Stadt

Das ursprünglich anvisierte Murray’sche Gross Kreutz, heute Großkreutz, verpassten mein Gefährt, Frau Navi und ich. Dafür kamen wir endlich zurück auf Route 58 und erreichten Brandenburg an der Havel. Diese Stadt mit 13 000 Einwohnern wurde an den Grenzen der Havel errichtet, das »Burg« genannte Viertel mit dem Dom befindet sich auf einer Insel im Fluss. … Die Kirche St. Katharina, gebaut 1410, enthält ein altes Taufbecken und mehrere eigentümliche Denkmäler. Den Dom, noch älter (1318), verzieren alte Statuen und Gemälde im Stil von Cranach, in seinen Gewölben sind drei Markgrafen begraben. … [Der Dom] wurde vor kurzem äußerlich durch Schinkel restauriert und neu geweiht.22

Der damals oberste preußische Baubeamte Karl Friedrich Schinkel werkelte von 1833 bis 1836 am Dom. Er rettete, was zusammenzustürzen drohte, verblendete den oberen Teil des Westgiebels in neugotischem Stil und fügte Zinnenkränze auf dem Stumpf des Südturms hinzu.

Weder den Dom, noch St. Katharina, nicht »the Gerichtshaus«, noch die angeblich beachtenswerten Stadttore, ja nicht einmal den 18 Fuß hohen Roland auf dem Markt sah ich.

Eine Umleitung führte mich stattdessen an Brandenburgs beeindruckenden Stahlwerken entlang. Riesenhafte Hallen aus rotem Ziegel, in denen es krachte und knirschte.