Marquis II - Jean Kasage - E-Book

Marquis II E-Book

Jean Kasage

4,8

Beschreibung

Nach “Marquis – Homo Homini Lupus“ die Fortsetzung einer Hommage an den Marquis de Sade. Amsterdam, 1964 Das Venedig des Nordens. Seine Welt: die der Oper. Seine Leidenschaft: Stücke mit tödlichem Verlauf. Eine Mordserie nimmt ihr Ende, eine ominöse Korrespondenz ihren Anfang. Der Pariser Psychoanalytiker, Dr. Jacques E. Seignac, soll einen Mörder therapieren. Seine Methoden: umstritten. Sein Genie: teuflisch. Sein Patient: nahezu seelenverwandt. Paris, 2015 Sein Erbe: die Geständnisse eines Mörders. Für Louis Seignac beginnt eine Suche nach dem Schreiber. Doch damit ist er längst nicht mehr allein. Seine Reise führt ihn über das Goldene Zeitalter der Niederlande nach Wien, zur Wiege der Psychoanalyse, und eines bösen Geistes, der lebendiger scheint denn je.

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Inhalt

I

Loge Nr. 5

II

The flying dutchman

III

Amantes amentes

IV

Moiren

I

Loge Nr. 5

Kapitel 1

Amsterdam.

Februar ’64.

Im Schnee. Eis. Kristall. Schwarz, die Lederhandschuhe, die er trug. Der Seesack, der ihm über der Schulter hing. Der im Fahrtwind flatternde Kragenmantel. Er lauschte dem Schliff seiner Schlittschuhe über das Eis. Unter Brücken hindurch, über die Prinsengracht. Die Kaltnächte hatten Kanäle gefrieren, Schiffe mit Ufern verankern, die Backsteinstadt erstarren lassen. Passanten und Schlittschuhläufer wagten sich aufs Eis. Atem hauchte sich als Schwade in die Luft. Der Morgenhimmel über Giebeln und Masten trug Perlmutt; ihn eine Wagner-Oper dahin. Sentas Ballade.

Traft ihr das Schiff im Meere an, –

blutrot die Segel, schwarz der Mast?

Auf hohem Bord der bleiche Mann,

des Schiffes Herr, wacht ohne Rast.

In der Stille vernahm er noch die Ladenglocke der belgischen Chocolaterie am Noordermarkt. Er hatte Konfekt aus schwarzer Schokolade ausgesucht, als mit rosa Schleife versehenes Präsent verpacken lassen. Er hielt an, neben unter Schnee und Planen begrabenen Booten. Wechselte das Schuhwerk. Ging an Land, schlug in verschneite Gässchen ein und kam im Hinterhof eines vierstöckigen Wohnhauses zum Stehen. Unter dem angrenzenden Torbogen. Das Nischendunkel erleuchtet von Schnee. Und er wartete. Darauf, dass er das Schloss der Eingangstür vernahm und Schritte auf dem Hinterhof. Wie dem so war, sich eine junge Frau in Eile entfernte, schritt und schmiegte er sich durch die sich schließende Tür. Weder im Treppenhaus im dritten Stock noch im Gang traf er jemanden an. Und noch immer hörte er sie. Die Ballade, die ihn trug.

Doch kann dem bleichen Manne,

Erlösung einstens noch werden,

fänd er ein Weib, das bis in den

Tod getreu ihm auf Erden.

Sein Herz raste. Er zog das Präsent hervor, ging auf die Knie. Er horchte an der letzten Tür, vernahm die Geräusche eines Zeichentrickfilms und klopfte an. Schritte. Dann begann er zu flüstern und die Tür öffnete sich, soweit es das Kettenschloss zuließ. Doch das Präsent passte nicht durch den Spalt. Wieder begann er zu flüstern. Diesmal ihren Namen. Annabel. Die Tür schloss sich. Er hielt den Atem an, hörte, wie die Kette abglitt, sah, wie sich die Tür öffnete, sah die Kinderhand nach dem Präsent greifen, und die seine – nach ihr.

Tschak. Die Tür war ins Schloss gefallen. Das kofferintegrierte Tonbandgerät in der Wohnung nebenan begann mit der Aufzeichnung. Der Techniker davor nickte dem Herrn im grauen Anzug am Fenster zu, der nun die Abhörmaßnahme übernahm. Platz genommen, setzte er die Kopfhörer auf, machte sich Notizen, vermerkte die Uhrzeit; – löste die angebrachten Kameras aus und lauschte … dem Stöhnen, Lakenrascheln und Federnknarzen. Den stummen Schreien hinter vorgehaltener Hand. Eine Stunde verging. Ein dumpfer Laut ertönte.

Jemand erhob, setzte sich, – außer Atem. Kleidete sich an, verpackte etwas, lud es sich auf und ging. In Windeseile begann der Techniker, das Equipment einzusammeln. Hier und ebenso nebenan. Drähte kamen hinter Tapeten hervor. Mikrofone; in Steckdosen und Mobiliar. Der Mann in grauem Anzug nahm die Verfolgung auf. Zu Fuß, über Promenaden und Brücken, während es zu schneien begann.

Nicht so der Flüchtige. Er glitt in langen Zügen über die Kaizersgracht, vorüber an Scharen von Eisläufern – zu der abgeschiedenen Stelle, an der die Gracht die Leliegracht schnitt. Am Astoria, dem Turmgebäude im Jugendstil. Unter den Brücken ein Stopp. Er fand zu der Bruchstelle im Eis. Darunter floss der tintene Strom, zu dem er auf allen Vieren kroch. Er versenkte den Seesack, zog, unter Wasser, den in das weiße Bettlaken gehüllten Körper am Schopf hervor.

Vor Anker alle sieben Jahr,

ein Weib zu frein, geht er an

Land: er freite alle sieben Jahr,

doch nie ein treues Weib er fand.

Das Rot quoll ihr aus Schläfe und Schoß. Bis die Kälte Blutgefäße enger schnürte, dem Teint Marmornes gab, Lippen und Lider violett zu schminken begann. Er genoss den Moment der Verwandlung. Sie war nicht länger Annabel. Sie war Senta. Bis sie die Augen aufschlug. Er hielt ihren Kopf weiterhin unter Wasser und zog Silberbüchse und Messer aus dem Mantel hervor. Er setzte zwei Schnitte.

Es sprudelte Rot. Erst zwängte er Finger für Finger, dann, wie Gedärm ausglitt, die ganze Hand, durch den Spalt in ihren Brustkorb hinein.

Es sollte ihm gehören. Das Messer erneut zur Hand genommen, kappte er die großen Gefäßstämme, entnahm das Objekt seines Begehrens, ließ von ihr ab und sah, wie die Strömung sie unter die Eisdecke und den Menschen hinfortriss. Doch er hatte sie sich einverleibt. Den Seesack unter einer Bootsplane und die Schlittschuhe am Ufer abgelegt, ging es in festem Schuhwerk über die Raadhuisstraat, während er mit Senta abtauchte. In Gedanken. Er sah die Eisdecke über ihr und sich, Blasen aus Sauerstoff daran tänzelnd; die Umrisse einer Stadt, Bootskiele, den jadeschimmernden Grund, Tageslicht, das durch das Eis wie Blitze einschoss – wie ihr die Strömung, auf der sie frei schwebte, das Haar zum Kranz flocht.

Wo weilt sie, die dir Gottes

Engel einst könne zeigen?

Wo triffst du sie, die bis in den

Tod dein bliebe Treue eigen?

Er bog in die Passage zwischen dem Königlichen Palast und der spätgotischen Basilika auf den Dam ab. Der Platz, dem die Gebäude wie Düstergebilde aufsaßen, erschien wie aus Schatten und Schnee. Am lichtergeschmückten Kaufhaus De Bijenkorf abgebogen, das Aeternitas-Gebäude durch den Haupteingang betreten, warf er sich den Mantel über den Arm; nahm am Empfang in der Lobby die Arbeitstasche entgegen; den verglasten Lift in die oberste Etage, und einen Gang und ein Vorzimmer weiter, wo ihn die Sekretärin grüßte, schloss er die Tür zum Büro.

Er betrat den Salon, verstaute die Silberbüchse im Eisfach der Minibar, ging durch den hinter einer versteckten Tür gelegenen begehbaren Kleiderschrank ins Bad. Er nahm eine Dusche, wusch sich die Kruste Rot vom Glied und spürte jede Faser seines Körpers. In einen Anzug wie eine zweite Haut geschlüpft, den er nach dem Gemälde Magrittes »Das Lustprinzip« hatte fertigen lassen, und mit dem restlichen Konfekt schwarzer Schokolade kehrte er ins Büro zurück.

Ein Stück, das Senta angebissen hatte, ließ er sich auf der Zunge zergehen. Dass er im nächsten Moment einem Mann im grauen Anzug gegenüberstehen sollte, ahnte er nicht. Ebenso den Faustschlag eines zweiten Mannes, der ihn in den Drehsessel beförderte. Blut schoss ihm aus der Nase. Der Erstere warf ihm ein Taschentuch zu. Die Bürotür stand offen. Schreie nach dem Sicherheitsdienst drangen aus dem Gang. Der Mann im grauen Anzug setzte ihm ein Foto vor. »Annabel Vrijnks, vier Jahre. Tot«, erklärte er. Weitere Fotos folgten. »Rouven Van Ryck, Anfang dreißig. Der Erbe eines Großkonzerns.« Es zeigte ihn, in der Nähe von Annabel. In den letzten Tagen und der letzten Stunde. »Ihr Mörder. Sie.«

Er stellte ein Diktiergerät auf dem Sekretär ab und spielte die sich darin befindliche Kassette ab. Schritte auf dem Gang. Der Sicherheitsdienst würde sogleich eintreffen. Van Ryck fand zu sich. Er behielt die Nerven und griff nach dem Diktiergerät, doch sein Gegenüber war schneller. »Was wollen Sie?«, fletschte Van Ryck. Der Anzugträger betätigte die Stopptaste. Der andere reichte ihm Vertrag und Füllfederhalter. »Ein Geständnis?«, sprach Van Ryck das erste, was ihm in den Sinn kam, aus. »Was?! »Firmenanteile. Kooperation. Loyalität«, verriet man ihm, »Um genau zu sein, Ihr Leben.«

Kapitel 2

Wien ’64.

Das Gewölbe war in eine nebelartige Dunkelheit getaucht. Wie aus Schwarzgewässern ragten Zepter, Kronen, Schädel, Knochen. An manchen Stellen, auf die der Lichtschein der provisorischen Beleuchtung fiel, zeigten sich Engel. Inschriften. Insignien. Medaillons. Der Zierrat barocker zinnerner Sarkophage. Statuen mit von Licht und Schatten gespalteten Antlitzen. Der Mann in Frack, der bei den Monarchen in ihren Totengemächern weilte, gedachte der Vergänglichkeit. Sic transit gloria mundi – So vergeht der Ruhm der Welt. Er stieg auf den Sockel des Sarkophags. Über sich: die Statuen des Kaiserpaars, als erwachten sie aus dem Todesschlaf. Auf Augenhöhe: das von einem Schleier halb bedeckte Antlitz einer Damenstatue. Er zog den Glaceehandschuh aus, strich ihr über die Wange, und als er die Stelle in Augenschein nahm, an der er das Kuppelfresko vermutete, war ihm, als sähe er in eine sternlose Nacht. »Monsieur Seignac?« Wie oft hatte er dieser Tage seinen Namen gehört? Während die höheren Kreise in den Kaffeehäusern von ihm als Franzmann oder einem Rasputin tuschelten.

»Monsieur?«, rief ihn ein Herold aus. Die Zeit zwischen Kaisergruft und Staatsoper, in der Loge vergessen, ein Glas Champagner in der Hand, sah er auf. Die Fächerpolonaise war zu Ende. Das Jungdamen- und Jungherrenkomitee drehte sich zum Donauwalzer auf dem Parkett. In schwanenweißen Kleidern und rabenschwarzen Fracks. Unter Lüsterlicht und Applaus. Die Aristokratie der Moderne feierte sich und ihre Nachkommen. Seignac folgte dem Herold auf die Flure roten Teppichs, die mehr als genug Stoff für eine Oper boten, mit Herren mit Fliege und Zylinder, die devot Damen dienten und umgekehrt. Vor einer der exquisitesten Logen blieb der Herold stehen, hob den Vorhang und eine sechsköpfige Gesellschaft wandte sich ihm zu.

Der Logenherr hingegen widmete sich dem Parkett. »Herr Prof. Dr. Woyzeck«, flüsterte der Herold dem Herrn über die Schulter, »Dr. Seignac.« Woyzeck winkte mit dem Handschuh ab. »Wer begehrt Einlass?« »Seignac, der Psychoanalytiker.« »Kennen wir nicht.« »Ihr Gast aus Paris.« »Kennen wir nicht.« Seignac durchschaute das Spiel. Woyzeck war in die Rolle des Mönchs geschlüpft, der zum Einlassritus eines Leichnams in die Gruft sich nicht um Titel und Ruf scherte. Seignac wusste um die Heroldparole, die toten Adeligen Einlass in die Gruft und ihm in die Loge gewähren würde. »Wer begehrt Einlass?« »Ein sterblicher und sündiger Mensch.«

Woyzeck, Kaiser und Koryphäe auf dem Gebiet der Psychologie und Psychiatrie, dem er die Einladung nach Wien verdankte, gewährte ihm, sich zu setzen. »Ich weiß um jeden Ihrer Schritte«, ließ er ihn wissen, »wie um diese auf dem Parkett.« Er wand sich Seignac zu. »In Wien gibt es ein Sprichwort. Was verschlägt einen Arzt in die Gruft?« Niemand der Gesellschaft, die ihn umgab, schien die Antwort zu kennen. Dann bemerkte er ernst, zum Amüsement aller: »Sein Herz.«

Und hielt sich mit weit aufgerissenen Augen die Brust wie beim Infarkt. Er lächelte hämisch. »Sie wissen um den Bestattungsritus der Habsburger?«, wechselte er in den Ton eines Mediziners. »Man entnahm dem Toten Herz und Organe, um den Verfall des Körpers zu verlangsamen und um sie an anderen Ruhestätten beizusetzen.« »Die Organe, balsamiert in Seide und Spiritus«, fügte Woyzeck hinzu, »wurden in Behältern in den Katakomben bestattet – das Herz, verwahrt in einer Silberbüchse, zu Füßen der Muttergottesstatue in der Loretokapelle. Das Herz. Sitz der Seele und der Liebe nach der antiken Vorstellung.« Er schwieg, wies die Gäste an, ihn mit Seignac allein zu lassen, und meinte: »An etwas Ähnlichem, nur mit jüngeren, noch dazu quicklebendigen Damen, scheint einer unserer Zeitgenossen Gefallen gefunden zu haben.« Er nahm zwei Gläser und füllte Champagner ein.

»Sie fragen sich sicher, wie Sie sich diese Einladung verdient haben. Sie wurden mir wärmstens empfohlen. Doch ist es nicht mein Herz, das ich auf Ihrer Couch unters Messer zu legen gedenke.«

Er reichte ihm das Glas.

»Stoßen wir an. Auf die Errungenschaften unserer Wissenschaft!« Seignac zögerte. In Woyzecks Stimme lag Spott. »Die da wären?«, kalibrierte Woyzeck seinen Tost, »Rush erfand die Zwangsjacke, die Psychiker die Folter neu. Cotton schnitt psychisch Kranken das seelische Übel aus dem Leib. Hoche empfahl unwertes Leben auszuradieren. Moniz erhielt den Nobelpreis für die präfrontale Lobotomie. Summa summarum ergab sich aus dieser geist- und körperzerstörenden Wirkung dieser Therapien das erste Psychopharmakon, das in Kürze den Markt überschwemmen wird.« Woyzeck senkte das Glas.

»Nennen Sie mir Ihr Anliegen«, kam ihm Seignac entgegen. Woyzecks Augen veränderten sich. Seignacs Stimme war jetzt eine andere, eine solche, mit der der Psychiater tief in die Welt seiner Patienten vordringen konnte. Sie schien augenblicklich in Hypnose zu versetzen, und für Sekunden hätte Woyzeck schwören können, in der Staatsoper nicht auch nur das geringste Geräusch gehört zu haben. Hätte er ihr längere Zeit zugehört, er hätte sie nicht mehr von seinen eigenen Gedanken zu unterscheiden gewusst. »Nun«, meinte Woyzeck, »dieser Zeitgenosse, den ich bereits erwähnte, ging heute Morgen in Amsterdam ins Netz.« »Verzeihen Sie mir. Ich erstelle weder Gutachten noch behandele ich Insassen, wie Sie wissen«, unterbrach ihn Seignac in seinem gewöhnlichen Umgangston.

»Sie sollen weder das eine noch das andere.« »Das heißt?« »Er sitzt weder ein, geschweige denn ist die holländische Justiz involviert«, verriet ihm Woyzeck, »Er ist des vierfachen Mordes verdächtig und eines Mordes überführt. Er ist ein Triebtäter mit höchstem Rückfallpotenzial und von heute an Ihr Patient. Sie werden es sich zum Therapieziel machen, dass er auf freiem Fuß bleibt – außer er entscheidet sich aus freien Stücken dazu, sich zu stellen. Zudem, dass er Ihnen die vier weiteren Morde gesteht und Ihnen verrät, wo die Leichen verblieben sind. Und Sie werden dafür sorgen, dass er weder sich noch den lieben Kleinen etwas antut. Ihr Honorar: Ihr Ruf.« »Wie stellen Sie sich das vor?« Seignac zeigte sich amüsiert. »Esterhazy!« Woyzeck rief den Logendiener, der sogleich zur Stelle war und einen Brief auf dem Silbertablett servierte.

»Nehmen Sie ihn«, wies Woyzeck Seignac an. »Und Sie haben dabei, um was ich Sie gebeten habe?« Seignac zückte zögerlich einen Schlüsselbund. Woyzeck, den Bund an sich nehmend, hob jeden Schlüssel einzeln und erwartete eine Erläuterung. »Der Schlüssel für die Praxis«, erklärte ihm Seignac, »Für die Stadtwohnung und das Anwesen.« Woyzeck forderte ihn auf, den Brief an sich zu nehmen. Seignac gab nach. Woyzeck legte die Schlüssel auf das Tablett. »Das ist der Obolus, Monsieur Seignac«, meinte er, »für den Fährmann und die Überfahrt in die Unterwelt.«

Kapitel 3

Paris 2015.

Geronimo preschte durch das Dickicht des Waldes. Er spürte die Gerte. Die Fersen des gebeugten Reiters. Den Zug am Zügel. Die Anhöhe mit Aussicht auf das Anwesen Lacoste erreicht, befahl ihm der Reiter zu stehen. »Ruhig.« Louis Seignac, im Sattel vornüber gebeugt, streichelte dem Vollblutaraber den Hals und bemerkte die Fußabdrücke im Laub. Dann ließ er den Blick über sein Erbe schweifen. Er geriet ins Grübeln, wie nach jedem Ausritt, der hier sein Ende fand. Darüber, wer oder was er war. Er wollte alles sein. Nur nicht wie sein Vater.

Jacques Eric Seignac. Alles, was diesen Namen getragen hatte, hatte er ausgemerzt; Gravuren entfernen, Siegel, Stempel und Eintragungen ändern lassen; Fotografien und literarische Werke eigenhändig verbrannt. Louis Aldonse Donatien Seignac hatte das damnatio memoriae, die Verdammung des Andenkens, über seinen Vater nach dessen Tod verhängt. Doch weder hatte er den Familiennamen abgelegt, noch sich von den zwei Stadtwohnungen und dem Anwesen außerhalb von Paris, Lacoste, getrennt. Das zweite Anwesen, bei Nantes, welches der Vater Louis Bruder Gilles vermacht hatte, hatte vor zehn Jahren schaurige Berühmtheit erlangt. Gilles, der unter dem Namen Rellias Gadise gelebt hatte, war noch im selben Jahr verschieden, und noch zu dessen Lebzeiten hatte Louis jegliche Spuren, die den Namen Seignac mit Gadise in Verbindung brachten, getilgt.

Damit war Louis Seignac der Letzte seines Adelsgeschlechts, Stammhalter und Hüter eines Familiengeheimnisses, das mehr als nur ein Leben gekostet hatte. Abgestiegen, führte er Geronimo am Zügel über die Wiese zur Stallung. Lacoste, wie der Vater das jahrhundertealte Anwesen nach dem Stammschloss des Marquis de Sade benannt hatte, hatte schon bessere Zeiten gesehen. Die ursprüngliche barocke Fassade war zerfallen und mit Elementen aus Renaissance und Gotik im Laufe zweier Jahrhunderte renoviert worden, die das Licht-Schatten-Spiel am Morgen, mit flamboyant, flammigem Relief, überzog. Heute verkam es. Der Lustgarten, in Herbstfarben, rankte wild, verschlang Wege, Pavillon, Statuen, Mauerwerk. Das Idyll, durch das Jacques Seignac zu spazieren pflegte, war Vergangenheit.

Den Landschaftsarchitekten hatte Louis entlassen. Geronimo versorgt, betrat er das Schloss über den Dienstboteneingang. Er fand ihn unverschlossen vor. Er streifte die Küche, und die Gerte in den Reitstiefel gesteckt, ging es über das Treppenhaus der Vorhalle in die Beletage – Räumlichkeiten eines düsteren Historismus, die in Arbeitszimmern und Gemächern in Eklektizismus gipfelten, einer Epochenverschmelzung, die ihren Abschluss vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gefunden zu haben schien. Einen Makel an Cassandra, eine der Statuen, die den Gang zierten, bemerkt, blieb er stehen.

Cassandra. Nach der griechischen Mythologie hatte ihr Apollon einen Segen und Fluch auferlegt. Die Macht der Vorhersehung und den Makel, dass ihr niemand glaubte. Er wischte ein kleines rotes Blatt, das vermutlich der Wind hereingetragen hatte und ihrer Wange wie eine blutige Träne anhaftete, beiseite.

Im Flur traf Louis auf Bernard. Der alte Herr, Teil des Inventars und sein Butler, der Einzige, der es länger mit ihm aushielt. Er kannte ihn von Kindertagen an. »Sie sind spät dran«, meinte Bernard. Louis bog in die Bibliothek ab und blieb vor dem Spiegel im Ankleidezimmer stehen. Er begann sich zu entkleiden, und Bernard, der ihm wie ein Schatten gefolgt war, legte einen Anzug neben ihm ab. »Ich habe nicht vor auszugehen«, ließ ihn Louis wissen. »Deshalb ist Madame Rothkin auch zu Ihnen gekommen.« Rothkin.

Sie leitete das Hilfswerk LIMES mit Sitz in Paris, das er nicht nur finanziell unterstützte, sondern dem er auch gestattete, die Wohnung in der Avenue Foch zu nutzen. LIMES half Müttern mit Kindern, die unter Missbrauch und Gewalt litten, abzutauchen. »Wer hat sie eingelassen?«, erkundigte sich Louis. »Serge.« Serge, der Hausmeister. »Hat sie Sie gesehen?« Bernard schwieg. Louis reichte ihm seinen Anzug. »Und wer serviert den Tee?«, suchte Bernard einen Ausweg.

Doch Minuten später, im Teesalon, stellte er sich Rothkin als Louis Seignac vor. »Catherine Rothkin.« Ein Händedruck und sie nahmen Platz. Rothkin, um die dreißig, blond, das Haar zum Zopf geflochten, in weißer Bluse, grauer Weste und Rock, hatte er sich anders vorgestellt. Sie schlug ein Bein über das andere und lächelte charmant. »Sie wirken überrascht«, schilderte sie ihren Eindruck. »Ich habe Sie mir älter vorgestellt«, gab Bernard den Hausherrn. »Sie hatten bisher mit meiner Mutter zu tun«, erläuterte sie, »und Sie habe ich mir …« »… jünger vorgestellt?« Wieder ein Lächeln. Louis, der den Diener gab, servierte den Tee. Was er angenehmer empfand, als Rede und Antwort zu stehen. »Nun, weshalb haben Sie den weiten Weg von Paris hierher auf sich genommen?«, begann Bernard. »Es gab einen Zwischenfall.«

»Bitte.« »Gestern Nacht wurde in unsere Zentrale am Boulevard de la Villette eingebrochen«, erläuterte sie. »Wurde etwas gestohlen?« »Nach dem jetzigen Stand, nein. Noch immer prüfen wir Akten, Zugriffe auf Dateien …« »War es ein Akt von Vandalismus?« »Nein.« Rothkin war besorgt, auch wenn sie es überspielte. »Die Rache eines gekränkten Ehemanns?« »Das ist nicht auszuschließen, nur …« »Bitte!« Bernard, der Hausherr, zeigte sich den Servierkünsten des Dieners gegenüber aufgebracht. »Man serviert die Tasse mit zwei Fingern! Entschuldigen Sie, Madame, das Personal heutzutage.« Louis korrigierte sich und schenkte den Tee ein. Rothkin schien kurz abgelenkt. Ihr Blick fixierte eine leere Stelle an der Wand über dem Kamin. Dort musste einmal ein Gemälde gehangen haben. »Jacques Seignac«, erklärte Bernard ohne aufzusehen. Louis Augen funkelten ihm entgegen. Rothkin lächelte. »Wie bitte?« »Das Gemälde«, meinte Bernard. »Ich sehe keins.« Bernard blickte zu der Stelle und meinte dann etwas konfus: »Wir hatten nicht das beste Verhältnis.« »Wie lange ist denn her, dass er …?« Sie bereute ihre Frage. »… verstorben ist?«, beendete Bernard ihren Satz, »Bald sind es zwei Jahrzehnte. Bernard!« Wieder störte den Hausherrn das Benehmen des Dieners. »Hab ich Ihnen gestattet sich zu entfernen?«

Louis kehrte zurück. »Seitdem«, meinte Bernard zu Rothkin, »führe ich ein zügelloses Leben; bin getrieben von der Vorstellung, nicht wie er zu werden. Anfangs berauschte ich mich, fand Ruhe in der Zerstreuung. Drogen. Partys. Sex. Orgien.« Bernard nutzte den Moment. »Dann glaubte ich die Vergangenheit auszuradieren. Doch selbst das schaffte es nicht, die Verachtung, die ich gegen mich hegte, zu besänftigen, geschweige denn zu ertragen. Ich widmete mich den schönen Künsten. Dem Theater, schrieb Stücke, schlüpfte in manche Rolle. Und schließlich zog ich mich aus dem öffentlichen Leben zurück. Heute führe ich das Dasein eines Eremiten, verbringe mehr Zeit mit einem Pferd als unter Menschen und drangsaliere die Dienerschaft.«

Sie lächelte. »Wie Sie sehen, bevorzuge ich das offene Wort«, erklärte er, »Nun erzählen Sie schon, was Sie besorgt.« »Wer immer das auch war«, eröffnete sie ihm, »er ging professionell vor. Sie wissen, die Zentrale wird mit Kameras überwacht. Doch es gibt keine Aufnahme von ihm. Er schien sich dort auszukennen. Wie er drin war, deaktivierte er das Alarmsystem. Dazu bedarf es eines Codes. Nachdem er sich eine halbe Stunde dort aufgehalten hatte, programmierte er den Code um. Wonach er genau gesucht hat, ist nicht geklärt. Aber ich denke, er hatte es auf die Liste der anonymen Spender im Archiv abgesehen. Darauf deutet alles hin. Und damit auf Sie.« »Weshalb sollte dem so sein?«

»Die Liste der Spender, die jährlich anonym einen fünfstelligen Betrag spenden, führt nur einen Namen. Und der Code, den der Eindringling später eingab, besteht aus den Initalen Ihres Vaters und den Ihren, und dazu noch die Zahlen 1-9-6-4.« »Haben Sie jemandem von Ihrem Verdacht erzählt?« »Nein.« »Wurden die Behörden verständigt?« »Noch nicht.« »Belassen wir es dabei.« »Aber –« Bernard verabschiedete sich. Als er Rothkin zur Tür geleitet hatte, sah ihr Louis nach, bis ihr Volvo die Einfahrt verlassen hatte. Er dachte an die Fußabdrücke auf der Anhöhe. Den nicht verschlossenen Dienstboteneingang. Das Blatt der Cassandra. Daran, dass das, wovor ihn Rothkin ohne es zu wissen gewarnt hatte, bereits einen Fuß auf sein Terrain gesetzt haben könnte.

Serge erschien, schloss das Tor und rief den Border Terrier Gaston zu sich. »Was denken Sie?«, wollte Bernard von Louis wissen. »Sie und Serge sollten sich den Tag freinehmen.«

Kapitel 4

Die Eisentür hob sich rostbraun von der Dunkelheit ab. Vor fünf Jahren hatte sie Louis verschlossen. Weder Bernard noch Serge hatten den Raum dahinter, eine der Dachkammern, jemals betreten. An manchen Tagen hatte Louis sie aufgesucht; die Hand auf sie gelegt, manchmal das Ohr, und hatte es schlagen gehört. Das schwarze Herz, das darin verschlossen lag.

Er schrak auf – musste eingeschlafen sein –, kam auf dem Kanapee in der Jagdstube zu sich. Draußen brach die Nacht herein. Im offenen Kamin brannte Feuer, dessen Schein die Glasaugen der Hirsch- und Keilerköpfe, Jagdtrophäen, die die Wände schmückten, lebendig werden ließ. Dazwischen lauerten ausgestopfte Greifvögel. Und er begann sich an die Stunden, die zwischen dem Besuch von Rothkin und dem Traum lagen, zu erinnern. Er war in bequemere Kleidung geschlüpft, hatte spät gespeist, das Jagdgewehr gereinigt, das neben ihm lehnte, und das dazugehörige Messer geschliffen, das er im Stiefelholster bei sich trug.

Auf dem Beistelltisch lag das Telefon, auf das alle eingehenden Anrufe umgeleitet wurden, daneben stand ein Glas Wein. Auf dem Läufer hob Gaston den Kopf. Doch etwas war anders. Etwas schien der Stube abhandengekommen zu sein.

Er horchte in die Stille und lokalisierte das Geräusch, das er misste, dessen Aussetzen ihn geweckt zu haben schien. Das Pendel der Standuhr stand still. Das Gewehr am Riemen über die Schulter geworfen, nahm er Glas und Weinflasche, versetzte dem Uhrmechanismus des Pendels einen Impuls und verließ die Stube. Die Tür zur Veranda geöffnet, schickte er Gaston Gassi. Die Dunkelheit kam über Lacoste.

Nacht und Nebel. In der Beletage warf er sich den schwarzen Hausmantel über und bezog auf dem Balkon, der auf den Lustgarten und die Anhöhe ausgerichtet war, Stellung. In einem der Lehnstühle platzgenommen, sein Glas gefüllt, nahm er durch das Zielfernrohr die von Ranken wie Tentakeln umschlungenen Statuen ins Visier. Eine Stunde verging. Dann riss ihn Gebell aus dem Meditativ. Gaston war auf etwas oder jemanden gestoßen. Doch wo war er abgeblieben? Der Widerhall irritierte ihn für den Moment; doch bereits im nächsten dämmerte es ihm: der Stall.

Stille. Gerade als sich sein Augenlicht an die Nacht gewöhnt hatte, wie er, das Gewehr im Anschlag, Richtung Stall stapfte, erstarb das Gebell. Er blieb stehen. Das Grün loderte im Wind auf. Die Statuen erschienen ihm mit einem Mal Leichenblass, Lacoste wie eine Ruine, der er den Rücken gekehrt hatte, der Teich wie ein ausgehobenes Massengrab, als das Mobiltelefon klingelte.

Zusammengezuckt nahm er den Anruf an. Niemand meldete sich. Alles, was er hörte, war, dass es am anderen Ende der Leitung regnete. Er hielt es sich weiterhin ans Ohr, während anstelle des Gebells ein anderes Geräusch zu hören war. Ein Scharren. Ein Poltern. Ein Schnauben. Er ging weiter.

Er vernahm einen Atemzug. Ein Wimmern. »Monsieur …« Eine Damenstimme. Vollkommen aufgelöst. »Monsieur Bernard?« Es rauschte in der Leitung. »Ja«, flüsterte Louis. »Sie sagten …« Den Rest verstand er nicht. »Nur im Notfall.«

Die Scheune begann Kontur anzunehmen, als er bereits das Tor aufriss. Den Lauf der Waffe schwenkte er in Richtung jedes auch noch so kleinsten Geräuschs, das aus der Box zu seiner Rechten kam. »Geronimo«, flüsterte er. Das Gewehr in der einen Hand, das Telefon zwischen Schulter und Ohr gequetscht, tastete er blindlings in die Box. Doch er ertastete keine Mähne. »Monsieur?« Links von sich vernahm er das Scharren, das allmählich verstummte. »Mein Name ist Marion Azmiral.« Wieder die Stimme am Telefon. »Ich wohne in der Avenue Foch. Jemand war heute Nacht … im Zimmer meiner Tochter.« Ihm blieb keine Wahl. Das Gewehr gesenkt, betätigte er den Lichtschalter.

Kapitel 5

Er erstarrte.

Geronimo lag am Boden der Box. An den Läufen gefesselt. Das Maul in ein Geschirr gezerrt, das ihn abhielt, zu wiehern. Ein abgebrochener Betäubungspfeil daneben. Übersät von Einstichen mit der Mistgabel, die ihm in der Seite steckte. Dazu kam ein unvollendeter Kehlschnitt, der ihm ein langsames und qualvolles Ende bereitete. Er schwamm in seinem Blut, das, als er aus der Narkose erwacht und in Panik geraten war, in Strömen geflossen war. Wo sein Genital gewesen war, befand sich nur noch ein abgeschnürter Stumpf. Das amputierte Stück lag ein Stück beiseite und hatte sein Dienst als Köder erfüllt. Gaston hatte es in eine Fuchsfalle gelockt. Seine Krallen hatten das Scharren verursacht. Er hing an einer Stacheldrahtgarotte am Dachbalken. »Monsieur!?« Er machte Gaston los. Atmen, rief er sich ins Gedächtnis. Atme! Er legte das Telefon beiseite, kniete sich zu Geronimo, sah ihm in die Augen, strich ihm durchs Fell – und ein Schuss zerriss die Stille der Nacht, als es allmählich auch auf Lacoste zu regnen begann.

Der Schuss hallte noch immer in seinem Schädel nach. Weit nach Mitternacht. Als Louis den BMW über die spiegelglatte Avenue Kléber steuerte. In der Kluft eines Chauffeurs hielt er, weit über das Lenkrad gebeugt, Schritttempo. Hinter Scheibenwischern wie Metronome zeigte sich ein Gewitter, das wie eine Splitterbombe Paris in Teile zerriss und im Scheinwerferlicht als silberne Bruchstücke auf die Frontschutzscheibe herniederging. Er konnte den Glaskomplex, den Marion Azmiral beschrieben hatte, ausmachen und, als er rechts ranfuhr, in einer Telefonzelle eine kniende Gestalt sehen, die ein Kind unter dem nassen Mantel an sich gedrückt hielt. Geparkt und ausgestiegen, spannte er den Regenschirm auf und geleitete die Geflüchteten zum Wagen.

Niemand verlor ein Wort. Marion Azmiral, nass bis auf die Haut, das Haar zerzaust, trug ein Nachthemd unter dem Mantel. Sie hielt ihr Kind und dessen Puppe fest an sich gedrückt. Louis dachte an Platons Mythos der Kugelmenschen, die einander umarmten in der Hoffnung, zusammenzuwachsen, damit sie nichts mehr voneinander zu trennen vermochte.

3:00 Uhr. Route des Tribunes. Er warf die Fahrermütze auf den Beifahrersitz. Die Scheinwerfer gelöscht, bog er auf die Stellplätze des Hippodrome de Longchamp ab. Eines der Tore stand offen und Bernard erwartete sie bereits. Er hatte ihn verständigt und instruiert, ihren Gästen eine Bleibe zu suchen. Er parkte neben dem Land Rover und dem alten Herrn unterm Regenschirm. Er blickte auf die Rückbank. Die Chauffierten waren eingeschlafen. Draußen erhellte der Rasen der Pferderennbahn die Nacht. Louis stieg aus, tauschte die Wagenschlüssel, und ihre Wege trennten sich.

Kapitel 6

Der Regen brach ab. Laternenlicht lasierte den Asphalt und ein Hauch aus Wind und Nebel blies Paris zum leuchtenden Glasgebilde in der Dunkelheit. Ihm war, als vernähme er das Klangspiel in Schwingung versetzter Fassaden, als er, die Kapuze des Parkas übergestülpt, das letzte Stück zum Wohnhaus in der Avenue Foch zu Fuß ging. Im Hauseingang verschwunden, sich am Handlauf des stockfinsteren Treppenhauses in die Etage getastet, vor der angelehnten Wohnungstür zu stehen gekommen, spähte er durch den Spalt.

Weder im Gang noch sonst in einem der Zimmer brannte Licht. Er prüfte das Schloss. Kein Zeichen für ein gewaltsames Eindringen. Er trat ein und rief sich das Telefonat mit Marion Azmiral ins Gedächtnis, welches er nach dem Fund in der Scheune geführt hatte. Während er in Zimmer für Zimmer, wie in Dunkelkammern, einen Blick warf und zu einer gepackten Tasche fand. Er überflog den Inhalt. Nur das Nötigste. Pässe. Wäsche. Ein Mobiltelefon und ein Adressbuch. Marion Azmiral war vorbereitet gewesen; darauf, dass ihr Mann sie und ihre Tochter ausfindig gemacht hätte; darauf, die Wohnung schnellstmöglich zu verlassen. Nur nicht in dieser Nacht. Die kleine Familie, die seit einem halben Jahr hier hauste, hatte sich eingelebt. Das alte Mobiliar befand sich nicht mehr am Platz, Abdrücke im Teppich ließen darauf schließen, wo es gestanden hatte, während Deckenstuck, Vorhänge, der offene Kamin, die antiken Tapeten und Gemälde mit psychologischen Sujets geblieben waren. Als hätten sich Zeitreisende hier einquartiert, deren Spuren in jedem Zimmer zu einem Stilbruch geführt hatten. Wofür Louis dankbar war.

Er hatte seit Kindertagen keinen Fuß mehr in die Wohnung gesetzt, die Jacques Seignac anfangs als Praxis und später Louis´ Mutter Milla als Wohnsitz gedient hatte. Sie war ein Stück des Geheimnisses, das ihn umgab – ein Splitter, der sich ihm, wenn er sich dessen bewusst wurde, tiefer und tiefer in sein Herz bohrte. Ohne sein Wissen war Bernard des Öfteren hier gewesen. Er hatte sich mit den Azmirals, vor allem der Tochter, Madeleine, angefreundet, wovon Louis erst durch das Telefonat erfahren hatte. Zudem hatte er ihr die Nummer seines Anschlusses in Lacoste gegeben. Was erklärte, weshalb sie darauf gedrängt hatte, nur mit ihm sprechen zu wollen. Doch Louis war es gelungen, sie zu beruhigen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Während er mit der Dunkelheit verschmolz, tauchte er in Marions Schilderungen ein.

… Sie war wach geworden. Louis stand vor dem Bett. … Mitten in der Nacht. Sie wusste nicht, was es war, das sie geweckt hatte. Ein Luft- oder Atemzug. Sie war in den Gang gegangen …, wo sich jetzt auch Louis befand. Und sie hatte die Wohnungstür offen vorgefunden. Ihr erster Gedanke hatte Madeleine gegolten. Louis betrat das Kinderzimmer. Der Fußboden war übersäht von Bilderbüchern, Spielzeug, … das Bett; nicht gemacht. Auf dem blauen Laken, zerwühlt wie eine stürmische See, lagen gefaltete Papierschiffe. Er sah das Szenario vor sich, als spielte es sich in Zeitlupe vor ihm ab. Wie die Mutter, der See, im Sturm, der aus dem Schatten des Eindringlings bestanden hatte, ihr Kind entriss. Wie sie auf den Gang flüchtete, ihre Jacke an sich riss, die Tür zuschlug, mit der Faust gegen die Nachbarstür schlug, die ihr verschlossen blieb.

Wie sie im Regen Pfützen wie Weltmeere hinter sich zurückließ, wie sie die Regengischt in die Telefonzelle spülte, wie ihr, als sie panisch ihre Manteltaschen entleert hatte, ihr Portemonnaie in die Hände gefallen war. Glück. Im Unglück.

Louis stand noch immer da, das Szenario wie eingefroren vor sich. Das Zimmer erschien ihm jetzt blau. Er sah den Eindringling in der einen Seite des Raums, die Mutter in der anderen. Das kleine Mädchen dazwischen. Er hatte Marion eine Frage zweimal gestellt während der Fahrt. Ob sie sich sicher wäre, dass es nicht ihr Mann gewesen sei. »Ja.« Er hätte unter keinen Umständen nur so da gestanden, hätte nie und nimmer eine solche Ruhe bewahren können und wäre nicht erst in das Zimmer ihrer Tochter gegangen. Auf seine Frage, weshalb nicht, hatte sie nur geantwortet: »Größer als die Liebe zu seiner Tochter, ist sein Hass auf ihre Mutter.« Wie ihre Tochter dagelegen sei?

Mit dem Rücken zu ihr. Ob sie sein Gesicht gesehen hätte? »Nein.« »Und Ihre Tochter?« »Und wenn schon.« Madeleine sprach nicht. Nicht, dass sie es nicht konnte – sie wollte nicht. Mutismus. Er stellte sich das Gesicht der Sechsjährigen vor, wie es den nächtlichen Besucher betrachtete. Mit aufgerissenen Augen voller Angst, ohne dass ihr auch nur ein Muckser über die Lippen wich. Er kniete nieder, wollte eins der Papierschiffe vom Boden aufheben, dann, auf eine Eingebung hin, fing er an, den Holzboden abzutasten. Nichts. Der gesamte Raum wies keine nassen Stellen auf. Wer immer auch hier gewesen war, hatte die Wohnung vor dem Regen betreten. Er kalkulierte das Zeitfenster.

Von Lacoste bis zur Wohnung waren es eineinhalb Stunden. Geriet man nicht in den Feierabendverkehr. Zog man in Betracht, dass Geronimos Todeskampf erst mit dem Erwachen aus der Narkose begonnen und der Gastons zu einem Zeitpunkt vorher stattgefunden hatte, kam er nur zu einem Schluss.

Der Eindringling hatte über ein großes Zeitkontingent verfügt. Zudem hatte er mit dem Einbruch in die Büroräume von LIMES und seinem Besuch in Lacoste nur eine Nacht zuvor Louis das Gefühl gegeben, er wäre das Ziel seines Interesses, und hatte ihn damit von der Wohnung ferngehalten. Nur wozu? Vor allem irritierte ihn der Umstand, dass jemand, der zu all dem die nötigen Fertigkeiten besaß, nicht imstande schien, sich einer Mutter und eines Kindes, die ihm schutzlos ausgeliefert waren, zu bemächtigen.

Außer … Louis betrat das ehemalige Sprechzimmer Jacques Seignacs, das die Azmirals als Wohnzimmer zu nutzen schienen. Auf dem Sekretär, einem bureau du roi, lagen Malstifte, Papier, die Kunstwerke einer Sechsjährigen. Doch etwas war anders. Die Schubladen. Sie alle waren halb herausgezogen. Und wie er im Armlehnensessel platznahm, fiel ihm eine versteckte Schublade auf, die sich unter der Arbeitsfläche befand. Er dachte an einen Himitsu Bako. Ein japanisches Kästchen, das, mit Ziehfächern und einem Mechanismus ausgestattet, ein Geheimfach verbarg. Er griff in die Schublade und förderte ein zum Schiff gefaltetes Pergament zutage, das wie eine Schiffnummer das Jahr 1965 und die Lettern V O C als Wasserzeichen trug. Er begann es aufzufalten und zu verstehen, wem der nächtliche Besuch gegolten hatte. Weder den Azmirals noch ihm. Niemanden anderem als Dr. Jacques Seignac. Genauer: seiner Korrespondenz.

Kapitel 7

Verehrter Doktor Eric.« Die Worte des Briefs verfolgten ihn. »Mit meinem Vitae Cursus vertraut, wollen Sie mein Selbstbild erkunden.« Louis fuhr über die Champs-Élysées, als es begann. Der Ort der Niederschrift, Amsterdam, ließ ihn den Asphalt mit einer Gracht assoziieren. Das Datum des Briefs, der 27. April 1965, hatte ihn auf die Idee gebracht, die Loge Nr. 5 noch in der Nacht aufzusuchen.

Denn ’65 hatte die Wohnung in der Avenue Foch dem Vater nicht länger als Residenz und Praxis gedient. Er war umgezogen, und gab es noch mehr Briefe, die diese Handschrift trugen, so würde er sie in der Loge finden. »Es ist anzunehmen, dass es keiner Fotografie entspricht, keinem Gemälde, eher einer Büste, gehauen mit Hammer und Meißel und dem Messer geritzt«, beschrieb der vermeintliche Patient dem Psychoanalytiker sein Selbstbild. »Instrumente zarter Gewalt, die mir allein eine Restaurierung ermöglichen könnten …«

In der Nähe des Boulevard de l’Hôpitel gehalten, betrat er den Altbau und dessen sechsten Stock. Er fand zu Tür und Messingschild. Monsieur Eric. Der Türknauf trug als Gravur die Orakelinschrift gnṓthi seautón. Erkenne dich selbst. Und ähnlich war es ihm mit der Schlussformel des Briefs ergangen. »Mein Fremdbild, das, was andere in mir sehen, betrachte ich als Mimesis, Imitatio, Poesie, die man aufzusagen gelernt hat.«

Er löste eine Ziegelattrappe an der Wand ab, entnahm dem verborgenen Hohlraum den Schlüssel zur Tür, die er einen Augenblick später hinter sich schloss. Auch hier fand sich keine Spur, die verraten hätte, dass sich jemand Zutritt verschafft hatte.

Die Wohnung lag in Blauschein und Finsternis. Türklinken und Knaufe blitzten auf. Gang und Türen erschienen schwarz. Er betrat das Sprechzimmer. Ein Sekretär. Couch und Fauteuil in Rauschrot. Dahinter, an der von Vorhängen gerahmten Balkontür, auf dem Rundtisch: ein Vogelkäfig. Links und rechts davon, in Schränken: antike Werke der Psychologie und Philosophie. In einem Fach ein Tonbandgerät, mit dem der Psychoanalytiker Sitzungen aufgezeichnet hatte. Auf dem Sekretär fanden sich Organmodelle aus Hämatit, Blutstein. Ein Metronom. Orakellöser, Füllfederhalter und Brieföffner. In den Schubladen; Notizen, Briefe, Tonbänder. Der Rest, alles, was von der damnatio memoriae des Sohnes verschont geblieben war.

Er ging das Schubladenarchiv durch, fand die Sammlung von Briefen des Jahres ’65, zog einen nach dem anderen hervor und verglich sie mit der Handschrift seines Exemplars, wobei ihm eine zweite Unterteilung auffiel. Jacques Seignac hatte die Briefe nach seinen Fällen geordnet und statt mit dem Namen des Patienten mit den Titeln von Opern versehen.

»Si j’étais roi«, las er, »Fidelio, La Somnambula, Rusalka, Cardillac …« Er zog die Akte Cardillac. Das Stück spielt in Paris und handelt von einem Goldschmied, der es nicht erträgt, von seinem verkauften Schmuck getrennt zu sein, weshalb er die Käufer tötet, um wieder in ihren Besitz zu kommen. Louis überflog die Akte, in diesem Fall ging es um einen prominenten Kunstfälscher, hoch verschuldet, da er die Fälschungen von den Kunden zurückerwarb. Ein Fall des Cardillac-Syndroms. Künstler, die sich nicht von ihrer Kunst trennen konnten.

Er blickte auf die Uhr. Seit dem Treffen mit Bernard waren zwei Stunden vergangen. Er würde die Azmirals nach Rouen bringen. Sie würden im Hôtel de Bourgtheroulde einchecken, einem 5-Sterne-Hotel an der Place de la Pucelle. Madeleine würden die alten Gemäuer wie ein Schloss erscheinen, sobald sie erwachte. »Médea, Der fliegende Holländer« Ein Treffer. Er zog einen Packen Briefpapier hervor, der weder Umschlag noch Adresse trug. Und er fand das Stück Wagners von einer verfluchten Seele auf See und dem Schiff mit blutrotem Segel, das jedem, das seine Wege kreuzte, Unheil brachte, passend. Dann wandte er sich einer Schublade zu, in der Seignac Bänder aufbewahrt hatte.

Doch keines davon trug den gesuchten Titel. Dennoch stieß er auf etwas, zog ihn etwas in seinen magischen Bann. Er nahm eines der Bänder hervor, trat ans Fenster und hatte Sicht über die jahrhundertealten Gemäuer und schwarzen Dächer der Salpêtrière. Der Heilanstalt. Die Bühne der Hysterie, wie sie sein Vater genannt hatte, und mit eine der Wiegen der Psychoanalyse Freuds. Das Sprechzimmer, die Loge. Jacques E. Seignac, ein Analytiker.

Die Methodik hatte der Vater der Psychoanalyse mit Regeln belegt, nachdem er die eigene Tochter analysiert hatte. Nicht jeder darf Analysand sein. Louis legte die Beute der Nacht, den Packen Papier und das Tonbandgerät, auf der Couch ab, nahm im Fauteuil Platz, sah zu den dunklen Stellen an der Decke. Als Kind hatte er geglaubt, sie stammten von den Sitzungen, von geheimen Gedanken, verbotenen Wünschen, die den Lippen entfleuchten. Er spielte das Band ab, lauschte dem Metronom. Der Stimme des Vaters. Dem hypnotischen Rauschen. Der Kinderstimme. Seiner eigenen.

Kapitel 8

Paris erwachte im späten Morgengrauen. Der Nebel gab die Sicht auf die Statuen der Pylonen der Pont Alexandre III frei. Auf Pegasus, das geflügelte Ross, gezügelt von Fama, der Göttin des Ruhms und Gerüchts. Auf gusseiserne Laternen in Puttenhand, das nymphenumgarnte Wappen und die Statue des Kindes, das sich an die Mähne eines Löwen klammerte. Das Grau blieb und selbst die Statuen, während Arsène Castroff, im Blitzlichtgewitter der Pariser Fashion Week, am Portikus des Grand Palais, überlegte Reißaus zu nehmen. Zu spät. Der Ansturm brach herein, und das Ungetüm der Belle Époque aus Stein, Eisen, Glas, Kolonnaden, Säulen und Pilastern hatte ihn, verkatert und in schlecht sitzendem Anzug, verschlungen. In den Hallen, in denen einst die Weltausstellung untergebracht worden war, verlief sich der Besucherstrom. Auf Gängen, Treppen, im Gerippe modergrüner Stahlträger.

Er hatte Leviathan vor Augen. Das Seeungeheuer aus PVC, das der Künstler Kapoor hier hatte aufblasen lassen, das Monstrum im Monstrum, welches das Grand Palais wie ein Abszess ausgefüllt hatte, dann wieder die leeren Hallen, die wie ein Uhrwerk anmuteten. Ohne Zeiger. Zeitlos, oder Büchse des Zeitgeists und dieser Tage, ein Luftschloss der Dekadenz, als er wenig später, im Publikum, im Klangkarussell aus Klassik und Elektronik, an der Seite der Laufstege Platz nahm. Die Show war bereits im Gange. Mannequins mit versteinerter Miene tauchten apathisch in der Kulisse auf und unter. Heroinchic mündete in Amazone, Arsène in eine Absence, wie es ihm schien. »Monsieur Castroff?«, sprach ihn jemand an. »Monsieur Martell.« Ein Mann um die sechzig, in Anzug mit Kimonokragen, der sich ihm weiter noch als Headhunter vorstellte.

»Sie wissen, was so jemand tut?«, wollte er von Arsène wissen. »Sie vermitteln Personal.« Martell nickte und erweiterte die Definition: »Das heißt, ich erhalte den Anruf eines Klienten, wie heute Morgen, der nach jemandem mit gewissen Eigenschaften und Fähigkeiten sucht, wie Sie sie besitzen, spüre ihn auf und unterbreite ihm ein Angebot, wie Ihnen in diesem Moment.« Er gab ihm einen Zettel, auf dem ein fünfstelliger Betrag notiert war. »Was dafür tun? Sie werden es mit einer Recherchearbeit zu tun haben. Für Spesen und Logis wird Ihr Auftraggeber aufkommen. Über die Dauer dieses Arbeitsverhältnisses, ein bis zwei Monate, mit Verlaub, die die Zahl auf Ihrem Zettel noch verdoppeln könnte, werden Sie keinen Kontakt zu Ihrem Umfeld pflegen und sich rund um die Uhr Ihrer Aufgabe widmen. Nach getaner Arbeit werden Sie Ihr Studium wie gewohnt weiterführen. All das habe ich für den Fall Ihrer Zusage bereits in die Wege geleitet. Begehen Sie Vertragsbruch«, erklärte ihm Martell mit einem Lächeln, »sieht die Sache anders aus. Sie werden den heutigen Tag verfluchen.«

Arsène verstand nicht. Ursprünglich hatte ihn sein Mentor Professor Carajan für ein offizielles Praktikum hierher einbestellt. Er hatte ihm das Ticket mittels Kurier überbringen lassen und nun … Bevor er länger darüber nachdachte, bewegte ihn nur noch eine einzige Frage: »Wann kann ich anfangen?« Der Rest schien eine reine Formalität. Wie ihn Martell hatte wissen lassen, wartete bereits ein Wagen an der Avenue Winston Churchill. Auf dem Rücksitz befand sich eine Mappe, die ein Smartphone, einen Schlüssel, den Arbeitsvertrag und mehrere Schweigepflichtserklärungen beinhaltete, die er, nachdem er aufgegeben hatte, das Kleingedruckte zu lesen, signierte, als im nächsten Moment das Smartphone klingelte. Beim dritten Klingeln nahm er ab.

»Castroff.« »Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht persönlich empfangen werde«, ließ ihn die Stimme am Apparat wissen. »Ich bin zurzeit geschäftlich verhindert. Aber ich denke, Sie finden sich zurecht.« Bevor er auch nur nach dem Namen des Anrufers fragen konnte, hielt der Wagen in der Nähe des Boulevard de l’Hôpital. »Legen Sie die Unterlagen und Ihr privates Mobiltelefon dem Umschlag bei und händigen Sie ihn dem Chauffeur aus.« Ausgestiegen, leistete er der Instruktion folge. »Nach getaner Arbeit werden Sie es wieder zurückerhalten.« Im Gegenzug überreichte ihm der Fahrer einen Koffer und machte sich davon. »Ihr Arbeitsplatz befindet sich im sechsten Stock«, meldete sich die Stimme zurück, »Sie werden dort alles vorfinden, was Sie brauchen werden.« Aufgelegt.

Jardin du Luxembourg. Die Vertreibung aus dem Paradies schwebte Louis Seignac vor Augen, als das Tageslicht unter Tuschewolken verschwand, die Palais und Schlosspark verdunkelten. Das Telefonat beendet, den Regenschirm aufgespannt, ging der Schauer nieder, der die letzten Passanten aus den Gärten vertrieb. Zurückblieb das Heer der Statuen, das, über die Terrassen verstreut, über die grün und schwarz getupfte Landschaft wachte. An der Statue des Maskenhändlers von Astruc, eines Jünglings, der das Antlitz Victor Hugos wie ein Haupt in der Hand hielt und dem weitere zu Füßen lagen, erwartete ihn Barish auf einer der Bänke.

Der alte bärtige Bosnier, unterm Regenschirm, in einem Parka wie einer Soutane, sah einem Beichtvater gleich. Versetzt, mit dem Rücken zu ihm, auf Augenhöhe, nahm Louis auf der rückseitigen Bank Platz. »Was kann ich für dich tun?«, wollte Barish wissen. »Ich benötige die Kopie der Aufzeichnung einer Kameraüberwachung.« Louis reichte ihm die Visitenkarte Rothkins. Ihren Namen hatte er abgerissen.

Nur die Adresse von LIMES gab er ihm. Vorerst. »Die Aufzeichnung ist in Verwahrung«, erklärte Louis, »Die zuständige Sicherheitsfirma ist damit zugange, das Material zu sichten.«

»Die da wäre?« »T4SK.« »Bis wann?« »So schnell wie möglich, und diskret.« »T4SK ist ein Großunternehmen. Zu groß. Es ließe sich jemand kaufen. Das kann dauern.« »Zeit habe ich nicht.« Dann meinte Barish: »Rakov. Nikolaj Rakov. Ex-Militär. Er hat nicht den besten Ruf. Ich würde Mittelsmänner Zwischenschalten, um die Diskretion zu wahren.« »Eine Versicherung?« »Solltest du abschließen.« »Außerdem benötige ich jemanden, der sie im Auge behält.« Barish nahm die andere Hälfte der Visitenkarte entgegen.

Kapitel 9

Monsieur Eric las Arsène auf dem Messingschild, schloss auf und trat ein. Gang und Zimmer trugen Linkrusta-Tapeten mit Mustern in Bronze und Gold. Teppiche bedeckten Holzböden. Mobiliar aus Mahagoni, verziert mit Intarsien und Marketerien, Spiegel, geschmückt mit mythologischen Wesen, säumten den Gang. Die Göttin Aletheia, die Schlafenden verrät, dass sich ihnen im Traum die Wahrheit offenbare, ihr mit zu kurz geratenen Beinen ausgefallener Klon und die Personifikation des Betrugs, Dolos. Das Smartphone klingelte. »Ich habe ein Zimmer für Sie einrichten lassen. Im Gang, die zweite Tür«, leitete ihn der Anrufer. Arsène betrat es, hievte den Koffer auf das Bett und filzte seinen Inhalt. Wäsche. Anzüge. Alles in der passenden Größe. Zurück auf dem Gang führte ihn die Stimme ins Sprechzimmer, wo sich ihm erschloss, dass er sich in den Räumlichkeiten eines Psychoanalytikers befand.