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Maras Dickkopf hat sie in ernste Schwierigkeiten gebracht. Ihre Eltern haben sie bei Tante Ailis untergebracht, die im schottischen Nirgendwo eine Pension betreibt. Ihr Cousin Lennox macht Mara vom ersten Tag an unmissverständlich klar, dass er sie am liebsten ganz schnell wieder loswerden will. Doch Mara weiß sich zu wehren und zahlt ihm seine Streiche mit gleicher Münze heim. Aber bald wird den Kindern klar, dass noch jemand sein Unwesen in dem alten Gemäuer treibt. Immer unheimlichere Vorkommnisse drohen die Gäste zu vergraulen. Also raufen sich die Kinder zusammen und versuchen gemeinsam den unbekannten Übeltäter aufzuhalten. Doch je weiter ihre Nachforschungen gehen, desto mehr müssen sie die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sie es mit einem übernatürlichen Wesen aufnehmen müssen.
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Magdalena öffnete ihre Augen nur einen Spaltbreit. Für mehr fehlte ihr schlicht die Kraft. Um sie herum herrschte Dunkelheit. Nur ein schwaches, bläuliches Glimmen erhellte die Umgebung, aber das reichte bei Weitem nicht aus, um etwas erkennen zu können. Das war aber auch nicht nötig. Magdalena wusste genau, wo sie war. Eben deshalb wollte sie endlich aufwachen und diesen düsteren Ort verlassen, wenigstens für ein paar Stunden.
Doch immer wieder fielen ihr die Augen zu, so sehr sie sich auch dagegen zur Wehr setzte. Die bleierne Müdigkeit, die sie immerzu gefangen hielt, war auch in dieser Nacht ein fast übermächtiger Gegner. Trotzdem kämpfte sie gegen diesen Gegner an, zwang sich immer wieder, die Augen zu öffnen, vielleicht auch eine Hand zu bewegen, ein Bein zu strecken. Und stets verließen sie ihre Kräfte wieder und sie glitt in ihren tiefen Schlaf zurück.
Aber Magdalena konnte spüren, dass dort draußen, jenseits der dicken Mauern, die Hitze der vergangenen Monate nachgelassen hatte. Sie wusste auch, dass eine leichte und kühle Brise vom Meer herüberkam und durch das Laub der Bäume strich. Dass der Wind die Wolken vertrieben hatte und nun der Mond schien, voll und hoch am Himmel stehend. Nach seinem Licht sehnte sie sich immerzu und diese Sehnsucht war stark. So stark, dass sie in manchen Nächten sogar ihre unendliche Müdigkeit besiegen konnte.
In dieser Nacht würde sie siegen. Magdalena war fest dazu entschlossen. Noch einmal nahm sie alle ihre Kräfte zusammen und konzentrierte ihre Gedanken nur auf dieses eine Ziel. Sie versuchte nicht mehr, die Augen zu öffnen. Blind erhob sie sich und begann langsam, aber mit schlafwandlerischer Sicherheit, den langen und beschwerlichen Weg hinaus ins Freie.
Sie brauchte eine halbe Ewigkeit, doch als sie die modrige Luft des Gemäuers hinter sich gelassen hatte und die frische Nachtluft auf ihrem Gesicht spürte, wurde es leichter. Zumindest ein wenig. Die kurze Strecke über den Hof hinüber zu den Bäumen war für Magdalena noch immer quälend lang. Aber als sie endlich auf der kleinen Lichtung angekommen war und durch ein halb geöffnetes Augenlied den Mond betrachten konnte, der durch das Blätterdach schimmerte, während sie sich von der sanften Brise hin und her wiegen ließ, begann die Müdigkeit endlich von ihr abzufallen.
Ganz allmählich wurde sie kräftiger. Bald schon war es kaum noch anstrengend, die Augen offen zu halten. Die Gliedmaßen waren nicht mehr ganz so steif und Magdalena begann, ihre Kreise im Mondlicht zu ziehen. Sie breitete die Arme aus, drehte sich um die eigene Achse und freute sich über die wunderbare Nacht. In ihrem dünnen Kleid hätte sie eigentlich frieren müssen. Aber Magdalena fror schon lange nicht mehr. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte es noch viel kälter sein können. Lange tanzte sie auf der kleinen Lichtung und sie fühlte sich dabei so frei und unbeschwert wie schon lange nicht mehr.
Schließlich hielt sie inne und schaute hinauf zum Turm. Hinter seinen Fenstern war es dunkel, so wie das ganze Haus im Dunkeln lag. Würde sie heute Nacht sogar so sehr zu Kräften kommen, dass sie sich dort oben wieder einmal umsehen konnte? Möglich wäre es! Der Mond schien so hell und die Nacht war noch nicht sehr alt.
Irgendetwas mit sehr vielen Beinen krabbelte über ihre nackten Füße. Aber Mara kümmerte sich nicht darum. Regungslos hockte sie in ihrem viel zu kleinen Versteck und versuchte krampfhaft, jedes verräterische Geräusch zu vermeiden. Ihre Beine waren schon völlig taub und ihre Knie schmerzten. Aber mehr, als gelegentlich ihren steifen Nacken ein klein wenig zu bewegen, war ausgeschlossen. Sie traute sich ja noch nicht einmal, einen tiefen Atemzug zu machen. Von Zeit zu Zeit spähte sie durch die kleine Öffnung, die sie in ihrer Tarnung aus Farnen und Blättern frei gelassen hatte. Aber es war fast Neumond und von dem wenigen Licht, dass die schmale Mondsichel zur Erde warf, gelangte kaum etwas durch das dichte Blätterdach über ihr. Also hielt Mara die meiste Zeit die Augen geschlossen, versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen und konzentrierte sich auf ihr Gehör. Nachts war auf die Ohren mehr Verlass als auf die Augen, und das galt ganz besonders im Dschungel.
Bis jetzt hatte sich alles wie immer angehört. Den Grundton bildete das Zirpen und Summen von unzähligen Insekten. In den Baumwipfeln rauschte ein leichter Wind. Wasser tropfte von Blättern und fiel mit einem leisen Plätschern in die Pfützen, die sich am Boden gesammelt hatten. All diese Geräusche waren noch immer da. Was fehlte, waren die Rufe von Tieren, von Vögeln oder kleinen Säugern, die sich sonst gegenseitig riefen, warnten oder einfach nur Lärm machen wollten. Schon seit einigen Minuten war es um Mara herum leiser geworden, ganz so, als ob der Dschungel den Atem anhielt. Irgendetwas Fremdes musste in der Nähe sein. Die Tiere hatten es bemerkt und verhielten sich nun genauso still wie Mara, die inzwischen schon seit Stunden auf der Lauer lag.
Um ganz mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, hatte sie jeden Flecken Haut, den das ärmellose Hemd und die kurze Hose frei ließen, mit Dreck und Erde beschmiert. Selbst ihre Haare und das Gesicht hatte sie mit Schlamm aus dem Bachbett eingerieben, der inzwischen zu einer harten Kruste geworden war. Trotzdem kitzelten sie die kleinen Beinchen und Fühler der Falter, die sich von Zeit zu Zeit auf ihr niederließen, ganz besonders, wenn sie es auf den Ohren oder der Nase taten.
Mara hatte wieder die Augen geschlossen und lauschte. Die Stille war nun ganz deutlich zu hören. Was immer sich da durch den Dschungel bewegte, es musste nun ziemlich nahe sein. Maras Herz begann unerhört laut zu klopfen, während ihr Atem fast stillstand. Angespannt konzentrierte sie sich auf irgendein Geräusch, das den Neuankömmling verraten würde. Mit den Ohren suchte sie die Umgebung ab. Von welcher Seite würde ihre Beute sich wohl nähern? Würde sie hinter ihr den Hang herabschleichen? Würde sie seitlich aus dem Dschungel auf die Lichtung treten? Oder würde sie, wie Mara es vermutete und hoffte, vom Wasserlauf kommend die leichte Steigung hinaufklettern? Denn dann hätte ihre Beute keine Chance zu entkommen. War sie erst einmal auf der Lichtung, würde Maras Falle zuschnappen. Dann konnte nichts mehr schiefgehen.
Da! Ein leises Schnauben! Luft, die durch Nasenlöcher gesogen wurde. Der Dschungel war voller Gerüche. Aber von der kleinen Lichtung, an deren Rand Mara sich ihr Versteck gebaut hatte, strömte ein ganz besonders verlockender Geruch aus. Mara hatte aus Süßkartoffeln, Dosenfleisch und Fischköpfen ihre Spezialpaste angerührt und auf der Lichtung als Köder ausgelegt. Und dieser Geruch hatte ihre Beute angelockt. Wahrscheinlich stand sie schon am Rande der Lichtung, unschlüssig, ob sie sich weiter vorwagen konnte oder lieber wieder im Dickicht verschwinden sollte.
Wieder ein leises Schnauben. Kein Zweifel, etwas war ganz in der Nähe. Etwas Großes. Mara hatte die Augen jetzt weit aufgerissen und versuchte, irgendetwas zu erspähen, einen Schatten vielleicht, oder ein funkelndes Augenpaar. Aber nichts war zu sehen. Noch hielt das Tier sich gut versteckt. Dass ein Mensch hier gewesen war, wusste es. Aber das war bereits Stunden her. Der Geruch hatte sich inzwischen verflüchtigt. Jetzt schien kein Mensch mehr in der Nähe zu sein. Konnte das Tier es wagen, auf die Lichtung zu treten?
Es konnte! Mara hatte seine Schritte nicht gehört und auch kein Schnauben mehr vernommen. Aber das winzige rote Licht an ihrer Kamera zeigte nun an, dass irgendetwas durch die Lichtschranke getreten war und sich auf die Mitte der Lichtung zubewegte. Als das Tier den unsichtbaren Lichtstrahl unterbrach, hatte sich die Kamera automatisch eingeschaltet und zu filmen begonnen. Nicht die immer noch schwarze Nacht, in der nichts zu erkennen war. Die Kamera filmte infrarot. Sie zeichnete Wärmestrahlung auf, und auch wenn Mara ihre Beute nicht sehen konnte, auf den Bildern der Kamera würde man den warmen Körper ihrer Beute vor dem kühleren Hintergrund deutlich sehen.
Mara war kurz vorm Ziel. Jetzt durfte ihr kein Fehler unterlaufen. Kein Geräusch, kein Niesen oder Husten, kein knackender Ast, kein heftiges Atmen. Wenn sie jetzt ihre Beute verschreckte, waren das lange Warten und die wochenlangen Vorbereitungen umsonst gewesen. Sie zwang sich dazu, nicht die Luft anzuhalten, sondern ganz flach weiter zu atmen und die Sekunden zu zählen. Sie war bei 24 angekommen und fürchtete schon, ihre Beute wäre umgekehrt und längst wieder im Wald verschwunden, als plötzlich eine ganze Serie greller Blitze die Lichtung taghell erleuchtete.
Da stand er. Mitten auf der Lichtung. Der Katzenkopf mit den spitzen Ohren direkt über dem Köder, die auffällige Fellzeichnung auf dem schlanken Körper, die kräftigen Beine und der lange Schwanz eines Baumkletterers. Ein Nebelparder! Für einen Wimpernschlag steif vor Schreck.
Doch das Tier brauchte nur Millisekunden, um zu reagieren. Mit einem gewaltigen Satz machte es kehrt und verschwand auf dem Weg, den es gekommen war, wieder im Gebüsch. Die Lichtblitze und das Klackern der Kamera, die nun statt der Infrarotaufnahmen bei jedem Lichtblitz ein Foto von dem scheuen Waldbewohner gemacht hatte, endeten. Mara konnte noch hören, wie der Nebelparder durch das Unterholz floh. Dann wurde es wieder so still wie zuvor.
Erleichtert sprang Mara aus ihrem Versteck, so schnell sie das mit ihren steifen Beinen eben konnte, und eilte mit ihrer Taschenlampe zu der Stelle, an der vor wenigen Sekunden noch ein echter Nebelparder gestanden hatte. In dem weichen Untergrund waren deutlich die Abdrücke seiner Tatzen zu erkennen.
Im Schein ihrer Lampe mischte sie Gips an und goss damit vorsichtig einige der deutlichsten Abdrücke aus. Dann baute sie ihre Ausrüstung ab, die Blitzlampen mit den inzwischen leeren Blitzkartuschen, die Lichtschranke und natürlich die Kamera, ihren größten Schatz. Dabei konnte sie es sich nicht verkneifen, auf dem kleinen Monitor auf der Rückseite der Kamera einen ersten Blick auf die Bilder zu werfen, die sie gerade von dem Nebelparder gemacht hatte. Da stand er, in aller Pracht und gestochen scharf. Die auffällige Maserung, die nur diese Art von Großkatzen hatte, war deutlich zu erkennen. Oder auch nicht deutlich, denn diese Flecken auf seinem Fell schien das Tier wie im Nebel zu verstecken. Es war halt ein Nebelparder.
Zuletzt packte Mara vorsichtig die ausgehärteten Gipsabdrücke in ihren Rucksack, dann machte sie sich auf den Heimweg. In absoluter Hochstimmung suchte sie sich ihren Weg durch den Dschungel, und nach einer knappen Stunde hatte sie mithilfe von Kompass und Taschenlampe nach Hause gefunden.
Als Mara müde, aber glücklich, in der Nähe des Camps aus dem Dschungel trat, legte sich ihre gute Stimmung jedoch rasch wieder. In dem kleinen Bungalow brannte Licht und das konnte nur bedeuten, dass ihr nächtlicher Ausflug nicht unentdeckt geblieben war. Als sie auf den Bungalow zuging, hörte sie wie zur Bestätigung einen spitzen Schrei, der nach einer merkwürdigen Mischung aus Erleichterung und Wut klang. Mara erkannte eine Person auf der Veranda des Bungalows und ahnte schon, was nun für ein Donnerwetter über sie hereinbrechen würde. Ihre Mutter hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah ihrer Tochter wütend dabei zu, wie sie mit der schweren Ausrüstung auf dem Rücken die letzten Meter bis zum Bungalow zurücklegte.
Als Mara nur noch ein paar Schritte zu gehen hatte, nahm ihre Mutter ein Funkgerät vom Gürtel und drückte die Sende-Taste. „Marc, deine Tochter ist wieder aufgetaucht“, sprach sie in das Gerät. „Völlig verdreckt ist sie gerade aus dem Dschungel gekrochen.“ Sie ließ die Taste los und funkelte Mara zornig an. „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Was fällt dir ein, mitten in der Nacht in den Dschungel zu verschwinden?“
Mara wollte antworten, kam aber nicht dazu. Durch das Funkgerät meldete sich ihr Vater. „Geht es ihr gut? Hat sie sich verletzt?“
Maras Mutter drückte wieder die Sende-Taste. „Keine Ahnung, sieht nicht so aus, aber frag‘ sie selbst!“ Ihre Mutter reichte Mara das Funkgerät, aus dem sich jetzt wieder ihr Vater meldete: „Mara, bist du verletzt?“
„Hallo Papa, mir geht es gut. Aber stell dir vor: Ich hatte recht, ich hatte wirklich recht. Es gibt Nebelparder unten am Fluss. Ich habe einen gesehen und ihn sogar fotografiert!“
Sie ließ die Sende-Taste los und sah ihre Mutter triumphierend an. Niemand hatte ihr glauben wollen, dass die schon etwas verwaschenen Spuren, die sie vor ein paar Wochen entdeckt hatte, von einem Nebelparder stammten. Aber der Blick ihrer Mutter zeigte leider keinerlei Anerkennung. Noch nicht einmal Interesse. Eher blanke Wut.
„Ich glaub‘ es nicht!“, kam es aus dem Funkgerät. Ihr Vater war anscheinend auch nicht in besserer Stimmung. „Du kletterst nachts allein auf Leopardenjagd im Dschungel herum? Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?“ Auf die Frage erwartete er offensichtlich keine Antwort, denn er wandte sich gleich an Maras Mutter. „Hannah, hörst Du noch zu?“
Ihre Mutter nahm Mara das Funkgerät ab. „Ich höre dich!“
„Wir kommen jetzt zurück. Wir waren schon fast am Fluss. In einer knappen Stunde müssten wir im Camp sein.“
„Gut. Seid vorsichtig!“
Sie legte das Funkgerät beiseite und deutete mit einer unwirschen Handbewegung in Richtung der Dusche. Mara nahm den Rucksack vom Rücken und stellte ihn auf die Veranda. „Wirklich, er war da!“, begann sie noch einen Erklärungsversuch. „Ich habe eine Fotofalle aufgestellt und eine ganze Serie Fotos gemacht. Jetzt können wir…“
„Duschen ist das Einzige, was du jetzt noch machen kannst!“, unterbrach ihre Mutter sie. „Danach gehst du ins Bett und da kannst du dir dann gut überlegen, wie du dich bei all denen entschuldigen willst, die deinetwegen heute Nacht kaum ein Auge zugemacht haben. Los jetzt!“ Ihre Mutter schob sie in Richtung der Dusche, die eigentlich nur ein großes Kunststofffass auf einem Gestell war, mit einem Sichtschutz aus Planen. Frustriert stellte Mara sich angezogen, wie sie war, unter das Fass und zog an der Schnur, die vor ihr baumelte. Aus einer kleinen Brause am Boden des Fasses kam ein dünner Wasserstrahl und Mara begann damit, sich den Schlamm aus den Haaren zu spülen.
„Ihr schickt mich auf ein Internat?“, schrie Mara. Ihre Stimme klang dabei ungewohnt schrill und überschlug sich. Sie war von ihrem Stuhl aufgesprungen und starrte abwechselnd ihre Mutter und ihren Vater an.
„Aber nein!“, beeilte sich ihre Mutter zu versichern und machte mit den Händen eine beruhigende Geste.
„Setz dich wieder hin und hör doch erst mal zu!“, sagte ihr Vater und bedachte Mara mit einem strengen Blick.
Also setzte sich Mara wieder, war aber keineswegs beruhigt. So böse konnten ihre Eltern ihr doch gar nicht mehr sein! Seit über einer Woche herrschte jetzt schon Eiszeit zwischen Mara und ihren Eltern, obwohl bei der unmenschlichen Hitze „eisig“ vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck war. Alle drei waren schon schweißgebadet, und dabei war die Sonne erst vor einer halben Stunde aufgegangen. Trotzdem kannte Mara keinen treffenderen Begriff dafür, dass ihre Eltern in den letzten Tagen nur noch das allernötigste mit ihr gesprochen hatten. Umso misstrauischer war sie geworden, als sie sich an diesem Morgen nach dem Frühstück noch einmal an den Tisch setzen sollte. Ihre Eltern wollten etwas Wichtiges mit ihr besprechen, während die anderen Bewohner des Camps schon zu ihrer Arbeit aufbrachen.
Das Camp war eigentlich nicht viel mehr als ein kleiner, selbst gezimmerter Bungalow mit einer Veranda, um den herum einige Zelte aufgebaut waren. Es lag etwas oberhalb des Flusses auf einer Lichtung am Fuß eines Berges. Die meisten Bewohner waren Wissenschaftler. Maras Eltern zum Beispiel waren Botaniker, kannten sich also mit Pflanzen aus. Sie leiteten die Expedition, die dieses noch weitgehend unberührte Gebiet im tiefsten Dschungel erforschen sollte. Von klein auf hatte Mara ihre Eltern auf Forschungsreisen wie diese begleitet. Und Mara liebte dieses Leben voller Abenteuer. Andere Kinder in ihrem Alter mussten jeden Morgen in die Schule gehen, während Mara schon die halbe Welt gesehen hatte. Aber mit diesem aufregenden Leben sollte es nun bald vorbei sein. Nichts weniger hatte ihre Mutter gerade verkündet.
„Papa und ich haben beschlossen, dass du nicht länger hierbleiben kannst“, hatte sie rundheraus erklärt und dann noch hinzugefügt: „Es ist zu gefährlich geworden und außerdem brauchst du eine gute Ausbildung. Wir schicken dich nach Hause, auf eine richtige Schule.“ Das konnte ja wohl nichts anderes heißen, als dass sie doch auf eines dieser Internate gehen musste.
„Wir haben schon darüber nachgedacht, als wir diese Expedition geplant haben“, erklärte nun ihr Vater. Er saß am Kopfende des Tisches und sprach mit dieser Stimme, die er nur für ernste Vorträge benutzte: „Aber damals haben wir entschieden, dass es noch zu früh dafür ist und wir dich lieber noch ein Jahr bei uns behalten wollen. Wir sind ja bislang auch immer ganz gut zurechtgekommen. Doch jetzt liegen die Dinge nun mal anders!“ Ohne dass er es aussprach, war klar, worauf Maras Vater anspielte. Die „Eiszeit“ zwischen Mara und ihren Eltern kam ja nicht von ungefähr.
Alles hatte mit den Spuren begonnen, die Mara im weichen Sand am Ufer des Flusses sofort aufgefallen waren. Durch den Regen waren sie schon etwas verwaschen gewesen, aber für Mara hatte es keinen Zweifel daran gegeben, dass sie auf die Spuren einer Großkatze gestoßen sein musste. Zurück im Camp hatte Mara erste Nachforschungen angestellt. Es gab tatsächlich Berichte von Nebelpardern, die entlang des Flusses ihre Reviere hatten. Nebelparder waren zwar relativ klein, jedenfalls kleiner als Leoparden, aber dennoch echte Großkatzen. Ihren Namen verdankten sie der seltsamen Musterung auf ihrem Fell, die sie für das Auge wie im Nebel verschwimmen ließ. Und die Spuren unten am Fluss konnten durchaus von einem ausgewachsenen Nebelparder stammen.
Doch dies hatte Maras Eltern weit weniger beeindruckt, als Mara gehofft hatte. Ihr Vater hatte gar nicht richtig zugehört und ihre Mutter hatte nur gemeint, man habe in dieser Gegend schon seit 40 Jahren keine Nebelparder mehr gesichtet. „Die Spuren können von allen möglichen Tieren stammen“, hatte sie beiläufig erklärt. „Vielleicht von einem Hund, der in einem der Dörfer flussabwärts entlaufen ist.“ Damit war für Maras Eltern die Sache erledigt gewesen.
Den Rest des Tages war Mara eingeschnappt gewesen und auch die zwei Tage danach hatte sie weitgehend unbemerkt von den anderen noch vor sich hin geschmollt. Schließlich hatten diese Spuren niemals von einem Hund stammen können. Um das erkennen zu können, musste man sich noch nicht einmal halb so gut mit Tieren auskennen, wie Mara es tat. Und trotzdem hatten ihre Eltern ihr nicht geglaubt. Mara war wütend, enttäuscht und obendrein wild entschlossen gewesen zu beweisen, dass sie im Recht war.
Und Mara hatte auch schon bald einen Plan entwickelt, wie sie das anstellen wollte. Großkatzen waren vorsichtig und gegenüber Menschen geradezu misstrauisch, aber mit dem richtigen Köder würde man sie dennoch anlocken können. Also hatte Mara über Wochen mit Rezepten für eine Spezialpaste experimentiert, die sie jede Nacht als Köder im Dschungel ausgelegt hatte. Jeden Morgen hatte sie noch vor dem Frühstück ihre Köder überprüft und waren sie verschwunden, hatte sie die Umgebung nach Spuren eines Nebelparders abgesucht. Mit der Paste aus Fischköpfen, Dosenfleisch und Süßkartoffeln hatte sie schließlich Erfolg gehabt. Die Köder waren nicht nur über Nacht verschwunden, Mara hatte auch regelmäßig die verräterischen Tatzenabdrucke gefunden.
Wahrscheinlich wäre damals der richtige Zeitpunkt gewesen, noch einmal mit ihren Eltern zu sprechen. Aber Mara war genauso stur wie nachtragend. Sie hatte nicht wieder zu ihren Eltern gehen wollen, ehe sie nicht den unwiderlegbaren, nicht mehr aus dem Weg zu räumenden Beweis erbracht hatte, dass sie von Anfang an im Recht gewesen war. Also hatte sie entschieden, dem Nebelparder auf eigene Faust eine Falle zu stellen. Das war ihr geglückt. Aber sie hatte sich damit eine Menge Ärger eingehandelt.
„Ich habe mit meiner Schwester gesprochen“, nahm Maras Mutter den Faden wieder auf. „Du kannst bei ihr wohnen und auf die gleiche Schule wie dein Cousin Lennox gehen.“ Sie verkündete die Nachricht mit einem Lächeln auf den Lippen, als wenn Mara ein riesiger Stein vom Herzen fallen müsste. Es fiel aber kein Stein, nicht mal ein kleiner. Trotzdem versuchte ihre Mutter es weiter: „Du erinnerst dich doch noch an Lennox? Es ist schon drei Jahre her, dass wir meine Schwester besucht haben, aber du hast dich mit ihm doch ganz gut verstanden. Und ihr habt fast das gleiche Alter.“
Mara konnte über ihre Mutter nur staunen. Sie brachte es tatsächlich fertig, es so klingen zu lassen, als ob Mara gar nichts Besseres passieren konnte, als zu Tante Ailis abgeschoben zu werden. Den Zahn würde sie ihren Eltern ganz schnell ziehen müssen, bevor das hier ein böses Ende nahm. „Lennox?“, rief Mara daher voller Empörung und sprach den Namen ihres Cousins dabei so aus, als ob Schleim daran kleben würde. „Dieser kleine Vollidiot, der sich beim Essen Erbsen in die Nase geschoben und dann über den ganzen Tisch geschossen hat? Mit dem soll ich unter einem Dach wohnen und auch noch zusammen in die Schule gehen? Das kann doch nicht euer Ernst sein!“, entrüstete sie sich so theatralisch wie möglich. Dazu setzte sie noch eine möglichst leidvolle Miene auf, was ihr aber gerade auch nicht sonderlich schwerfiel. Bei der Vorstellung, künftig bei ihrer Tante und ihrem Cousin leben zu müssen, litt sie tatsächlich Höllenqualen. Dann vielleicht doch lieber ein Internat. Aber schon während Mara sprach, wich der eben noch wohlmeinende Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter einem zornigen Funkeln, und Mara musste erkennen, dass sie mit ihrem lautstarken Protest nicht viel Gutes erreicht hatte.
Außerdem mischte sich nun ihr Vater ein: „Wenn ich dich daran erinnern darf, junge Dame, warst du damals auch nicht gerade ein Sonnenschein.“ Ihr Vater hatte die Augenbrauen gehoben und sah Mara scharf an. „Du hast dir einen Spaß daraus gemacht, Spinnen zu fangen und Lennox auf den Kopf zu setzen.“
„Woran man doch erkennen konnte, dass Lennox wirklich ein Idiot war, wenn er vor harmlosen Stubenspinnen Angst hatte“, dachte sich Mara, biss sich aber lieber auf die Zunge, als es laut auszusprechen.
„Außerdem ist das schon lange her. Lennox und du seid älter geworden und könnt euch nochmal ganz neu kennenlernen“, versuchte es jetzt ihre Mutter wieder. Anscheinend wollte sie ihre Taktik noch nicht aufgeben und begann, vermeintliche Vorzüge ihres Plans aufzuzählen: „Sieh mal, Liebling, bei Tante Ailis hättest du ein richtiges Zuhause. Das Haus ist riesig und steht mitten in der Natur. Lennox und du könntet dort fast wie Geschwister aufwachsen, so wie Ailis und ich damals. Außerdem kannst du in der Schule oder im Dorf auch noch andere Kinder kennenlernen und endlich mal feste Freunde haben!“
Keines dieser Argumente verfing bei Mara, aber mit einer reinen Verweigerungstaktik kam sie hier nicht weiter, so viel hatte sie begriffen. Ihre Eltern hatten sich zu gut vorbereitet. Es brauchte logische Argumente und vor allem musste sie Zeit gewinnen, um die Entscheidung ihrer Eltern nach und nach noch drehen zu können. Ihr kam eine Idee: „Aber ihr wisst doch überhaupt nicht, ob ich in einer richtigen Schule überhaupt zurechtkomme. Die anderen Kinder haben vielleicht ganz andere Dinge gelernt und ich habe auch noch nie an Prüfungen teilgenommen! Ich weiß doch gar nicht, wie das in einer richtigen Schule alles funktioniert!“ Für den Anfang war das gar nicht schlecht, fand Mara. Denn anstatt eine Schule zu besuchen, von denen es auf den Expeditionen meistens ohnehin weit und breit keine gab, wurde Mara bislang von ihren Eltern unterrichtet.
Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter entspannte sich etwas. Offenbar gefiel es ihr, dass Mara allmählich vernünftiger wurde. „Darüber haben wir uns auch schon Gedanken gemacht!“, gestand sie. „Deshalb habe ich mir angeschaut, was du in der Schule alles schon können musst. Das meiste davon haben wir dich in den letzten Tagen ausprobieren lassen, und du hast das alles prima hinbekommen! Du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Wir sind uns ganz sicher, dass du die Schule schaffen wirst!“
Mara starrte mit offenem Mund in das nun fast fröhliche Gesicht ihrer Mutter. Dann ließ sie den Kopf auf die Tischplatte sinken. Wie blöd konnte man nur sein. Seit jener Nacht, in der Mara dem Nebelparder eine Falle gestellt hatte, war der Unterricht in Maras Dschungelschule deutlich strenger geworden. Sie war von ihren Eltern nicht mehr aus den Augen gelassen geworden und hatte bis spät in den Nachmittag hinein über den Büchern sitzen müssen. Bis dahin hatte der Unterricht nur am Vormittag stattgefunden und anschließend hatte sie so ziemlich alles tun können, wozu sie Lust gehabt hatte. Aber Mara hatte sich nichts weiter dabei gedacht. Sie hatte den strengen Unterricht für einen Teil ihrer Bestrafung gehalten, ebenso wie die Aufgaben selbst. Ihre Eltern hatten sie auf einmal nicht nur mit besonders anspruchsvollen Mathe- und Physikaufgaben gequält. Mara musste auch noch lange Reihen französischer Vokabeln auswendig lernen, die dann als Höhepunkt des Tages in ein Diktat eingebaut wurden. Biologie und Geografie waren fast völlig vom Stundenplan verschwunden und wenn die Fächer doch aufgetaucht waren, dann war es auffällig häufig um Großbritannien gegangen. Wenn ein Thema auch nur in dem Verdacht gestanden hätte, Mara Spaß zu machen, schien es jedenfalls mit voller Absicht ausgelassen worden zu sein. Trotzdem hatte Mara keinen Verdacht geschöpft und sich sogar extra viel Mühe gegeben. Schließlich hätten ihre Eltern ihr nicht ewig böse sein können und je bereitwilliger sie diese Strafe ertragen hätte, desto schneller wäre es vorbeigegangen. So hatte Mara sich das jedenfalls gedacht.
Tatsächlich aber hatten ihre Eltern sie die ganze Zeit auf die Probe gestellt. Und anstatt sich dumm zu stellen und ihre Eltern so von der Undurchführbarkeit ihres Plans zu überzeugen, hatte Mara sich auch noch richtig ins Zeug gelegt. Jetzt gingen ihr zusehends die Optionen aus. Die beiden hatten das hier von langer Hand geplant, und Mara beschlich das Gefühl, überhaupt keine Chance mehr zu haben, ihrem Schicksal noch zu entgehen.
Sie blickte wieder auf. „Du hast schon mit Tante Ailis telefoniert?“, fragte sie.
Ihre Mutter nickte. „Ja. Wir hatten schon mal mit Ailis über die Idee gesprochen und ich wollte wissen, ob ihr Angebot, dich aufzunehmen, noch steht. Sie freut sich richtig auf dich!“
Ihre Mutter hatte am Tag nach Maras Ausflug ein sehr langes und damit auch sehr teures Gespräch über das Satellitentelefon geführt. Und wieder war Mara nicht misstrauisch geworden. Wie hatte ihr das nur passieren können? Maras Blick wanderte zu ihrem Vater: „Dann habt ihr schon vor Tagen geplant, mich wegzuschicken, und mir nichts davon gesagt?“
Ihr Vater blickte immer noch furchtbar streng. „Ja, noch in der Nacht, in der du uns den Schlaf geraubt hast!“
„Da wir ohnehin nicht mehr schlafen konnten haben wir lange darüber gesprochen, was zu tun ist. Und wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass es das Beste ist, wenn du bei Tante Ailis bleibst.“ Maras Mutter schob ihren Arm über den Tisch und wollte Maras Hand in ihre nehmen. Aber Mara ließ ihre Hände auf dem Schoß liegen. „Es wäre ohnehin nicht mehr lange möglich gewesen, dass du uns überallhin begleitest. Wenn diese Expedition abgeschlossen ist, kommen wir nach und dann feiern wir alle zusammen Weihnachten. Und in Zukunft werden wir dafür sorgen, dass wir dich so oft es geht besuchen kommen.“ Sie versuchte noch einmal, Maras Hand zu nehmen, aber Mara wollte nicht.
„Wann muss ich fahren?“, fragte sie stattdessen leise.
Ihre Eltern blickten sich kurz an, dann antwortete ihr Vater: „Heute Nachmittag bringt Samuel deine Mutter und dich mit dem Geländewagen in den nächsten Ort mit einem Busbahnhof. Morgen Abend geht dein Flug.“
„Ich sorge dafür, dass du heil ins Flugzeug kommst.“ Ihre Mutter zog die ausgestreckte Hand zurück. „Du musst einmal umsteigen, aber das bekommst du schon hin.“
Plötzlich brachen bei Mara Wut und Verzweiflung durch. Sie sprang so heftig auf, dass ihr Stuhl umfiel. Tränen stiegen ihr in die Augen. Mit geballten Fäusten schrie sie ihre Eltern an: „Ihr seid die gemeinsten und unfairsten Eltern der Welt! Ihr schickt mich einfach fort zu Leuten, die ich kaum kenne. Ihr plant das seit Tagen und sagt mir nichts und dann schickt ihr mich von jetzt auf gleich weg und ich werde gar nicht gefragt. Ich will nicht in diese dämliche Schule und ich will keine Freunde und ich will nicht zu meinem dämlichen Cousin und meiner blöden Tante. Ich will nicht! Aber das interessiert euch gar nicht! Ich hasse euch!“
Noch während sie das alles schrie und ihrer Wut und ihrer Verzweiflung Platz machte, wusste Mara, dass sie zu weit ging. Aber sie konnte nicht anders. Sie war enttäuscht und hilflos und sie fühlte sich von ihren Eltern verraten.
Zu ihrer Überraschung war es nicht ihr Vater, der nun laut wurde. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und sagte gar nichts mehr. Aber dafür sprang ihre Mutter auf, knallte die Hand auf den Tisch und schrie Mara an: „Du bist mitten in der Nacht heimlich aus dem Camp geschlichen und im Dschungel verschwunden! Ohne eine Nachricht, ohne ein Funkgerät, ohne dich an irgendetwas von dem zu halten, was zu unserer aller Sicherheit hier selbstverständlich ist! Wir haben das ganze Camp aufgeweckt. Dein Vater, unsere Kollegen und alle Helfer sind mitten in der Nacht in den Dschungel gegangen, um dich zu suchen, und ich saß hier im Camp und hab‘ auf dich gewartet und bin dabei fast gestorben vor Angst! Dich hätte eine Schlange oder Spinne beißen können, du hättest stürzen und verbluten können, ein großes Tier hätte dich anfallen können, du hättest dich verlaufen oder im Fluss ertrinken können. Ich dachte schon, ich sehe dich nie wieder. Und dann kommst du einfach aus dem Dschungel gestapft und grinst mich an und freust dich diebisch über deine Fotos. Und all das nur, damit du mit deinem Nebelparder recht behältst! Wir sind nicht unfair! Wir sind nicht gemein! Du hast uns fürchterliche Angst gemacht! Und jetzt sorgen wir dafür, dass du in Sicherheit bist. Und dabei bleibt es!“
Ihre Mutter hatte Tränen in den Augen. Zum ersten Mal bereute Mara wirklich, dass sie heimlich in den Dschungel verschwunden war. Auch ihr liefen jetzt Tränen über die Wangen, aber sie bekam kein Wort mehr heraus. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Einen Augenblick lang sah sie in die traurigen Augen ihrer Mutter. Dann hob sie den Stuhl auf und setzte sich schweigend wieder hin. Ihre Mutter wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen, setzte sich aber nicht wieder. „Ich packe jetzt deine Sachen“, sagte sie nur und ging.
Mara wurde unsanft aus dem Schlaf geschreckt, als der Zug über eine Weiche rumpelte, wodurch der Waggon heftig durchgerüttelt wurde. Irgendwann auf dieser eintönigen Zugfahrt am Ende ihrer Reise musste die Müdigkeit Mara schließlich doch noch überwältigt haben. Jetzt fühlten sich ihre Glieder ganz steif an und ihr Nacken schmerzte. Außerdem hatte sie im Schlaf mit dem Gesicht an der Scheibe geklebt und nun sicher einen hässlichen Abdruck auf der Wange. Umständlich setzte sie sich wieder gerade auf, rieb sich erst verstohlen die Wange und anschließend den Nacken, bis der Schmerz etwas nachließ. Dann schaute sie möglichst unauffällig zu dem einzigen anderen Fahrgast hinüber, der mit ihr im Abteil saß.
Doch der Mann schien sich noch immer nicht für sie zu interessieren. Mara hatte ihm höflich einen guten Tag gewünscht, als er seinen massigen Körper in das Abteil gezwängt hatte. Aber außer einem Schnauben, das vermutlich noch nicht mal ihr gegolten hatte, war von ihm keine Antwort gekommen. Er hatte seinen Koffer in das Gepäckteil über der Sitzbank gewuchtet und schräg gegenüber von Mara Platz genommen, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Dann hatte er sich mit einem altmodischen Taschentuch den Schweiß von der Stirn gewischt und eine Zeitschrift aufgeschlagen.
Er schwitzte auch jetzt noch. Tropfen rannen ihm die Schläfen herunter und auf seinem Hemdkragen hatten sich feuchte Flecken gebildet. Für Mara war es unbegreiflich, wie dieser Mann schwitzen konnte, so dick er auch war. Ihr war in diesem zugigen Abteil schon die ganze Fahrt über einfach nur kalt, und nachdem sie eine ganze Weile geschlafen hatte, noch mehr als zuvor. Dabei hatte sie alles, was sie an halbwegs warmen Kleidungsstücken besaß, bereits am Flughafen übergezogen. Aber es half nichts. Fröstelnd zog sie den Kragen ihrer dünnen Jacke so weit nach oben wie möglich und schlang sich die Arme um den Körper. Dann wandte sie den Kopf zum Fenster und schaute hinaus.
Die Landschaft hatte sich in der verschlafenen Zeit kaum verändert. Hügel mit Wiesen wechselten sich ab und zu mit einem kleinen Wäldchen ab, hier und da waren einsame Höfe oder kleine Dörfer zu sehen, im Hintergrund auch manchmal das Meer zu erahnen. Ein kräftiger Wind wehte in Böen über das Land und trieb dunkle Wolken vor sich her. Es nieselte, immer wieder unterbrochen von Regenschauern. Dann prasselten dicke Tropfen gegen die Scheibe des Zugabteils. Dies war so ziemlich die trübsinnigste Gegend, die man sich vorstellen konnte. Und ausgerechnet hier würde sie nun erst einmal festsitzen.
Durch den Lautsprecher verkündete eine knarzende Stimme, dass der Zug demnächst in Derbon halten würde. Mara war also fast am Ziel ihrer langen Reise. Sie stand auf und setzte sich ihren Rucksack auf. Dann holte sie ihren Koffer hervor, der unter die Sitzbank gepasst hatte, und wandte sich zur Tür des Abteils. Der schwitzende Mann schaute noch immer nicht von seiner Zeitschrift auf. Er nahm von Maras Abschied gerade so viel Notiz, dass er kurz die ausgestreckten Beine einzog, damit Mara zur Tür gelangen konnte. Grußlos trat Mara auf den Gang, schloss hinter sich die Tür und warf durch das Fenster noch einen letzten Blick auf ihren ausnehmend unfreundlichen Reisebegleiter. Kurz verspürte sie Lust, ihm zum Abschied die Zunge rauszustrecken, machte sich dann aber lieber auf den Weg durch den schaukelnden Waggon zum nächsten Ausstieg.
Als der Zug endlich in den Bahnhof einfuhr, hatte Maras Reise schon fast drei Tage gedauert. Mit ihrer Mutter und Samuel, einem der wenigen im Camp, die mit dem Geländewagen den Weg aus dem Dschungel fanden, war sie zum Fluss hinuntergestiegen, wo die Autos abgestellt waren. Samuel hatte Mara und ihre Mutter bis in das kleine Dorf gefahren, in dem die Bewohner des Camps auch ihre Lebensmittel einkauften. Von dort waren die beiden mit einem Bus bis in die nächste Kleinstadt gelangt und spät abends in einen Überlandbus gestiegen, der die ganze Nacht durchgefahren war. Erst am nächsten Nachmittag hatten sie schließlich den Flughafen erreicht.
Während der Fahrt hatten Mara und ihre Mutter kaum ein Wort gewechselt. Aber als sie die große Abflughalle des Flughafens mit den vielen Menschen betreten hatten, hatte Mara die Hand ihrer Mutter ergriffen und ihre Mutter hatte ganz fest zugedrückt. Als es dann für Mara Zeit gewesen war, durch die Sicherheitsschleuse in den Wartebereich zu gehen, hatten die beiden sich zum Abschied lange umarmt.
Nach neun Stunden Flug hatte Mara in Dubai umsteigen müssen und auch die dritte Nacht hatte sie in einem Flugzeug verbracht, das am nächsten Morgen in Aberdeen gelandet war. Von hier aus war Mara noch stundenlang mit diesem Zug gefahren, der nun endlich am Ziel angekommen war und mit quietschenden Bremsen zum Halten kam. Müde kletterte sie auf den Bahnsteig, den Rucksack mit ihren wichtigsten Habseligkeiten auf dem Rücken und den kleinen Koffer in der Hand. Nieselregen schlug ihr ins Gesicht und sie zog noch einmal den Kragen ihrer dünnen Jacke so fest zu, wie es nur ging. Dann schaute sie sich suchend um.
Hier sollte Tante Ailis sie abholen. Viele Menschen waren nicht ausgestiegen, auf einige hatte jemand gewartet, aber eine Frau die Tante Ailis ähnlich sah, war nicht darunter. Soweit sich Mara überhaupt an Tante Ailis erinnern konnte. Stattdessen kam ein Mann auf Mara zu, nicht sehr groß, aber kräftig. Er trug eine Cordhose, ein kariertes Hemd mit einer Lederweste darüber und einen wirklich nicht mehr neuen Hut auf dem Kopf. Sein Gesicht versteckte er hinter einem imposanten Bart, aus dem eine runde Nase und kleine, eng stehende Augen unter buschigen, schwarzen Augenbrauen hervorschauten.
„Bist du Mara?“, fragte er mit rauer Stimme, als er bei Mara angekommen war. „Mara Cathrina Abott?“
Hinter dem Mann kam ein Junge zum Vorschein, der Mara bislang gar nicht aufgefallen war. Er war ziemlich groß geworden, inzwischen vielleicht sogar etwas größer als Mara, aber immer noch schlaksig, mit kurzen, feuerroten Haaren und vielen Sommersprossen. Ihn erkannte Mara sofort. Das war Lennox, ihr Cousin. „Ja, das ist Mara“, sagte er zu dem Bärtigen und musterte Mara unhöflich von Kopf bis Fuß.
„Ich bin Alfred“, sagte der Mann mit der runden Nase. „Deine Tante hat mich geschickt, um dich vom Zug abzuholen.“ Mit diesen Worten streckte er die Hand nach Maras Koffer aus.
„Geht schon“, entgegnete Mara kurz angebunden, behielt den Koffer und ging an Lennox vorbei in Richtung Ausgang.
Alfred und Lennox führten sie zu einem alten, klapprigen Lieferwagen, der vermutlich mal hellblau gewesen war. Eine Rückbank gab es nicht, aber man konnte zu zweit auf der Bank neben dem Fahrer sitzen. Lennox saß in der Mitte, Mara am Fenster. Der Motor machte etwas Schwierigkeiten beim Anlassen, aber dann fuhren sie los.
Gesprochen wurde während der Fahrt wenig. Eigentlich gar nicht. Mara schaute aus dem Fenster und betrachtete ihr neues Zuhause. Aus der kleinen Stadt waren sie schnell heraus und fuhren über eine Landstraße. Am Horizont konnte man wieder von Zeit zu Zeit das Meer erkennen. Sie fuhren an einem kleinen Wäldchen vorbei und gelegentlich roch es nach Moor. Mara spürte, dass Lennox sie während der ganzen Fahrt von der Seite musterte, aber sie tat so, als merke sie es nicht und schaute einfach stur weiter aus dem Fenster. Nach einiger Zeit kamen vereinzelte Häuser in Sicht und schließlich erreichten sie Invern, das kleine Dorf, in dem Ailis mit ihrer Familie lebte. Die Häuser waren alt und standen in schmalen Gassen dicht gedrängt beisammen. Kurz hinter dem kleinen Marktplatz mit der Kirche bog Alfred in eine Seitenstraße ein, die sehr schnell sehr steil wurde und sich einen Hang hinaufschlängelte. Bald konnte man von der schmalen Straße aus auf das Dorf hinunterblicken. Oben angekommen, bog Alfred abermals ab und fuhr durch ein kleines Tor auf ein ummauertes Grundstück. Hinter dem Tor befand sich eine mit Eichen gesäumte Allee, die zu Maras neuem Zuhause führte. Kurz bevor sie das Haus erreichten, holperte der Wagen über eine mit Pflastersteinen belegte Brücke, die aus groben Steinen gebaut einen kleinen Bachlauf überspannte. Dann rumpelten sie durch ein zweites Tor auf den Parkplatz vor dem Haus.
Das Haus war groß, wenn auch nicht so groß, wie Mara es in Erinnerung hatte. Als kleines Kind hatte sie es für ein Schloss gehalten, vermutlich wegen des kleinen Turms, der am linken Flügel des Hauses über dem Dach thronte. Ein Schloss war es sicher nicht, aber ein stattliches, sehr altes Herrenhaus mit zwei Stockwerken, aus dicken Steinquadern errichtet und mit einem Dach aus kunstvoll verlegten Schindeln. Am Rande des Dachs waren kleine, dekorative Zinnen angebracht. In der Mitte der langen Hausfront befand sich der Haupteingang, ein etwas übertrieben imposantes Portal. An der rechten Seite des Haupthauses war ein ebenfalls zweistöckiger Seitenflügel angebaut, der im rechten Winkel zum Haupthaus stand, sodass der Platz vor dem Haus von zwei Seiten eingefasst war.
Dies war das Haus, in dem Maras Mutter aufgewachsen war. Ihre Schwester, Tante Ailis, hatte das Haus geerbt. Es war seit vielen Generationen in Familienbesitz, und früher hatte es hier einmal viele Bedienstete gegeben. Noch zu Zeiten von Maras Urgroßvater hatte viel Land zu diesem Anwesen gehört, das überwiegend an Bauern aus der Gegend verpachtet worden war. Mara erinnerte sich an eine große Scheune hinter dem Haus, in der sie und Lennox einmal gespielt hatten, und die noch aus dieser Zeit stammte. Aber das Land war schon längst verkauft und Tante Ailis hatte mit ihrem Mann Aidan das Haus mit seinen vielen Zimmern zu einer Pension ausgebaut. Deshalb gab es hinter der alten Steinbrücke einen kleinen Parkplatz, auf dem einige Autos standen, sowie ein Schild, auf dem in großen Buchstaben „Abott Manor“ und in etwas kleineren darunter „Pension“ stand.
Alfred hielt nicht auf dem Parkplatz, sondern lenkte den Lieferwagen auf der Seite mit dem Turm um das Haus herum. Hier gab es auf der Rückseite des Hauses einen Anbau mit nur einem Stockwerk. Alfred hielt in der Nähe einer kleinen Tür an, durch die man den Anbau direkt betreten konnte, und stellte den Motor ab. Mara verstand das als Aufforderung zum Aussteigen und kletterte aus dem Lieferwagen. Während Lennox es ihr gleich tat, öffnete sich die kleine Tür und eine große, schlanke Frau mit hochgesteckten Haaren und einer Schürze um die Taille kam heraus. Sie breitete die Arme aus, während sie mit schnellen Schritten auf Mara zukam.
„Mara, mein Kind, was bist du groß geworden!“, rief sie und schloss Mara fest in die Arme. „Bin ich froh, dass du heil angekommen bist. Ich fand dich ja ein bisschen zu jung, um eine so weite Reise ganz allein zu machen, aber deine Mutter hat mich nur ausgelacht.“ Sie legte Mara einen Arm um die Schultern und führte sie in Richtung der kleinen Tür. „Komm erst mal herein. Du bist ja viel zu dünn angezogen für dieses Wetter.“ Hier draußen war es noch kälter als in der Stadt und es hatte wieder zu regnen angefangen.
„Meine Sachen sind noch im Auto!“ Mara wollte sich umdrehen, um ihren Rucksack und den Koffer aus dem Laderaum des Lieferwagens zu holen, aber Ailis führte sie unbeirrt weiter in Richtung Tür.
„Die Sachen kann Lennox mitnehmen, das macht er sicher gerne für seine Cousine“, antwortete Ailis und rief über die Schulter ihrem Sohn zu: „Nicht wahr, mein Liebling? Du weißt ja in welches Zimmer.“ Mara war es gar nicht recht, Lennox ihre Habseligkeiten zu überlassen, aber was konnte sie schon tun.
Durch die kleine Tür führte Ailis sie direkt in die geräumige Küche, denn nichts anderes befand sich in dem Anbau. Mara erinnerte sich noch daran, dass hier zu den Mahlzeiten immer die ganze Familie an dem großen Küchentisch Platz genommen hatte. Es hatte sich nichts verändert. Überall hing Kochgeschirr, auf einem großen Herd standen Töpfe, in denen etwas brodelte und im Ofen wurden gerade kleine Brote gebacken. Vor allem aber war es endlich einmal warm. Ailis ließ Mara auf einer Bank an dem gewaltigen Küchentisch Platz nehmen. „Jetzt isst du erst einmal etwas“, entschied sie und ging zum Herd. „Du wirst auf der Reise vermutlich nur dieses furchtbare Essen im Flugzeug bekommen haben oder irgendwelches Fastfood am Flughafen.“
Ailis setzte ihr eine Schale mit heißer Suppe vor und stellte noch ein frisch gebackenes Brot und Butter dazu. „Jetzt iss so lange, bis du satt bist, und wenn du magst, kannst du mir dabei etwas erzählen, und wenn nicht, dann eben nicht!“ Sie lachte Mara fröhlich an und ging dann wieder zum Herd. Mara kostete den ersten Löffel Suppe, dann erst merkte sie, wie hungrig sie war. Die Tür ging wieder auf und Lennox kam herein, Maras Rucksack in der einen und den Koffer in der anderen Hand. Er warf Mara einen bösen Blick zu, dann trottete er durch die Küche und verschwand in dem Durchgang, der vom Anbau in das eigentliche Haus führte.
Ailis nahm kaum Notiz von ihm. Sie war sehr gut gelaunt und plapperte beim Kochen über dies und das. Es hatten gerade die Herbstferien begonnen und die Pension war gut besucht. Da gab es viel zu tun, bevor dann in zwei Wochen alles wieder etwas ruhiger werden würde. Sie fragte Mara nach der Reise und nach dem Leben im Camp, nach Abenteuern, die sie doch bestimmt erlebt hatte, aber als Mara nicht viel berichten mochte, ließ sie es mit den Fragen auch schnell sein und erzählte einfach weiter von Invern und dem Leben in Abott Manor. Ihr Mann Aidan war Kapitän auf einem Frachtschiff und fast nie zu Hause. Jetzt gerade würde sein Schiff Argentinien anlaufen. Ailis kümmerte sich die meiste Zeit allein um die Pension.
Sie erzählte unbeirrt weiter, als Lennox in die Küche zurückkehrte. Auch er bekam eine Schale Suppe, aß aber deutlich weniger hungrig. Als auch Mara den Löffel endlich beiseitelegte, räumte Ailis die Schalen ab. „Wenn ich euch dann satt bekommen habe, zeigst du deiner Cousine jetzt bitte ihr Zimmer“, sagte sie zu Lennox und schaute dabei ihren Sohn streng an. „Mara, du kannst dich gerne etwas hinlegen oder auspacken oder sonst etwas tun. Die Duschen sind leider ganz am anderen Ende des Ganges. Wenn du möchtest, zeigt Lennox sie dir oder auch gleich das ganze Haus. Wenn du mich suchst, ich bin noch den ganzen Nachmittag in der Küche. Ich muss vorkochen, für die Gäste!“
„Komm“, sagte Lennox und stand auf. Mara schickte sich an, ihm zu folgen.
„Ach so, fast habe ich es vergessen.“ Ailis drehte sich noch einmal zu Mara um. „Deine Mutter sagte, dass du keine warmen Sachen dabeihast. Naja, habe ich mir schon denken können, im Dschungel kannst du ja das ganze Jahr im T-Shirt rumlaufen. Ich habe dir für den Anfang ein paar warme Kleidungsstücke von Lennox in dein Zimmer gelegt. Es tut mir leid, aber etwas anderes habe ich nicht da. Wenn wir Zeit haben, fahren wir in die Stadt und besorgen dir eigene Sachen.“ Mara nickte und lächelte etwas gequält. Mal schauen, was für kindische Sachen ihr Cousin Lennox so abzugeben hatte. Sie folgte ihm in den Durchgang zum Hauptgebäude. Direkt rechter Hand befand sich eine Treppe. Lennox war schon fast am oberen Ende angekommen.
Also folgte Mara ihm rasch und trat, oben angekommen, durch eine schmale Tür auf einen langen Korridor, von dem zu beiden Seiten Zimmertüren abgingen. „Das war mal die Dienstbotentreppe“, erklärte Lennox und deutete hinter sich. „Dort vorne ist die richtige Treppe, die von den Gästen benutzt wird.“ Nun deutete er den schummrigen Gang entlang. „Aber wir benutzen meistens diese. Ist kürzer.“ Er ging den Gang entlang und wies dabei auf die erste Tür auf der linken Seite: „Das ist mein Zimmer. Gegenüber…“, er deutete auf die erste Tür rechts, „…ist Lauras Zimmer. Sie wohnt gerade bei uns und hilft Mutter dafür mit den Gästen. Die Toiletten und die Duschen sind ganz am anderen Ende des Ganges. Links für die Männer, rechts für die Frauen. Und das hier ist dein Zimmer.“ Er blieb neben der zweiten Tür auf der linken Seite stehen und machte mit dem Arm eine einladende Geste.
Mara griff nach der Klinke und merkte sofort, dass sie mit irgendetwas Schleimigem eingestrichen war. Sie blickte kurz zu Lennox, der mit Unschuldsmiene dastand und sie anlächelte. Sicher hätte er nur zu gerne gesehen, wie seine Cousine erschrocken die Hand zurückgezogen und angeekelt versucht hätte, ihre Hand von dem schleimigen Zeugs zu befreien. Aber den Gefallen tat Mara ihm nicht. Stattdessen hielt Mara die Klinke fest in der Hand, erwiderte das falsche Lächeln ihres Cousins und sagte mit zuckersüßer Stimme: „Danke, lieber Lennox. Jetzt brauche ich dich nicht mehr!“ Sie drückte die Klinke runter, öffnete die Tür und verschwand in ihrem neuen Zimmer.
Hinter der Tür roch sie an ihrer Hand. Der „Schleim“ war harmlose Vaseline. Armseliger Scherz! Sie schaute sich im Zimmer um. Es war relativ groß. Obwohl außer dem breiten Bett noch ein großer Schrank, ein altes Sofa und an einem der beiden Fenster ein Tisch mit zwei Stühlen darin Platz hatten, wirkte es fast noch ein wenig leer. In einer Ecke gab es noch einen kleinen Waschtisch mit einer Schüssel und einer Kanne Wasser. Mara überprüfte kurz, ob es tatsächlich nur Wasser war, dann wusch sie sich die Vaseline ab.
Ihren Rucksack und den kleinen Koffer hatte Lennox auf das Sofa gestellt. Im Schrank fand sie die Sachen, die Ailis ihr angekündigt hatte. So schlimm war es gar nicht. Keine Pullover mit Comicfiguren und keine Cordhosen. Mara war halbwegs erleichtert. Auch eine wirklich gute und fast neue Outdoor-Jacke hing im Schrank. Die hatte Lennox sicher nicht gerne hergegeben. „Das dürfte einen Teil seiner Abneigung gegen mich erklären“, dachte sich Mara. Sie beschloss, die Jacke möglichst oft zu tragen, bevor sie ihre eigenen Sachen bekam.
Der Inhalt aus ihrem kleinen Koffer war schnell in den Schrank geräumt. Als sie ganz unten im Koffer ein Nachthemd mit einer großen, aufgedruckten Erdbeere fand, stöhnte sie innerlich auf. Dieses Ding hatte sie früher innig geliebt und ständig getragen, aber inzwischen war es ihr peinlich. Sie hätte es nie im Leben eingepackt und um die halbe Welt geschleppt. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter es gefunden und noch heimlich in den Koffer geschmuggelt. Mara begrub es tief unter den anderen Sachen. Dann machte sie sich daran, ihren Rucksack auszuräumen, in dem sie auch ihren wertvollsten Besitz mitgebracht hatte: Die Kamera, mit der sie die Aufnahmen vom Nebelparder gemacht hatte.
Als alles sicher verstaut war, überlegte sie kurz, ob sie sich wirklich etwas hinlegen sollte. Eigentlich war sie hundemüde, aber irgendwie auch viel zu aufgekratzt, um jetzt schlafen zu können. Außerdem war da noch ihr missratener Cousin, der offensichtlich beschlossen hatte, ihr das Leben künftig so schwer wie irgend möglich zu machen. Wahrscheinlich war es besser, ihn ein wenig im Auge zu behalten und sich außerdem mit dem Haus und seiner Umgebung wieder vertraut zu machen.
Mara griff sich die Outdoor-Jacke und trat auf den Korridor. Von innen steckte ein Schlüssel im Schloss. Mara zog ihn ab, versperrte ihre Zimmertür von außen und ließ den Schlüssel in ihre Hosentasche gleiten. Von Überraschungen in ihrem Zimmer wollte sie lieber verschont bleiben.
Der lange Korridor im oberen Stockwerk war nicht besonders interessant. Alle Türen waren mit Nummern versehen, wie es in einer Pension nicht anders zu erwarten war. Auch Maras Zimmer hatte eine Nummer, die 13, war also eigentlich auch für Gäste gedacht. Merkwürdig war die Tür von Lennox. Dort, wo sich eigentlich das Türschloss befinden sollte, war eine blankpolierte Metallplatte angebracht. Konnte man diese Tür gar nicht abschließen? Mara legte ein Ohr an das Holz der Tür und horchte. Im Zimmer war alles ruhig, also drückte sie vorsichtig die Klinke herunter. Aber die Tür rührte sich nicht. Offenbar war sie sehr wohl verschlossen, und wie das sein konnte, war nun das erste Rätsel. Aber Mara tat es mit einem Schulterzucken ab, denn eigentlich war das ja nicht wichtig.
Stattdessen schlenderte Mara den Korridor entlang. An den Wänden hingen Bilder. An einige erinnerte sich Mara noch, besonders an das Bild eines alten Windjammers, der sich durch stürmische See kämpfte. Genau in der Mitte des Korridors führte eine Treppe ins Erdgeschoss, wie Lennox es gesagt hatte. Am unteren Ende der Treppe befand sich die Eingangshalle. Wenn man den imposanten Haupteingang benutzte, den Mara bei der Ankunft von außen gesehen hatte, betrat man das Haus durch diese Halle. Von der Eingangshalle gelangte man durch eine Flügeltür in einen großen Saal, der offensichtlich als Speisesaal genutzt wurde. Viele kleinere und größere Tische standen hier, die meisten an den Fenstern, aber einige auch mitten im Raum. An der den Fenstern abgewandten Seite des Saals wurde das Frühstücksbuffet aufgebaut, auch daran erinnerte sich Mara noch von ihrem letzten Besuch her. Sie hatte sich den Bauch jeden Morgen mit Cornflakes vollgestopft. Am Ende des Saals kam ein kleiner Wirtschaftsraum. In den Schränken lagerte das viele Geschirr, das für die Pension gebraucht wurde, außerdem Besteck, Tischdecken, Kerzenständer, Salz- und Pfefferstreuer und was es sonst noch alles brauchte. Auch weitere Stühle und ein paar Tische gab es hier und eine alte Wanduhr, die aber nicht mehr zu funktionieren schien. Am hinteren Ende befand sich ein Durchgang, hinter dem Mara schon die Dienstbotentreppe, die sie mit Lennox zusammen hinaufgegangen war, und den Durchbruch zur Küche sehen konnte. Durch die offenen Türen konnte sie Ailis mit Töpfen klappern hören.
Mara wollte gerade umkehren und durch den Haupteingang nach draußen gehen, als sie Lennox vor einem der Fenster vorbeischlendern sah. Ein vertrautes, krächzendes Geräusch erklang. Als Lennox am nächsten Fenster auftauchte, hatte er ein Funkgerät in der Hand und sprach offensichtlich gerade hinein. Mara huschte schnell von einem Fenster zum nächsten und versuchte, ihn dabei zu belauschen, aber sie konnte ihn nicht verstehen. Außerdem ging er immer weiter und war bald am Speisesaal vorbei.
Mara schlich sich aus dem Haupteingang und schaute sich um. Lennox ging zwischen Parkplatz und Seitenflügel hindurch auf den von hohen Hecken umgebenen Park zu und verschwand darin. Mara folgte ihm vorsichtig und lauschte dabei auf das Geräusch des Funkgerätes. Der Park, eigentlich nur ein sehr großer Garten, war vor langer Zeit einmal kunstvoll entlang des kleinen Bachs angelegt worden, der in seinem weiteren Verlauf unter der Brücke hindurchfloss, über die Alfred vorhin mit dem Lieferwagen gefahren war. Mittlerweile wirkte er aber etwas verwildert. Zwischen den vielen Sträuchern, Büschen und Baumgruppen konnte Mara sich jedoch umso besser verborgen halten, während sie Lennox verfolgte, dessen Schritte man auf dem mit Kieseln bedeckten Weg gut hören konnte. Als die Schritte vor ihr plötzlich verstummten, blieb auch Mara stehen und spähte um einen Busch herum. Da stand Lennox und sagte gerade „Ist gut, ich warte.“ in sein Funkgerät. Eine Weile stand Lennox einfach nur herum, kickte ab und zu einen kleinen Stein vom Weg und schien wirklich auf jemanden zu warten. Nach einiger Zeit hörte Mara Schritte von rechts kommen und ein zweiter Junge, ebenfalls mit einem Funkgerät in der Hand, tauchte auf. Er ging auf Lennox zu, sie begrüßten sich und machten dann kehrt, um sich geradewegs in Maras Richtung zu bewegen.
Sich kurz umblickend erkannte Mara, dass sie sich hier nirgendwo schnell verstecken konnte, also blieb ihr nur die Flucht nach vorne. Als wäre sie gerade zufällig den Weg entlang gekommen, die Hände lässig in die Taschen der Jacke gesteckt, schlenderte sie ihrem Cousin und seinem Freund direkt in die Arme. Erschrocken blieben die beiden stehen.
Mara wartete kurz, ob es irgendeine Reaktion auf ihr plötzliches Erscheinen geben würde. Da aber ihr Cousin kein Wort herausbrachte und sein Freund nur unsicher auf Lennox schaute, sagte Mara einfach mal „Hallo!“ und versuchte dabei, wie der freundlichste Mensch der Welt zu klingen.
Die Reaktion von den beiden Jungen war ebenfalls ein „Hallo“, aber danach schauten sie sich nur verlegen an.
„Willst du mir vielleicht deinen Freund vorstellen, liebster Cousin?“, fragte Mara gemein lächelnd.
Lennox schien innerlich zu stöhnen, aber er folgte der Aufforderung, wenn auch sehr leise und ohne Mara anzuschauen: „Das ist Finn, er wohnt da hinten in dem Haus hinter dem Park.“
„Mein Vater hat dich vorhin vom Bahnhof abgeholt“, sagte der Junge und musste demnach der Sohn von Alfred sein. „Meine Eltern arbeiten für deine Tante. Mein Vater kümmert sich um das Grundstück und alles, was am Haus zu machen ist, und meine Mutter hilft in der Pension. Deshalb wohnen wir auch da hinten. Es ist das alte Gärtnerhaus.“
Finn war etwas kleiner als Lennox, dafür deutlich kräftiger. Ob er seinem Vater ähnlich sah, konnte Mara nicht sagen, da Alfreds Gesicht ja kaum zu erkennen gewesen war. Jedenfalls hatte Finn auch eine ziemlich runde Nase, dazu rote Wangen und blonde, allerdings sehr struppige, Haare. Ansonsten schien er ein fröhlicher Junge zu sein, der Mara nur aus Rücksicht auf Lennox nicht gleich freundlich begrüßt hatte.
„Und weil ihr so weit weg voneinander wohnt und euch ständig etwas zu erzählen habt, benutzt ihr diese Funkgeräte?“ Mara legte den Kopf schief und sah die Jungs herausfordernd an.
„Nee!“ Lennox richtet sich auf und schaute Mara nun doch direkt an. „Wir haben nur Besseres zu tun als die ganze Zeit irgendwelche sinnbefreiten Nachrichten in Smartphones zu tippen. Du bekommst ja bestimmt Entzugserscheinungen, wenn du mal eine Stunde keine Internetverbindung hast.“ Damit ließ er Mara stehen und stapfte mit großen Schritten davon. Finn rollte kurz die Augen, aber dann folgte er Lennox ohne ein weiteres Wort.
Mara amüsierte sich. Die letzten fünf Monate hatte sie an einem Ort verbracht, an dem niemand ein Smartphone benutzen konnte, jedenfalls weder zum Telefonieren noch zum Chatten. Internet hatte es nur über das Satellitentelefon gegeben. Lennox hatte offenbar nur wenige Vorstellungen davon, wie Mara bislang gelebt hatte.
Die beiden Jungen verschwanden irgendwo im Park und Mara verzichtete darauf, sie weiter zu verfolgen. Wenn sie ihnen nochmal in die Arme lief, würden sie bestimmt nicht mehr an einen Zufall glauben und zukünftig deutlich vorsichtiger sein. Den Rest des Tages erkundete Mara lieber das riesige Grundstück, das noch immer zu Abott Manor gehörte. Der mit der Hecke eingesäumte Park ging auf der anderen Seite des Baches weiter und reichte bis zu dem kleinen Gärtnerhäuschen, in dem, wie Mara nun wusste, Finn mit seinen Eltern wohnte. Dahinter war ein kleiner Kiefernwald, der nach etwa 300 Metern an einer Mauer endete. Mara wanderte die Mauer entlang und umrundete so einmal das Haus, das offenbar überwiegend von Wald umgeben war, bis sie zum Hang kam, der das Grundstück im Norden begrenzte. Hier, wenige hundert Meter vom Haupthaus entfernt, fiel das Gelände steil ab und links unter sich konnte Mara die Straße sehen, die sie mit Alfred und Lennox in dem klapprigen Lieferwagen hochgefahren war. Das Dorf mit dem Marktplatz, dem Kirchturm und den eng stehenden Häusern lag direkt unter ihr. Ein kleiner Pfad schlängelte sich den Abhang hinab, über den man das Dorf anscheinend auch zu Fuß erreichen konnte. Der Himmel hatte aufgeklart und am Horizont war nun deutlich das Meer zu erkennen.
Inzwischen war es spät am Nachmittag und Mara beschloss, zum Haus zurückzukehren. Sie betrat es wieder durch die Küchentür. Ailis schaute vom Kartoffelschälen auf und lächelte sie fröhlich an. Mara mochte Ailis und bereute es schon, sie eine „blöde Tante“ genannt zu haben. Sie war im Gegenteil sehr nett. Aber zum Glück konnte Ailis von Maras Wutausbruch nichts wissen.
„Du kommst mir gerade recht!“, hieß Ailis sie willkommen. „Setz dich, bald gibt es Abendessen. Die Gäste essen immer spät und mir ist es lieb, wenn die Familie schon etwas im Magen hat, bevor ich für die Gäste auftische.“
Mara setzte sich an den Platz, auf den Ailis gedeutet hatte und tatsächlich kam gleich darauf auch Lennox in die Küche. Grußlos setzte er sich ans andere Ende des Tisches, bis Ailis ihn wieder hochscheuchte und den Tisch decken ließ. Mara stand auch auf und half so gut sie konnte, aber eigentlich war es nicht schwer zu erraten, wie Ailis in ihrer Küche Ordnung hielt. Sie deckten für sechs Personen, denn auch Finn und seine Eltern kamen bald zur Tür herein, um gemeinsam in der Küche zu Abend zu essen. Finns Mutter Freya war eine etwas rundliche Frau mit einem gutmütigen Gesicht und freundlichen Augen, und in ihrer Gegenwart war Alfred auch nicht mehr so wortkarg und mürrisch. Finn hatte sich zu Lennox gesellt und die beiden tuschelten beim Essen viel miteinander, was sowohl Ailis als auch Freya immer wieder zu unterbinden versuchten. Aber erst als Alfred genervt ein Machtwort sprach, gaben die Jungs endlich Ruhe.
Nach dem Abendessen wollte Mara ihrer Tante noch helfen, das Essen für die Gäste aufzutragen. Aber Ailis winkte ab und Freya wurde noch deutlicher: „Du siehst so müde aus, als ob du drei Nächte nicht geschlafen hättest. Außerdem bin ich dafür ja da. Deine Tante und ich, wir schaffen das schon. Das machen wir jeden Abend so.“
Mit diesen Worten wurde Mara ins Bett geschickt. Und eigentlich war sie ganz erleichtert, denn sie war wirklich müde. Sie hatte kaum die Augen zugemacht, da war sie auch schon eingeschlafen.
Es musste bereits mitten in der Nacht sein, als Mara die Augen aufschlug. Der Mond schien durch das Fenster und tauchte das Zimmer in ein silbriges Licht. Mara stand auf, um die Vorhänge zu schließen, und wollte nur so schnell wie möglich wieder einschlafen. Aber als sie an das Fenster trat, sah sie, wie Nebelschwaden das kleine Birkenwäldchen hinter dem Haus durchzogen. Sie blieb am Fenster stehen, um sich das Schauspiel genauer anzusehen. Der Nebel waberte in lustigen Fetzen über den Boden zwischen den Baumstämmen, angeleuchtet vom Mond, der wirklich sehr hell schien. Es musste fast Vollmond sein. Sein Licht erzeugte viele Schatten, die so interessant zu beobachten waren, dass Mara ihre Müdigkeit für eine Weile komplett vergaß.
Aber nicht für lange. Mara musste gähnen und wollte sich wieder ins Bett legen. Sie griff gerade nach den Vorhängen, als sie doch noch einmal innehielt. Etwas tiefer im Wald nahm ein Nebelfetzen eine besonders auffällige Form an. Sie konzentrierte sich und sah ganz genau hin. Man konnte fast glauben, dass dort ein Mädchen tanzte, in einem weißen Kleid und mit ausgebreiteten Armen. Plötzlich erschrak Mara heftig. Da war tatsächlich ein Mädchen! Als wenn es Maras Blicke spüren konnte, hatte es aufgehört zu tanzen, ließ nun die ausgebreiteten Arme sinken und schaute zum Haus hinüber. Kein Zweifel, dieses Mädchen schaute sie ganz direkt an!