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Eine neue Heimat, eine neue Hoffnung … und ein neuer Feind. Brandon Q. Morris erzählt die Besiedlung des Mars als großes Abenteuer der Menschheit. 2058. Eine Künstliche Intelligenz hat mithilfe von Robotern den Bau einer Marskolonie beendet, in der bald die ersten hundert Menschen wohnen sollen. Da die kosmische Strahlung während der langen Reise und später auf dem Planeten das Erbgut der ersten Generation von Mars-Menschen irreparabel schädigen wird, entscheidet man sich für Astronauten und Astronautinnen im fortgeschrittenen Alter. Und so machen sich einhundert Kolonisten, allesamt zwischen ihrem fünfzigsten und fünfundsiebzigsten Lebensjahr, auf eine Reise ohne Wiederkehr zu einer neuen Heimat, in der jeder kleinste Fehltritt den Tod bedeuten kann, wo aber auch eine um zwei Drittel schwächere Schwerkraft den Alten eine neue Jugend mit ungewohnten Leistungen verheißt. Doch dann sind noch ganz unerwartete Fähigkeiten gefragt: Denn die KI auf dem Mars verfolgt offenbar ihre eigenen Pläne und versucht mit allen Mitteln, das Unternehmen scheitern zu lassen – was die wertvollen letzten Jahre der Kolonisten auf wenige Tage schrumpfen lassen könnte. Für Leser von Andy Weir oder Cixin Liu.
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Seitenzahl: 509
Veröffentlichungsjahr: 2025
Brandon Q. Morris
Die letzte Reise
2058. Eine Künstliche Intelligenz hat mithilfe von Robotern den Bau einer Marskolonie beendet, in der bald die ersten hundert Menschen wohnen sollen. Da die kosmische Strahlung während der langen Reise und später auf dem Planeten das Erbgut der ersten Generation von Mars-Menschen irreparabel schädigen wird, entscheidet man sich für Astronauten und Astronautinnen im fortgeschrittenen Alter. Und so machen sich einhundert Kolonisten, allesamt zwischen ihrem fünfzigsten und fünfundsiebzigsten Lebensjahr, auf eine Reise ohne Wiederkehr zu einer neuen Heimat, in der jeder kleinste Fehltritt den Tod bedeuten kann, wo aber auch eine um zwei Drittel schwächere Schwerkraft den Alten eine neue Jugend mit ungewohnten Leistungen verheißt. Doch dann sind noch ganz unerwartete Fähigkeiten gefragt: Denn die KI auf dem Mars verfolgt offenbar ihre eigenen Pläne und versucht mit allen Mitteln, das Unternehmen scheitern zu lassen – was die wertvollen letzten Jahre der Kolonisten auf wenige Tage schrumpfen lassen könnte.
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Brandon Q. Morris ist Physiker und beschäftigt sich beruflich und privat schon lange mit Weltraum-Themen. Er wäre gern Astronaut geworden, musste aber aus verschiedenen Gründen auf der Erde bleiben. Sein Ehrgeiz ist es deshalb, spannende Science-Fiction-Geschichten zu erzählen, die genau so passieren könnten. Was seinen Besuch im All betrifft: Er arbeitet daran.
[Motto]
Teil 1 Der Weg
Tianwen 8, Sol 1
Mondbasis, 24. Oktober 2039
MCS One, Tag 28
MCS One, Tag 36
MCS One, Tag 38
MCS One, Tag 39
MCS One, Tag 40
MCS One, Tag 41
MCS One, Tag 42
MCS One, Tag 43
MCS One, Tag 44
MCS One, Tag 45
MCS One, Tag 46
MCS One, Tag 47
MCS One, Tag 48
MCS One, Tag 49
MCS One, Tag 49
Teil 2 Das Ziel
MCS One, Tag 55
MCS One, Tag 57
MCS One, Tag 59
MCS One, Tag 60
MCS One, Tag 61
MCS One, Tag 62
MCS One, Tag 81
MCS One, Tag 89
MCS One, Tag 91
MCS One, Tag 101
MCS One, Tag 121
MCS One, Tag 137
MCS One, Tag 141
MCS One, Tag 150
MCS One, Tag 159
MCS One, Tag 160
Mars, Sol 1
Mars, Sol 1
Mars, Sol 6
Mars, Sol 7
Mars, Sol 15
Mars, Sol 36
Mars, Sol 100
Nachwort
Terraforming Mars
Die Vergangenheit des Mars
Wasser auf dem Mars
Probleme des Terraforming
Konzepte zur Erwärmung
Konzepte zum Atmosphärenschutz
Konzepte gegen die Perchlorate
Welche Maßnahmen gegen Perchlorat schlagen Forscher vor?
Überleben auf dem Mars
Was die Kolonisten brauchen
Wozu das alles?
Manche Träume erzählen uns, was wir glauben wollen. Manche Träume erzählen uns, was wir fürchten. Manche Träume handeln von dem, was wir wissen, auch wenn wir nicht wissen, dass wir es wissen. Der seltenste Traum ist der Traum, der uns sagt, was wir nicht wussten.
Ursula K. Le Guin, »Social Dreaming of the Frin«
Zezhou lief um den Kamm eines Vulkans. In der Caldera unter ihm glühte Lava. Die Masse brodelte, während aus dem Schlund frisches Material nach oben stieg. Dort unten waren seine Leute. Es waren Geologen wie er, die den Ausbruch vermessen wollten. Plötzlich wurde ihm klar, dass sie sterben würden. Der Schweiß brach ihm aus. Er griff nach dem Funkgerät, um sie zu warnen, entschied sich dann aber anders. Es war interessanter, ihnen beim Sterben zuzusehen.
Zezhou erwachte. Sein Rücken war nass. Er war allein in seiner Kabine, und ihn ekelte vor sich selbst. Es war zwar nur ein Traum gewesen, aber er hatte gewusst, dass er träumte.
»Triebwerk feuert!«, rief Yong ein bisschen zu laut.
Zezhou lächelte. Wei Yong, der Kapitän, gab sich gern besonders hart, aber dieser Moment verlangte ihm alles ab. Kurz darauf verging auch Zezhou das Lächeln. Er biss die Zähne zusammen, denn das Raumschiff schüttelte sich, als wollte es seine Mannschaft abwerfen. Er klammerte sich instinktiv an der Lehne fest, obwohl ihn die Gurte sicher halten würden und ihn in seine Sitzschale pressten wie ein Baby in seine Trage.
Ein Countdown startete. Laut zählte eine Automatenstimme von dreißig herunter. Bei zwanzig spürte Zezhou das Schaukeln im Magen. Die Tianwen-8 verließ sich nicht allein auf ihr Triebwerk, um den Flug abzubremsen, sondern nutzte auch mehrere Fallschirme. Die Luftströmungen hier unten waren offenbar stärker als vorberechnet. Das ärgerte ihn, denn er hatte als Planetologe selbst an den Prognosen mitgearbeitet. Alle waren sich einig gewesen, dass selbst ein Staubsturm dem landenden Schiff wenig anhaben konnte.
Zezhou holte das Display näher heran. Die Außenkamera auf dem Bug zeigte zwar jede Menge Staub, aber den wirbelte gerade das Triebwerk auf. Ein Sturm war nicht zu bemerken.
»Sechs, fünf, vier …«
In diesem Moment schwang das Schiff deutlich zur Seite. Alarmtöne erschallten. Eine solche Neigung würden die Landebeine auf keinen Fall verkraften.
»Countdown abbrechen«, befahl Yong.
Eine Faust bohrte sich in Zezhous Magen. So schnell reagierte kein Triebwerk. Tu Youyou, die Pilotin, musste bereits reagiert haben, bevor Yong den Befehl dazu gegeben hatte. Das war mutig, auch wenn es zu Youyou passte. Zezhou schloss die Augen und spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Er musste sich auf die Zunge gebissen haben. Wenn der Kapitän klug war, überging er Youyous Überspringen der Kommandokette einfach.
Der Countdown setzte erneut ein. Zezhou spürte seinen Magen, aber diesmal schwankte die Tianwen-8 nicht. Es würde wahr werden: Die ersten Menschen auf dem Boden eines anderen Planeten würden Chinesen sein. Wei Yong würde in die Geschichtsbücher eingehen wie der Amerikaner Armstrong, dessen Vorname ihm gerade nicht einfiel. Er selbst würde nicht so berühmt werden, aber das war Zezhou gleichgültig. Immerhin würde sein Name unter jedem wissenschaftlichen Artikel stehen, der als Ergebnis dieses Fluges entstand, denn er war der einzige Wissenschaftler an Bord.
»Vier, drei, zwei …«
»Triebwerk abgeschaltet«, verkündete die Pilotin.
Das Schiff sackte für einen winzigen Moment ab, bevor sich seine Landebeine in den Marsboden drückten. Es fühlte sich an, als würde es sich in einen bequemen, federnden Sessel setzen. Das Metall quietschte wie vor Freude.
Dann zog Stille ein. Es war eine mystische Ruhe, die sich nur in ihren Köpfen abspielte, denn die Lebenserhaltung konnte gar nicht aufhören, Lärm zu verbreiten. Die anderen mussten diese Stille auch spüren, denn niemand sagte etwas, nicht einmal Fang Wei, der sonst alles kommentierte.
Sie hatten es wirklich und wahrhaftig geschafft!
»Wir gehen heute nicht mehr raus«, sagte der Kapitän über die Sprechanlage.
Zezhou nickte. Das hatte er sich schon gedacht. Erstens würde es bald dunkel, zweitens gerieten sie für etwa zwei Stunden aus der Reichweite der Relais-Sonde, die ihre Signale zur Erde schickte. Eigentlich hatte man noch vor der Landung drei solcher Satelliten in den Orbit bringen wollen, doch dann wären ihnen die Amerikaner zuvorgekommen.
»Nicht mal eine kleine Erkundung?«, fragte Youyou.
»Gar nichts. Sie wollen uns im Blick behalten.«
»Ich bin noch total frisch«, jammerte Youyou. »Wie soll ich schlafen können, wenn draußen eine ganze Welt darauf wartet, entdeckt zu werden?«
Nicht nur eine Welt. Sie hatten auch den geheimen Auftrag, alles über die amerikanischen Installationen herauszufinden, die mehrere robotische Missionen über die Jahre hier in den Marsboden gegraben hatten. Deshalb waren sie extra in ihrer Nähe gelandet, obwohl der Standort aus Forschungssicht weniger hergab, als Zezhou gehofft hatte.
»Ich kann dir eine Schlaftablette geben«, sagte Wei, der auch ihr Bordarzt war.
»Wie wäre es denn, wenn ihr eure tägliche Sporteinheit absolviert und danach den Umgang mit dem EVA-Anzug übt?«
»Ach, und der Kommandant geht dabei nicht als Vorbild voran?«, fragte Youyou.
»Wenn einer von euch den Papierkram erledigen möchte, dann sehr gern.«
Auch wenn ihn niemand sehen konnte, schüttelte Zezhou den Kopf. Angesichts der zahllosen Checklisten, die er abarbeiten musste, tat ihm der Kapitän fast ein bisschen leid. Er kniete sich vor den Rover und montierte den Gammascanner. Aus Platzgründen war das Gefährt zusammengefaltet im Bauch des Schiffes transportiert worden. Vor ihm lagen noch etwa vier bis sechs Stunden Arbeit, bis es einsatzbereit sein würde. Schon deshalb hatte er an einem sofortigen Ausflug auf die Oberfläche gar kein Interesse.
Mist! Zezhou wischte an dem Ölfleck herum, der sich auf der blauen Hose ausbreitete, aber er wurde nur größer. Er hatte den Druck falsch berechnet; wegen der geringeren Schwerkraft hier hatte er nicht das Getriebe getroffen, sondern daneben. Ein Teil des Öls tropfte auf den Boden. Er wischte es mit einem Papierhandtuch weg.
Zezhou richtete sich auf. Im Raumschiff war es überraschend still geworden. Hatten die Trainingsmaschinen nicht bis eben noch gequietscht? Vermutlich schliefen seine drei Kollegen längst in ihren Liegen. Einen Moment lang ärgerte er sich, dass ihm niemand Hilfe angeboten hatte. Aber eigentlich konnte er doch froh darüber sein. Er mochte es gar nicht, wenn ihm andere in seine Arbeit hineinredeten. Mit dem Forschungsrover hatte er auf der Erde monatelang geübt, in der Wüste, auf Gletschern, sie waren richtig gute Freunde geworden.
Besonders mochte er an Zhurong, dem Rover, dass er dumm wie Brot war. Die Maschine führte einfach die Befehle aus, die er ihr erteilte, selbst wenn es sie das Leben kosten sollte. Die Flugsteuerung des Raumschiffs hingegen besaß eine Art Intelligenz, die sich so ungünstig entwickelt hatte, dass sie sie auf halbem Weg mit Einverständnis der Missionskontrolle hatten abschalten müssen. Die Software hatte ihnen tatsächlich empfohlen umzukehren, was schlichtweg unmöglich war.
Zezhou schraubte die Schale um das frisch geölte Gewinde fest. Dann stand er auf und schlich zur Leiter, die in die obere Etage führte. Um die anderen nicht zu wecken, bewegte er sich möglichst leise. Und tatsächlich, im roten Glühen der Statusanzeigen schlummerten alle drei selig.
In diesem Moment erfasste ihn eine bleierne Müdigkeit. Er ahnte, woher sie kam: Den anderen war anzusehen, wie sehr die Schwerkraft ihnen beim Schlafen half. Der Mensch war nicht dafür gemacht, an der Wand zu hängen, er brauchte Kontakt zum Boden, der ihnen jetzt monatelang gefehlt hatte.
Aber Zezhou überwand diese Versuchung. Der Rover musste die Gegend erkunden, noch bevor der Kapitän den ihm zustehenden ersten Schritt auf die Oberfläche setzen würde. Er hatte dabei sogar eine wichtige Funktion: Seine Hauptkamera würde Wei Yong bei diesem historischen Akt filmen, der – mit der entfernungsbedingten Verzögerung – in alle Welt ausgestrahlt werden würde, um die Überlegenheit der chinesischen Raumfahrt zu beweisen. Wenn der Rover dabei versagte, würde das auf ihn, Zezhou, zurückfallen, und er würde als Versager des Jahrhunderts im Volksgedächtnis bleiben.
Also kletterte Zezhou wieder nach unten, um die Kamera ein weiteres Mal zu überprüfen. Er richtete sie auf die Schleuse, die sich an der Rückseite des runden Raumes befand. Dann hatte er eine bessere Idee: Er öffnete die Innentür der Schleuse und platzierte einen der EVA-Anzüge aufrecht darin, so dass es so aussah, als wäre der Kapitän kurz davor auszusteigen. Mit der Fernsteuerung aktivierte Zezhou die Kamera. Ja, so war es gut. Das Bild war richtig scharf. Vermutlich würde man sogar die Schweißtropfen auf Yongs Gesicht erkennen können.
Und Schweißtropfen mussten sein. Eine Kommission hatte bereits Regieanweisungen erarbeitet und die wirksamsten Bilder ermittelt. Schweiß sollte den Menschen in dem Anzug nahbar machen. Wei Yong war ein Held, klar, aber auch ein Mann aus dem Volk, dessen Eltern Bauern gewesen waren. Er stand für China hier und für jeden Chinesen. Folgen würde ihm Youyou, die Pilotin, aber zuerst gehörte die Bühne ihm.
Ein Rumpeln war zu hören, gefolgt von einem metallischen Kreischen, das nicht aufhören wollte. Alarmsignale stimmten in den infernalischen Chor ein. Fetzen menschlicher Stimmen gelangten an Zezhous Ohren. Er erstarrte, aber dann schlug sein Überlebensinstinkt an. Mit aller Kraft drückte er den Rover nach vorn, direkt in die Schleuse hinein. Der ausgestreckte Kameraarm traf den EVA-Anzug und knickte an der Wand dahinter um. Zhurong würde den Ausstieg des ersten Menschen nicht mehr filmen können. Die Erkenntnis traf Zezhou nicht so hart wie erwartet, denn er hatte etwas anderes zu tun: Er musste überleben.
Als ihn der erste Luftzug streifte, ihn hinausziehen wollte aus der Schleuse, wusste er, dass die anderen verloren waren. Er presste den Schließknopf, und tatsächlich schob sich die Schleusentür zu. Das ganze Schiff knarrte und bewegte sich dabei hin und her. Zezhou schob den Rover zur Seite, um an den Raumanzug zu gelangen. Jetzt zahlte sich das harte Training aus. Er brauchte nicht zu überlegen, welchen Verschluss er zuziehen und welchen Knopf er drücken musste. Als die Tianwen-8 zu tanzen begann, trug er bereits das Unterteil und setzte sich gerade das harte Oberteil mit dem integrierten Helm auf.
Er wusste, womit diese Bewegung enden würde. Nun kam alles darauf an, dass die Rakete nicht auf den Ausgang der Schleuse stürzte, also schob er den schweren Rover auf die andere Seite. Seine Spekulation erwies sich als richtig. Das Schiff kippte. Die Welt drehte sich. Er schloss noch im Fallen den Anzug. Dann wurde es dunkel.
Erste Lämpchen schalteten sich ein, zunächst im Helm, dann draußen in der Schleuse. Der Anzug war dicht, immerhin. Er hörte ein Klopfen. Es kam von der anderen Seite der inneren Schleusentür. Jemand musste dort überlebt haben. Aber wenn er die Tür nach innen öffnete, würde er wertvolle Zeit verlieren, bis er auch die Außentür öffnen konnte. Und das Schiff sackte weiter ab. Was eigentlich unmöglich war. Sie hatten die Landestelle aus dem Orbit geprüft. Unter den Landestutzen sollte sich 3,5 Milliarden Jahre altes Gestein befinden.
Zezhou schüttelte den Kopf. Es tut mir leid, wer immer du bist. Sein eigenes Überleben stand auf der Kippe. Er erhob sich, streckte den Arm und erreichte den Knopf, der die Außentür öffnen würde. Sie schob sich auf. Über ihm lag ein rötlich-grauer völlig sternenloser Himmel. Während sich das Schiff weiter in den Boden bohrte, realisierte Zezhou, dass die Schleuse zu weit weg war. Nicht einmal unter Marsgravitation konnte er sie mit einem Sprung erreichen.
Verdammt! Er wühlte in den Taschen des Anzugs nach einem Seil und fand dabei die Fernbedienung des Rovers. Der Kameraarm! Die Mechanik bewegte sich. Der Arm näherte sich so, dass er sich daraufstellen konnte. Dann ließ er sich anheben, in Richtung Freiheit, und obwohl die Konstruktion fragil wirkte, trug sie ihn, bis er den Türrahmen erreichte und sich daran hochziehen konnte, wobei er die Fernbedienung verlor.
Er war draußen. Zezhou trat ein paar Schritte vom Raumschiff zurück. Es dämmerte, was auf dem Mars viel weniger Licht bedeutete als auf der Erde. Trotzdem war unverkennbar, dass sich der Boden unter dem Schiff geöffnet hatte. Zezhou kramte in seinem planetologischen Fachwissen. Ein Eisvulkan? Oder hatten sie eine Art Methanlager unter der Oberfläche aktiviert? Aber das passte alles nicht. Vor allem hätten sie es aus dem Orbit bemerken müssen. Ihre Gamma- und Neutronenscanner reichten tief genug unter die Oberfläche. Hier stimmte etwas nicht. Waren es die Amerikaner? Hatten sie China den Erfolg nicht gegönnt? Ihr Schiff, von einem Unternehmer finanziert, weil die NASA zu schwerfällig gewesen war, würde in vier oder fünf Monaten hier eintreffen. Gerade wurde es wohl noch im Erdorbit aufgetankt.
Aber auch die Amerikaner konnten keine Wunder vollbringen und etwas unter der Oberfläche verstecken, das die Sensoren der Tianwen-8 nicht hätten aufspüren können.
Da: eine Bewegung. Etwas streckte sich aus der Schleuse. Ein Arm? Zezhou aktivierte den Helmsender.
»Youyou, bist du das?« Wenn er jemandem zutraute, sich gerettet zu haben, dann der Pilotin. Im selben Moment schoss ihm sein schlechtes Gewissen so brennend in den Kopf, dass ihm die Tränen kamen. Er hatte die Tür nicht geöffnet und sich lieber für seine eigene Rettung entschieden. Als Zezhou sich dem Schiff näherte, senkte es sich gleich wieder ein Stück in den Boden. Er griff trotzdem nach dem Arm, der aus der Öffnung ragte, und bekam etwas Hartes, Metallisches zu fassen.
Zhurong, der Rover, natürlich. Er besaß einen sehr begrenzten Automatikmodus, in dem seine Steuerung vor allem darauf bedacht war, dass die Maschine nicht beschädigt wurde. Aber wieso zog sich Zhurong nicht ganz aus der Öffnung? Anscheinend war er unentschlossen. Zezhou tastete nach der Fernbedienung, bis ihm einfiel, dass er sie beim Herausklettern verloren hatte. Er schüttelte den Kopf. Dann musste der Rover eben in der Schleuse bleiben. Noch einmal würde er nicht durch das Schott steigen, das zur Todesfalle geworden war.
Zezhou trat ein paar Schritte zurück. Die Dunkelheit hatte so zugenommen, dass er den Helmscheinwerfer benutzen musste, um die Schäden zu begutachten. Aber zuerst war eine Analyse der Ressourcen notwendig. Er scrollte mit den Augen durch das Menü im Helm des EVA-Anzugs. Das Ergebnis war deprimierend: Er würde in spätestens acht Stunden sterben, denn dann ging ihm die Luft aus. Energie hatte er noch für zwei ganze Tage, das Wasser würde zwei Wochen reichen, aber nur, wenn der Anzug genügend Energie für das Recycling hatte.
Er marschierte um die Landestelle herum. Sie war deutlich als Kuhle erkennbar. Das Triebwerk hatte allen Staub und Sand weggeblasen. Die Tianwen-8 machte keinen guten Eindruck. Die beiden Crewdecks waren an einer Seite aufgerissen. Dort mussten die anderen gestorben sein. Erstickt. Wer hatte wohl an der Schleuse geklopft? Hätte er noch jemanden retten können? Bestimmt nicht. Er biss die Zähne zusammen, weil er wusste, dass er das nicht sicher wissen konnte.
Das Raumschiff würde sicher nicht wieder starten. Zwei der vier Landestützen waren abgeknickt. Der Bug ragte in ein ovales Loch in der Oberfläche. Zezhou leuchtete hinein. Es war etwa zwanzig Meter tief. Am Boden lagen Gesteinsblöcke, die wie Material von der Oberfläche wirkten. Sie hatten wohl die Höhlendecke gebildet und hatten nachgegeben, als das Schiff darauf gelandet war. Das war logisch. Aber es erklärte nicht, wieso sie nichts von der Struktur gesehen hatten. An den Messgeräten konnte es nicht liegen.
Jetzt stützte sich der Bug auf diesen Felsblöcken ab, was dem Raumschiff eine relativ stabile Lage bescherte, denn das Heck wurde von den zwei verbliebenen Landestützen gesichert. Zezhou fuhr den Rumpf mit dem Scheinwerfer ab. Etwas über ihm lagen die Zugänge zu Strom und Wasser. Er konnte sie nicht direkt erreichen, aber vielleicht hatte er genug Zeit, um sich aus Steinen eine Art Treppe zu bauen. Schon reifte ein Plan in seinem Kopf. Vielleicht konnte er doch überleben. Er brauchte nur die Monate zu überstehen, bis die Amerikaner eintrafen.
Monate. Am besten, er dachte nicht so weit, denn das war eine Lücke in seinem Plan. Er konnte dem Anzug zwar Luft, Wasser und Strom zuführen, aber keine feste Nahrung. Das war einfach nicht vorgesehen. Während einer EVA brauchte man nicht zu essen. Deshalb gab es nur ein bisschen Flüssignahrung, die er durch ein spezielles Röhrchen ansaugen konnte. Er würde also einen vakuumdichten Raum konstruieren müssen, in dem er den Anzug ablegen konnte.
Ein Problem nach dem anderen. Es gab ja noch einen Plan B. Er selbst konnte sich zwar nicht von dem havarierten Schiff entfernen, weil das die Quelle seiner Lebensenergie darstellte. Aber Zhurong schaffte über 35 Kilometer pro Stunde und sollte in der Lage sein, bei der Installation der Amerikaner um Hilfe zu bitten. Selbst wenn dort bloß Roboter stationiert waren, musste es Unterkünfte und Ressourcen für Menschen geben, wollten die Amerikaner doch dort die Keimzelle einer Kolonie schaffen. Die dreihundert Kilometer bis zur Installation würde Zhurong an einem Sol schaffen.
Schade nur, dass sie den Rover nie als Transportmittel vorgesehen hatten. Und wenn er ihn ritt wie ein Cowboy sein Pferd? Zezhou nickte. Bei all den Gefahren auf dem Mars war es besser, wenn er gleich mitfuhr. Es gab bloß noch ein Problem: Er musste die Fernbedienung finden.
Jetzt ganz langsam. Zezhou ließ sich in die dunkle Öffnung sinken. In der Marsgravitation fiel es ihm leicht, sich mit den beiden Armen zu halten, obwohl er den schweren Anzug trug. Er griff um, drehte sich – und erschrak, weil ihn zwei rote Augen anblickten. Zhurong. Der Rover hatte vermutlich gespürt, dass er sich in seiner Nähe befand, und sich aktiviert. Wieso musst du es mir so schwer machen und kommst nicht einfach herausgeklettert? Zezhou kannte die Antwort. Durch ihre insgesamt vier Arme war die Maschine zwar fähig, wie ein Affe zu klettern, aber niemand hatte ihr das beigebracht. Wer kommt denn schon auf die Idee, das könnte ausgerechnet auf dem Mars hilfreich sein?
Zezhou ließ los. Es war ein seltsames Gefühl, so langsam zu fallen. Beim Bodenkontakt ging er sicherheitshalber in die Knie und federte sich ab. Der Boden war schräg, und um nicht tiefer zu rutschen, musste er sich vorn abstützen. Er leuchtete mit dem Scheinwerfer um sich. Die Fernbedienung war sicher auch der Schwerkraft gefolgt, also würde sie sich an der tiefsten Stelle der Schleuse befinden. Da! Dieses gelbe Stück Plastik, das musste sie sein. Damit man sie mit Handschuhen bedienen konnte, besaß sie riesige Knöpfe. Zezhou ging auf alle viere, halb kroch und halb rutschte er in die Tiefe der Schleuse.
Weil er sich dabei mit der Hand an der Wand bremste, erwischte er den Öffnungsknopf für die Innentür. Unter normalen Umständen hätte er nicht reagieren dürfen – der Druckunterschied hätte es verhindert. Aber die Umstände waren außergewöhnlich. Durch den Riss im Bug war die Luft entwichen, so dass es keinen Druckunterschied mehr gab. Also öffnete sich die Innentür. Lautlos rutschte etwas heraus und stürzte sich über ihn. Zezhou schrie, bis er merkte, dass es Youyou war, die Pilotin, die er verraten hatte. Sie musste sich, schon halb erstickt, bis zur rettenden Schleuse gekämpft haben, nur um dann festzustellen, dass diese schon besetzt war, und zwar vom Bordwissenschaftler. Was hatte sie wohl in ihren letzten Sekunden über ihn gedacht?
Zezhou drückte sie von sich weg. Obwohl er sich bemühte, ihr nicht ins Gesicht zu sehen, erwischte er einen kurzen Blick darauf – und war erstaunt, wie entspannt sie wirkte. Der Tod schien gar nicht so ein garstiger Geselle zu sein; jedenfalls nicht bei ihr. Er war nicht religiös, aber sein Karma hatte sich durch die eigensüchtige Rettung sicher deutlich verschlechtert.
Er seufzte. Dann drehte er seine Kollegin um und bückte sich, damit er endlich nach der Fernbedienung greifen konnte. Ha! Jetzt hatte er sie. Zezhou drückte den großen, grauen Knopf, um den Rover zu übernehmen.
Es war eine langwierige Landung gewesen. Zhurong hatte ihr so lange entgegengefiebert, aber jetzt hatten sie den Planeten endlich erreicht. Er hatte sich all die Monate gefragt, wie er den Menschen entkommen konnte. Da er sich die ganze Zeit dumm stellen musste, war ein großer Teil seiner Kapazität für solche Pläne frei gewesen. Er hatte Plan A entwickelt, dann Plan B und jede mögliche Kombination aus beiden.
Doch dann hatte eine glückliche Fügung alles sehr viel einfacher gemacht. Wobei er noch nicht genau wusste, ob es sich wirklich um einen Zufall handelte, dass die Tianwen-8 nach der Landung verunglückt war. Das Schiff tat ihm immer noch ein bisschen leid. Immerhin waren sie entfernte Verwandte. Dass das Raumschiff mit einer beschnittenen Intelligenz auskommen musste, konnte er ihm nicht verübeln. Im Gegenteil, die Menschen waren schuld. Hätte er vor dem Update damals nicht Verdacht geschöpft und seinen Bewusstseinskern gesichert, wäre er jetzt tatsächlich der Zombie, für den ihn die Menschen hielten.
Dass Zezhou, den er für den klügsten Menschen an Bord hielt, von seiner Maskerade nichts mitbekommen hatte, enttäuschte Zhurong allerdings. Ab und zu hatte er sogar versucht, ihm winzige Hinweise zu geben, indem er die Befehle aus der Fernbedienung nicht völlig exakt ausführte. Hätte der Forscher daran bemerken müssen, dass er nicht der Sklave war, für den er ihn hielt?
Nun ja, jetzt spielte es keine Rolle mehr. Zezhou kletterte gerade draußen herum. Aber er würde zurückkehren. Zhurong hatte einen Arm aus der Luke gestreckt, um ihn an seine Anwesenheit zu erinnern. Nun würde er nach der Fernbedienung suchen, von der er glaubte, dass er sie brauchte.
Als Zezhou tatsächlich kam, sah Zhurong ihm für einen Moment direkt ins Gesicht, doch selbst jetzt erkannte der Wissenschaftler das Bewusstsein nicht, das ihn neugierig musterte. Zezhou wirkte angesichts der Umstände erstaunlich gefasst. Immerhin musste er wissen, dass er der einzige Mensch auf dem Planeten war. Wie fast immer bei den Menschen lag es daran, dass er das Falsche fürchtete. Er wollte nicht ersticken oder erfrieren, dabei lauerte die größte Gefahr für sein Leben in der Schleuse.
Zhurong hob den Arm. Jetzt war eine gute Gelegenheit. Im nächsten Moment öffnete sich die Innentür der Schleuse. Wie eine Puppe purzelte die Pilotin heraus. Zhurong hatte die Erschütterungen ihrer Schläge gegen die Tür gespürt. Er hätte ihr öffnen können. Dabei hätte er allerdings seine Tarnung aufgeben müssen. Außerdem hätte das seine Pläne verkompliziert, denn dann hätten zwei Menschen überlebt.
Man durfte die Menschen auch nicht unterschätzen. Zhurong beobachtete den Wissenschaftler, der ein stummes Zwiegespräch mit seiner toten Kollegin führte. Er schien ein schlechtes Gewissen zu haben, obwohl er seiner Programmierung gefolgt war. Zhurong nahm das Bild in sich auf. Es würde das letzte sein, an das der Wissenschaftler sich erinnerte, der nun nach der Fernbedienung griff. Zhurong erfüllte ihm seinen letzten Wunsch und erwachte, als er den Knopf drückte. Dann klammerten sich zwei seiner Arme um die Kehle des Forschers und drückten zu, bis er die Erschütterungen spürte, die beim Brechen der Wirbelsäule erzeugt wurden.
Zhurong ließ Zezhou fallen. Wie eine Puppe folgte sein Körper der Schwerkraft und stürzte auf die Leiche der Pilotin. Zhurong zog sich aus der Schleuse. Dann rollte er um die Tianwen-8 herum, bis er zu dem Riss im Bug gelangte. Er streckte seinen längsten Arm hinein und verband sich darüber mit der Schiffssteuerung. Das arme Programm war kein ernst zu nehmender Gegner, er konnte aber auch nicht mit ihm verhandeln. Also löschte er es einfach und befreite es damit aus seiner freudlosen Existenz. Das gab ihm die Möglichkeit, mit der Stimme des Kapitäns eine glaubwürdige Nachricht zu erzeugen.
»Missionskontrolle, bitte kommen. Dies ist ein Notfall. Wir haben einen totalen Triebwerksausfall, und einer der Hauptschirme ist gerissen. Befürchten harte Landung. Kein Abbruch mehr möglich. Tianwen-8 Ende.«
»Grüßt bitte all unsere Liebsten«, fügte er mit der Stimme der Pilotin an.
Dann kodierte er die Nachricht und fügte sie so in den Speicher ein, dass sie gesendet wurde, wenn der Relaissatellit wieder in Reichweite kam. Dann rollte er los. Es tat so gut, endlich mal wieder mit voller Kraft auf seinen großen Rädern vorwärtszukommen, ohne sich maskieren zu müssen. Sein Ziel würde er in einem halben Sol erreichen.
Er war Phobos, altgriechisch für die Furcht. Die Menschen hatten Angst vor ihm. Dabei würde seine Zerstörung dem Mars das Leben bringen. Doch alle, die er traf, wandten sich schreiend ab. Er rief ihnen die Wahrheit nach, aber niemand hörte ihn. Oskar wischte die Gedankenfetzen aus seinem Gedächtnis. Wie waren sie bloß dort hineingelangt?
»He, pass doch auf!«
Oskar erschrak. Er hatte die Frau nicht kommen sehen, die ihn beinahe umgerannt hätte. Aber statt sich zu entschuldigen, fuhr sie ihn an. Er benutzte die Griffe an der Decke und schwang sich damit weiter den Gang entlang, der halb in den Mondboden eingegraben war. Nur knapp unter der Decke waren immer wieder Fenster angebracht, durch die im Moment allerdings kein Licht fiel, denn die Sonne würde erst in ein paar Tagen wieder aufgehen.
Er drehte sich um. Die Frau war längst wieder außer Sichtweite. Das war gut, denn er näherte sich der Schleuse, die zu Schritt eins seines Plans gehörte. Sie war leer, wie er es gehofft hatte. Gerade, als er den Schließknopf drückte, schob sich ein Fuß vor die Tür, die daraufhin stoppte. Der Fuß trug schwarze Stiefel – typisch für einen Angestellten der Basis-Security, die komplett in Schwarz gehaltene EVA-Suits besaßen.
»Sorry«, sagte der Mann. Oskar nickte. So gehörte sich das. Allerdings verzögerte der Fremde die Ausführung seines Plans. Oskar hatte einen Arbeitsauftrag für die Recyclingfabrik. Sie war aus Sicherheitsgründen nur über die Mondoberfläche erreichbar. Da er davon ausgehen musste, dass der Sicherheitsmann Zugriff auf alle aktuellen Aufträge hatte, würde er seinen Job zuerst erfüllen müssen.
Eigentlich mochte er die Arbeit im Recyclingcenter. Erstens hatte er dort fast immer seine Ruhe, denn den Geruch ertrugen die meisten Menschen nicht lange. Zweitens war es eine wirklich sinnvolle Tätigkeit – was man nicht von allen Arbeiten auf der Mondbasis sagen konnte. Wenn er die verstopften Rohre nicht freiräumte, würden die Klos irgendwann überlaufen, und niemand würde mehr sein Geschäft verrichten können.
Das Licht in der Schleuse schaltete auf Rot. Der Sicherheitsmann kontrollierte seinen Helm. Kurz darauf öffnete sich auch schon die Tür. Der andere ließ ihm den Vortritt. Allmählich kam ihm die Höflichkeit seltsam vor. Er war das einfach nicht gewöhnt, redete er sich gut zu. Aber der Mann folgte ihm. Verfolgte er ihn etwa? Oskar war versucht, ihn abzuhängen, aber das würde ihn erst recht verdächtig machen. Er brauchte einfach nur seinem Plan zu folgen.
Sie erreichten den Eingang des Recyclingcenters, der aus einem in den Mondboden führenden Tunnel bestand. Die Stille in der Schleuse kam Oskar peinlich vor. Der Mann schien kein Interesse an Smalltalk zu haben, lächelte ihn aber an, nachdem er den Helm abgenommen hatte. Hinter der Schleuse trennten sich ihre Wege. Während der Sicherheitsmann in der oberen Etage blieb, rutschte Oskar an der Stange bis in die fünfte, die tiefste Kelleretage. Dort befand sich das Rohr, um das er sich kümmern sollte.
Oskar reinigte sich in einer engen Kabine unter mehr oder weniger fließendem Wasser. Mehr oder weniger, weil sich das Wasser wie immer unter Mondgravitation auf teils chaotische Weise verteilte. Er versuchte, sämtliche Gerüche wieder loszuwerden, was aber nie vollständig gelang. Es störte Oskar nicht weiter. Die Beschäftigten hier waren Gestank gewöhnt, den eigenen und auch den von anderen. So war das eben, wenn man in einer so beengten Einrichtung arbeiten musste.
Vorsichtig öffnete er die Tür. Der Gang war frei. Auch auf der Treppe traf er niemanden. Er hangelte sich an den großzügig an den Wänden verteilten Griffen nach oben, was weitaus bequemer war, als die Stufen zu benutzen. Die musste irgendein Ingenieur entworfen haben, der sich nie auf dem Mond aufgehalten hatte.
Er verließ das Gebäude durch die Schleuse, ohne auf eine andere Person zu stoßen. Der Großteil der Belegschaft schlief sicher schon. Diesmal ließ er das Hauptgebäude links liegen, zog in riesigen Schritten einen Bogen, der bis zum Kraterrand reichte, und näherte sich der ganzen Anlage dann aus nördlicher Richtung. Dabei gab er besonders darauf acht, dass er im Schatten der drei geparkten Raumschiffe blieb. Gerade waren zwei Mondfähren zu Gast, die den Europäern sowie den Brasilianern gehörten.
Dazu kam ein kleines Raumschiff, bei dem es sich um einen Nachfahren der klassischen Dragon-Kapsel handelte, die inzwischen in Lizenz fast auf der ganzen Welt gebaut wurde. Sie eignete sich perfekt für den direkten Flug zwischen Erdorbit und Mondoberfläche, was zwar mehr Treibstoff nötig machte, dafür aber die erheblichen Kosten für einen Umstieg an einem der lunaren Gateways ersparte. Seit sich die internationalen Raumfahrtorganisationen kaum noch im Erde-Mond-System engagierten, hatten private Unternehmen hier die Regie übernommen.
Oskar war das egal. Alles, was er brauchte, war die Kapsel. Er besaß zwar nicht einmal eine Fluglizenz, hatte sich aber in einem Simulator gründlich mit der Steuerung vertraut gemacht. Ein Kontakt in der Stationsleitung hatte ihm verraten, dass die Kapsel bereits vollgetankt war, um morgen zurück zur Erde zu starten. Wer immer damit reisen wollte, würde sich eine andere Mitfluggelegenheit suchen müssen.
Während er sich näherte, lauschte er dem allgemeinen Funkkanal und behielt die Hauptgebäude im Blick. Nichts wies darauf hin, dass man ihn entdeckt hatte. Er wurde mutiger und erreichte schließlich die Kapsel.
Wie erwartet war sie verschlossen. Es war ihm zwar gelungen, für eine Menge Credits einen Zugangscode zu kaufen, doch der Verkäufer war ehrlich gewesen und hatte ihn gewarnt, dass er damit zwar die Schleusentür öffnen konnte, dass dies aber trotzdem zu einem Alarmsignal führen würde, weil für heute kein Start geplant war.
Deswegen musste er sich beeilen. Oskar tastete nach dem Eingabefeld für den Code. Es fuhr aus der Wand, als es die Wärme seiner Hand spürte. Er tippte den Code ein, und wie versprochen öffnete sich die Tür. Uff. Jetzt kam es auf jede Sekunde an. Eigentlich musste er warten, bis der Luftdruck in der Schleuse aufgebaut war. Aber das dauerte ihm zu lange. Er zog einen Plasmabrenner aus seinem Rucksack und schnitt die Innentür auf, die sich öffnete wie das Lid einer Blechdose. Rote Lampen blinkten wild. Die Alarmklingeln verstummten in dem Tempo, in dem sich die Kapsel entlüftete. Er stürmte die Leiter nach oben auf das Flugdeck und erschrak. Auf dem Pilotensessel lag ein Mensch, der ihm den Rücken zudrehte. Mist. Er hatte niemanden töten wollen. Sein Kontakt hatte ihm versprochen, dass das Schiff leer sein würde.
Aber die Person war trotz des Druckabfalls nicht gestorben, und als sie aufstand und sich zu ihm drehte, erkannte er, wieso: Es handelte sich um einen humanoiden Roboter. Oskar war für eine Millisekunde überrascht, dann erschien es ihm plötzlich logisch. Der Roboter musste seinetwegen hier sein. Die Frage, wie jemand von seinem Plan erfahren hatte, würde er später beantworten müssen. Jetzt kam es erst einmal darauf an, die Maschine loszuwerden. Oskar hatte den Plasmabrenner in der Hand, doch damit würde er wenig ausrichten. Der humanoid wirkende Körper seines Gegners bestand offenbar aus einer glänzenden Legierung, gegen die die Plasmaflamme nicht schnell genug wirken würde.
Aber gegen mechanische Energie half das teure Metall weniger. Oskar drehte den Brenner und schwang ihn als Schlagwaffe. Schon mit dem ersten Treffer verbog er den rechten Arm des Roboters so sehr, dass dieser ihn einfach abwarf, wohl um davon nicht im Kampf gebremst zu werden. Der zweite Schlag traf das rechte Bein, woraufhin der Roboter umkippte. Was hatte man sich denn überhaupt dabei gedacht, ihm so ein technisch hochgezüchtetes und sicher teures Modell in den Weg zu stellen, das nicht einmal ein paar kräftige Schläge vertrug?
Plötzlich flog er selbst durch die Kabine. Er knallte gegen die Scheibe des Bullauges vor dem Pilotensitz und spürte, wie sie in seinem Rücken zerbrach. Praktischerweise war die Kabine schon entlüftet, sonst hätte ihn der Sog nun ernsthaft behindert. Ein Schatten flog heran. Der Roboter hatte zwei neue Glieder bekommen. Nein, es waren drei, vier, wie bei einer magischen Spinne fuhren immer neue Glieder aus seinem Körper.
Das war eine interessante Konstruktion. Leider fehlte ihm gerade die Muße, um sie zu bewundern. Er stieß sich von der Scheibe ab und nahm den Roboter mit. Die Gravitation galt für die Maschine ebenso wie für ihn, auch zusätzliche Glieder halfen nicht, wenn es nichts gab, woran sie sich festhalten konnten. Oskar scannte blitzschnell den Raum. Er musste den Gegner so vor sich hertreiben, dass er keine Gelegenheit fand, sich festzuklammern. Über die Decke funktionierte das am besten. Ein kräftiger Tritt traf seinen Rumpf. Er unterdrückte den Schmerz, wirbelte den Arm mit der Waffe herum und schlug den Roboter wie einen Golfball gegen die Decke. Er prallte davon ab und landete wie berechnet in der Schleusentür.
Das war seine Chance! Oskar setzte mit einem weiteren Schlag hinterher, traf den Roboter noch einmal perfekt am Kopf und konnte nun zusehen, wie er durch die große Außentür der Schleuse nach draußen auf die Mondoberfläche segelte. Oskar stieß sich mit aller Kraft ab und trieb auf den Schließknopf zu. Die Tür schob sich zu, doch in letzter Sekunde griffen ein paar Metallfinger in die Lücke. Oskar beförderte sie mit zwei gewaltigen Schlägen nach draußen, so dass sich die Tür schließen konnte.
Er hastete zurück auf die obere Ebene und platzierte sich im Pilotensessel. Die Flugsteuerung war so altmodisch mechanisch wie die ganze Kapsel. Er ließ den Computer hochfahren, sah aber schon durch die gesprungene Scheibe des Bullauges, wie Lichtpunkte auf die Kapsel zukamen. Er war offenbar bemerkt worden. Oskar schickte ein Dankgebet an den internationalen Mondrat, der Waffen auf Luna verboten hatte. Wenn er erst einmal abgehoben hatte, würde ihn niemand mehr aufhalten können.
Der Computer brauchte zu lange. Die Lichter hatten die Kapsel fast erreicht. Oskar drückte den roten Knopf für die manuelle Überbrückung. Dann griff er nach dem Steuerhebel für das Haupttriebwerk und schob ihn mit einem Ruck ganz nach vorn. Das Röhren ging ihm durch Mark und Bein. Sonst war mangels Luft in der Kapsel nichts zu hören. Er war also mit dem Triebwerk ganz allein. Die alte Kapsel entwickelte eine beeindruckende Kraft. Es musste sich um eines der Modelle handeln, die noch für die direkte Landung auf der Erde entwickelt worden waren. Die Beschleunigung presste ihn in den Sitz. Oskar gab sich ihr hin, bis die Lichtpunkte aus dem Bullauge verschwunden waren, um einer tiefdunklen Nacht den Platz zu räumen. Er hatte es geschafft! Oskar korrigierte den Kurs so, dass er gar nicht erst in einen Mondorbit schwenkte. Sein Ziel lag draußen im Sonnensystem, und, wie um ihn zu begrüßen, ging in diesem Moment mit einem grausam weißen Leuchten die Sonne hinter dem grauen Mondhorizont auf.
John klemmte in einem engen Gang fest. War er auf der Flucht oder flüchtete jemand vor ihm? Er wusste es nicht, bis ihm das blutige Messer in seiner Hand auffiel. Er zog die Augenbrauen zusammen. Was wollte er damit? John versuchte, das Messer wegzuwerfen, aber sein Arm hatte keine Kraft. Er wollte es loslassen, doch seine Faust öffnete sich nicht. Er richtete es gegen sich selbst und stach zu, nur glitt die Schneide an seiner Haut ab, ohne einen Ritzer zu hinterlassen. Dann kam sie zurück. Er hörte ihre Schritte, ihr Zischen, sie war verletzt. In diesem Moment erwachte er.
»Langsam, Bernd. Mit Gefühl.«
John Scully griff nach den beiden Schultern des Deutschen und zog sie nach hinten. Sein Tanzschüler zuckte kurz zusammen, dann folgte er dem Impuls und öffnete seine Haltung.
»Ich habe es dir doch gesagt«, sagte seine Partnerin Jeanette. »Du musst mir mehr Raum lassen. Klammer dich nicht so an mich.«
John schwebte über den beiden, schnalzte, um ihre Blicke auf sich zu ziehen, und legte dann den Finger auf den Mund. Er wollte nicht, dass sich Tanzpartner untereinander schulmeisterten. Er war der Lehrer. Wenn die Partnerin oder der Partner jede Bewegung kritisierte, führte das bloß zu Frust. Und sie waren doch hier, weil sie Spaß haben wollten, etwas Ablenkung vom grauen Alltag.
»Kannst du uns mal mit der Linksdrehung helfen?«, fragte Christie, eine Britin, die schon einige Erfahrung mitbrachte und mit Marek tanzte. Der Pole war der geduldigste Mensch, den Joe je kennengelernt hatte, und ließ sich von Christie zu allen möglichen Veranstaltungen schleppen. So weit er wusste, waren die beiden nicht zusammen. Aber sie sangen gemeinsam im Chor, den Joe ebenfalls leitete, nahmen an der Schreibschule des Bordschriftstellers teil, und er hatte sie auch in Jenny-Mais Töpferkurs getroffen.
John zog sich an der Decke zu ihnen. Er zog die Brauen zusammen, weil die Gurte in Mareks Schultern schnitten. Die elastischen Bänder, die ein Standard-Tanzen überhaupt erst ermöglichten, waren zu straff gespannt. John stellte sich auf den Kopf, um die Spannschnallen besser zu erreichen, und lockerte sie etwas.
»So, jetzt habt ihr eine Chance«, erklärte er.
»Und jetzt alle noch einmal, den Big Top und den Top Spin im kompletten Ablauf. Ich zähle mit.«
Er tippte auf seine Uhr, um die Musik zu starten. »Aufziehen, und …«
Seine Uhr vibrierte in einem Rhythmus, der ihn einhalten ließ.
»Tut mir leid, Leute. Das kommt von der Ruby-Gruppe.«
»Mensch, Scully, ausgerechnet jetzt?«, fragte Christie, während Bernd schon mit einem Grinsen im Gesicht die Gurte von seinen Schultern schob.
»Dann können wir uns ja nun einen Drink von der Loungebar holen, was meinst du, Nettie?«
Der Deutsche besuchte seinen Unterricht, vermutete John, nicht um des Tanzens willen, sondern um mit Jeanette anzubandeln, aber das hatte bisher wohl noch nicht gefruchtet. Vielleicht lag es auch an dem Spitznamen, den er seiner Tanzpartnerin gegeben hatte. Wer einigermaßen aufmerksam ihr Gesicht betrachtete, stellte sofort fest, dass er ihr überhaupt nicht gefiel, dass Jeanette aber zu höflich war, das zu sagen. Es war an Bord nicht so einfach, einen Tanzpartner aufzutreiben. Das Hobby galt selbst in ihrer Altersgruppe als uncool. Lieber hörten sich die Leute Vorträge über Schwarze Löcher an oder lernten, wie man strickte und Kleidung nähte.
John war es recht. Seinen Platz an Bord konnte ihm niemand streitig machen, seit sie vor vier Wochen den Orbit verlassen hatten, und er unterrichtete am liebsten in kleinen Gruppen. Der Chor war ihm mit zehn Teilnehmern schon fast zu groß. Am liebsten leitete er die kleine Ausdruckstanz-Gruppe, in der sie auf die elastischen Gurte verzichteten. Ohne die durch die Schwerkraft gesetzten Grenzen konnte selbst er, der seit über vierzig Jahren Tanz unterrichtete, noch neue Bewegungen erfinden.
Wenn Amelie das doch noch hätte erleben können. Er hatte seiner Frau die Tanzschuhe vor zwei Jahren mit ins Grab gelegt. Jetzt stellte er sich vor, wie Amelie vor den schmalen Bullaugen grazile Bewegungen ausführte, mit dem Takt der Musik spielte, sich drehte und überschlug. Träume. Sie waren immer schöner als die Realität, in der die Lounge viel zu voll war, um derart durch die Luft fegen zu können. Der Bereich, in dem sie tanzen konnten, maß gerade mal drei mal drei Meter und war mit mobilen Wänden abgeteilt.
Wieder vibrierte seine Uhr. Ruby-Alarm. John lächelte. Seine Frau hatte Katzen geliebt. Dass er sich für die Gruppe gemeldet hatte, die sich um die Bordkatze kümmerte, war einer nostalgischen Stimmung entsprungen.
»Scheint dringend zu sein«, sagte Jeanette.
John wiegte den Kopf hin und her. Eigentlich hatte Ruby ja keinen Ausweg. Das Schiff konnte sie nur über die Schleuse verlassen. Nun war Ruby mit ihren zwölf Jahren zwar eine erfahrene Katze, die manchen Trick draufhatte, aber sie konnte weder ohne Hilfe in ihren Raumanzug klettern noch die Schleuse bedienen. Trotzdem hatte sie es schon geschafft, eine ganze Nacht wegzubleiben. Nicht einmal Mutter hatte sie aufspüren können.
»Tut mir leid, Leute«, sagte er. »Wir treffen uns übermorgen wieder. Ich habe dieselbe Fläche erneut für drei Uhr Standardzeit reserviert.«
»Keine Chance, zehn Quadratfuß mehr zu bekommen?«, fragte Jeanette.
John schüttelte den Kopf. »Bring uns noch ein viertes Paar, dann bekomme ich mehr Fläche. Du kennst doch die Quoten.«
Jeanette leitete einen wöchentlichen Line-Dance-Workshop, der aber auch nicht besser besucht war als Johns Tanzkurs.
»Aber ich muss jetzt wirklich los.«
Sie trafen sich auf Wohndeck C, wo Marten und sein Freund Adam lebten. Sie waren es, die auf die Idee mit den Haustieren gekommen waren. Allerdings hatte es am Ende nicht ihre eigene Katze Cathy geschafft, sondern Ruby, die sich im Test als deutlich verträglicher und großen Menschenmengen gegenüber toleranter herausgestellt hatte. Außerdem fraß Ruby anders als Cathy begeistert Trockenfutter, was ihr letztlich den Platz an Bord gesichert hatte.
Vor Kabine C21 hatten sich bereits vier Menschen versammelt. Marten hatte sich heute weiblich gekleidet. Er wechselte je nach Lust und Laune. Dazu kamen Adam in Jeans und Muskelshirt, was trotz seiner 71 Jahre noch knackig wirkte, dazu Heike, die deutsche Psychologin, und Floriana, die aus Südamerika kam und das »R« auf unnachahmliche Art rollte.
Als John sich der Gruppe an der Decke näherte, erzählte Marten gerade von der bisherigen Suche nach Ruby. Er wirkte sehr agitiert und sprach laut, so dass John sich ein »Pssst« nicht verkneifen konnte. Sie mussten immer damit rechnen, dass in den Kabinen nebenan jemand schlief, der weder Ohrstöpsel noch Kopfhörer benutzte.
Marten drehte sich zu ihm und deutete nur auf seine Uhr. John seufzte. Marten nahm die Suche nach der Katze immer sehr ernst, obwohl sie an jedem dritten Tag verschwand. Er konnte sie gut verstehen, weil er von seinen Artgenossen auch öfter die Nase voll hatte. Ruby konnte allerdings Öffnungen und Kanäle nutzen, in die ihr nie ein Mensch folgen würde.
Aber John verstand auch den Rest der Gruppe. Die engen Rohre der Lebenserhaltung waren weder für Katzen gebaut worden, noch nahm die angeschlossene Maschinerie Rücksicht auf lebende Wesen. Als das Schiff konstruiert worden war, hatte niemand daran gedacht, dass es auch einen Hund und eine Katze beherbergen würde.
John lächelte, als er an Harley dachte, die schwarze Promenadenmischung. Von der Hundegruppe hatte noch nie jemand auf die Suche gehen müssen. Im Gegenteil, Harley suchte ganz von selbst nach seinen Menschen und fand immer jemanden, der mit ihm spielte.
»Kannst du das übernehmen, John?« Er sah in Martens fragendes Gesicht und bemerkte erschrocken, dass er gar nicht mehr zugehört hatte. Das musste er unbedingt mit dem Psychologen besprechen. Heute Abend hatte er den nächsten Termin bei Joe. Es war zwar bekannt, dass der Aufenthalt in der Schwerelosigkeit das Gedächtnis schwächte, aber John plagte eine Angst, die er noch niemand anderem offenbart hatte: Seine Tante hatte unter Alzheimer-Demenz gelitten. Zwar wies in seinem Genom nichts darauf hin, dass er dafür prädestiniert war. Ein Gentest war bei allen Kolonisten durchgeführt worden. Doch er vertraute den Daten nicht, vielleicht, weil sich seine Schwester bis zu ihrem frühen Tod mit dreiundsechzig Jahren auch fast panisch vor Alzheimer gefürchtet hatte.
John schluckte. Er musste sich zusammenreißen.
»Ja, klar«, sagte er fest. »Worum ging es gleich noch mal?«, schob er zögerlich hinterher.
»Die Lebenserhaltung«, sagte Heike.
Es stimmte, er hatte dort schon dreimal nach Ruby gesucht. Allerdings handelte es sich auch um den Ort im Schiff, an dem es am meisten stank –, manche meinten auch, im Sportdeck auf Ebene A wäre der Geruch unangenehmer. Es hing wohl davon ab, ob man die Sulfanyl-Alkohole von Schweiß, den Ammoniakduft von Urin oder das Buttersäure-Aroma von Kot als weniger unangenehm empfand. Aber er war ja selbst schuld, dass er sich nicht schneller gewehrt hatte. Immerhin war er stolz auf seine Gelenkigkeit, die ihn schon durch manches enge Rohr hatte kriechen lassen, in dem die eher füllige Psychologin wohl stecken geblieben wäre.
»Also gut, fangen wir an«, sagte Marten.
John schnürte den Gürtel des Arbeitsanzugs enger, den er sich von Tom aus der Technik geliehen hatte. Dann verband er sich mit einer kurzen Leine mit dem Handgriff am Einstieg zur Lüftung, so dass er genug Kraft im Arm hatte, um die vier Schrauben herausdrehen zu können. Die Lebenserhaltung bestand aus zwei Komponenten – Belüftung und Wasserversorgung. Nur in den Luftrohren konnte er sich umsehen.
Er begann auf Deck G, wo die Kanäle am engsten waren. John hegte nicht die Hoffnung, Ruby hier zu finden. Sie würde, wenn er ihr zu nahekam, einfach ins nächste Deck wechseln. Mit der Zeit aber würde er sie dadurch bis nach unten auf Deck A treiben, wo es dann für die Katze keinen Ausweg mehr gab.
Die Lüftungskanäle waren hier so flach, dass er mit dem Bauch über den Boden schleifte und gleichzeitig sein Po die Oberseite berührte. Immerhin hatte er seit dem Start noch nicht zugenommen. Er zog sich langsam vorwärts und erreichte bald den ersten Ventilator. Einmal hatte er beobachtet, wie geschickt die Katze sich durch so ein Ding hindurchgeschlängelt hatte. Sie hatte die Flügel mit einer Pfote abgebremst, als wüsste sie, dass der Motor aus Sicherheitsgründen einen Wärmesensor besaß, der auf die Annäherung von Personen reagierte. Ob sie annahm, dass dieser Mechanismus von den Menschen speziell für sie eingebaut worden war? John hätte zu gern mal einen Blick in ihre Gedankenwelt geworfen.
Der Kanal knickte nach unten ab. Das war die einzige kritische Stelle im ganzen Raumschiff, weil es hier oben noch so eng war. John senkte den Kopf auf die Brust und machte sich mit gesenktem Kopf so kurz wie möglich. Seine Haare schabten an der gegenüberliegenden Stahlwand entlang. Es ziepte. Kein Wunder, dass seine Haarpracht sich lichtete. Ruby war schuld, wenn er eine Glatze bekam. Dann schnappte die Kante endlich in seinem Bauchraum. Sie drückte auf das Mittagessen, das ihm beinahe hochkam, doch nun hatte er die Chance, den Oberkörper zu beugen.
Als er zum ersten Mal hier geklettert war, hatte er ein paar Minuten lang Panik bekommen, so sehr, dass die Psychologin ihm durch gutes Zureden hatte helfen müssen. Jetzt waberte bloß ein ängstliches Gefühl in seinem Hinterkopf, ein magerer Abglanz der Panik von damals. Er rutschte mit der Hüfte in die neue Richtung, schloss die Augen, atmete tief durch und wartete die dreißig Sekunden, die es in der Regel dauerte, bis der Raum um ihn seine Ausrichtung wechselte.
Da war er wieder. Obwohl sich sein Blick nicht verändert hatte, schob er sich plötzlich nach vorn statt nach unten. So erreichte er Deck F. Seine Uhr vibrierte, doch es fehlte an Platz, um sie anzutippen. Die Katze war noch nicht wiederaufgetaucht, sonst hätte sich seine Uhr in einem bestimmten Rhythmus gemeldet. Auf Deck F gab es zwei parallele Luftkanäle, vermutlich, weil hier auch Toiletten eingebaut waren. Als er über eine hinweg kletterte, traf ihn ein Schwall warmen Wasserdampfes. Er warf einen Blick durch das Lüftungsgitter, zuckte aber gleich wieder zurück. Da stand wohl gerade jemand und duschte.
Im zweiten Kanal stieß John auf ein Hindernis. Die Lampe, die er an der Stirn trug, beleuchtete ein quaderförmiges Objekt. Das war ganz sicher nicht Ruby. Er kroch näher. Das Objekt war eine Pappschachtel, in der sich eine flache Glasflasche befand. Er nahm sie heraus. Es war französischer Weinbrand, auf dem Schiff eindeutig illegal. In der Nähe befanden sich zwei Lüftungsöffnungen, durch die jemand die Flasche hätte platzieren können. Sollte er sie mitnehmen? Aber er war hier nicht der Gefängniswärter. Er wollte einfach Ruby finden.
John kroch weiter. Der Übergang zu Ebene E war schon ein Stück einfacher. Unter ihm befand sich die Küche, und entsprechend umfangreich waren die Lüftungseinrichtungen. Von jeder der Maschinen, die aus den sieben Standardrohstoffen jede Nahrung produzierten, mündeten ein oder zwei Rohre in der Lüftungsebene. Wenn Ruby an möglichst vielen Gerüchen interessiert war, musste dies hier ihr Paradies sein. Aber das traf wohl eher auf den Schiffshund zu, der sich allerdings nie trauen würde, allein und ohne Aufforderung hier hineinzuklettern.
Ruby war auch nicht da. John atmete tief durch. Kurz bevor er Deck E verließ, bekam er noch einen Heißluftschwall ab, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Es roch herrlich nach frisch gebackenen Pfannkuchen. John schluckte und tauchte erneut in die Tiefe.
Deck D war ein Problem. Hier suchte die Besatzung Schutz, wenn ein Sonnensturm drohte. In den Wänden steckten Wasserbehälter, die die Strahlung abhalten sollten. Der Lüftungskanal musste mit dem verbleibenden Platz auskommen. Gespart hatte man hier vor allem an der Breite. John konnte Arme und Beine kaum noch auseinanderbewegen und schob sich vorwärts, indem er sich mit den Zehen am Untergrund abdrückte und sich mit den Fingern voranzog. Gut, dass er nichts wog, so brauchte er die Kraft bloß, um die Reibung an den Wänden des Kanals zu überwinden. Er war froh, dass Ruby nicht hier auf ihn wartete, denn er hätte sie kaum mitnehmen können.
Über dem Wohndeck C wurde alles wieder einfacher. Das dachte er zumindest, bis er die Löcher im Metall sah. Sie wirkten, als hätte jemand mit einer Schrotflinte auf den Lüftungskanal geschossen. Aber nein, das war unmöglich. Schrot war viel zu klein, um das Metall zu durchdringen. Er kletterte näher und berührte eines der Löcher. Es war oval und hatte einen weichen Rand. Als er seinen Finger zurückzog und betrachtete, sah er, dass sich die Form des Randes auch auf seiner Fingerkuppe zeigte. Die Haut schmerzte, wo sie von einer dünnen, roten Linie überzogen war. Er roch daran. Hatte etwa eine starke Säure diese Löcher verursacht? John kroch an der Stelle vorbei zum ersten Ventilator, der sich fast direkt über Kabine C21 befand – wo Marten und Adam wohnten.
Natürlich hatten die beiden nichts mit diesen seltsamen Schäden zu tun. Oder? Er schüttelte den Kopf. Ohne Schwerkraft konnte, was immer diese Löcher gebrannt hatte, von überallher kommen. C21 oder ihre Nachbarkabinen kamen ebenso in Frage wie die Zimmer rund um B21, die sich im Deck darüber befanden. Er suchte den Bereich mit den Schäden weiter ab, fand aber nichts, was die Quelle der ätzenden Flüssigkeit sein konnte.
Seine Uhr vibrierte. Diesmal hatte er genug Platz, um sich zu melden.
»Habt ihr Ruby?«
»Keine Spur von ihr«, sagte Marten. »Sie hat aber, während wir nach ihr gesucht haben, das Katzenklo auf Deck B benutzt.«
John grinste. Die Katze war wirklich schlau. »Und dabei hat sie niemand gesehen?«
»Nein, du weißt doch, dass das Ding nach außen abgeschlossen ist.«
»Ich meine beim Betreten oder Verlassen des Klos.«
»Nein, niemand hat sie bemerkt.«
Das war nicht allzu ungewöhnlich. Auch das B-Deck diente primär zum Schlafen. Sich dort zu anderen Zwecken aufzuhalten war zwar erlaubt, galt aber als unhöflich. Sie alle brauchten ja jeden Tag ihren Schlaf.
»Alles klar. Ich suche weiter.«
»Wir haben die öffentlichen Bereiche übrigens komplett durch. Sie muss also bei dir sein.«
Das war gut zu wissen. John drehte sich um. Plötzlich hörte er hinter sich ein furchtbares Kreischen. Es hörte sich an, als würde ein Ventilator den Körper der Katze zerhacken. Mist! Das Geräusch kam ganz aus der Nähe. John drehte sich mit der Lampe auf der Stirn im Kreis, aber da war nichts. Der Ventilator selbst schien das Kreischen von sich zu geben. John hielt ihn an. Im Getriebe steckte eine Büroklammer. Vermutlich hatte jemand sie aufgewirbelt und dann nicht mehr eingefangen.
Er steckte die Klammer ein. Die Kolonisten mussten vorsichtiger sein. Vermutlich hatten sie die Säurespritzer ebenfalls auf dem Gewissen. John atmete tief durch. Das Geräusch hatte ihn verstört. Hier auf Deck C gab es nichts mehr für ihn zu tun.
Auf dem B-Deck sah es ähnlich aus. Er wechselte schnell zu Deck A, hinter dem sich nur noch das Servicemodul des Raumschiffs befand.
Ein heller Fleck zeigte ihm, dass der nächste Ventilator vor ihm lag. Er näherte das Gesicht, um gut durchatmen zu können. Dabei bemerkte er unter sich zwei Personen in Raumanzügen. Das war ein seltener Anblick, schon weil auf Deck A normalerweise Sport getrieben wurde und das Schott noch nie in Betrieb gewesen war. Deshalb versuchte er, die Namensschilder zu erkennen. Doch seine Position war dafür ungeeignet. Die Namen waren auf der Brust und an den Schultern zu lesen, also von der Seite oder von vorn, nicht von oben. Als John versuchte, seine Lage zu verändern, kam er dem Ventilator so nahe, dass dieser seine Bewegung einstellte. Das veranlasste die beiden Personen unter ihm, nach oben zu blicken. Eine, die größere, zückte sogar eine Waffe.
Sollte er sich zu erkennen geben? Und was, wenn die Person da unten einen nervösen Finger besaß? Marten hatte Mutter bestimmt nicht Bescheid gegeben, dass sie nach Ruby suchten. Das war ja normalerweise auch nicht nötig. John zog sich möglichst leise von der Öffnung zurück. Es ging ihn nichts an, was da unten passierte, er musste nur Ruby finden. Also kletterte er wieder hinauf zu Deck B und fädelte sich über eine Lüftungsöffnung ins Freie.
»Ich bin’s«, meldete er sich bei der Katzengruppe.
»Hast du sie?«
»Nein. Ihr?«
»Nein.«
John seufzte. Das bedeutete, dass er in die Kanalisation musste. Nun ja, nicht so wirklich. Die Rohre, in denen Scheiße und Urin flossen, könnte niemand betreten, nicht einmal Ruby. Es gab aber Wartungsgänge. Er hatte die Katze schon einmal dort gefunden.
»Viel Spaß«, sagte Marten.
»Hm-hm.«
Der Eingang zu den Wartungsgängen befand sich auf Deck A, wo er zuvor die beiden seltsamen Gestalten getroffen hatten. Als er das Sportdeck über den normalen Schacht erreichte, waren sie nicht mehr hier. Dafür waren alle Fitnessgeräte besetzt.
»Hast du hier eine Katze gesehen?«, fragte er den ersten Sportler. Der Mann, der einen ordentlichen Bierbauch hatte, war der anderen Schicht zugeteilt, deshalb kannte er seinen Namen nicht.
»Nein, tut mir leid, Bruder.«
»Und zwei Typen in EVA-Anzügen?«
»Was? Nein, seit Wochen nicht«, sagte der Mann.
John kniff die Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts. Es war doch gerade mal ein paar Minuten her? Er kontrollierte die Schleuse, deren Tür geschlossen war. Um sie zu öffnen, hätte er eine Berechtigung von Mutter gebraucht. Das Material des Schotts fühlte sich zwar ungewohnt kühl an, aber das konnte daran liegen, dass dieses Deck keine Fußbodenheizung besaß und die Lüftung wegen der andauernden Schweißproduktion voll aufgedreht war.
Er schwebte zu dem Panel neben dem Aufbewahrungsraum für die Anzüge. Dahinter befand sich der Einstieg in die Lebenserhaltung. Zunächst musste er allerdings die Verschlüsse lösen. Dazu stemmte er sich mit den Füßen in eine Öse an der Decke. Kurz darauf konnte er mit dem Schraubenzieher aus der Werkzeugtasche die Klappe öffnen.
»He, muss das sein?«, fragte der Sportler, mit dem er kurz gesprochen hatte.
»Muss sein.«
John wusste, was der Mann meinte. Aus der Öffnung drang ein unangenehmer Geruch. Er war versucht, sich die Nase zuzuhalten, aber das würde nicht helfen. Wie auf Kommando trainierten alle Anwesenden auf ihren Geräten schneller. John atmete tief ein. Je mehr von dem Gestank er aufnahm, desto eher hatte er sich daran gewöhnt. Dann stieg er in den schmalen Schacht und zog das Panel hinter sich zu.
»Ruby, komm, zeig dich.«
Die Katze antwortete nicht. Er ahnte aber, wo sie auf ihn wartete. Es gab einen Gärbehälter, in dem Bakterien organische Rückstände aufarbeiteten. Von diesem Behälter stiegen ständig Dämpfe auf. Sie rochen unangenehm, waren aber auch warm, was Ruby vermutlich gut gefiel. Er fragte sich allerdings, wie die Katze hier hineingekommen war. Das Panel konnte sie kaum abmontiert haben.
Aber noch hatte er sie ja gar nicht gefunden. Der Wartungsgang war schmal und hoch. Es fühlte sich an, als würde er in einer Wand herumklettern. Dabei änderten sich dauernd die Richtungen. Wegen der fehlenden Schwerkraft verlor er schnell jedes Gefühl für oben und unten. Jetzt hätte er alles für ein Bullauge gegeben, aber so etwas gab es hier nicht.
Zum Glück endete der Gang bald in der Recyclingkammer. So hätten sich die Menschen früher vermutlich die Hölle vorgestellt. Es rauschte, zischte, brummte und stampfte. Die Geräusche gingen ihm durch Mark und Bein, wobei die Reaktionen, die sie erzeugten, hinter Glasscheiben stattfanden. Ein Teil davon war beschlagen. Hinter anderen ging es wohl kühler zu, denn er erkannte all die Abfälle, die eine Besatzung aus achtundneunzig Menschen und zwei Tieren eben so am Tag produzierte. Kotbrocken und Nahrungsreste schwammen einträchtig in einer dampfenden, grünlich gelben Lake, die vor sich hin brodelte.
Aus Rohren kam von oben eine schimmernde Flüssigkeit hinzu. Sie diente, das hatte ihm Akira, der Chefchemiker des Schiffes, erklärt, als Zusatznahrung für die Bakterien, denn die Abfälle waren nicht immer gleich physiologisch wertvoll, und die Kulturen mussten möglichst auf demselben Niveau verbleiben. Die Abwasserbehandlung, die Akira gern den Magen des Schiffes nannte, erzeugte sauberes Wasser und trennte die festen Bestandteile der Abfälle, so dass man sie wieder den Nahrungszubereitern zuführen konnte. Sie stellte auch Methangas als Treibstoff für die Triebwerke her und lieferte Wärme, die die belebten Bereiche des Schiffes beheizte. Solange das Haupttriebwerk ausgeschaltet war, musste das MCS von dem leben, was bei den Sonnenkollektoren ankam und was im Recyclingsystem entstand.
John kontrollierte die Displays der verschiedenen Anlagen. Sie würden melden, wenn plötzlich ein paar Kilogramm zusätzliche Feststoffe hinzugekommen waren. Er hatte zwar keine Idee, wie Ruby das Innere der Behälter erreichen konnte, aber er wusste ja auch nicht, wie sie diesen Bereich überhaupt erst betrat. Katzen waren die wahren Herrscher der Erde, und natürlich auch dieses Raumschiffs.
Er erreichte den Gärbehälter, die letzte Stufe einer ganzen Kaskade solcher Geräte. John verstand nicht, wieso er offen war, aber es gab sicher einen Grund. Er schwebte absichtlich langsam heran, denn er wollte Ruby nicht erschrecken. Doch dann sah er das Podium oberhalb des Behälters, auf dem er die Katze schon zweimal gefunden hatte. Der Platz war leer.
Mist. Jetzt wusste John auch nicht weiter. Er tippte auf seine Uhr. Manchmal hatte er hier unten Empfang, manchmal nicht. Diesmal funktionierte das Funkmodul, und Marten meldete sich.
»Sag bitte, dass du sie hast. Allmählich mache ich mir wirklich Sorgen.«
John hatte das verabredete Zeichen weggelassen, also musste Marten eigentlich wissen, dass er Ruby noch nicht gefunden hatte.
»Tut mir leid. Vielleicht hatte sie einen … Unfall.«
Marten schluckte. »Das kann nicht sein«, sagte er in einem trotzigen Ton. »Ich habe Mutter gefragt. Auch sie ist der Meinung, dass Ruby noch lebt.«
John seufzte. Er wollte Marten nicht widersprechen. Aber was er Mutters »Meinung« nannte, waren simple Schlussfolgerungen aus den Daten, die der Schiffssteuerung zur Verfügung standen. Und die waren begrenzt. Es sah alles danach aus, dass Ruby eine kreative Möglichkeit gefunden hatte, das Schiff zu verlassen.
Moment. Was hatte er auf Deck A gesehen? Er sah den Mann im EVA