Märchenhaft-Trilogie (Band 2): Märchenhaft erlöst - Maya Shepherd - E-Book

Märchenhaft-Trilogie (Band 2): Märchenhaft erlöst E-Book

Maya Shepherd

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Beschreibung

"Die Augen sind der Spiegel der Seele und doch machen sie uns blind für die Wahrheit." Eine schwarze Wolke zieht über das Land, die überall, wo sie vorüberkommt, Zerstörung und Tod hinterlässt. Selbst vor dem Schloss von Chóraleio macht sie keinen Halt und trägt es mit sich ins Nirgendwo. Heera und den anderen erwählten Mädchen gelingt die Flucht. Doch das Schicksal Prinz Leans und des gesamten Königreichs liegt nun in ihren Händen. Sie müssen sich erneut auf eine gefährliche Reise ins Ungewisse begeben. Dabei lernen sie schnell, dass ihren Augen nicht zu trauen ist.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1 - Medea

Kapitel 2 - Heera

Kapitel 3 - Heera

Kapitel 4 - Heera

Kapitel 5 - Medea

Kapitel 6 - Heera

Kapitel 7 - Erina

Kapitel 8 - Medea

Kapitel 9 - Erina

Kapitel 10 - Silas

Kapitel 11 - Heera

Kapitel 12 - Niobe

Kapitel 13 - Heera

Kapitel 14 - Erina

Kapitel 15 - Medea

Kapitel 16 - Heera

Kapitel 17 - Daphne

Kapitel 18 - Heera

Kapitel 19 - Heera

Kapitel 20 - Medea

Kapitel 21 - Medea

Kapitel 22 - Silas

Kapitel 23 - Heera

Kapitel 24 - Erina

Kapitel 25 - Heera

Kapitel 26 - Silas

Kapitel 27 - Niemand

Kapitel 28 - Medea

Kapitel 29 - Silas

Kapitel 30 - Heera

Kapitel 31 - Lean

Kapitel 32 - Fjodora

Kapitel 33 - Thelma

Kapitel 34 - Leilani

Kapitel 35 - Mae

Kapitel 36 - Erina

Kapitel 37 - Medea

Kapitel 38 - Niobe

Kapitel 39 - Heera

Kapitel 40 - Medea

Kapitel 41 - Maxime

Kapitel 42 - Erina

Kapitel 43 - Heera

Kapitel 44 - Erina

Kapitel 45 - Heera

Kapitel 46 - Medea

Kapitel 47 - Heera

Kapitel 48 - Medea

Kapitel 49 - Lean

Kapitel 50 - Silas

Kapitel 51 - Lean

Kapitel 52 - Daphne

Kapitel 53 - Heera

Kapitel 54 - Lean

Kapitel 55 - Lean

Kapitel 56 - Medea

Kapitel 57 - Heera

ZUR INSPIRATION GENUTZTE MÄRCHEN

DANKSAGUNG

 

Maya Shepherd

 

 

Märchenhaft erlöst

Band 2

 

 

Fantasy

 

 

Die Märchenhaft-Trilogie (Band 2): Märchenhaft erlöst

»Die Augen sind der Spiegel der Seele und doch machen sie uns blind für die Wahrheit.«

Eine schwarze Wolke zieht über das Land, die überall, wo sie vorüberkommt, Zerstörung und Tod hinterlässt. Selbst vor dem Schloss von Chóraleio macht sie keinen Halt und trägt es mit sich ins Nirgendwo.Heera und den anderen erwählten Mädchen gelingt die Flucht. Doch das Schicksal Prinz Leans und des gesamten Königreichs liegt nun in ihren Händen. Sie müssen sich erneut auf eine gefährliche Reise ins Ungewisse begeben. Dabei lernen sie schnell, dass ihren Augen nicht zu trauen ist.

 

 

 

 

Die Autorin

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Tochter und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher.

Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.

Im August 2015 gewann Maya Shepherd mit ihrem Roman ›Märchenhaft erwählt‹ den Lovely Selfie Award 2015 von Blogg dein Buch.

 

 

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Mai 2021

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2021

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Lektorat/Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röllig

Korrektorat 2: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-172-7

ISBN (epub): 978-3-03896-193-2

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für meine Mutter.

Danke für deine Geduld, deine Unterstützung

und deine unermessliche Liebe.

Ohne dich wäre ich nicht.

Danke, dass es dich gibt!

Drei schwarze Reiter,

geboren aus Tod und Zerstörung,

jagen über das Land.

Hungersnot, Schmerz und Krankheit

werden sie genannt.

 

 

Prolog

 

Auf den südlichen Sommerinseln

 

Es war einmal vor langer, langer Zeit ein gewaltiger Wind. Dieser Wind war jedoch nicht wie alle anderen. Er schien aus dem Nichts zu kommen und brachte eine schwarze Wolke mit sich. Eine Wolke, die überall, wo sie vorüberzog, Pflanzen verdorren ließ, Ernten verbrannte, Flüsse austrocknete und Leben vernichtete.

Schon bald verbreiteten sich Hunger und Durst in allen Gegenden, über die diese dunkle todbringende Wolke hinweggezogen war. Auch das Volk der südlichen Sommerinseln war zutiefst verängstigt und begann aus dem einst so schönen Königreich zu fliehen. Immer auf der Suche nach einem Ort, den der Wind, der so schreckliches Unheil mit sich brachte, noch nicht erreicht hatte.

Doch jede Flucht war zwecklos. Die schwarze Wolke fiel über die Menschen her wie eine schreckliche Bestie. In der Mitte dieser tödlichen Staubwolke jagten drei schwarze Reiter auf ihren Schlachtrössern den Fliehenden hinterher.

Das Volk erzählte sich, die drei seien Teufel, die der Hölle entstiegen seien. Namenlose Schreckgestalten, von denen niemand wusste, wer sie gesandt hatte, und noch viel weniger, aus welchem Grund. Sie nannten sich Hungersnot, Schmerz und Krankheit.

Der Reiter der Hungersnot war ein lebendes Skelett, das weder Nahrung noch Schlaf brauchte. Der Schmerz war in blutige Bandagen gewickelt und sein Mund zu einem endlosen Schrei aufgerissen. Allein sein Anblick bescherte den wenigen Menschen, die ihn je zu Gesicht bekamen, Todesqualen und Albträume für den Rest ihres Lebens. Der Reiter der Krankheit hatte eine Haut, die von Pockennarben und Eiterpusteln entstellt war. Blut lief ihm aus den kalten Augen, die man nicht betrachten konnte, ohne vor Angst zu erstarren.

Alle drei brachten Tod und Zerstörung. Niemand vermochte sie aufzuhalten. Aus dem Eis geboren,

 

 

 

den Winden getrotzt,

von der Sonne geküsst

und in den Osten geflohen.

 

Vier Prinzessinnen,

eine schöner als die andere,

so verschieden wie Tag und Nacht,

Sonne und Mond,

Sommer und Winter,

Feuer und Wasser.

Kapitel 1 - Medea

 

Nachdem Prinz Lean sich für vier Finalistinnen aus dem einfachen Volk entschieden hatte, waren die Feierlichkeiten noch lange nicht vorbei. Sie gingen im Grunde genommen gerade erst los. Denn nicht nur die Ernennung der vier Erwählten sollte an diesem Abend gefeiert werden, sondern auch das Eintreffen von vier Prinzessinnen aus fernen Königreichen, die ebenfalls um die Krone und das Herz des Prinzen kämpfen würden.

Der ganze Hofstaat war gespannt auf die neuen Konkurrentinnen. Sie hatten bereits unter den Erwählten ihre Favoritinnen auserkoren. Würden die Prinzessinnen da überhaupt noch mithalten können? Anders als die Mädchen aus dem Volk kamen sie nicht allein an den Hof, sondern brachten ein ganzes Gefolge und viele Geschenke mit. Ihre Kleidung und ihr Schmuck waren an Prunk meist kaum zu übertreffen. Das, was die Prinzessinnen trugen, wurde oft im ganzen Königreich zum Trend.

Königin Niobe war bei ihrer Auswahl mit einer Stirnkette erschienen, an deren Ende sich ein funkelnder Mondstein befunden hatte, der ihre mandelförmigen Augen und ihren dunklen Teint betont hatte. Danach hatte jede Frau im ganzen Reich und weit darüber hinaus eine solche Kette haben wollen. Die Preise für Mondsteine waren ins Unermessliche gestiegen, erst recht nach ihrem Sieg.

Der Prinz löste sich von den vier Erwählten, um seinen Platz auf dem Thron einzunehmen und die erste der Prinzessinnen zu empfangen.

Die Mädchen sahen ihm sorgenvoll nach. Der Konkurrenzkampf war bereits unter ihnen groß gewesen, aber wenigstens waren sie einander ebenbürtig. Wie würde es erst mit den Prinzessinnen werden, deren Äußeres so viel prächtiger war als ihr eigenes? Sie konnten dem Prinzen nicht nur sich selbst bieten, sondern auch wertvolle Geschenke. Aber noch viel entscheidender war, dass für sie der Hof nicht fremd war mit all seinen Befremdlichkeiten.

Eine jede von ihnen war in einem ganz ähnlichen Schloss aufgewachsen. Sie kannten die Sitten und Bräuche des Adels und wussten, wie sie sich am Hofe richtig verhalten mussten.

Die Angst vor den neuen Herausforderinnen vereinte die vier Mädchen, sodass sie näher zusammenrückten. Als die Musiker zur Mitternachtsstunde ihr Spiel beendeten und es in gespannter Erwartung still im Saal wurde, ergriff Heera mit der linken Hand die Hand ihrer jüngeren Schwester Medea und mit der rechten die Hand der schüchternen Erina, um beiden Mut zu machen.

Überraschenderweise imitierte Daphne diese schlichte Geste, indem sie ebenfalls nach Medeas Hand griff. So standen sie in einer Reihe da und lauschten dem Trompetenspiel, das die Hymne des winterfesten Nordensanstimmte.

Als sich die großen Flügeltüren öffneten, betrat nicht ein einzelnes Mädchen den großen Saal, sondern eine Gruppe eleganter Tänzerinnen in weißer Kleidung schwebte in den Raum. Ihre Kleider waren aus einem dünnen, leicht transparenten, glitzernden Stoff genäht, der bei Bewegung das Licht der Kronleuchter reflektierte und viele kleine Lichtpunkte über die Decke und den Boden huschen ließ.

Ihr Tanz wurde begleitet von einer fremdartigen Musik, bestehend aus Trommeln und Hörnern. Nach den Tänzerinnen trugen zehn muskulöse Männer mit freien Oberkörpern eine gigantische Eisstatue in den Saal. Sie war so hoch, dass sie kaum durch die hohen Flügeltüren passte. Die Statue zeigte den Prinzen ehrenvoll mit erhobenem Schwert auf seinem Pferd sitzend.

Ein Staunen ging durch die Menge, nur Daphne rümpfte die Nase.

»Tolles Geschenk, spätestens im Sommer wird davon nicht mehr als eine Pfütze übrig sein«, zischte sie den anderen Mädchen zu. Aber auch ihr war die Bewunderung trotzdem deutlich anzusehen.

Kaum dass die Statue den Blick auf die Türen wieder freigab, erschütterte ein lautes Brüllen den Saal. Es stammte von einem Eisbären, der gemächlich durch die Öffnung getrottet kam. Auf seinem Rücken saß eine junge Frau, deren Haut beinahe so hell war wie sein schneeweißes Fell.

Sie trug ihr langes, hellblondes Haar in einem geflochtenen Zopf. Ihre Miene strahlte eine Erhabenheit aus, die nur einer Königin würdig war. Hohe Wangenknochen und eine makellose Haut verliehen ihrem Gesicht eine Eleganz, mit der keine andere Frau im Saal mithalten konnte. Ihre Augen waren von einem so strahlenden und kühlen Blau, dass man es selbst am anderen Ende des Raums noch erkennen konnte.

Sobald sie mit ihrem Bären vor der königlichen Familie angekommen war, ließ sie sich geschmeidig aus dem Sattel gleiten und vollführte einen vornehmen Knicks vor dem Prinzen. Sie war groß gewachsen mit langen, schlanken Beinen, die sich durch den dünnen Stoff ihres hellblauen Kleides abzeichneten. Um ihren Hals lag der Pelz eines Polarfuchses.

»Verehrte königliche Familie von Chóraleio, geliebter Prinz Lean, es ist mir eine große Freude und Ehre, Euer Gast zu sein.« Ihre Stimme war laut und erhaben, dabei sanft und rau zugleich. Es war eine Stimme, die keine Widerworte duldete und der man sich nicht entziehen konnte. Fast schien es, als würde der gesamte Saal den Atem anhalten, um keines ihrer Worte zu verpassen.

Der Prinz erhob sich aus seinem Thron und ging der nordischen Prinzessin entgegen. Er verneigte sich vor ihr und küsste ihre Hand, an deren Finger sich prachtvolle Ringe reihten. »Die Ehre und Freude ist ganz auf meiner Seite, verehrte Thelma, Prinzessin des winterfesten Nordens.«

Auf den Wangen von Thelma zeigte sich nicht das geringste Erröten. Sie schenkte dem Prinzen lediglich ein gütiges Lächeln. »Natürlich bin ich nicht ohne Geschenke zu Euch gekommen.« Sie trat einen Schritt zurück und deutete auf die große Eisskulptur. »Gefällt Euch die Kunst meines Königreichs?«

Lean ließ den Blick über sein aus Eis gemeißeltes Ich gleiten. »Absolut beeindruckend und bewundernswert! Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen.«

Die Prinzessin lächelte zufrieden. »Dann wird Euch sicher freuen zu hören, dass nicht nur die Statue mein Geschenk an Euch ist, sondern auch der talentierte Mann, der diese in tagelanger Arbeit erschaffen hat.«

Auf ihre Worte hin löste sich einer der zehn Männer, die den Eiskoloss getragen hatten, aus der Gruppe ihres Gefolges und verneigte sich vor dem Prinzen.

»Dies ist Kristópher«, stellte Thelma ihren Untergebenen vor. »Er ist der beste Schüler unseres königlichen Hofmeisters. Seine Skulpturen sind im gesamten Norden äußerst begehrt. Er beherrscht die Eiskunst genauso gut wie das Handwerk eines Steinmetzes. Von nun an soll er für Euch und das Reich von Chóraleio sein Talent unter Beweis stellen.«

Kristópherverneigte sich vor dem Prinzen. Er war jünger, als es auf den ersten Blick durch seinen muskulösen Oberkörper den Anschein erweckte. »Es wäre mir eine große Ehre, wenn ich Euch mit meiner Kunst Freude bereiten könnte.«

Prinz Lean applaudierte ihm als Erster, ihm folgte der gesamte Saal. »Euer großzügiges Geschenk ehrt mich, verehrte Thelma. Ich verspreche Euch, Euer Künstler wird immer ein hoch angesehenes Mitglied meines Hofes sein.« Er wandte seine Aufmerksamkeit dem jungen Mann zu. »Seid mir herzlich willkommen an meinem Hof, Kristópher.«

Die nordische Prinzessin Thelma, ihr Eiskünstler und ihr gesamtes Gefolge verneigten sich erneut vor der königlichen Familie und traten dann beiseite, um Platz für die nächste Prinzessin zu machen.

Diese wurde von den Trompetenspielern mit der Hymne der westlichen Sturmhöhen angekündigt. Anders als ihre Vorgängerin ließ sie nicht liebreizenden Tänzerinnen den Vortritt, sondern zwölf Falken schossen in den hohen Saal. Es waren anmutige Tiere mit schneeweißem Gefieder.

Erschrocken und verängstigt duckten sich die anderen Gäste vor ihnen. Viele der Frauen schrien panisch, während einige direkt in Ohnmacht fielen.

Die Falken zogen ihre Kreise über den Köpfen der Anwesenden. Ihnen folgten drei Männer in lederner Rüstung. Ein Pfiff mit einer Pfeife genügte, um die Wildvögel dazu zu bringen, sich über den gesamten Raum verteilt niederzulassen.

Selbst Königin Niobe war deutlich um Haltung bemüht, als sie sich vor Schreck keuchend eine Hand auf die Brust presste.

Doch das Spektakel war noch lange nicht vorüber. Auf die Falken folgte ein Rudel Wölfe – groß gewachsene Tiere, viel größer, als es in Chóraleio üblich war, mit wachen, leuchtenden Augen.

Die Zuschauer wichen furchtsam vor ihnen zurück. Auch die ernannten Mädchen kauerten sich aneinander, nur Heera reckte neugierig den Hals in ihre Richtung.

Anders als die Falken bezogen die Wölfe direkt vor dem Thron Stellung. Alle in einer Reihe, als würden sie nur auf ihre Herrin warten.

In dem Moment trat eine junge Frau mit langem rotbraunem Haar durch die große Flügeltür. Eine Narbe zog sich quer über ihr ansonsten hübsches Gesicht, was ihr ein wildes Aussehen verlieh.

Anders als die anderen anwesenden Damen trug sie kein Kleid und keinen Schmuck. Ihre Beine steckten in einer grauen Hose und hohen Lederstiefeln. Dazu hatte sie eine Weste aus hellgrauem Fell an, die in der Mitte durch einen breiten Gürtel zusammengehalten wurde. Ein Schwert schwang bei jedem ihrer energischen Schritte an ihrer Seite mit.

Medea hätte sie niemals für eine Prinzessin gehalten, sondern vielmehr eine Kriegerin in ihr gesehen.

Sie verneigte sich vor der königlichen Familie, wie es sonst nur Männer taten. Obwohl ihr Auftritt ungewöhnlich war, ließ Lean sich nichts anmerken, als er vom Thron stieg und ihr die Hand schüttelte.

»Seid mir gegrüßt, verehrte Fjodora, Thronfolgerin der westlichen Sturmhöhen. Es ist mir eine große Ehre, Euch in meinem Schloss begrüßen zu dürfen.«

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Prinz Lean«, antwortete Fjodora. Ihre Stimme passte zu ihrem wilden Aussehen. Sie war ungewohnt dunkel für eine Frau, aber mit einem warmen Klang. Dazu hatte sie einen leichten Akzent, der ihr etwas Liebenswürdiges verlieh. »Auf den Sturmhöhen leben wir in enger Gemeinschaft mit den Tieren. Sie ernähren uns, sie kleiden uns und sie sind uns treue Gefährten. Es gibt keine bessere Wachgarde als ein Rudel Wölfe. Ich habe noch nie von einem Wolf gehört, der bestechlich gewesen wäre oder seinen Herrn hintergangen hätte.«

Lean nickte zustimmend und schenkte ihr ein freundliches Lächeln. »Mir scheint, es gibt viel, was wir noch von Euch lernen können. Eure Worte sind sehr weise.«

»Meine geliebten Wölfe kann ich Euch nicht überlassen, mein Prinz. Sie sind für mich wie Brüder, aber dafür sollen meine Falken bei Euch bleiben«, verkündete Fjodora. »Sie sind bestens ausgebildet für die Jagd und hören auf jeden Befehl ihres Herrn. Meine treuen Jäger werden Euch und Eure Männer gerne in der Falkenführung unterweisen.«

Medea war nicht entgangen, dass Lean immer noch die Hand der westlichen Prinzessin hielt. »Das ist ein wirklich großes und besonderes Geschenk, verehrte Fjodora. Seid Euch sicher, dass es Euren Falken bei mir an nichts fehlen wird. Sollten unsere Wege nicht zusammenführen, seid Ihr jederzeit herzlich willkommen in Chóraleio, um Euch selbst von ihrem Wohl zu überzeugen.«

Die Prinzessin schenkte ihm ein glückliches Lächeln, das Grübchen auf ihren von Sommersprossen gesprenkelten Wangen entstehen ließ. »Habt Dank für Euren herzlichen Empfang und Eure warmen Worte. Ich bin sicher, wir werden eine schöne Zeit zusammen verbringen. Es wird mir eine Freude sein, Euer schönes Reich kennenzulernen.«

Sie schüttelte noch einmal seine Hand, bevor sie sich voneinander lösten.

Trotz ihres angsteinflößenden Auftritts und ihres wilden Aussehens schien Fjodora direkt einen besseren Eindruck bei Lean hinterlassen zu haben als die unnahbare Thelma. Sie war eine Frau auf seiner Augenhöhe, die das Hobby der Jagd mit ihm teilte. Es würde ihnen leichtfallen, Gespräche zu führen und Zeit miteinander zu verbringen. Als sie mit ihren Tieren und den drei Falkenmeistern zur Seite trat, sah Lean ihr lächelnd nach.

Medea verspürte einen Stich der Eifersucht, der offenbar auch an ihrer Miene abzulesen war, denn Daphne stupste sie sanft in die Seite und flüsterte: »Sorge dich nicht, er sieht in ihr eine Freundin, aber keine Frau, die ihm eines Tages Kinder schenken wird.«

Medea wendete ertappt den Blick ab und ließ ihn dabei über ihre ältere Schwester schweifen, die völlig fasziniert von der wilden Prinzessin schien. Als sie sich gewiss war, dass Heera ihr nicht zuhörte, erwiderte sie leise an Daphne gewandt: »Ich hoffe, du täuschst dich nicht. Meine eigene Schwester ist der beste Beweis für das Gegenteil.«

»Heera ist eine Heldin«, widersprach Daphne. »Wie könnte der Prinz sie nicht schätzen? Nicht nur er, sondern auch wir verdanken ihr unser Leben. Dennoch wird er sich am Ende für eine Frau entscheiden, die nicht nur ein gutes Herz hat, sondern auch eine gute Figur neben ihm auf dem Thron macht.«

Medea wollte Daphnes Worten zu gerne Glauben schenken, doch sie begann sich zu fragen, ob ihr eigenes Herz überhaupt noch gut genug für den Prinzen war, wenn sie ihrer eigenen Schwester wünschte zu versagen.

Sie war machtlos gegen das Gefühl. Je mehr sie es zu verdrängen versuchte, desto schlimmer wurde es.

Die Trompeten kündigten mit der Hymne der südlichen Sommerinseln das Eintreffen der dritten Prinzessin an. Königin Niobe war einst selbst eine Prinzessin der Inseln gewesen. Nun würde ihre Nichte, Prinz Leans Cousine, um das Herz ihres Sohnes kämpfen. Doch als die Flügeltüren sich öffneten, flogen weder Vögel in den Saal noch tanzten hübsche Mädchen über den edlen Boden. Es passierte rein gar nichts.

Niemand kam.

Verwirrtes Gemurmel wurde unter den Gästen laut.

Hatte ausgerechnet die eigene Cousine des Prinzen ihn versetzt?

Königin Niobe wirkte besorgt und flüsterte ihren Wachen Befehle zu, woraufhin diese eilig den Saal verließen.

König Egeas erhob sich aus seinem Thron und hob beruhigend die Hände. »Meine lieben Freunde, bitte bewahrt Ruhe! Ich bin sicher, es wird jeden Moment weitergehen. Solange wollen wir noch einmal das Tanzbein schwingen.« Er nickte in Richtung der Musiker, die sogleich zu spielen begannen.

Der König selbst forderte seine Gemahlin zum Tanz auf, um ein gutes Beispiel für seine Gäste abzugeben, die es ihm daraufhin nachtaten.

Doch kaum dass die Tanzfläche sich gerade wieder gefüllt hatte, wurde der Walzer von einem hohen Schrei unterbrochen. Ein Mädchen mit zerzausten Haaren, zerrissener Kleidung und blutigen Kratzern am ganzen Körper stolperte durch die Flügeltüren in den Ballsaal und stieß einen solch herzergreifenden Klagelaut aus, dass Medea erschauderte.

»Leilani!« Königin Niobe rannte dem Mädchen schockiert entgegen.

Zeitgleich mit Prinz Lean, der zuvor noch mit Prinzessin Thelma einen Tanz gewagt hatte, traf sie bei ihr ein.

»Liebste Nichte, was ist dir nur Schreckliches widerfahren?«, rief Niobe besorgt aus.

Medea wusste, dass die Königin ursprünglich von den südlichen Sommerinseln stammte, demnach musste Leilani ebenfalls eine Prinzessin sein.

Das erschöpfte Mädchen mit der typischen karamellfarbenen Haut konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, dennoch wehrte sie jeden Versuch der Wachen, sie zu stützen, tapfer ab. Erst an Leans Schultern hielt sie sich zitternd fest.

Die Musiker hatten aufgehört zu spielen, und die Gäste bildeten neugierig einen Kreis um die Eingetroffene.

Spuren von Tränen zeichneten das schmutzige und zerkratzte Gesicht des Mädchens. »Alle sind tot!«, schluchzte sie unter Tränen.

»Wer ist tot?«, fragten Lean und seine Mutter wie aus einem Mund.

»Meine Eltern, meine Geschwister, meine Freunde, das ganze Volk!«, schrie sie heiser.

»Beruhige dich, Kind«, wies König Egeas das aufgebrachte Mädchen zurecht, nachdem er sich einen Weg durch die tuschelnden Menschen gebahnt hatte. »Ganz langsam! Erzähl uns genau, was passiert ist.«

Niobes Nichte versuchte sich sichtlich zusammenzureißen und atmete ein paar Mal tief ein und aus, bevor sie sprach: »Eine schwarze Wolke zieht über das Land. Die Gegenden, die sie erreicht, verdorren auf der Stelle. Tiere und Menschen sterben. Sie trägt ganze Schlösser hinweg, so auch mein eigenes Zuhause.«

Die Königin sah entsetzt zwischen Leilani und ihrem Gemahl hin und her.

Als jedoch niemand etwas sagte, fuhr das Mädchen fort: »Wir waren gerade dabei, den letzten Proviant für die Reise zu verpacken, als die schwarze Wolke uns überraschte. Uns blieb keine Zeit, so stieg ich auf mein Kamel und ritt los. Ich schaffte es gerade noch, die Brücke zu überqueren, ehe auch diese von dem Nebel verschluckt wurde. Als ich mich das nächste Mal umsah, war nicht nur die Brücke verschwunden, sondern auch mein gesamtes Schloss mit all seinen Bewohnern. Nicht einmal Ruinen waren übrig geblieben. Es war, als hätte es nie existiert.« Der Schrecken stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Unmöglich!«, stieß Niobe aus. Ihre eigenen Schwestern, Brüder, Tanten und Onkel lebten am Hof der südlichen Sommerinseln, umso betroffener schien sie ihr Schicksal zu machen.

»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, beteuerte Leilani.

Bestürzt schloss Niobe ihre Nichte in die Arme. »Du armes Mädchen«, seufzte sie. »Hast du den weiten Weg zu uns ganz allein auf dich genommen?«

»Es war sehr beschwerlich, aber weil ich mir nicht anders zu helfen wusste, bin ich dennoch nach Chóraleio aufgebrochen«, bestätigte Leilani und fuhr sich über das schmutzige und zerkratzte Gesicht. Ihr Körper war Beweis für die Strapazen der Reise. Gewiss war sie es als Prinzessin nicht gewohnt, im Freien zu schlafen. Dazu hatte sie ohne Proviant oder Hilfe von Bediensteten zurechtkommen müssen.

»Du kannst dir unserer Unterstützung sicher sein«, versprach Lean ihr auf der Stelle. »Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um das Schicksal deines Schlosses und Volkes zu klären.«

»Ich befürchte, wenn wir nicht auf der Stelle fliehen, wird es Chóraleio nicht anders ergehen. Obwohl ich kaum eine Pause eingelegt habe und so schnell geritten bin wie der Wind, war die schwarze Wolke immer hinter mir. Sie verbreitet Tod und Zerstörung und bald wird sie auch dieses Schloss erreichen.«

Auf die Worte der südlichen Prinzessin hin stießen die Gäste erschrockene Schreie aus und liefen zu den großen Fenstern des Ballsaals, um in den nächtlichen Schlosshof hinauszublicken. Durch die Dunkelheit war jedoch kaum etwas zu erkennen.

Während es einigen schwerzufallen schien, zu begreifen, was sie gehört hatten, gerieten andere bereits in Panik, redeten aufgeregt durcheinander und schubsten sich gegenseitig bei dem Versuch, aus dem Raum zu fliehen.

»Beruhigt euch!«, brüllte König Egeas, doch seine sonst so autoritäre Stimme erzielte keine Wirkung. Ganz im Gegenteil – die Menschen bekamen es nun erst recht mit der Angst zu tun, und selbst diejenigen, die zuvor noch ruhig geblieben waren, begannen panisch umherzulaufen.

Plötzlich wurden Schreie von Leuten laut, die an den Fenstern gestanden hatten. »Nebel zieht auf!«

»Die schwarze Wolke!«

»Rette sich, wer kann!«

Auch Prinz Lean sah, wie sich ein dunkler Nebel dem Schloss näherte. Es fehlte nicht mehr viel, dann würde er es erreicht haben.

»Wir müssen fliehen«, flehte ihn seine Cousine Leilani an und zerrte dabei an seinem Arm.

»Aber wohin?«

Plötzlich meldete sich Heera zu Wort, die sich mit den anderen drei Ernannten einen Weg zu ihm durch die Menschenmenge gebahnt hatte: »Nicht weit von hier gibt es im Wald eine Höhle, die tief unter die Erde führt. Dort sollten wir sicher sein!«

Ihre schlichte Anwesenheit erleichterte den Prinzen sichtlich. »Gut, dann möchte ich, dass du die Ernannten sowie alle Prinzessinnen dort hinführst. Meine treuen Freunde Yanis und Silas sollen dich begleiten.«

»Aber was ist mit Euch?«, stieß Erina sogleich aus.

Lean lächelte ihr Mut machend zu. »Ich werde nachkommen, sobald ich kann. Zuvor werde ich jedoch versuchen, so viele Menschen wie möglich aus dem Schloss zu bringen.«

»Ich werde dir helfen. Vielleicht kann ich mit meiner Zauberkraft die Menschen beruhigen«, warf Amphion ein.

»Lasst uns keine Zeit verlieren! Brecht sofort auf«, wies Lean die Ernannten an und folgte dem jungen Zauberer durch die Menge.

 

 

 

Erst ein Mädchen,

das bereit ist,

sieben fremde Länder zu bereisen,

sieben Berge und Täler zu durchqueren

und sieben Aufgaben zu bestehen,

wird den Fluch brechen.

Kapitel 2 - Heera

 

Weil nicht nur die Gäste der Feierlichkeiten in Panik durch das Schloss rannten, sondern auch die Diener, und gleichzeitig die Menschen aus der Stadt Schutz suchen wollten, war es nicht leicht, einen Weg aus den hohen Mauern zu finden.

Yanis und Silas gaben ihr Bestes, die Mädchen zusammenzuhalten, doch sie verloren einander immer wieder aufs Neue, weil sich fliehende Menschen zwischen sie drängten.

Fjodoras Wölfe wurden bei dem Tumult unruhig. Nur drei von ihnen waren bei ihr. Die übrigen hatte sie allein aus dem Schloss geschickt.

Prinzessin Thelma hielt sich dicht an den breitschultrigen Kristópher, der sie davor schützte, von anderen angerempelt und umgeworfen zu werden.

Daphne und Leilani hatten sich bei Silas untergehakt, während Yanis sich um Erina und Medea kümmern sollte. Heera bildete die Vorhut, doch plötzlich ließ sie lautes Stimmengewirr herumfahren. Sie sah, wie Medea mit Yanis stritt, sie sich schließlich von ihm losriss und in die entgegengesetzte Richtung davonrannte – zurück ins Schloss.

Alarmiert verließ Heera ihren Platz an der Spitze der Gruppe und bahnte sich grob einen Weg zu dem Freund des Prinzen. »Warum hast du sie gehen lassen?«

»Seitdem wir aufgebrochen sind, wollte sie noch etwas aus ihrem Zimmer holen. Ich habe ihr mehrfach gesagt, dass wir dafür keine Zeit mehr haben, aber sie wollte nicht auf mich hören«, verteidigte sich Yanis.

»Das stimmt«, bestätigte Erina. »Yanis trifft keinesfalls Schuld!«

Heera starrte die beiden erst ungläubig an, bevor sie wütend die Luft ausstieß.

Das war typisch für Medea! Was konnte nur so wichtig sein, dass sie dafür ihr Leben riskierte?

»Entschuldige, dass ich dich so angefahren habe«, bat sie Yanis um Verzeihung. »Kennst du den Weg zu der Höhle?«

Er nickte. »Ich bin praktisch im Wald aufgewachsen.«

»Gut, dann führst du die anderen dorthin. Ich komme mit Medea nach!«

Heera wollte bereits ihrer Schwester nachlaufen, doch Yanis hielt sie am Arm zurück. »Lean würde nicht wollen, dass ihr euch beide in Gefahr begebt.«

»Lean würde mich genauso wenig davon abhalten können wie du«, konterte Heera und streifte seine Hand ab. »Mach dir um mich keine Sorgen, sieh lieber zu, dass du die anderen so schnell wie möglich aus dem Schloss in Sicherheit bekommst!«

Sie lief los, ohne ihn noch einmal zu Wort kommen zu lassen oder sich umzudrehen.

Sobald sie die Treppe zum oberen Stockwerk erreicht hatte, kam sie schneller voran. Die Flure waren menschenleer. Nur vereinzelt traf sie auf Kammerzofen.

Die Tür zu Medeas Zimmer stand offen, und ihre Schwester lief ihr auf der Schwelle schon entgegen. In ihrer Hand hielt sie den goldenen Vogelkäfig.

Heera konnte ihre Wut kaum noch zügeln. »Ist das dein Ernst? Du riskierst dein Leben für einen verdammten Vogel?«

Medea rümpfte beleidigt die Nase. »Es ist nicht nur irgendein Vogel. Prinz Lean hat ihn mir geschenkt.«

»Er würde dennoch nicht wollen, dass dir deshalb etwas zustößt«, fuhr Heera sie an. »Lieber würde er dir jederzeit einen neuen Vogel schenken.«

»Ich will aber nicht irgendeinen Vogel!«

In solchen Momenten wollte Heera ihre jüngere Schwester am liebsten erwürgen. Medea war auf eine Weise genauso stur wie sie selbst, aber das war auch der Grund, warum sie sich immer wieder in Gefahr brachte.

Zornig griff Heera nach der Hand ihrer Schwester und schwor sich, sie nicht wieder loszulassen, ehe sie die Höhle im Wald erreicht hatten.

»Was ist an dem Vogel denn so besonders?«, fragte sie, während sie über den verlassenen Flur eilten.

»Er ist mein bester Freund«, antwortete Medea voller Überzeugung.

 

Der Nebel hatte sich bereits so stark um das Schloss und den Wald ausgebreitet, dass Medea und Heera kaum noch die eigene Hand vor Augen sehen konnten.

Trotzdem rannten sie weiter in das graue Nichts – Heera voran. Sie kannte den Wald besser als jede andere und war nicht bereit aufzugeben.

Wenn Leilani die Wahrheit gesagt hatte, würde sie hier draußen ohnehin der Tod holen. Da wäre es immer noch besser gewesen, bei den anderen im Schloss zu bleiben, aber mittlerweile waren sie davon so weit entfernt, dass sie nicht einmal hätten sagen können, ob es östlich oder westlich von ihnen lag. Der Nebel hatte alles um sie herum verschluckt.

Medea klammerte sich fest an die Hand ihrer Schwester, während sie mit der anderen den Vogelkäfig beschützend gegen ihre Brust drückte.

»Bist du dir sicher, dass du weißt, wo wir hinmüssen?«, fragte sie zweifelnd.

»Nein, aber wir haben keine andere Wahl, als es weiter zu versuchen«, entgegnete Heera, woraufhin Medea nur ein besorgtes Seufzen ausstieß.

Sie liefen weiter, als Medea plötzlich abrupt stehen blieb, Heera losließ und stattdessen den Käfig vor ihr Gesicht hob. Die kleine Lerche hatte sich ängstlich auf ihrer Stange zusammengekauert und stieß ein wimmerndes Fiepsen aus.

»Liebste Lerche, kannst du uns helfen? Kennst du den Weg?«, sprach Medea den Vogel an.

Entsetzt starrte Heera sie an. »Was soll der Blödsinn? Bist du wahnsinnig geworden? Vögel beherrschen die menschliche Sprache nicht!«

Medea ließ sich von ihr nicht beirren und sah weiter flehend zu dem kleinen Vogel, der sich weder rührte noch einen Mucks von sich gab. »Du brauchst dich nicht vor Heera zu fürchten. Sie mag eine harte Schale haben, aber ihr Kern ist trotz allem butterweich. Bitte sprich doch mit mir!«

Medea schien felsenfest davon überzeugt zu sein, dass ihre Lerche tatsächlich sprechen könnte, das brachte selbst Heera ins Zweifeln.

Erwartungsvoll blickte sie nun ebenfalls zu dem Vogel, doch als dieser sich auch Sekunden später nicht rührte, schüttelte sie frustriert den Kopf.

»Hilfe!«, brüllte sie nun aus voller Kehle in den Nebel. »Kann uns jemand hören?« Sie hoffte, dass sie, wenn die anderen die Höhle bereits erreicht hatten und sie bemerken würden, ihren Stimmen folgen könnten.

Doch es blieb still – viel zu still. Es war weder das Zwitschern von Vögeln zu vernehmen noch das Knistern von Tieren, die durch das Unterholz stiegen, nicht einmal das Rascheln der Blätter im Wind.

»Hilfe!«, kreischte nun auch Medea. Beide Mädchen begannen laut zu rufen.

Heera musste sich eingestehen, dass sie jegliche Orientierung verloren hatte.

Als niemand auf ihre Schreie reagierte, klammerte sich Medea weinend an ihre Schwester. »Werden wir jetzt sterben?«

»Nein«, behauptete Heera entschieden. »Ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht.« Auch wenn sie nicht wusste, wie sie Medea vor einer schwarzen Wolke beschützen sollte.

Auf einmal war es ihr, als hätte sie eine Stimme durch den Nebel vernommen – so leise wie ein Flüstern. Sie gebot Medea, still zu sein, und lauschte in das allumfassende Grau.

»Heera … Medea …«

Da war es wieder! Ganz eindeutig! Auch Medea hatte die sanft gehauchten Wörter gehört.

»Folgt mir …«, hallte es durch den finsteren Dunst.

Unsicher setzte Medea den ersten Schritt in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

Doch Heera hielt sie zurück. »Was, wenn es eine Falle ist?«

Erneut erklang die geisterhafte Stimme: »Ich bin die Hexe des Waldes und werde euch leiten. Vertraut mir!«

»Haben wir denn eine Wahl?«, konterte Medea.

Ausnahmsweise hatte sie recht, und so folgten beide Mädchen der körperlosen Stimme durch den Nebel.

 

Nach kurzer Zeit konnten sie plötzlich das ängstliche Stimmengewirr von anderen Menschen wahrnehmen.

»Hallo? Ist da jemand?«, schrie Heera erneut.

Für einen Augenblick wurde es still, doch einen Moment später erhielten sie laut und deutlich die Antwort: »Heera? Bist du das?«

Es war Daphne.

»Ja! Wir sind hier«, riefen Heera und Medea gleichzeitig.

Daphne lachte erleichtert auf. »Folgt meiner Stimme! Ihr habt die Höhle fast erreicht.«

Nach nur wenigen Schritten konnten die Schwestern die Schemen von Körpern ausmachen, die sich aus der Dunkelheit abhoben. Sie beschleunigten ihre Schritte und stolperten in den Eingang der Höhle.

Alle anderen waren dort: die drei Prinzessinnen samt ihren Begleitungen, die anderen beiden Ernannten sowie Silas und Yanis.

Der Nebel breitete sich immer weiter aus, machte selbst vor der Höhle nicht halt und zog tiefer in das Innere. Doch zu dem Nebel kam plötzlich auch ein starker Wind hinzu, der jedes Geräusch verschluckte und an den Haaren und Kleidern der Mädchen riss. Sie konnten ihre eigenen Worte nicht mehr verstehen und flohen weiter in die Höhle hinein.

Erst als sie unter der Erde angekommen waren, entkamen sie dem Zerren und Reißen des Windes.

Zitternd vor Angst kauerten sie sich eng aneinander und lauschten auf die Geräusche des Waldes. Es klang, als würde ein Sturm über sie hinwegziehen, so stark, dass er ganze Bäume samt Wurzeln ausreißen und Häuser forttragen könnte. Der Boden bebte unter ihren Füßen, und Steine rieselten von der Decke.

Erina und Medea begannen beide ängstlich zu weinen. Heera saß zwischen ihnen und legte behutsam ihre Arme um die beiden Mädchen, obwohl ihr selbst angst und bange war.

Daphne ließ zu, dass Silas seine starken Arme um sie schlang, während Yanis sanft auf Prinzessin Leilani einsprach, die sich zu Fjodora und ihren Wölfen geflüchtet hatte. Kristópher hatte sich beschützend vor Thelma gestellt, bereit, jede Gefahr abzuwehren.

So verharrten sie alle für einige Zeit. Heera konnte nicht sagen, ob es sich dabei um Minuten oder Stunden handelte.

Langsam ließ das Beben nach, und die Geräusche verklangen, bis es schließlich unheimlich still wurde – geradezu totenstill.

Fjodora löste sich als Erstes aus ihrer Starre und stand entschlossen auf. »Kommt! Wir sollten nachsehen, was geschehen ist.«

Zögernd folgten ihr die anderen zum Höhlenausgang. Ein schwaches Dämmerlicht fiel in das Innere. Sie hatten damit gerechnet, dass sich ihnen ein Bild der Zerstörung bieten würde: Bäume, die aus dem Boden gerissen worden waren, abgerissene Äste, die ihnen den Weg versperrten, oder ganze Felsbrocken, die von der Höhlendecke gestürzt waren.

Nichts davon war eingetreten – alles war noch viel schlimmer. Zwar stand die Höhle so fest wie eh und je und die Bäume waren tief im Erdboden verwurzelt, aber kein Baum trug auch nur noch ein einzelnes Blatt.

Der Waldboden, der sonst von Blättern, Moos und Zweigen bedeckt war, lag staubig und völlig ausgetrocknet vor ihnen. Nicht weit von der Höhle befand sich eine Gruppe Rehe. Die schwarze Wolke musste sie überrascht haben, ehe sie Zeit gehabt hatten zu fliehen. Nun waren nur noch Skelette von ihnen übrig.

Auch auf den kahlen Bäumen kauerten Vögel ohne jegliche Federn oder Haut. Nur noch ihre Knochen waren zu erkennen.

Daphne begann panisch zu schreien und vergrub ihr Gesicht an Silas’ Brust, vermutlich um den schaurigen Anblick nicht länger ertragen zu müssen. Die Wölfe von Fjodora beheulten in Trauer den Tod der vielen Waldtiere, während die Mädchen nur fassungslos in den kahlen Wald starren konnten.

Heera war zu schockiert, um weiter über die körperlose Stimme nachzudenken, die Medea und ihr den Weg zu der Höhle gewiesen und dadurch ihre Leben gerettet hatte.

Einzig Leilani wirkte ruhig. Gewiss war sie auf ihrer Flucht bereits an kahlen Wäldern, ausgestorbenen Dörfern und vertrockneten Flüssen vorübergekommen, sodass sie der Anblick nicht ganz so unvorbereitet wie die anderen traf.

»Lasst uns zurück zum Schloss gehen und sehen, was davon noch übrig geblieben ist«, schlug sie dennoch vor.

Kapitel 3 - Heera

 

Es war ein trauriger Rückweg – nichts war mehr wie zuvor. Da die Bäume nun keine Blätter mehr trugen, hätten sie das Schloss schon von Weitem sehen müssen, stattdessen säumten die Skelette von Tieren ihren Weg. Als sie aus dem Schloss geflohen waren, hatte Schnee den Boden bedeckt und ein eisiger Wind war ihnen entgegengeschlagen, doch nun stieg eine drückende Hitze auf, die den Weg noch viel beschwerlicher machte. Schweiß bildete sich auf ihren Häuptern, und Heeras Mund fühlte sich ganz trocken an.

Besonders Thelma und Kristópher mussten unter dem rasanten Temperaturwechsel leiden, denn es hieß, dass im Norden der Schnee nie schmolz und selbst im Sommer die Wege noch säumen würde.

Sie ließen die kahlen Bäume hinter sich zurück und traten auf das offene Feld hinaus, das den Wald von der Stadt trennte. Normalerweise sah man von hier aus direkt zu dem majestätischen Schloss hinauf, welches auf einer leichten Erhöhung thronte.

Doch weder ein Schloss noch eine Stadt waren zu erkennen, nicht einmal ein einziges Haus stand mehr. Lediglich die hohe Stadtmauer war zurückgeblieben.

Der Anblick erschütterte alle zutiefst.

Sie konnten ihren Augen nicht trauen und setzten einen Fuß vor den anderen, bis sie das große Tor erreichten, durch das jeden Tag die Wagen der Markthändler gefahren waren.

Keine Wache war da, um sie zu kontrollieren. Keine Menschenseele bewegte sich durch die Straßen der einst so schönen Stadt. Nicht einmal das Bellen eines Hundes war zu hören.

Trotzdem ging die kleine Gruppe weiter über die Pflastersteine, bis sie schließlich genau dort standen, wo sich zuvor der prächtige Thronsaal des Schlosses befunden haben musste.

Erst dann brachen Daphne und Medea in verzweifelte Tränen aus.

»Mein armer Vater«, klagte Daphne. »Was mag nur aus ihm geworden sein?« Er war genau wie alle anderen Familien der Erwählten zu den Feierlichkeiten im Schloss gewesen und nun samt diesen verschwunden.

»Oh, Heera, unsere lieben Eltern und die kleine Elena«, sagte Medea, während sie ihr Gesicht an der Schulter ihrer Schwester vergrub.

»Nicht einmal Prinz Lean ist uns geblieben«, bedauerten Silas und Yanis gleichzeitig. »Was soll nur aus Chóraleio werden, ohne Schloss und ohne König? Wer wird sich nun um das Land kümmern?«

Leilani trat erhobenen Hauptes vor die anderen. »Verzweifelt nicht! Es ist noch nicht die Zeit, um die Hoffnung aufzugeben. Dort, wo sich unsere Schlösser nun befinden, werden wir auch unsere geliebten Familien und Freunde wiederfinden.«

»Aber wo mag das nur sein?«, fragte Erina traurig.

Ehe die Prinzessin der südlichen Sommerinseln ihr antworten konnte, ließ ein Geräusch sie innehalten. Es war das Meckern einer Ziege. Für gewöhnlich ein Geräusch, welchem niemand weitere Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Doch in den verlassenen Stadtmauern hallte es wie ein Echo über die leere Ebene.

Alle begannen sich aufgeregt nach dem Tier umzusehen. Vielleicht gab es dort, wo die Ziege sich befand, noch mehr Überlebende, die es geschafft hatten, der schwarzen Wolke zu entkommen.

Heera entdeckte das Tier als Erste. Es befand sich ganz am Rand der nördlichen Mauer, wo es sich eng an die Steine gekauert hatte.

Sie rannte ihm entgegen und fiel vor dem Tier auf die Knie, als handle es sich dabei um einen alten Freund. »Liebe Ziege, bist du wirklich die Einzige, die zurückgeblieben ist?«

Erst jetzt bemerkte sie, dass das Tier nicht wie alle anderen war. Es hatte ein dunkles, beinahe schwarzes Fell, das seidig im Dämmerlicht der aufgehenden Sonne glänzte. Große, intelligente Augen aus einem warmen Braunton wie flüssige Schokolade blickten ihr entgegen. Doch am seltsamsten war die goldene, mit Edelsteinen besetzte Krone, die sich auf dem Haupt der Ziege befand.

»Ziege?«, wiederholte das Tier plötzlich in menschlicher Sprache. »Ich bin keine Geringere als deine Königin, du ungehobeltes Gör!«

Erschrocken wich Heera vor ihr zurück. Hatte die Ziege gerade wirklich mit ihr gesprochen?

Medea kniete sich nun ebenfalls neben ihr nieder. »Königin Niobe? Seid Ihr es wirklich?«

»Gewiss«, meckerte die Ziege empört. »Die Schwarze Hexe hat mich verzaubert, als sie das Schloss und all seine Bewohner gestohlen hat. Nur mich ließ sie zurück, um euch von ihrer Tat zu berichten. Ich bin ihre Zeugin.«

Heera erinnerte sich noch gut an die Worte der Schwarzen Hexe, die diese in Krähengestalt voller Zorn gekrächzt hatte, nachdem sie Prinz Lean von ihrem Fluch befreit hatte:

 

»Ich verfluche dich, Prinz Lean. Deine Schönheit wird dich nicht nur hindern, die wahre Liebe zu finden, sondern auch Hunger, Schmerz und Krankheit über ganz Chóraleio bringen. Erst ein Mädchen, das bereit ist, für dich sieben fremde Länder zu bereisen, sieben Berge und Täler zu durchqueren und sieben Aufgaben zu bestehen, wird den Fluch brechen und dich mit dem Herzen sehen lassen.«

 

Sie hätte sich denken können, dass auch die schwarze Wolke das Werk der bitterbösen Hexe war.

»Aber das Schloss der Schwarzen Hexe ist zerstört. Wo sollen wir nun nach ihr suchen?«, fragte Heera die Ziege.

Nun, als sie sich sicher war, dass es sich bei dem Tier tatsächlich um die stolze Königin handelte, konnte sie sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen.

»Genau das wollte ich euch gerade erzählen«, meldete Leilani sich erneut zu Wort. »Es heißt, die schwarze Wolke habe ihren Ursprung in den sonnigen Ostlanden. Von dort soll sie ihren Weg begonnen haben, aber dabei verschonte sie das Schloss des Königs Tian. Dafür muss es einen bestimmten Grund geben!«

»Auch seine Tochter, die Prinzessin Mae, war eingeladen, sich für meinen Sohn zu bewerben«, meckerte Niobe. »Sie scheint sich nicht einmal auf den Weg zu uns gemacht zu haben, so als hätte sie bereits gewusst, welch grausames Schicksal uns ereilen würde.«

»König Tiangalt schon immer als herrschsüchtig und machthungrig. Vielleicht hat er sich mit der Schwarzen Hexe verbündet«, meinte Fjodora. »Sollte sich herausstellen, dass er mit alldem etwas zu tun hat, werde ich ihn meinen Wölfen zum Fraß vorwerfen!«

»Immer mit der Ruhe«, versuchte Thelma sie zu beschwichtigen. »Lasst uns keine voreiligen Schlüsse ziehen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als in den Osten zu reisen und dort nach Antworten zu suchen.«

»Meine Prinzessin, ich bewundere Euren Mut, doch der Weg ist lang und beschwerlich. Weder Ihr noch eines der anderen Mädchen ist für so eine Reise passend ausgestattet«, wendete Kristópher besorgt ein und ließ seinen Blick über die dünnen Seidenkleider der Damen gleiten. Bereits jetzt waren die edlen Stoffe an den Säumen zerrissen und von dem Dreck der Höhle völlig beschmutzt. Aber wenigstens mussten sie bei der Hitze nicht frieren. »Wir haben nicht einmal mehr etwas zu essen oder zu trinken.«

»Es geht nicht nur um das Schloss, sondern auch um meinen Sohn«, meckerte Niobe. »Der zukünftige König von Chóraleio und der Mann, um dessen Herz zu kämpfen ihr alle gekommen seid. Seine Braut wird nur jenes Mädchen, dessen Liebe so groß ist, dass ihr kein Weg zu weit, kein Fluss zu tief und kein Berg zu hoch ist, um ihn zu erlösen. Wer bereits jetzt zögert, dem steht es frei zu gehen.« Sie sah die Mädchen nacheinander scharf an, was bei einer Ziege recht ulkig aussah. »Ist jemand unter euch, der die Flucht ergreifen möchte?«

Keines der Mädchen wagte auch nur ein Wort zu sagen. Demütig ließen sie ihre Köpfe hängen.

Einzig Heera erwiderte den strengen Blick der Ziege belustigt. »Sorgt Euch nicht um das Essen. Sollten wir in allzu große Hungersnot geraten, so bleibt uns immer noch das zarte Fleisch einer Ziege, welches wir uns braten können.«

Heera hörte, wie ihre Schwester entsetzt keuchte und Niobe fassungslos blökte, aber die anderen brachen in lautes Gelächter aus. Niemand würde es je wagen, über eine Königin zu lachen, aber eine Königin in der Gestalt einer Ziege war etwas völlig anderes.

»Sagt, werte Königin, gebt Ihr nun auch Milch?«, zog Silas übermütig seine Herrin auf, woraufhin diese den Kopf senkte und ihm mit den Hörnern nachjagte, was ihr nur noch mehr Gelächter einbrachte.

Leilani stellte sich ihrer Tante schmunzelnd in den Weg. »Verzeiht ihnen den kleinen Spaß auf deine Kosten«, bat sie versöhnlich. »Aber seht es doch einmal so: Solange wir noch lachen können, gibt es weiterhin Hoffnung.«

Niobe schien das nur wenig zu beruhigen. Bockig meckerte sie weiter vor sich hin, aber unterließ es zumindest, Silas nachzujagen. »Ich habe ein gutes Gedächtnis, also überlegt euch genau, wie weit ihr eure Späße treibt, oder ihr werdet es später bereuen, sobald ich meinen Körper wiederhabe.«

Obwohl ihre Worte bedrohlich waren, fiel es den anderen schwer, sie ernst zu nehmen. Zudem war Niobe eine gute Königin, die niemanden für einen kleinen Streich köpfen lassen würde. Sollte sie ihren Körper zurückbekommen, wäre sie darüber vermutlich so froh, dass ein paar kleine Sticheleien schnell wieder vergessen wären.

 

 

 

Dunkle Zeiten bringen

die Schattenseiten des Menschen hervor.

 

Neid, Misstrauen und Habsucht

treten nie deutlicher zutage

als in Zeiten der größten Not.

 

Kapitel 4 - Heera

 

Der Weg war beschwerlicher, als die Mädchen es sich vorgestellt hatten. Zwar waren zumindest die Ernannten es gewohnt, weite Strecken zu Fuß zurückzulegen, doch noch nie zuvor war es so heiß gewesen. Der Schweiß stand ihnen in Perlen auf der Stirn und tränkte ihre Kleider, während ihre Kehlen so ausgetrocknet waren, dass sie kaum noch Luft bekamen.

Den Prinzessinnen ging es nicht besser, ganz im Gegenteil. Sie waren selten zu Fuß unterwegs, sondern ritten oder fuhren in prachtvollen Kutschen. Besonders Thelma litt unter der Hitze. Ihr treuer Diener Kristópher musste sie immer wieder tragen, weil ihr schwacher Kreislauf sie taumeln ließ.

Auch die Wölfe von Fjodora hechelten bei der Hitze und suchten vergeblich nach einem Baum, der ihnen Schatten spenden könnte. Ein fließender Fluss oder wenigstens ein Bach wären eine Erlösung gewesen, doch alle Gewässer waren bis auf den Grund ausgetrocknet und die Fische, die in ihnen gelebt hatten, mussten einen qualvollen Tod erlitten haben.

Königin Niobe schritt tapfer auf ihren Hufen voran mit der Krone zwischen den beiden Hörnern. Selbst als Tier strahlte sie eine gewisse Autorität und Eleganz aus.

Schließlich erhoben sich am Horizont die Umrisse eines kleinen Dorfes. In der Hoffnung, dort auf andere Menschen zu treffen, schöpfte die Gruppe neue Kraft, und sie beschleunigten ihre Schritte.