Mark singt - Peter Nathschläger - E-Book

Mark singt E-Book

Peter Nathschläger

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Beschreibung

Inhalt: Mark Beaumont flieht aus der Stadt, von der er sich verraten fühlt. Er flieht verwirrt und verängstigt und auch wütend. Er flieht, weil er sich von seinem Leben distanzieren will und landet schlussendlich in den Armen von Johan Pendergast, der die Geschichte und Werte seines Lebens bewahren will. Diesen beiden Burschen stehen fünf Tage zur Verfügung. Fünf Tage im Sommer, in denen sie nicht nur ihr Leben ordnen und Freunde werden, sondern sich darüber hinaus auch noch am Ende aller Worte angekommen, ineinander verlieben. Fünf Tage im Sommer, die ihr Leben für immer verändern.

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Seitenzahl: 309

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Peter Nathschläger

Mark singt

Roman

Zum Autor:

Peter Nathschläger. ist neununddreißig Jahre alt und lebt in Wien zusammen mit seinem Lebensgefährten Richard, mit dem er nun in trauter Zweisamkeit seit neun Jahren Tisch und Bett teilt.

„Da man nun nicht mehr um Lagerfeuer sitzt und nach einer guten Gruselgeschichte den Mond anheult, habe ich mich entschlossen, die Geschichten aufzuschreiben. Obwohl ich auch hin und wieder den Sommermond anheule und unter dem Wintermond friere.

Ich möchte noch hinzufügen, dass ich mich nicht für einen literarischen Schreiber halte, sondern viel eher für einen Flüsterer, Verführer und Erzähler, der die Geschichten um ihrer selbst Willen erzählt.“

Himmelstürmer Verlag, part of Production House GmbH

Kirchenweg 12, 20099 Hamburg

www.himmelstuermer.de

E-mail: [email protected]

Photo by Thorsten Hodapp

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer, AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

Originalausgabe, September 2004

Digitale Version, Juni 2012

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

ISBN Print    978-3-934825-35-4

ISBN E-pub: 978-3-863612-45-0

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1: Marks Flucht

Kapitel 2: Johan macht Ferien

Kapitel 3: Mark nimmt ein Bad

Kapitel 4: Das Geisterhaus

Kapitel 5: Der Pilger

Kapitel 6: Die Brücken

Kapitel 7: Mark singt

Kapitel 8: Die Liebenden

Ein Kind fragt: Was ist das Gras?

Und hält es mir mit vollen Händen hin.

Wie aber soll ich antworten, weiß

ich es doch genauso wenig, wie das Kind.

Walt Whitman

Einleitung:

Am 26. August 2060 saß ein alter Mann in seinem Apartment in New York und weinte. Er war müde, er war frustriert und er konnte nicht fassen, wie sehr das Leben manchmal einem rauen Gewässer glich. In der rechten Hand hielt er einen handgeschriebenen Brief, vor ihm auf dem Boden lag eine aufgeschlagene Tageszeitung. Auf der Seite vier konnte man lesen, dass der Historiker und Schriftsteller Johan Pendergast im Alter von neunundsiebzig Jahren in seinem Haus in Iowa friedlich entschlafen war. Am 19. August schloss er abends, als er ins Bett ging, für immer die Augen. Seine Frau Judith, mit der er 59 Jahre verheiratet war, wird mit Hilfe der Nachbarn und dem örtlichen Kirchenchor von Old Hanley die Bestattung ausrichten. Finanziell brauchte sich die alte Dame keine Sorgen zu machen: Johan Pendergast war wohlhabend. Seinem Wunsch entsprechend wird er am Ufer des kleinen Waldsees hinter seinem Haus an der Südseite beerdigt. Zwischen zwei alten, schwarzen Bäumen.

Der weinende Mann wusste warum. Er flüsterte leise vor sich hin und wusste gar nicht, dass er es tat. Aber es waren Worte. Nur wenige Worte:The rhythm of the heat

Er strich den Brief glatt und sah die kleine, gestochene Schrift von Judith Pendergast. Die Frau, die soviel Freude in Johans Leben gebracht hatte und alles wusste, was zwischen ihm und Johan gewesen war. Nun, fast alles. Sie hatte nie ein Wort darüber verloren. Aber Mark Beaumont, der steinalte Mann mit den Tränen im Gesicht, hatte ihr seit jeher angesehen, dass sie es wusste und gut hieß.

Er beugte sich vor und las die ersten Zeilen des Briefes noch mal:

Lieber Mark,

Es tut so weh. Und es ist so traurig. Johan ist vor drei Tagen gestorben. Ich weißnicht, wann Dich dieser Brief erreichen wird, aber ein paar Tage wird es wohl doch dauern. Ich vertraue der Post nicht.

Johan ist ins Bett gegangen und friedlich eingeschlafen. Als ich um 23:00 Uhr auch schlafen gehen wollte, war er bereits tot.

Mark, es ist so schrecklich. Überall diese Leute im Haus. Heute Morgen waren sogar Leute von der Universität Kalifornien da, die sich erkundigten, ob es unveröffentlichtes Material in Johans Nachlass gäbe. Sind die irre? Johan ist noch nicht beerdigt und die machen sich mehr Sorgen um ihre Reputation bei anderen Universitätsarchiven als sie Rücksicht nehmen würden. Arschlöcher.

Mark, ich weiß, dass wir letztes Jahr nicht viel Kontakt hatten, bis auf Deinen Besuch im Frühjahr und ich weiß, dass Dich die Kreuzschmerzen so plagen. Aber bitte komm. Ich glaube, Johan würde das auch wollen. Einen einzigen Menschen unter all den Abstaubern. Und ich kann auch ein klein wenig Trost brauchen, weißt Du?

Er überflog die weiteren Zeilen. Dann stand er auf und humpelte zur Dusche. Judith hatte recht. Sein Kreuz war wirklich morsch.

Den Vormittag verbrachte er damit, sich zu pflegen und eine kleine Tasche für die Reise zu packen.

Der einzige Mensch, der ihm je wirklich etwas bedeutet hatte, war tot. Der Mann, der die Wälder liebte und so vortrefflich darüber schreiben konnte, war gegangen.

Draußen wurde New York von einem gewaltigen Wolkenbruch durchnässt. Mark Beaumont könnte einen Schnellzug nehmen oder sogar nachDes Moinesfliegen. Aber irgendwie schien es ihm gut und gerecht, diese Reise so anzutreten wie seine allererste Reise nach Iowa. Damals, als er als Zwanzigjähriger flüchtete. Hals über Kopf im Morgengrauen vor der Stadt flüchtete.

Und so kam es, dass Mark Beaumont den Bus nahm. Er fuhr mit der Metro (die jetzt in den letzten 5 Jahren tatsächlich zu einem der bequemsten und sichersten Verkehrsmittel geworden war) zum Busbahnhof auf der East 86Street. Die Stopps:Randolph,Budd Lake, dann umsteigen und in einem Rutsch nachDes Moines. Von dort nahm er den Bus einer örtlichen Linie, die direkt überWintersetund durchOld Hanleyführte.

Die Busreise war angefüllt mit Erinnerungen. Die Erinnerungen waren matt wie ein vergilbtes Foto; an den Rändern schon etwas welk. So wie er selbst. Da war es wohl in Ordnung, dass die Erinnerungen nicht mehr diese schmerzhafte Intensität hatten wie früher, als sein Körper noch entsprechend darauf reagieren konnte.

Sogar das Vibrieren der Scheibe, an die er den Kopf lehnte, erinnerte ihn an seine erste, so verzweifelt angetretene Reise nach Iowa. Nur, dass er damals nicht wusste, wohin er eigentlich wollte. Bis er es dann vor sich sah, wie ein Flammenmal am Himmel.

Westlich von New York ging der Regen in Nieseln über und noch weiter rollten sich die schweren Wolken am Horizont zusammen. Ab Massachusetts klärte sich der Himmel, und die Sonne flirrte Hitzewellen vom Firmament. Der Bus war gut klimatisiert (also auch nicht zu kalt) und die Sitzreihen, an die er sich dunkel erinnern konnte, waren kleinen Sitzgruppen gewichen. Sofas. Es waren keine Sitze mehr sondern Sofas, die man 180 Grad drehen konnte. Sehr feudal. Auf der Reise schlief Mark immer wieder kurz ein. Schlüsselschlaf hatte Johan das genannt.

Er erreichteOld Hanleyeinen Tag später am frühen Nachmittag. Es war der Tag der Beerdigung und Mark stieg aus dem Bus und sah links hinauf zu den Wäldern. An der Umgehungssstraße, die das Ortsgebiet entlastete, waren Tankstellen und Imbissstuben, Motels und Werkstätten. Einige mehr als noch vor sechzig Jahren. Aber man konnte noch immer zwischen der Tankstelle und der Werkstatt hindurch direkt zum Haus sehen. Mark stützte sich auf seinen Wanderstock und atmete tief ein. Diese Luft. Und seine Augen sahen: Dieses Licht. Aber er war schon lange nicht mehr Zwanzig. Und so brauchte er fast eine Stunde, bis er oben beim Haus ankam und nochmals 25 Minuten, bis er das Seeufer erreichte. Mark hatte die Segnung um etwa 10 Minuten verpasst, die Leute standen in Gruppen zusammen und unterhielten sich. Vornebeim Grab stand Judith. Eine kleine, zierliche Frau, gebückt von den Jahren, und sprach mit dem Pfarrer, der auch nicht mehr taufrisch war. So, als ob sie seine Präsenz spüren würde, eine Vibration in der Luft vielleicht oder aber die Änderung des Lichts, unterbrach sie ihr Gespräch mit dem Geistlichen und drehte sich zu ihm um.

Mark sah jede Menge aufgeregt wirkender Studenten und Professoren, die mindestens ebenso alte Knacker waren wie er selbst. Die Leute bedienten sich bei einem kleinen kalten Buffet, das wahrscheinlich Judith mit den Leuten des Kirchenchors angerichtet hatte, und tranken Wein und Sekt.

Die Säuferbrigade, Ladies and Gentlemen. Nicht nur bei Begräbnissen, dachte Mark heiter. Niemand sah Mark irgendwie wissend an. Wären Informationsmanager und IT-Spezialisten da gewesen, wären sie vor ihm möglicherweise auf die Knie gefallen. Mark hatte einen fast legendären Ruf in der IT-Branche. Jetzt, da Mark 80 Jahre alt war, war der Ruf, den er genoss, tatsächlich nur noch rein akademisch. Aber noch vor 20 Jahren hatte er aktiv an der Weiterentwicklung der IP/AD Adressierung für routbare Protokolle mitgearbeitet, wobei das AD Konzept großteils auf seinem Mist gewachsen war. Das RFC, das die neuen Standards empfahl, hatte auch den Beinamen:Das Beaumont Memorandum.

Aber hier waren keine Computerprofis. Ein paar Leute hatten ihre Tablett PCs dabei, um nur ja keinen Termin zu verpassen. Anwender waren hier. Ja. Aber egal. Dies war Johans Abschied und es war vermutlich in Ordnung, dass ein Haufen trinklustiger Studenten und Professoren hier am Seeufer herumtrampelten und Judiths Biervorräte niederrangen.

Er kämpfte sich über den bemoosten Boden zu Judith vor und umarmte sie. Für diesen einen kurzen Moment schienen die beiden allein auf der Lichtung zu sein. Und es war stiller als sonst. Die Sonne flirrte zwischen den saftig grünen Blättern der alten Bäume und zeichnete Kringel auf den Moosboden.

Judith zog Mark zu sich runter und flüsterte erstickt: „Schön, Mark. Es ist so schön, dich wieder zu sehen.“ Sie hakte sich bei ihm ein und führte ihn zum Seeufer. Sie hörten eine Weile dem Wasser zu, wie es ans Ufer gluckste und sahen gedankenverloren in die Tiefen des Waldes. Judith zupfte Mark am Ärmel und raunte ihm zu: „Ich kann diese ganzen akademischen Schnorrer nicht ausstehen. Und Johan konnte die auch nicht leiden. Trampeln da herum und fressen Brötchen. Keiner von denen hatte Johan je gekannt. Keiner, sag ich dir.“

Dann schwiegen sie wieder eine Weile und sahen zu, wie die Menge zerrann. Die Leute verließen in Grüppchen die Beerdigung und gingen hinauf zu Johans Haus, um dort noch mal kräftig nachzuschenken, ehe sie in ihre Autos stiegen und dorthin fuhren, wo auch immer sie her sein mochten.

Judith und Mark blieben zurück, sahen hinaus auf den See. Eine Weile sah man sie da stehen; zwei alte Menschen, die ihren Blick über das Wasser streichen ließen. Dann zupfte Judith Mark am Ärmel und zog ihn zu sich runter. Sie flüsterte ihm ins Ohr: „Mark, ich habe sechzig Jahre an Johans Seite gelebt, weißt du? Aber ich hatte immer das Gefühl, dass es da einen Punkt gibt, dass es etwas gibt, das er nur mit dir teilte. Ich hab bei Gott keine Ahnung, was es sein könnte, aber all die Jahre machte es mich eifersüchtig. Jetzt bin ich ein altes klappriges Gestell, das siehst du ja. Aber ich bin nicht verrückt. Hörst du, Mark? Ich bin alt und mach mich manchmal ein, wenn ich schlafe, aber das ist eben das Alter. Man hat Lecks und wird undicht. Aber ich bin nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen. So wahr mir Gott helfe. Ich muss dir was sagen.“

Mark umarmte sie und fühlte Tränen aufsteigen. Das Alter. Eine Zeit lang klappt der Trick mit der Weisheit. Wenn man fünfzig ist, klappt es ganz gut. Aber wenn man mal achtzig ist, ist die Sache witzlos. Es bleiben nur noch die Träume aus den besten Tagen (und alles vor achtzig waren die besten Tage) und das Zählen der letzten welken Stunden. Das und ...

„Mark? Johan ... Johan ist nicht da drin.“ Sie deutete auf das Grab. „Das weißt du, oder?“

Mark nickte und sah in die Tiefen des Waldes. Judith zog Mark zu sich. Sechzig Jahre innigstes Vertrauen und Freundschaft strömte von ihr zu ihm und von ihm zurück.

„Mark. Er hat das getan, was schon sein Großvater vor ihm getan hat. Er hat sich befreit und ist jetzt in den Wäldern. Das weißt du doch, oder?“

Mark nickte. Der Gedanke, dass all das, was Johan so liebenswert gemacht hatte, jetzt als Lichtgestöber durch den Wald zieht, hatte eindeutig mehr Kraft zu trösten als der Gedanke an die verrottenden Gebeine hier am See. Johan, der im Flirren der Sonne durch das Blätterdach herabsteigt. Ein Geist? Nein. Ein großartiger, lebendiger Gedanke.

Der Grabstein, der Johans Grab erst als das erkenntlich machte was es war, war ein schlichter Granitblock, in die Erde gerammt wie für immer.

In der ersten Zeile stand:

Johan Pendergast

Dann Geburtsdatum und Sterbetag. Und statt der üblichen religiös angehauchten Bibelzitate oder frommen Sätze stand da Thoreaus berühmtester Satz:

Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben. Intensiv leben wollte ich, das Mark des Lebens in mich aufsaugen ... um alles auszurotten, was nicht Leben war; damit ich nicht in der Todesstunde innewürde, dass ich gar nicht gelebt hatte.

Mark sah sich den Satz immer und immer wieder an. Und dann dachte er, dass man seine Liebe wohl nicht auf schönere Weise zeigen konnte. Das Mark des Lebens aussaugen. Ach, wie lange war das schon her. Und wie schön war das. Aber wie auch immer. Hier am Grab seines Freundes – und scheiß der Hund auf:Bester Freund, einziger Freund, wahrer Freundund all diese farblosen Superlative- stand es geschrieben und es würde so lange sichtbar sein, bis unzählige Sommer und Winter die gemeißelte Schrift verwaschen haben: Er war in all den Jahren das Mark des Lebens für Johan Pendergast gewesen. Er war der Weg, den er in diesem Wald genommen hatte. Er war es, der den Unterschied gemacht hatte. Mark Beaumont hakte sich bei Judith ein und dann gingen sie langsam zurück zum Haus. In der Zwischenzeit waren viele der Gästeendgültig verschwunden; das Haus leerte sich und wurde nur noch von Sonnenlicht bewohnt. Es hing Zigarettenrauch in der Luft. Die Kuchenecke war geplündert und die Limonaden Bar auffällig voll. Mark sah die Treppe entlang nach oben, wo sich die Schlafzimmer, ein weiteres Bad, eine weitere Toilette und die Hochveranda befanden. Er wusste, dass das Zimmer gleich rechts neben der Treppe, von dem aus man einen tollen Blick auf das Dorf hatte und auf die bewaldete Umgebung, immer für ihn bereit stand. Er löste sich aus Judiths Umarmung und sagte: „Ich möchte mich etwas ausruhen, sonst falle ich noch auseinander.“

Sie nickte und versprach ihm, eine Tasse Tee raufzubringen. Mark nickte und machte sich an die beschwerliche Arbeit, den oberen Stock zu erklimmen.

Er wandte sich nach rechts und öffnete die mintgrün gestrichene Tür zu seinem Zimmer, Johans Kinderzimmer.

Judith hatte aufgeräumt und staubgewischt. Links an der Wand das alte Bett, am Fenster der antike Holztisch und der riesige Lehnsessel. Mark spürte neue Tränen und ein uraltes Schluchzen in seiner Brust. So tiefe Trauer. So ein Abschied.

Er setzte sich in den Lehnsessel und drehte ihn so, dass er zum Fenster hinaus sehen konnte. Links sah er den Waldrand, weiter nach rechts Felder und Wiesen, die geteerte Landstraße und die Ausläufer vonOld Hanley. Mark schloss die Augen.

Und dann machten seine Träume, die mit den Jahren immer schneller kamen, einen Satz wie eine defekte Schreibmaschine. Die Jahre vergingen im Rauschen der Wälder und gewannen an Farbe, Kraft und Deutlichkeit.

Seine Füße fühlten sich verschwitzt an.

Das vom Wald gefilterte Sonnenlicht der tiefstehenden Sonne tanzte auf seinen Augenlidern.

Und der Traum begann. Der Traum begann mit einer Flucht.

Der Tag ist vorüber, und die Dunkelheit

fällt von den Schwingen der Nacht,

wie von dem Adler in seinem Flug

Kapitel 1: Marks Flucht

Als der Bus durch die Industriestraßen fuhr, wich das Morgengrauen den Betrübnissen des neuen Tages, und hatte doch rosa Wangen. Mark floh aus der Stadt, er hatte seine Verfolger hinter sich gelassen. Er saß an der Fensterseite, kühlte sein heißes Gesicht an der vibrierenden Scheibe und spürte, dass er nicht nur einen Kater kriegen würde, sondern auch gewaltige Kopfschmerzen. Dazu kamen post-flucht-Depressionen.

Mark floh aus der Stadt und die Schatten der sterbenden Nacht folgten ihm. Der Bus war klimatisiert und nur zur Hälfte besetzt; kein Wunder für Samstag um 4:25 Uhr früh. Das Speed, das er noch zu Hause genommen hatte, ehe er ein paar Jeans und T-Shirts und die Nike Cortez in den Rucksack gestopft hatte, um weiß der Geier wohin zu fliehen, pochte im Blut an den Schläfen, in seinen Lenden. Seine Schenkel fühlten sich geschwollen an, und die Doc Martens an seinen Füßen kamen ihm endlos verschwitzt und zu eng vor. Die schwarze Lederhose klebte an seinen Schenkeln und drückte unangenehm an den Hüften; was in der Nacht in dieser Bar noch die Blicke der Frauen auf ihn gelenkt hatte, wirkte jetzt deplaziert und unbequem. Er wünschte, er hätte sich die Zeit genommen, in die Jeans zu schlüpfen. Aber als er in der Wohnung war, wusste er, dass jede Verzögerung seinen Entschluss abzuhauen, ernsthaft gefährden konnte. Also blieb er in den Sachen, die er freitagabends angezogen hatte und die vom Tanzen verschwitzt waren. Er ignorierte frustriert die Blicke der Männer, die vor den Toiletten des Busbahnhofes auf der 204 East 86street herumflanierten, als ob es Samstagmorgens nichts Besseres zu tun gäbe. Er übersah erschöpft den begierigen Blick der farblosen, aber nicht unhübschen Frau hinter der dicken Scheibe, die ihm den Fahrschein über den Edelstahltresen schob.Er übersah so ziemlich alle Zeichen, die ihm sonst so wichtig waren und die er noch gestern Abend eitel in sich aufgenommen hatte. Zeichen des Interesses, ihn zu nehmen, mit ihm zu trinken, zu kiffen, Speed oder Koks zu schnupfen, und vielleicht noch später im Dämmer des Morgens im Dreck des seitlichen Notausganges mit ihm zu ficken. Oder noch besser: Im ungemachten Bett einer durchgeknallten Sekretärin.

Mark verstand die Stadt und die Möglichkeiten, die sie ihm bot, sich zu amüsieren. Und er liebte es, sich zu amüsieren. Er hatte den blassen Charme einesNachtjungen; der Computerfreak mit dem Wetlook in den Haaren, das enge Holzperlenkettchen und dem schwarzen T-Shirt. Ein zugegebenermaßen oft spröder Charme.

Jetzt übte das Kettchen einen unangenehmen Druck aus, wenn er schluckte und die Haare sahen nicht frisch und glänzend feucht aus sondern verfilzt und ungepflegt. Die Lines brannten in der Nase, im Hinterkopf hatte er ein leises, aber dringendes Stechen. Unter den Augen blühten dunkle Blumen der Erschöpfung, die ihn stärker als je zuvor packte. Er glaubte, dass er schluchzen würde. Ein einsamer würgender Laut aus seiner Kehle; ein Abschied vielleicht. Doch als er das nächste Mal einatmete, sackte sein Kopf nach vor und ein Spuckeblässchen bildete sich an seinem rechten Mundwinkel.

Als das Morgengrauen einen rosa Schimmer bekam und der Bus immer mehr Grün um sich scharte, war Mark eingeschlafen und träumte unruhig und wirr. Er sah jung aus. Er sah verängstigt aus. Er dachte, in Leder sähe er martialisch und verwegen aus. Hmmm ... Jetzt allerdings sah er weder martialisch noch gefährlich noch besonders anrüchig aus. Zusammengesunken im Sitz und schlafend sah er eher verletzlich aus. Erschöpft und wie ein Junge auf der Flucht.

Der Bus fädelte sich in die Hauptverkehrsadern ein und durchschnitt brummend den morgendlichen Dunst über der Stadt.

… ein Junge auf der Flucht …

Und das war er auch.

… der Abend hatte so gut wie jeder Samstagabend angefangen. Er beendete mit einer Mail den Arbeitstag und fuhr mit der Metro heim. Dort duschte er ausgiebig, köpfte eine winzige Flasche Sekt und saß nackt in der Wohnung. Die Wohnung, ein großes, von Teelichtern erhelltes und von Schatten belebtes Loft; wenig möbliert, aber doch gemütlich … leise Musik aus den versteckten Boxen. Debussy: Gärten im Regen … Vorbereitungen für den Abend. Er rauchte ein, zwei Zigaretten und ölte sich dann mit einem Hautöl ein. Die Fenster der Wohnung waren offen, der Sommerabend bauschte die Gardinen. Im etwas separierten Arbeitszimmer lief der PC. Nach langem hin und her hatte er Windows von der Festplatte geputzt und Red Hat aufgesetzt. Im Nachhinein dachte Mark, dass dies möglicherweise der erste Schritt, der erste sichtbare Schritt zu einer umfassenden Veränderung war. Er wechselte das Betriebssystem nicht aus Überzeugung, sondern weil er etwas ändern wollte.

Er schlüpfte ohne Unterwäsche in die Lederhose, zog ein schwarzes Tanktop über, das hauteng anlag und überprüfte, ob er genug Geld und die Kreditkarte im Portemonnaie hatte. Dann zog er die schwarzen Doc Martens an und fuhr sich vor dem Spiegel noch mal durch das gelfeuchte, stachelig gestylte Haar. Er schenkte dem Spiegel ein kühles, arrogantes Grinsen. Vor zwei Wochen hatte er im Club ein Mädchen kennen gelernt. Haha, der war gut. Es gab ein paar Blicke über Bande, vielsagendes Lächeln beiderseits und weg war sie. Joe von der Bar hatte Mark beiläufig erzählt, dass das Mädchen Maria hieß und hin und wieder Samstagnacht im Club auftauchte. Letztes Wochenende hatte er keine Zeit gehabt, weil er bei einem nörgelnden Kunden des Internet Providers, für den er arbeitete, im Pfusch ein kleines Netzwerk eingerichtet hatte. Das brachte zwar zusätzlich Geld, dafür aber auch das nagende Gefühl, sie verpasst zu haben …

Und dabei blieb es auch: Vor Mitternacht hatte er genug Blicke geerntet, um eigentlich befriedigt nach Hause zu gehen. Das Mädchen war zwar nicht erschienen, aber was solls. Er war an diesem Abend eh nicht so drauf aus, Vollgas zu geben. Dann waren zwei Freunde aufgetaucht und fuhren eine nette Ladung Koks auf, die sie auch flugs auf den Marmorwaschtischen der Herrentoilette konsumierten. Er kaufte ihnengleich ein kleines Säckchen ab. Marks ständige Blässe, die er gerne Nachtschattenblässe nannte, bekam vorübergehend rosa Flecken auf den Wangen. Er fühlte sich gut. Sogar sehr gut. Er spürte die Blicke, die über Bande geschossen wurden, Barspiegel und Konsorten, intensive Blicke, die durchaus Interesse bekundeten. Dies befriedigte die Eitelkeit und in seinem momentanen Zustand hatte Mark auch nicht vor, mehr als das zu befriedigen. Und so störte es ihn auch nicht weiter, als ihn der etwa 45jährige Mann ansprach und ihm unbedingt seiner Frau vorstellen wollte. Mark sah auf einen Blick, dass die Lady eine Nummer zu groß für ihn war. Machoallüren hin oder her, diese Lady war in einer anderen Liga. Er schätzte sie auf ein paar Millionen ein: Top Apartment am Central Park mit Terrasse und Designermöbeln; einen Mercedes in der Garage. Sie sah toll aus. Umwerfend. Aber sie lächelte wie ein hungriger Hai. Nicht er würde sie vernaschen oder im Schimmer des Notausganglichts an die dreckige Ziegelwand rammeln, sondern sie würde ihn ficken. Und dann fressen. Mark spürte durch die heitere Gelassenheit des Koks, dass er vor dieser Frau Angst haben könnte, wenn er nüchtern wäre. Aber er war nicht nüchtern.

„Diese Lady würde gerne zusehen, wenn ich dir einen blase.“

Mark spekulierte noch immer über die Möglichkeit wegen dieser Frau Angst zu haben, als ihm der Mann diese Feststellung ins Ohr hauchte.

„Und dann will sie sehen, wie ich dich ficke.“

Der Mann in dem Designeranzug sagte das mit der Beiläufigkeit des erfolgsverwöhnten Managers, der nur noch ein paar Formalitäten abzuklären hatte.

Mark wandte sich dem Kerl zu und zischte:

„Vergiss es, Schwuchtel. Du wirst ihn mir nicht lutschen und du wirst mich schon gar nicht abficken. Was soll der Scheiß?“

Der Mann sah ihn entzückt an:

„Ach. Du willst wohl den Preis rauftreiben?“

„Was für einen Preis, Scheiße noch mal? Was ist das für ne abgefickte Nummer? Verzieh dich …“ Mark drehte sich um und wollte ein paar Schritte weggehen. Der Mann legte seine Hand auf Marks Schulter und drückte zu. Mark zuckte zusammen und wand sich aus dem Griff. Eshätte ein Missverständnis sein können. Mark wusste, dass sich hin und wieder Stricher hierher verirrten, um nach den mehr oder weniger erfüllenden Intermezzos mit Männern ihr angeknackstes Selbstwertgefühl bei vernachlässigten Bankiersfrauen aufzubauen. Hier gab es immer Koks und willige Frauen. Mark dachte, dass genau dieses Lokal wie ein Klischee wirkte, ein Klischee aus irgendeinem schwarzweißen Sittendrama aus den späten Fünfzigern. Aber es war real.

„Hören Sie, ich bin kein Stricher. Ich bin nicht hier, um Geld zu verdienen. Ich will meinen Spaß haben und ne Frau aufreißen, ja? Also lassen Sie mich bitte in Ruhe.“

Mark wandte sich ab und ging zur Tanzfläche, die im Halbstock tiefer lag, um den Leuten ein wenig beim tanzen zuzusehen. Oder Scheiße, selbst zu tanzen. Er lehnte sich an die Brüstung, sah hinunter auf die Tanzfläche und zündete sich eine Zigarette an. Dann lehnte plötzlich die Lady mit dem Haifischlächeln neben ihm und zischte:

„Hier hast du 500 Dollar, Strichjunge. Ich will sehen, wie du dich unter Josh windest, wenn er dich fickt. Das könnte mich endlich mal geil machen.“ Sie sagte das wie zu sich selbst und mit sehr leiser Stimme. Dennoch klang es deutlich und wie eine ernstzunehmende Drohung.

Mark sah sie angewidert an und war knapp davor, vor ihr auf den Boden zu spucken. Aber er riss sich zusammen und marschierte die Treppen runter auf die tiefere Ebene der Tanzfläche und mischte sich unter das tanzende Volk.

„The Darkzone“

Kurzfristig hatte ihn die schützende Helligkeit der Drogen im Stich gelassen. Aber als er hier unten tanzte und schwitzte, fühlte er sich wieder wohl. So wohl, dass er ein paar sehr anzügliche Tanzbewegungen in Richtung der Haifischlady abließ, ohne dabei zu ihr rauf zu sehen. Irgendwie wusste er, dass sie da oben war, hinter den drehenden Lichtern und ihn musterte wie ein Gepard seine Beute musterte, ehe er zuschlug. Soll das Weib doch mit ihrem Wachhund vögeln.

„Mir doch egal.“

Der Bus hielt um halb Acht Uhr morgens in einem kleinen Nest inNewJerseymit ein paar Fabrikanlagen und Tankstellen, Parkplätzen und Drive-Ins, einem runden Stadtplatz. Zwei Leute stiegen aus. Der Tag kam in die Gänge. Wäre er wach gewesen, hätte ihm der Anblick gefallen. So friedlich. Im Morgenrosa sah alles so frisch aus. Selbst die Industriegebiete mit den uralten Fabrikanlagen. Leute gingen zur Arbeit. Sie wussten nichts von dem jungen Mann, der auf der Flucht vor seinem eigenen Leben war. Gerade dieser Anblick morgendlicher Normalität hätte ihm sicherlich gut getan. Aber Mark schlief; jetzt noch mehr zusammengerollt. Seine Augenlider zuckten und schimmerten feucht.

Er hätte dies alles ja vergessen können. Diese Anspielungen. Diese demütigenden Äußerungen. Das könnte man wegstecken. Ist ja nichts passiert, oder? Dass sie ihn als Stricher sah, störte ihn nicht weiter. Er hatte nichts gegen Stricher. Die sahen meistens gut aus, waren amüsant und konnten recht witzige Geschichten erzählen. Es war… weil sie ihm klar zu verstehen gab, auch durch diese inszenierte Szene mit dem Mann, der sich seitlich an ihn rangeschoben hatte, dass er für sie immer nur ein Stück käufliches Fleisch sein würde. Nie mehr als etwas, das man selbstverständlich erwerben und benutzen konnte.

Aber die Sache war anders gelagert. Als er tanzte und den Vorfall verdrängte, wusste er, dass es einfach falsch war. Er sah in den Frauen, die er begehrte, atmende, lebende Geschöpfe und nie bloß Fickfetzen. Man beschenkt sich für eine Nacht mit Lust und Zuneigung. Na und? Das ist wohl echt in Ordnung. Die Frau sah in ihm aber nur ein kaufbares Stück Fleisch. Das wäre auch noch irgendwie zu verschmerzen gewesen.

Aber als sie ihm eiskalt und ohne jede Hemmung auf die Herrentoilette folgte, wusste er, dass sie ihn nicht nur wollte, sondern von ihm besessen war. Er beugte sich gerade über den Marmortisch und steckte sich einen zusammengerollten Geldschein in die Nase, als sie wie eine rauschende Erscheinung den Toilettenvorraum betrat und ihm von hinten zwischen die Beine griff. Ihre Hand wand sich schlangenhaft in der Wärme, die seine Schenkel an die Lederhose abgaben.

„Oh. Der Hurenjunge hat keine Unterhose an.“

Mark zwickte die Schenkel zusammen und schniefte die Line hoch. Dann drehte er sich um und knallte ihr eine.

„Hau ab, du Miststück.“ Er schlängelte sich an ihr vorbei und suchte das Weite.

Er floh. Jetzt floh er tatsächlich. Er sah über die Schulter zurück und stellte erschreckt fest, dass ihr Lächeln geronnen war. Jetzt sah sie wütend aus. Sie sah aus, als würde sie ihn zerfleischen. In einem paniknahen Gefühl sah er sie vor sich: Sie kniete vor ihm. Er, nackt und gefesselt. Und sie schnitt ihm mit einem rostigen Messer mit sägenden Bewegungen die Eier ab. Mark schrie wie ein Vogel und bahnte sich einen Weg durch die tanzende, wogende Menge. Das war natürlich lächerlich. Eier abschneiden? Wohl die ewige Kastrationsangst schwanzfixierter Machos, wenn sie an ne Frau geraten, die ihnen den Schneid abkauft. So in Panik wegen einer überkandidelten Tussi? Mann, Mann, Mann! Er stürmte die Treppe hoch, an jungen schönen Leuten vorbei, aus dem Augenwinkel sah er den Mann, der ihn zuerst angesprochen hatte. Keine Zeit für langwierige Beobachtungen. Die Wirkung vom Koks passte sich seiner Stimmungslage an wie eine Gummimaske sich bis zu einem gewissen Grad dem Gesicht anpasst. Die Panik wurde atemlos und stank wie bittere Galle. Er war davon überzeugt, dass sie ihm wehtun wollte. Und Mark war sicher, dass sie eine Frau war, die wehtun konnte. Und womöglich schon getan hatte. Sie konnte mit Worten wehtun. Und ganz sicher ließ sie sich nicht ungestraft von einem Jungen ohrfeigen, der für sie unzweifelhaft ein Stricher war.

Die Musik schien ihm viel zu laut und hysterisch. Aber die Musik war nicht hysterisch. Er war es. Er verfluchte seine Entscheidung, die knallenge Lederhose anzuziehen. Für die Leute da im Club musste er ja wirklich wie ein Stricher aussehen. Mark zitterte vor Angst, als er sich durch die Menschentraube am Eingang kämpfte und auf die Straße taumelte. Scheißweib! Verdammte Hure! So ein Miststück! Er beugte sich vor und stütze die Hände auf die Knie. Seitenstechen. Oh Mann. Der Neonglanz des Clubs lag hinter ihm, hinter der Menschentraube und der gepolsterten Tür. Drin stand noch ein halbvolles Glas Bier. Wie aus dem Leben gerissen. Was einem so alles einfällt, wenn man sich einer echten Bedrohung ausgesetzt fühlt.

Er sah den Schatten nicht, der in der Nacht schimmerte. Aber er spürte diesen gellenden Schmerz, als ihn der Gummiknüppel an der Hüfte traf.

Eine Schmerzexplosion. Der Schmerz war so schlimm, dass er glaubte, kotzen zu müssen.

Er fiel wimmernd auf die Knie. Mark sah verdattert den rissigen Beton an, seine verkrampften Hände, als er nach vorne kippte und sich abstützte.

Scheißstadt. Du Verräterin! Das darf doch einfach gar nicht … wahr sein!

Die Traube beim Eingang, Conny, der muskulöse Türsteher, mit dem er immer herumblödelte, wenn sich abzeichnete, dass kein Matratzentango angesagt war. Das Taxi, das vorbeifuhr. 00:35 Uhr. Stimmen, Genuschel, eine Bierdose, die von Halbstarken in eine Seitengasse gekickt wird. Ein gebelltes: „Fuck you“. Alles so deutlich. Aber noch deutlicher der weinende Schmerz seiner Niere, das Zucken seines linken Beins, die Arme unter seinen Achseln, die ihn in die schmale, verdreckte Seitengasse neben dem Club zerrten. Wegen dem Schweiß unter den Achseln rutschte er immer wieder aus dem Griff des Fremden, des Mistkerls. Gerade genug, um ihm die halb bewusstlose Hoffnung auf Flucht einzuimpfen. Doch eindeutig zu wenig für eine echte Flucht.

Die Panik aß von seinem Herz.

Als er sich die Tränen wie ein Kind mit den Fäusten aus den Augenwinkeln gewischt hatte, hockte die Frau zwischen seinen gespreizten Beinen. Sie drückte mit ihren Knien seine Schenkel auseinander. Der Mann hielt ihm von hinten ein Messer an die Kehle. Mark lehnte am vorgestemmten Knie des Kerls. Wenn er den nach Panik schmeckenden Speichel runterwürgte, spürte er das Kratzen der Klinge an seinem Kehlkopf. Sie hatte irgendetwas in der Hand. Es sah aus wie ein Stempel. Oder so.

„Du kannst es haben wie du willst, Strichjunge.“ Mark hörte, dass sie dieses Wort wirklich liebte.

„Entweder du lässt dich jetzt von Josh in deinen Scheißarsch ficken,oder deine Eier machen damit Bekanntschaft …“

Sie drückte auf einen Knopf an der Seite des Gegenstandes, den sie in der Hand hielt und ein knisternder Lichtbogen blendete seine feucht schimmernden Augen.

Ein Schocker. Ein scheißverdammter Elektroschocker! Hilfe! Das Weib griff ihm zwischen die Beine und strich mit ihren lackierten Fingernägeln –eine leise Drohung- über die Beule, die seine Weichteile ins Leder drückten. Sie strich kichernd die einzelnen Falten von der Mitte nach außen nach. Das hätte in einem anderen Leben und in einer anderen Situation sicher mit einem Schnurren quittiert werden können. Aber verdammt! Das Weib markierte ihn. Dann ballte sie plötzlich die Faust und hieb schwungvoll auf seinen Schoß. Da Mark keine Unterhose anhatte, erwischte sie ihn ziemlich genau auf die Eier und er schrie heiser auf. Mark wand sich auf dem Boden und kratzte mit den Sohlen über den Dreck. Die Frau lachte und fand das Ganze offenbar sehr erheiternd.

Josh packte Mark im Genick wie eine Katze und drehte ihn zu sich herum. Mark starrte verwirrt den fleischigen riesigen Penis des Mannes an. Die Hand in seinem Nacken war wie ein Schraubstock und der Schmerz zog sich jetzt von seinem Genick runter bis zu den Hoden.

Das Glied stank. Es war verschwitzt. Mark würgte und rappelte sich hoch. Das knallende Zucken des Lichtbogens ließ ihn zusammensacken. Und dann begann er, wirklich zu weinen. Die Frau heuchelte belustigtes Mitleid.

„Na na na …Der Hurenjunge weint ja!“ Auch dieses Wort schien ihr ganz besonders gut zu gefallen. Alles, was die Ehre und den Stolz eines jungen Mannes kastrieren könnte, schien ihr sehr gut zu gefallen. Und wahrscheinlich würde sie ihm den Schocker wirklich gerne an die Eier halten.

Mark überzeugte sich, dass der Zipp der Lederhose immer noch zu war und nicht offen, so, dass sie ihre Drohung im Handumdrehen wahrmachen könnte. Mark machte eine unverfängliche Drehung nach links und rammte dem Mann, ohne über das Messer an seinem Hals nachzudenken, den Ellenbogen in die Weichteile. Der Effekt war verblüffend. Der Mann quietschte wie ein Schwein, mit dem Messer in der Hand kippteer zu Boden. Da sich seine Faust um den Messergriff verkrampft hatte, rammte er sich die Klinge seitlich in den Bauch. Die Frau presste die Kontakte des Schockers an Marks Hüfte und betätigte den Knopf; fast an der gleichen Stelle, an der ihn der Gummiknüppel erwischt hatte. Der Schmerz gellte von den Zehen bis zum Oberarm, wie böse zuckende Lava.

Hör auf!!!

Aber sie hielt den Schocker mit einem grimmigen Lächeln an seine Seite. Es stank verbrannt. Mark kreischte gellend. Sein linkes Bein zitterte noch immer von dem Hieb, seine ganze linke Seite war ein tobendes Fanal, aber er konnte sich mit einer uneleganten Bewegung hochwuchten und zur Straße stolpern. Er prallte gegen die Ziegelwand und riss sich ein paar Kratzer in die Schulter. Er schluchzte.

„Hilfe.“

Zu leise. Zu heiser. Zu verdammt der letzte Schrei eines Jungen, der jetzt gleich abgemurkst wird. Unter den Tränen fing Mark an, hysterisch zu kichern. Mann, das kann man keinem erzählen. Echt nicht… Er stolperte mitten auf die Fahrbahn. Er fuchtelte wie ein Betrunkener mit den Armen und lief dann auf die andere Straßenseite.

Das Haifischweib machte ein paar Schritte aus der Gosse auf ihn zu und ließ den Schocker aufblitzen. Dann fuhr ein Streifenwagen vorbei. Sie wich ins Dunkel zurück und Mark hinkte so schnell er konnte zu den helleren Straßen.

Drei Straßen weiter stolperte Mark die Treppen zur U-Bahn runter. Neonlicht. Weiße Fliesen. Leute hier. Toll. Er schniefte die letzten Reste der Panik hoch und spuckte auf die verdreckten Wandfließen.

Nachtfalter unterwegs. Ein paar flachsende Schwarze, ein paar Skater, ein paar Raver. Sie kamen von Partys, wechselten von einer zur anderen Party, hingen auf den Straßen rum. Na und? Es ist Sommer in der Stadt. Da ist das völlig okay. Und es ist ganz besonders okay, das jetzt einige von diesen Jungs mit ihren Mädchen hier unten bei ihm waren und so wie er auf die U-Bahn warteten. Trotzdem er sich einredete, sich jetzt entspannen zu können, sah er sich immer wieder gehetzt um und rechnete in jedem Moment damit, die Furie und ihren Ficker zu sehen. Aber vor dem brauchte er wohl keine Angst mehr zu haben. Der blutete sicher wie ein abgeschlachtetes Schwein. Selbst als er in die Metro stieg und die Türen mit einem pneumatischen Pfeifen zufuhren, konnte er nicht so recht an seine Sicherheit glauben. Er ließ sich mit einem Schniefen auf eine Sitzbank fallen und starrte die baumelnden Haltegriffe an.

Eine halbe Stunde später war er zu Hause. Er wohnte in einem Apartment, das ihm seine Eltern gesponsert hatten. Inzwischen verdient er genug, um sich die Wohnung selbst leisten zu können. Der Hauch eines ersten Dämmers schälte sich aus der Nacht. Mark stöhnte vor Erleichterung, als er die Wohnungstür hinter sich zuknallte und von innen anlehnte. Er kam langsam zur Ruhe. Zumindest körperlich. Das Zittern ließ nach und der Schweiß trocknete auf seiner Haut. Er wischte sich die Hände an der Hose ab und ging dann hinkend ins Schlafzimmer und angelte sich den Rucksack vom Kleiderschrank. „Ich gehe. Das ist nicht mehr meine Stadt. Repeat: Das ist n n n nicht mehr m m meine   S scheißstadt.“ Mark starrte den Schlafzimmerspiegel an, ohne sich zu sehen. Zu dunkel. Zu sehr in den Schatten. Besser so. Aber er stotterte wieder. Der D-Zug seiner Kindheit rauschte an ihm vorbei. Er sah sich selbst hinter einer der gleißenden Scheiben sitzen und sich selbst zuwinken. Ein unansehnlicher Junge mit Brillen und merkwürdiger Frisur. Ein Junge, der stotterte, wenn ihn jemand scharf ansprach. Ein Junge, der erst in der Pubertät zur Schönheit reifen sollte. Und das Stottern überwand. Seither hatte er nie wieder gestottert. Früher war es leicht. Man musste ihn nur ein wenig nervös machen, ihn bedrohen (So wie Kinder das auch hin und wieder untereinander so machen)… Er stotterte wieder. H h h hallo a a alter Freund.