Marmorboden - Ceyda Fierz - E-Book

Marmorboden E-Book

Ceyda Fierz

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Beschreibung

Während wütende Bürger, unumgehbarer Staatsbankrott und eine Hungersnot, das vorrevolutionäre Frankreich in Atem halten, leben der König von Frankreich, Ludwig XVI., und sein treuer Begleiter Clément Leroux vorerst ein beschauliches Leben in Versailles. Doch getrieben von Intrigen, Todesfällen und der sich zuspitzenden Lage des Landes, findet sich der König in einer existenziellen Krise wieder.

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Seitenzahl: 164

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Für alle, die das Glück suchen…

Sehr geehrte Leserschaft, zu Beginn dieses Buches lasst mich eines sagen: Folgende Seiten, die im Jahre 1789 spielen, basieren vage auf den Begebenheiten des vorrevolutionären Frankreichs. Selbstverständlich lebten Ludwig XVI., Marie Antoinette, Maximilien und Augustin de Robespierre, und auch das Schloss Versailles steht heute noch in Frankreich. Doch lasst Euch nicht täuschen von den Handlungen dieses Buches, denn die Vorkommnisse auf den kommenden Seiten sind der Fantasie entsprungen und taugen weder für den Geschichtsunterricht noch zur Verinnerlichung der historischen Chronik.

Personen:

Clément Leroux, Bediensteter auf Versailles

Ludwig XVI., König von Frankreich zwischen 1774-1793*Marie Antoinette, Königin von Frankreich zwischen 1774-1793*Marie Thérèse, Tochter von Ludwig XVI. und Marie Antoinette*Louis Joseph, Sohn von Ludwig XVI. und Marie Antoinette*Charles Louis, Sohn von Ludwig XVI. und Marie Antoinette*Sophie Hélène, Tochter von Ludwig XVI. und Marie Antoinette*

Theodore Guillaume Fournier, Küchenmeister in VersaillesAveline Fournier, Tochter des KüchenmeistersAugustin de Robespierre, französischer Politiker*Maximilien de Robespierre, französischer Politiker/Revolutionär*Livius de la Bruyant, Hofmeister von Versailles

Nicolas Durand, Strassenjunge aus ParisGabrielle, Barbesitzerin in ParisPierre, Neffe von Gabrielle

* Diese Figuren basieren auf realen Personen und werden im Anhang genauer beschrieben.

Inhaltsverzeichnis

1. Versailles, 10. April 1789

2. Versailles, 11. April 1789

3. Versailles, 28. April 1789

4. Versailles, 5. Mai 1789

5. Versailles, 20. Mai 1789

6. Versailles, 4. Juni 1789

7. Versailles, 13. Juni 1789

8. Paris, 20. Juni 1789

9. Rue de Versailles, 20. Juni 1789

10. Versailles, 21. Juni 1789

Epilog: Place de la Concorde, 21. Januar 1793

Historischer Kontext

1.

Versailles, 10. April 1789

Die ersten warmen Sonnenstrahlen des Jahres schienen auf die goldenen Dächer von Versailles. Reges Treiben herrschte im Schloss. Vereinzelt huschten Angestellte durch die Gärten oder sattelten Pferde in den Ställen. Clément Leroux, ein hagerer Bediensteter mit rotem Haar, stand an einen Baum gelehnt im Innenhof. Leise pfiff er vor sich hin. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er zwei Männer in bunten Mänteln, die sich auf ihre Pferde schwangen und in der nächsten Sekunde durchs offene Schlosstor davonritten. Bald auch verstummten ihre Stimmen und das Hufgeklapper in der Ferne.

Clément verschränkte seine Arme vor der Brust und begann, mit seinen Holzschuhen in der getrockneten Erde unter seinen Füssen zu scharren. Eine Staubwolke wurde dabei aufgewirbelt, die den Bediensteten erst umhüllte und schliesslich auf seiner Uniform eine dünne Schicht Erde zurückliess. Clément fluchte. Mit hektischen Bewegungen klopfte er sich den Staub von seinen Ärmeln. Dabei trat er einige Schritte zurück, hinaus in die Mitte des Innenhofes.

«Aus dem Weg!», schrie eine tiefe Stimme. Clément drehte verwirrt den Kopf. Ein grosses, braunes Pferd galoppierte an ihm vorbei. Dessen Reiter, ein bärtiger Mann in schwarzer Bekleidung, warf ihm einen grimmigen Blick zu. Er trat dem Pferd in die Seite, worauf dieses wiehernd beschleunigte und über den Hof preschte.

Clément fuhr sich erstaunt durch die Haare, fand aber sogleich auch seine Stimme wieder und rief dem Reiter ein «Geh du doch aus dem Weg, Mistkerl!» nach.

Der schwarz gekleidete Mann verlangsamte augenblicklich sein Pferd. Er wendete und ritt direkt auf Clément zu. Nur wenige Zentimeter vor dessen Nasenspitze kam der Bärtige zum Stand.

«Was erlaubst du dir?», funkelte der Mann den Bediensteten an.

«Ich bin Chevalier Diallo und wer bist du?»

Clément, der weder vom Adelstitel noch vom zwei Meter hohen Pferd beeindruckt war, stemmte seine Hände in die Seiten: «Ich bin Clément Leroux.»

Der Chevalier lachte. Mit langsamen Bewegungen zog er dabei seine Handschuhe aus und wischte seine Hände an den geknöpften Ärmeln des dunklen Jacketts ab.

«Ein Diener also. Sprich gefälligst nie wieder so mit mir und zeige einem Chevalier Respekt!» Clément grinste unwillkürlich: «Ich bitte tausend Mal um Verzeihung, Chevalier Diallo.»

Mit diesen sarkastischen Worten trat er einige Schritte zurück und verneigte sich in theatralisch ausholenden Gesten. Und ehe der perplexe Chevalier etwas entgegnen konnte, wendete sich der Bedienstete ab und schlenderte über den Innenhof davon. Das Pferd des Bärtigen beschleunigte, worauf Clément begann, zu einer Holztür zu eilen. Er schwang diese mit voller Wucht auf, sodass sie mit einem lauten Knall gegen die anliegende Wand polterte. Clément verschwand darin, stolperte über einige Eimer und Mistgabeln und warf sich schliesslich in einen riesigen Strohhaufen am Ende des Stalles. Dort verharrte er. Er hörte den Chevalier im Hof seinen Namen und einige Beleidigungen rufen. Doch dieser machte keine Anstalten, dem Bediensteten weiter zu folgen. Grinsend streckte Clément seinen Kopf aus dem Stroh. Schnell band er sein rotes Haar in einen liederlichen Zopf. Einige Stallburschen, die das Geschehen mit verwunderten Blicken beobachtet hatten, starrten nun auf den mit Stroh bedeckten Bediensteten. Schnell erhob sich Clément und begann, sich einige Halme aus dem Zopf zu fischen. «Was guckt ihr so?» Er hatte die Stallburschen bemerkt. Einige wandten schnell ihre Köpfe ab und begannen erneut mit Halftern und Wassereimern durch die Boxen zu laufen.

«Das ist die neuste Stroh-Mode aus Paris. Habt ihr wohl noch nie gesehen?» Über seinen eigenen Witz lachend klopfte sich Clément die Hose ab und spazierte über eine Hintertür schlussendlich in die Gärten hinaus.

Es war Nachmittag geworden, als Clément seinen Dienst in den königlichen Gemächern antrat. Seine Haare ruhten nun in einem ordentlichen Zopf auf einer frisch gebügelten dunkelblauen Uniform. Ein weisses Hemd lugte darunter hervor.

«Stillgestanden, Ihre Majestät Ludwig XVI.!»

Ein blutjunger Wachmann mit einer Stahllanze schlug mit eben dieser auf den Marmorboden. Drei weitere Wachmänner taten es ihm gleich. Der dumpfe Aufschlag der Lanzen liess alle umstehenden Bediensteten verstummen. Mägde, Diener, Hofgesindel und Adelsleute bildeten zwei Reihen. Clément zwängte sich zwischen zwei Hofdamen mit eng geschnürten Kleidern und hochnäsigen Blicken. Dabei liess er sich die Gelegenheit nicht entgehen, die Dekolletés der beiden zu inspizieren. Eine rümpfte angewidert die Nase, als sie bemerkte, dass sie neben einem Bediensteten stand, der allem Anschein nach keinerlei Manieren besass. Clément blickte sie mit erhobenen Brauen an, wandte sich dann jedoch wieder ihrem üppigen Busen zu.

«Ihre Majestät, Ludwig XVI.», verkündete der Wachmann lautstark. Die Türen der grossen Halle schwangen auf. Clément kreuzte die Hände hinter seinem Rücken und richtete sich auf. In einen cremefarbenen Mantel gehüllt betrat ein unscheinbarer Mann den Saal. Trotz seiner geringen Körpergrösse war er kräftig gebaut. Auf seinem Haupt ruhte eine lange schneeweisse Perücke. Mit grossen grauen Augen blickte er sich um. Seine Nase war schief und seine buschigen Brauenhaare spriessten wie wildes Gras.

Wie auf ein unausgesprochenes Kommando hin senkten alle Umstehenden ihre Köpfe. Mit einem undeutbaren Blick legte der König seinen Kopf schief. Dabei tat er seine in Samt gehüllten Hände übereinander und platzierte sie vorsichtig auf dem langen Mantel. Unweigerlich fixierte Clément sie. Die Hände des Königs zitterten, wenn auch kaum wahrnehmbar. Gemessenen Schrittes durchquerte der König den Raum, wobei ihm zwei der Wachmänner folgten.

Clément löste den Blick von den Händen des Königs und hob ruckartig den Kopf. Sein Blick traf dabei auf den des Königs und die beiden sahen sich einen Atemzug lang an. Die ebenfalls leicht zuckende Unterlippe des Herrschers war für den Bediensteten nun deutlich zu sehen. Schnell löste dieser seine Augen vom Bediensteten und schritt weiter den Saal entlang. Abermals folgten ihm die Wachmänner mit Lanzen.

Erst als Ludwig hinter einer Ecke verschwunden war, lösten sich die starren Reihen. Die Adeligen setzten ihre Gespräche fort und die Angestellten gingen ihren Verpflichtungen nach. Clément fasste einen der glanzvoll verzierten Unterteller. Nicht weit von ihm stand eine Teetasse, die er sich kurzerhand schnappte. Auf flinken Füssen tänzelte er durch eine Schar von Mägden, die den Marmorboden mit Wasser und Seife schrubbten. Verärgert wetterte eine angejahrte Magd über die Fussspuren aus Seifenwasser, die er dabei auf dem bereits getrockneten Boden hinterliess. Doch der war mit seinem Teegeschirr bereits in einem der angrenzenden Räume verschwunden.

Clément eilte einen breiten Gang entlang. Gemälde von vergangenen Monarchen zierten ihn. Ornamente aus hellem Stein hingen darüber und zogen sich einige Meter in nahegelegene Zimmer. Clément hielt das Teegeschirr mit fester Hand und lief damit suchend in eines der weitläufigen Gemächer.

Darin fand er schliesslich, wonach er Ausschau hielt:

«Eure Hoheit!»

Schnell kniete er auf den Boden und neigte den Kopf, während Ludwig sich verwundert zu ihm umdrehte. Seine beiden Leibwächter fuhren augenblicklich alarmiert herum. Sie entspannten sich beim Anblick des Bediensteten, verharrten aber dennoch in einer Position, in der sie den König vor möglichen Gefahren schützen konnten.

Clément erhob sich. Der König blickte ihn fragend an.

«Eure Hoheit, wie Ihr es wünschtet: ein Tee aus der Schlossküche.»

Verwundert nahm Ludwig die leere Teetasse entgegen, hielt jedoch bedacht seine Finger darüber, sodass es einem aussenstehenden Betrachter ungewiss war, was sich wirklich in der Tasse befand. Er neigte seinen Kopf. Mit seiner unteren Hand begann der König nun leicht gegen das Porzellan zu klopfen und liess seine Finger spielen. Er verharrte einige Sekunden und wandte sich anschliessend vom Diener ab. Mit sorgfältig aufgesetzten Schritten begab er sich zu einem Fenster.

«Wachen, abtreten!», befahl er schliesslich.

Die beiden Männer verbeugten sich und traten sogleich aus dem Gemach. Die Tür fiel hinter ihnen zu.

Ludwig und Clément standen nun allein im Raum.

«Bring das nächste Mal wenigstens warmes Wasser mit, wenn du mit mir sprechen möchtest, Nichtsnutz!»

Ludwig deutete auf die leere Tasse und drehte sie belustigt auf den Kopf.

«Das werde ich», nickte Clément eilig.

«Weswegen kommst du? Ich war in dem Glauben, dass sich unsere Wege erst morgen wieder kreuzen.»

Der König stellte die Porzellantasse auf einen gläsernen Tisch und blickte dann den Bediensteten fragend an.

«Das ist wahr, Eure Hoheit. Dennoch machtet Ihr den Eindruck, als bedrücke Euch etwas.»

Clément trat einige Schritte auf den König zu, verharrte einige Meter vor ihm und senkte sein Haupt.

«Wie kommt ein Diener zur Annahme, dass mich etwas bedrückt?»

Clément hob den Kopf. Er trat weitere Schritte auf den König zu, sodass sie bloss eine Handbreite voneinander entfernt waren. Ludwig war beinahe einen ganzen Kopf kleiner als Clément und so hob er sein Kinn ein Stück, in der Hoffnung, seine geringe Körpergrösse überspielen zu können.

«Eure Hoheit, wie lange stehe ich nun schon in Euren Diensten?»

«Es werden wohl mehr als zwanzig Jahre sein.»

«Zwanzig Jahre stehe ich nun schon an Eurer Seite. Zwanzig Jahre verfolge ich Tag für Tag Euer Leben und Eure Emotionen. Als sich unsere Blicke in der Halle kreuzten, erkannte ich an Eurem Blick Eure innere Unruhe. Eure Hände – sie zitterten wie Espenlaub. Lasst mich Euch helfen!»

Ludwigs leichtes Grinsen war aus dem Gesicht verschwunden. Mit grossen grauen Augen starrte er auf seinen Untertanen und versuchte, Cléments Absichten zu deuten.

«Wie will ein Bediensteter einem König helfen?», sprach Ludwig ruhig.

«Eure Hoheit, lasst mich Euch zum Jagen begleiten, so, wie wir es in unserer Jugend taten. Eine Ablenkung fernab dieses Schlosses wäre sicherlich Balsam für Eure Seele.»

Clément faltete die Hände vor seiner Uniform und neigte abermals den Kopf. Ludwig nickte erleichtert. «Ich bin in der Tat die letzten Tage rastlos. So sattle mein Pferd und bring es zum südlichen Schlosstor!»

Clément eilte in die weitläufigen Ställe von Versailles. Auf dem Weg hatte er sich einen Jagdhut von der Terrasse eines Fürsten genommen und übergezogen. Er sattelte erst ein bräunliches Pferd für sich, danach einen riesigen Schimmel mit breitem Kreuz für den König. Mit den Pferden eilte er über den Hof und anschliessend durch ein Holztor an die südliche Seite des Schlosses. Von hier konnte man auf einen Wald blicken, der in der Frühlingsluft Tag für Tag an Farbe zurückgewann. Eine Amsel zwitscherte auf einem der goldenen Türme von Versailles, schreckte dann durch ein Pferdewiehern auf und flatterte in die Lüfte dem Laubwald entgegen. «Clément?»

Ludwig trat in einer dunkelgrünen Kutte aus Filz in den Torrahmen. Seine helle Perücke hatte er abgelegt. Die schulterlangen dunklen Haare hatte er unter einer Kapuze versteckt und sie sich dabei tief ins Gesicht gezogen. «Eure Hoheit, ich habe Euch bereits erwartet.»

«Die Wachen sind aufmerksamer geworden. Früher hatte ich keine Mühe, sie abzuwimmeln. Doch seit meiner Krönung sind sie wie Wachhunde.»

Clément streckte dem König die Zügel des weissen Pferdes entgegen. Ludwig nickte dankend und tätschelte dem Schimmel den Hals. Schnell schwang er sich in die Steigbügel und trat dem Pferd in die Seiten. Es beschleunigte augenblicklich. Den Bediensteten liess er hinter sich zurück.

«Clément, ich sehe dich bei der kleinen Kapelle!» Dieser liess sich das nicht zweimal sagen, warf die Zügel über das Pferd und stiess sich mit einem kräftigen Stoss in den eigenen Sattel.

Durch Wälder, über Wiesen und Lichtungen trieb es die beiden auf einen Hügel hinauf zu einer kleinen Kapelle. Gräulicher Schmutz überzog die äusseren Steinwände. Ludwig stieg vom Pferd und zückte einen rostigen Schlüssel. Mit diesem schloss er die kleine Kapelle auf und betrat den engen Gang zwischen den Kirchenbänken. Die Kapelle war schlicht gehalten, gräuliche Bänke und schwarze Balken zierten sie. Doch inmitten der grauen Kapelle thronte auf einem kniehohen Altar eine Krone aus purem Gold.

Clément folgte dem König. Er nahm seinen Jagdhut vom Kopf und drückte ihn sich an die Brust. Mit seinen Augen verfolgte er Ludwigs Schritte. Beim Altar angekommen, setzten die beiden sich in die erste Kirchenbank. «Danke, Clément, genau das habe ich heute gebraucht – Ruhe.» Der König faltete die Hände und sandte ein leises Gebet dem Herrn in den Himmel hinauf. Clément machte sich nichts aus dem Glauben. Daher sass er still da und blickte sich in der Kapelle um. Seinen ledernen Jagdhut hatte er auf seinen Knien platziert. Gelangweilt zupfte er an ihm herum, während der König sein Gebet beendete.

«Wieso wolltest du mich nun sehen, Clément?»

«Eure Hoheit, seid Ihr glücklich?»

Die Frage platze aus ihm heraus. Er hatte den gesamten Ritt über gehofft, einen Weg zu finden, dem König seine Frage beiläufig zu stellen. Doch die explizite Frage liessen den Bediensteten all seine Pläne zunichtemachen. Ludwig hielt inne. Seine anfängliche Neugier verflog augenblicklich. Nachdenklich senkte er den Kopf und schwieg. Diese Frage hatte er sich in der Tat noch nie gestellt. Er war der König von Frankreich, er hatte Essen, Geld und Familie, wie unglücklich konnte er schon sein? Doch ein erleichterndes «Ja» oder «Ich bin glücklich» brachte er nicht über die Lippen. Tief im Inneren seiner Brust durchzog ihn ein Gefühl, das ihm zäh wie Pech die Kehle hinaufkroch und sie ihm zuschnürte. Er blieb stumm. Clément neigte fragend den Kopf.

«Eure Hoheit, seid Ihr glücklich?», wiederholte er die Frage, in der Hoffnung, der König hätte sie lediglich nicht richtig gehört. Ludwig hatte die Frage sehr wohl verstanden. Doch sein Schweigen blieb bestehen. Gedanken schwirrten dem König durch den Kopf und gleichzeitig fühlte er eine leere Taubheit darin, die er sich nicht erklären konnte. War er glücklich? Endlich kam ihm das ersehnte «Ja, bin ich» über die Lippen. Zwar leise und beinahe unverständlich, doch Clément hatte es gehört.

Der König faltete die Hände und blickte auf die Kronenzacken vor sich. Das Gefühl der Erleichterung wich augenblicklich einem unguten Gefühl, als hätte er dem Bediensteten bloss die halbe Wahrheit gesagt.

Daher wandte er sich diesem zu.

«Um ehrlich zu sein, weiss ich nicht, ob ich glücklich bin. Was bedeutet für dich Glück?»

Unruhig wandte er sein Gesicht abermals der Krone zu, um dem Blick des Bediensteten nicht standhalten zu müssen. Sich der Betroffenheit des Königs bewusst, streckte Clément seine Arme aus und erzählte:

«Glück bedeutet, dass ich ein Gefühl habe, dass es kein perfekteres Leben für mich gibt.»

Ludwig schwieg. Er wusste nicht, ob das Leben, welches er hatte, für ihn perfekt war.

«Glück bedeutet, dass ich ein Leben führe, indem es mir an nichts fehlt», führte sein Gegenüber weiter aus.

Ludwig blickte zu Boden: «Ich weiss nicht, ob ich glücklich bin, denn ich habe mir diese Frage noch nie gestellt.»

Clément seufzte und holte mit seinen Armen erneut aus, um die Stille zu durchbrechen.

«Eure Hoheit, ich sehe, wenn Menschen glücklich sind. Menschen, die glücklich sind, würden eine solche Frage, ohne zu zögern, bejahen. Doch Ihr tut dies nicht. Ich kenne Euch seit meinem dreizehnten Lebensjahr und ich bin Euch treu ergeben. Doch glaubt mir, wenn ich sage, dass diese Lebensfreude, die zu Beginn in Euch blühte, unter all diesen Bergen an Verträgen und Verantwortung zu Grunde ging.» Er legte seinen Jagdhut vom Schoss neben sich auf die Holzbank.

«Mein einziges Bestreben ist es, diese Freude, die verloren ging, in Euch wiederzufinden.» Clément blickte ihn bedauernd an.

«Wieso bist du mir gegenüber loyal, Clément?»

Der König hatte sich bei Cléments Worten zu ihm gedreht und hörte ihm bedacht zu.

«Eure Hoheit, Ihr seid mein König. Ihr gebt mir Arbeit und Heim. Ich bin verpflichtet, Euch Folge zu leisten, ganz egal, wohin Ihr geht. Doch fernab all meiner Pflichten würde ich Euch dennoch loyal zur Seite stehen, da Ihr ein Freund seid. Seit über zwanzig Jahren teilen wir eine Geschichte. Damals wart Ihr und Eure Güte das Einzige, was mich am Leben liess. Hätte mich jemand anderes in jener Nacht im Schloss erwischt, so wäre ich vermutlich tot. Und hättet Ihr mir damals keine Arbeit gegeben, wäre ich wohl verhungert. Durch Euch, Eure Hoheit, habe ich eine Aufgabe, ein Bestreben, das mein Leben nicht sinnlos erscheinen lässt.»

Ludwig senkte dankend sein Kinn, doch Clément fuhr nach einer Atempause fort: «Ich will Euch, mein König, glücklich sehen. Das Einzige, was ich Euch bieten kann, um Euer Glück zu finden, ist mein Leben.»

«Dein Leben?» Verwundert hob Ludwig seine Brauen. «Eure Hoheit, ich sehe, wie sehr Ihr Eure

Aufgaben verabscheut, und ich sehe, wie sehr Ihr unter dem Druck eines ganzen Landes leidet, auch wenn Ihr es Euch selbst nicht eingesteht. Das Einzige, zu was ich in der Lage bin, um diese Situation zu ändern, ist, Euch mein Leben anzubieten. Ihr lebt mein Leben und ich übernehme Eures. Wir tauschen unsere Leben mitsamt unseren Identitäten.»

Aus Ludwig platze ein ungehemmtes Lachen heraus. «Mein Guter, das kannst du nicht allen Ernstes vorschlagen. Du musst verrückt sein. Es waren zermürbende Tage diese Woche, ja. Doch bloss wegen einigen Stunden zweifelt man nicht direkt am Ganzen.»

Ungläubig rieb sich Ludwig die Stirn.

«Wieso in aller Welt sollte ich meine Stellung aufgeben und mit einem ärmlichen Bediensteten mein Leben tauschen? Weshalb sollte ich mit jemandem mein Leben tauschen, der weniger hat als ich?»

«Eure Hoheit, ich habe nicht weniger als Ihr. Ich habe weniger Besitz, ja. Doch mein Leben ist genau so reich wie Eures, vielleicht sogar noch reicher. Ich habe die Freiheit, dahin zu gehen, wohin ich will und zu tun und zu lassen, was mir beliebt. Ich weiss, ich liebe das Leben – ich habe es lieben gelernt in allen Facetten. Ich habe Adelige bedient, mit Bettlern gegessen, ich habe nach Essen gesucht und ich habe den Reichen das Essen aufgetischt. Ich kenne Seiten des Lebens, die Ihr in Eurem Schloss nie erleben werdet. Ihr kennt die Angst nicht, Eure Liebsten nicht ernähren zu können, Ihr kennt die Liebe nicht, die ein Bauernmädchen in Euch auslösen kann. Ihr kennt die Freuden nicht, die ein einfaches Leben zu bieten hat. Ihr wisst nicht, wie man ein Huhn rupft oder eine Kuh melkt. Ich habe traurige Menschen gesehen, Menschen, die liebten, und Menschen, die unglücklich waren.»

Clément pausierte und fuhr in einem weniger aufgeregten Tonfall fort: «Und ich habe Euch gesehen. Und Ihr scheint nicht glücklich. Ich spreche nicht von letzter Woche, ich spreche von den letzten Jahren. Ihr geht kaputt. Stück für Stück. Ich will euch die Chance bieten, all das Glück und diese Eindrücke, die ich erlebte, selbst zu leben. Also lasst uns unsere Leben tauschen!»