Marsianischer Zeitsturz - Philip K. Dick - E-Book

Marsianischer Zeitsturz E-Book

Philip K. Dick

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Beschreibung

Eine Siedlung auf dem Mars, ein hochbegabtes Kind, das Zeitbrüche aufspürt, eine eingeborene Bevölkerung, die verstanden hat, dass sich auf dem Mars die Zeit nicht linear, sondern in Schleifen bewegt. Eine zentrale Macht, die alles für sich will, und der Einzelne, der gefangen in der Realität, langsam einen befreienden Ausblick auf die Wahrheit erhascht. Wie in einem Brennglas versammelt ›Marsianischer Zeitsturz‹ (1964) die vielen Aspekte von Philip K. Dicks Vision. »Philip K. Dick war der Dostojewskij, der große Fragende, der zweifelnde Prophet der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.« Paul Williams

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Philip K. Dick

Marsianischer Zeitsturz

Roman Fischer Klassik PLUS

Aus dem Amerikanischen von Michael Nagula

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Aus den Tiefen des Luminalschlafs heraus hörte Silvia Bohlen etwas rufen. Jäh zerriss es die Schichten, in denen sie versunken war, und beschädigte den perfekten Zustand des Nichtselbst.

»Mom«, rief ihr Sohn wieder von draußen.

Sie richtete sich auf und nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas neben dem Bett; sie setzte die bloßen Füße auf den Boden und stand mühsam auf. Uhrzeit: Punkt halb zehn. Sie fand ihren Morgenrock und trat ans Fenster.

Ich darf nichts mehr davon nehmen, dachte sie. Es war besser, dem schizophrenen Prozess nachzugeben und sich dem Rest der Welt anzuschließen. Sie zog die Fensterjalousie hoch; das Sonnenlicht mit der vertrauten trüben Rotfärbung füllte ihren Gesichtskreis aus und machte es ihr unmöglich zu sehen. Sie hob die Hand und rief: »Was gibt’s, David?«

»Mom, der Kanalschiffer ist da!«

Also musste heute Mittwoch sein. Sie nickte, drehte sich um und ging unsicher aus dem Schlafzimmer in die Küche, wo es ihr gelang, die gute alte robuste Kaffeekanne von der Erde aufzusetzen.

Was muss ich tun?, fragte sie sich. Alles ist bereit für ihn. David wird sich schon darum kümmern. Sie drehte das Wasser in der Spüle auf und benetzte ihr Gesicht. Das Wasser, unangenehm und faulig, brachte sie zum Husten. Wir sollten den Tank leerlaufen lassen, dachte sie. Ihn reinigen, den Chlorzufluss neu justieren und feststellen, wie viele Filter verstopft sind; wahrscheinlich alle. Konnte der Kanalschiffer das nicht machen? Nein, das war nicht Sache der UN.

»Brauchst du mich?«, fragte sie und öffnete die Hintertür. Kalt und mit feinem Sand durchsetzt, wirbelte ihr die Luft entgegen; sie wandte den Kopf ab und lauschte auf Davids Antwort. Er war darin geübt, nein zu sagen.

»Schätze nicht«, nörgelte der Junge.

Später, als sie im Morgenrock am Küchentisch saß und Kaffee trank, den Teller mit Toast und Apfelmus vor sich, schaute sie hinaus und sah den Kanalschiffer, der nie in Eile war und doch immer pünktlich eintraf, wie er in seinem kleinen Flachboot auf seine förmliche Art den Kanal entlanggetuckert kam. Sie schrieben das Jahr 1994, die zweite Augustwoche. Elf Tage hatten sie gewartet, und nun würden sie ihren Anteil am Wasser aus dem großen Kanal bekommen, der eine Meile weiter im marsianischen Norden an ihrer Häuserreihe vorbeiführte.

Der Kanalschiffer hatte sein Boot jetzt am Schleusentor vertäut und sprang, beladen mit seinem Ringordner – in dem er seine Unterlagen aufbewahrte – und den Werkzeugen für die Torbedienung an Land. Er trug eine schlammbedeckte graue Uniform und Schaftstiefel, die vom trockenen Schlick fast braun waren. Ein Deutscher? Nein, wohl doch nicht; als der Mann den Kopf wandte, sah sie, dass sein Gesicht flach und slawisch war und dass auf seinem Mützenschirm ein roter Stern prangte. Diesmal waren die Russen dran; sie hatte den Überblick verloren.

Und anscheinend war sie nicht die Einzige, die den Überblick verloren hatte, in welcher Reihenfolge die UN-Verwaltungsbehörden turnusmäßig wechselten. Jetzt sah sie nämlich, dass die Familie aus dem Nachbarhaus, die Steiners, auf ihrer Veranda aufgetaucht war und Anstalten machte, auf den Kanalschiffer zuzugehen: alle sechs, Vater, schwergewichtige Mutter und die vier blonden, rundlichen, krakeelenden Steiner-Gören.

Der Schiffer drehte den Steiners gerade das Wasser ab.

»Bitte, mein Herr«, begann Norbert Steiner auf Deutsch, aber dann sah auch er den roten Stern und verstummte.

Silvia schmunzelte in sich hinein. So ein Pech, dachte sie.

David riss die Hintertür auf und kam ins Haus gelaufen. »Weißt du was, Mom? Bei den Steiners hat der Tank gestern Abend ein Leck gekriegt, und fast die Hälfte des Wassers ist ausgelaufen! Darum reicht ihr Wasservorrat jetzt nicht mehr für den Garten, und er wird sterben, sagt Mr. Steiner.«

Sie nickte, während sie den letzten Bissen Toast aß. Sie zündete sich eine Zigarette an.

»Ist das nicht furchtbar, Mom?«

Silvia sagte: »Und nun wollen die Steiners wohl, dass er das Wasser bei ihnen noch etwas laufen lässt.«

»Wir können doch ihren Garten nicht sterben lassen. Weißt du noch, wie viel Ärger wir mit unseren Rüben hatten? Und dann hat uns Mr. Steiner diese Chemikalie von zu Hause geschenkt, die die Käfer getötet hat, und dafür wollten wir ihnen ein paar von unseren Rüben abgeben, aber wir haben’s nie getan; wir haben es glatt vergessen.«

Das stimmte. Sie zuckte schuldbewusst zusammen, als es ihr wieder einfiel; wir hatten es ihnen versprochen … und sie haben es nie erwähnt, obwohl sie es sicher noch wissen. Und David spielte immer drüben bei ihnen.

»Geh doch bitte raus und sprich mit dem Schiffer«, bettelte David.

Sie sagte: »Ich glaube, wir können ihnen Ende des Monats ein bisschen von unserem Wasser abgeben. Wir könnten einen Schlauch zu ihrem Garten hinüberlegen. Aber das mit dem Leck nehme ich ihnen nicht ab – die wollten schon immer mehr haben, als ihnen zusteht.«

»Ich weiß.« David ließ den Kopf hängen.

»Sie verdienen es nicht, mehr zu bekommen, David. Keiner verdient das.«

»Sie wissen doch nur nicht, wie man seinen Besitz in Ordnung hält. Mr. Steiner, der kennt sich mit Werkzeugen nicht aus.«

»Dann sind sie selber dran schuld.« Sie spürte, wie gereizt sie war, und der Gedanke durchfuhr sie, dass sie noch nicht ganz wach sein könnte; sie brauchte ein Dexamin, sonst bekäme sie die Augen nie auf, nicht vor dem Abend, wenn wieder Zeit für ein Luminal war. Sie ging zum Medizinschränkchen im Bad, nahm eine Flasche mit kleinen, herzförmigen, grünen Pillen herunter, öffnete sie und zählte sie ab. Es waren nur noch dreiundzwanzig übrig; sie würde bald wieder an Bord des großen Traktorbusses gehen und die Wüste in Richtung Stadt durchqueren müssen, um sich in der Apotheke neue geben zu lassen.

Über ihrem Kopf ertönte lautes, widerhallendes Gurgeln. Der Tank auf dem Dach, ihr riesiger Blechbehälter für den Wasservorrat, begann sich zu füllen. Der Kanalschiffer hatte das Schleusentor jetzt umgeschaltet; die Bitten der Steiners waren vergebens gewesen.

Mit wachsendem Schuldgefühl schenkte sie sich ein Glas Wasser ein, um ihre Morgentablette zu nehmen. Wenn nur Jack öfter zu Hause wäre, sagte sie sich; hier ist es rundherum so leer. Das ist eine Form der Barbarei, diese Kleinlichkeit, zu der wir gezwungen sind. Was soll dieser ganze Hader und Streit, der unser Leben beherrscht, diese schreckliche Sorge um jeden Tropfen Wasser? Das kann doch nicht alles sein … man hatte uns so viel versprochen, anfangs.

In einem nahe gelegenen Haus plärrte plötzlich Radiolärm los; Tanzmusik, dann warb ein Sprecher für irgendeine landwirtschaftliche Maschine.

»… Tiefe und Winkel der Furche«, erklärte die Stimme und hallte in der kalten, klaren Morgenluft wider, »sind einstellbar und selbstregulierend, so dass noch der ungeschickteste Benutzer fast auf Anhieb …«

Dann wieder Tanzmusik; die Leute hatten einen anderen Sender eingestellt.

Kindergezänk erhob sich. Geht das jetzt den ganzen Tag so weiter?, fragte sie sich und überlegte, ob sie das wohl ertragen würde. Und Jack war bis zum Wochenende arbeiten – fast schien es ihr, als wäre sie nicht verheiratet, als hätte sie gar keinen Mann. Bin ich dafür von der Erde ausgewandert? Sie presste die Hände gegen die Ohren, wollte den Lärm des Radios und der Kinder ausblenden.

Ich sollte wieder ins Bett gehen; dort gehöre ich hin, dachte sie und zog sich schließlich weiter für den vor ihr liegenden Tag an.

 

Im Geschäftsviertel von Bunchewood Park sprach Jack Bohlen vom Büro seines Arbeitgebers aus per Funktelefon mit seinem Vater in New York City. Die Verbindung, durch ein Satellitensystem über Millionen Meilen Weltraum hinweg hergestellt, war nicht sonderlich gut, wie üblich; aber Leo Bohlen bezahlte ja für das Gespräch.

»Was soll das heißen, die Franklin D. Roosevelt Mountains?«, sagte Jack laut. »Du musst dich irren, Dad, da gibt es nichts – die Gegend ist eine einzige Einöde. Das wird dir jeder im Maklergewerbe bestätigen.«

Die schwache Stimme seines Vaters erklang. »Nein, Jack, ich glaube, das ist eine todsichere Sache. Ich will hin, es mir ansehen und alles mit dir durchsprechen. Wie geht’s Silvia und dem Jungen?«

»Gut«, sagte Jack. »Hör zu – mach bloß nichts fest, es ist nämlich allgemein bekannt, dass bis auf den funktionierenden Teil des Kanalnetzes – und vergiss nicht, dass höchstens ein Zehntel davon funktioniert – jeder Grundbesitz auf dem Mars glatt an Betrug grenzt.« Ihm wollte nicht in den Kopf, wie sein Vater mit seiner jahrelangen Berufserfahrung, gerade was Investitionen in noch nicht kultiviertes Land anging, auf so einen Schwindel hereinfallen konnte. Das erschreckte ihn. Vielleicht war sein Dad in all den Jahren, die er ihn nicht gesehen hatte, alt geworden. Briefe besagten nicht viel; sein Dad diktierte sie einer Firmenstenographin.

Oder vielleicht verging die Zeit auf der Erde ja auch anders als auf dem Mars; in einer Zeitschrift für Psychologie hatte er einmal einen Artikel gelesen, der das nahelegte. Sein Vater würde als weißhaariger alter Tattergreis hier ankommen. Gab es einen Weg, sich vor dem Besuch zu drücken? David würde seinen Großvater gern wiedersehen, und Silvia mochte ihn ebenfalls. Die schwache, ferne Stimme erzählte Neuigkeiten aus New York City, nichts von Belang. Für Jack hatte das etwas Unwirkliches. Vor einem Jahrzehnt hatte er gewaltige Anstrengungen unternommen, um sich von seinem Umfeld auf der Erde zu lösen, und es war ihm gelungen; er wollte nichts mehr davon hören.

Und doch bestand noch die Verbindung zu seinem Vater, und der erste Ausflug seines Vaters von der Erde würde sie bald wiederaufleben lassen; er hatte schon immer einen anderen Planeten besuchen wollen, ehe es zu spät war – also vor seinem Tod. Leo war fest dazu entschlossen. Aber trotz Verbesserungen auf den großen Interplanetarschiffen war das Reisen ein Wagnis. Es störte ihn nicht. Nichts konnte ihn beirren; er hatte sogar schon gebucht.

»Meine Güte, Dad«, sagte Jack, »es ist wirklich großartig, dass du meinst, so eine anstrengende Reise unternehmen zu können. Ich hoffe nur, du bist ihr auch gewachsen.« Er ergab sich in sein Schicksal.

Ihm gegenüber saß sein Arbeitgeber, Mr. Yee, der ihn ansah und einen gelben Zettel hochhielt, auf dem ein Kundendienstauftrag notiert war. Der große, spindeldürre Mr. Yee in seinem Einreiher mit Fliege … die chinesische Art, sich zu kleiden, hatte sich hier auf fremdem Boden bis ins Detail durchgesetzt, so authentisch, als betriebe Mr. Yee seine Firma im Geschäftsviertel von Kanton.

Mr. Yee zeigte auf den Zettel und stellte dann mit ernster Miene dar, worum es ging: Er fröstelte, goss etwas von der linken Hand in die rechte, fuhr sich anschließend über die Stirn und zupfte an seinem Kragen. Dann sah er auf die Armbanduhr an seinem knochigen Handgelenk. Auf einer Milchfarm war eine Kühleinheit ausgefallen, begriff Jack Bohlen, und es war dringend; die Milch würde verderben, wenn es im Laufe des Tages wärmer wurde.

»Okay, Dad«, sagte er, »wir erwarten also dein Telegramm.« Er verabschiedete sich und legte auf. »Tut mir leid, dass ich so lange telefoniert habe«, sagte er zu Mr. Yee. Er griff nach dem Zettel.

»Ein älterer Mensch sollte nicht hierherreisen«, sagte Mr. Yee mit seiner ruhigen, unbeugsamen Stimme.

»Er hat sich eben in den Kopf gesetzt, bei uns nach dem Rechten zu sehen«, sagte Jack.

»Und wenn Sie nicht so gut dastehen, wie er das gern hätte, kann er Ihnen dann helfen?« Mr. Yee lächelte verächtlich. »Erwartet er, dass Sie einen Treffer gelandet haben? Sagen Sie ihm, es gibt keine Diamanten mehr. Die UN hat alle. Und was den Auftrag angeht, den ich Ihnen gegeben habe: Den Unterlagen nach haben wir vor zwei Monaten schon mal wegen der gleichen Beschwerde an der Kühleinheit gearbeitet. Es liegt an der Stromquelle oder am Schaltkreis. Der Motor wird ständig langsamer, bis die Sicherung rausfliegt und verhindert, dass er durchbrennt.«

»Ich seh mir mal an, was so alles am Generator dranhängt«, sagte Jack.

Für Mr. Yee zu arbeiten war nicht leicht, dachte er, als er die Treppe zum Dach, auf dem die Firmenhubschrauber parkten, hinaufstieg. Alles wurde auf streng rationaler Grundlage entschieden. Mr. Yee sah aus und handelte wie etwas, das zum Rechnen erschaffen war. Vor sechs Jahren, mit zweiundzwanzig, hatte er sich ausgerechnet, dass er auf dem Mars ein profitableres Unternehmen aufziehen könnte als auf der Erde. Da die Kosten für das Verschiffen neuer Anlagen von der Erde so hoch waren, herrschte auf dem Mars brennende Nachfrage nach Kundendienst für alle Arten von Maschinen, für alles, was bewegliche Teile hatte. Ein alter Toaster, den man auf der Erde achtlos verschrottet hätte, musste auf dem Mars funktionsfähig erhalten werden. Mr. Yee gefiel der Gedanke, Altmaterial zu verwerten. Da er in der einfachen, puritanischen Atmosphäre der Volksrepublik China aufgewachsen war, billigte er keine Verschwendung. Und als Elektroingenieur aus der Provinz Honan verfügte er über eine gute Ausbildung. Also war er auf seine ruhige und gewissenhafte Art zu einem Entschluss gekommen, der für die meisten Menschen eine verheerende emotionale Zerreißprobe dargestellt hätte; er bereitete sich darauf vor, von der Erde auszuwandern, so wie er sich auf einen Besuch beim Zahnarzt vorbereitet hätte, um sich ein neues Gebiss aus rostfreiem Stahl anpassen zu lassen. Als er seinen Laden auf dem Mars einmal aufgemacht hatte, wusste er bis auf den letzten UN-Dollar genau, wie niedrig er seine laufenden Geschäftskosten halten konnte. Das Unternehmen warf zwar wenig Gewinn ab, wurde aber äußerst professionell geführt. In den sechs Jahren seit 1988 war er unablässig expandiert, bis man in Notfällen jetzt seinen Technikern den Vorzug gab – und was war in einer Kolonie, der es immer noch schwerfiel, ihre eigenen Radieschen zu ziehen und den eigenen kleinen Milchertrag zu kühlen, kein Notfall?

Jack Bohlen zog die Tür des Hubschraubers zu, ließ den Motor an, und schon stieg er zu seinem ersten Kundenauftrag des Tages über die Bauten von Bunchewood Park in den leicht diesigen Vormittagshimmel auf.

Weit entfernt zu seiner Rechten war gerade ein riesiges Schiff von der Erde eingetroffen und ging auf dem Basaltkreis nieder, bei dem es sich um den Landeplatz für lebende Fracht handelte. Andere Frachten mussten einhundert Meilen weiter östlich abgeliefert werden. Das hier war ein Frachter erster Klasse, und schon bald würde er Besuch von ferngesteuerten Apparaten bekommen, die die Passagiere aller Viren, Bakterien, Insekten und Unkrautkeime, die ihnen noch anhaften mochten, beraubten; sie würden so nackt wie am Tag ihrer Geburt daraus hervorgehen, chemische Bäder durchlaufen und während der achtstündigen Tests ihrer Empörung Ausdruck verleihen, um dann schließlich entlassen zu werden, damit sie sich, nachdem das Überleben der Kolonie gesichert war, um ihr persönliches Überleben kümmerten. Manche würde man vielleicht sogar zur Erde zurückschicken; diejenigen, deren Zustand auf genetische Defekte schließen ließ, die erst der Reisestress an den Tag gebracht hatte. Jack stellte sich seinen Vater vor, wie er sich geduldig den Einwanderungprozeduren unterzog. Muss sein, mein Junge, würde sein Vater sagen. Unvermeidlich. Der Alte, wie er Zigarre rauchte und nachdachte … ein Philosoph, dessen ganze offizielle Ausbildung aus sieben Jahren öffentlichem Schulsystem von New York bestand, und das zur schlimmsten Zeit. Seltsam, dachte er, wie doch immer wieder der Charakter durchbricht. Der Alte stand mit einer Ebene des Wissens in Verbindung, die ihm sagte, wie er sich zu verhalten hatte, nicht in gesellschaftlicher Hinsicht, sondern auf tiefere, nachhaltige Weise. Er wird sich dieser Welt hier anpassen, wurde Jack klar. Bei seinem kurzen Besuch wird er besser mit ihr zurechtkommen als Silvia und ich. Ungefähr so, wie David zurechtgekommen ist …

Sie würden sich gut verstehen, sein Vater und sein Junge. Beide waren schlau und praktisch veranlagt und doch hoffnungslos romantisch, wie die plötzliche Eingebung seines Vaters zeigte, irgendwo in den FDR-Bergen Land zu kaufen. Das war ein letztes Aufbegehren der Hoffnung, die den alten Mann nie verlassen hatte; hier gab es Land, das man für einen Spottpreis erwerben konnte, ohne Abnehmer, das einzig wahre Grenzland, was man von den bewohnbaren Gebieten des Mars nachweislich nicht sagen konnte. Unter sich bemerkte Jack den Senator-Taft-Kanal, und er richtete seine Flugroute danach aus; der Kanal würde ihn zur Mc-Auliff-Milchfarm mit ihren Tausenden Morgen verdorrten Grases und ihrer Herde ehemals preisgekrönter Jersey-Kühe geleiten, die sich nun durch die unangemessene Umgebung in etwas verwandelt hatten, was wieder ihren Vorfahren ähnelte. Das war der bewohnbare Mars, dieses halbwegs fruchtbare Spinnengeflecht aus Linien, die ausstrahlten, kreuz und quer verliefen und mit knapper Not fähig waren, Leben zu erhalten, mehr nicht. Der Senator-Taft-Kanal, jetzt direkt unter ihm, wies ein träges, abstoßendes Grün auf; es handelte sich um gestautes und gefiltertes Wasser im letzten Stadium, und hier zeigte es die Spuren der Zeit, Grundschlamm, Sand und Verunreinigungen, die es alles andere als trinkbar machten. Der Himmel wusste, welche Alkaloide die Bevölkerung inzwischen schon aufgenommen und in ihre Knochen eingebaut hatte. Trotzdem – sie lebten noch. Das Wasser hatte sie nicht umgebracht, wenn es auch gelbbraun und voller Ablagerungen war. Und drüben im Westen – die Weiten, die nur darauf warteten, sich der menschlichen Wissenschaft zu erschließen und ihr Geheimnis preiszugeben.

Die archäologischen Teams, die Anfang der Siebziger auf dem Mars gelandet waren, hatten eifrig die Rückzugsstadien der alten Zivilisation aufgezeichnet, an deren Stelle nun allmählich der Mensch trat. In der Wüste war sie zu keiner Zeit richtig heimisch geworden. Offenbar hatte sie sich, wie die Zivilisation an Euphrat und Tigris auf der Erde, an das gehalten, was sie künstlich bewässern konnte. Auf ihrem Höhepunkt hatte die alte Marskultur ein Fünftel der Planetenoberfläche eingenommen und den Rest so belassen, wie sie ihn vorgefunden hatte. Jack Bohlens Haus zum Beispiel, unweit der Stelle, an der der William-Butler-Yeats-Kanal in den Herodot mündete; es befand sich am äußersten Rand des Netzwerks, durch das man in den letzten fünftausend Jahren für Fruchtbarkeit gesorgt hatte. Die Bohlens waren Nachzügler, obwohl vor elf Jahren noch niemand gewusst hatte, dass die Auswanderungswelle so alarmierend nachlassen würde.

Aus dem Funkgerät im Hubschrauber drang Statik, dann sagte eine Blechversion von Mr. Yees Stimme: »Jack, ich habe noch einen Kundendienstauftrag für Sie. Die UN-Behörde meint, die Public School weist Fehlfunktionen auf, und ihr eigener Mann ist nicht verfügbar.«

Jack ergriff das Mikrophon und sprach hinein: »Tut mir leid, Mr. Yee – ich glaube, ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich für solche Schuleinheiten nicht ausgebildet bin. Lassen Sie das besser Bob oder Pete machen.« Ich habe es Ihnen ganz sicher schon gesagt, dachte er.

Auf seine logische Art sagte Mr. Yee: »Diese Reparatur ist lebenswichtig, und darum können wir sie nicht ablehnen, Jack. Wir haben noch nie eine Reparatur abgelehnt. Ihr Verhalten ist nicht positiv. Ich werde wohl darauf bestehen müssen, dass Sie den Auftrag übernehmen. So bald wie möglich schicke ich noch einen Mechaniker zur Schule raus, der zu Ihnen stößt. Danke, Jack.« Mr. Yee legte auf.

Danke gleichfalls, dachte Jack Bohlen bitter.

Unter sich sah er nun die Ausläufer einer zweiten Siedlung; das war Lewistown, das Haupthabitat der Kolonie der Klempnergilde, die sich als eine der ersten auf dem Planeten organisiert hatte und selbst Mechaniker in den Reihen der Gildemitglieder hatte; sie unterstützten Mr. Yee nicht gerade. Wenn ihm sein Job zu unangenehm wurde, konnte Jack Bohlen immer noch seine Sachen packen und nach Lewistown übersiedeln, der Gilde beitreten und zu einem vermutlich besseren Gehalt arbeiten. Aber die jüngsten politischen Vorfälle in der Kolonie der Klempnergilde waren nicht unbedingt nach seinem Geschmack. Arnie Kott, Vorsitzender der Örtlichen Kanalarbeiter, war erst nach einem äußerst dubiosen Wahlkampf und überdurchschnittlich vielen Unregelmäßigkeiten bei der geheimen Abstimmung gewählt worden. Jack war nicht versessen darauf, sein Leben unter dessen Regime zu verbringen; nach allem, was er bisher mitbekommen hatte, wies die Herrschaft des alten Mannes alle Elemente einer Tyrannei der Frührenaissance auf, vermengt mit einem Hauch Nepotismus. Und doch schien die Kolonie wirtschaftlich zu gedeihen. Es gab ein fortschrittliches Arbeitsbeschaffungsprogramm, und ihre Finanzpolitik hatte enorme Bargeldreserven hervorgebracht. Die Kolonie war nicht nur effizient und erfolgreich, sie verstand es auch, allen ihren Bewohnern anständige Jobs zu bieten. Mit Ausnahme der israelischen Siedlung im Norden war die Gildekolonie die lebensfähigste auf dem Planeten. Und die israelische Siedlung hatte den Vorteil, dass ihr knallharte zionistische Stoßtrupps angehörten, die ihr Lager direkt in der Wüste hatten und mit Landgewinnungsprojekten aller Art beschäftigt waren, vom Orangenanbau bis zur Raffinerie chemischer Düngemittel. Neu-Israel hatte allein ein Drittel des gesamten Wüstengebietes, das jetzt kultiviert wurde, für sich beansprucht. Es war im Übrigen die einzige Siedlung auf dem Mars, die ihre Erzeugnisse in nennenswerter Zahl nach Hause zur Erde exportierte.

Die Hauptstadt der Kanalarbeitergilde Lewistown glitt vorbei und anschließend das Denkmal von Alger Hiss, dem ersten UN-Märtyrer; dann folgte die offene Wüste. Jack lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Unter Mr. Yees drängenden Blicken war er aufgebrochen, ohne daran zu denken, seine Thermoskanne mit Kaffee mitzunehmen, und jetzt fehlte sie ihm. Er fühlte sich schläfrig. Sie kriegen mich nicht dazu, an der Public School zu arbeiten, sagte er sich, aber eher wütend als überzeugt. Ich kündige. Doch er wusste, dass er nicht kündigen würde. Er würde zur Schule fliegen, eine Stunde oder so dort herumbasteln und den Eindruck vermitteln, schwer mit der Reparatur beschäftigt zu sein, dann würde Bob oder Pete auftauchen und den Job zu Ende bringen; der Ruf des Unternehmens wäre gewahrt, und sie könnten zur Firma zurückkehren. Alle wären zufrieden, einschließlich Mr. Yee.

Er hatte die Public School schon öfter mit seinem Sohn zusammen besucht. Aber das war etwas anderes. David gehörte zu den Besten in seiner Klasse und ließ sich von den modernsten Lehrmaschinen unterrichten. Er blieb immer lange und holte das Optimum aus dem Einzelunterricht heraus, auf den die UN so stolz war. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte Jack, dass es zehn war. In diesem Moment, wusste er von seinen Besuchen und den Schilderungen seines Sohns, war David bei Aristoteles und lernte die Anfangsgründe der Wissenschaft, Philosophie, Logik, Grammatik, Poetik und archaischen Physik. Unter allen Lehrmaschinen schien David am meisten von Aristoteles zu profitieren, was ein Glück war; viele der Kinder zogen die angesagteren Lehrer an der Schule vor: Sir Francis Drake (englische Geschichte, Grundregeln männlichen Anstands) oder Abraham Lincoln (Geschichte der Vereinigten Staaten, Grundlagen der modernen Kriegführung und des modernen Staatswesens) oder so düstere Persönlichkeiten wie Julius Cäsar und Winston Churchill. Er selbst war zu früh zur Welt gekommen, um den Vorteil des Einzelunterrichts genießen zu können; er war als Junge noch in Klassen gegangen, die er sich mit sechzig anderen Kindern teilen musste, und später auf der Highschool hatte er zusammen mit tausend anderen in einer Klasse einem Lehrer zugehört und zugesehen, der via Kabelfernsehen zu ihnen sprach. Hätte man ihn jedoch in die neue Schule aufgenommen, hätte er sofort seinen Favoriten nennen können: Bei einem Besuch mit David, auf seinem ersten Elternabend, hatte er die Thomas-Edison-Lehrmaschine kennengelernt, und da war es um ihn geschehen gewesen. David hatte fast eine Stunde gebraucht, um seinen Vater loszueisen.

Unter dem Hubschrauber ging die Wüste allmählich in karges, prärieähnliches Weideland über. Ein Stacheldrahtzaun markierte den Beginn der McAuliff-Farm und damit das vom Staat Texas verwaltete Gebiet. McAuliffs Vater war texanischer Ölmillionär gewesen und hatte seine Schiffe für die Auswanderung zum Mars selbst finanziert; er hatte sogar die Leute von der Klempnergilde geschlagen. Jack drückte seine Zigarette aus und steuerte den Hubschrauber nach unten, wobei er versuchte, gegen das grelle Sonnenlicht die Gebäude der Farm auszumachen.

Eine kleine Kuhherde geriet in Panik und floh im Galopp vor dem Hubschrauberlärm; er beobachtete, wie die Tiere sich verteilten, und hoffte, dass McAuliff, ein gedrungener Ire mit mürrischer Miene und zwanghafter Auffassung vom Leben, es nicht bemerkt hatte. McAuliff hatte aus guten Gründen eine hypochondrische Einstellung gegenüber seinen Kühen; er argwöhnte, dass alle möglichen marsianischen Dinge hinter ihnen her waren, was sie abmagern, erkranken und nur noch unregelmäßig Milch geben ließ.

Jack schaltete sein Funkgerät an und sagte ins Mikrophon: »Hier spricht ein Reparaturschiff der Yee Company. Sie haben uns gerufen. Jack Bohlen bittet um Landeerlaubnis auf der McAuliff-Landebahn.«

Er wartete, dann kam die Antwort von der riesigen Farm: »Okay, Bohlen, alles klar. Zwecklos zu fragen, warum Sie so lange gebraucht haben.« McAuliffs resignierte, verdrossene Stimme.

»Bin schon so gut wie bei Ihnen«, sagte Jack mit einer Grimasse.

Sogleich erkannte er vor sich die Gebäude, weiß vor sandigem Grund.

»Wir haben hier fünfzehntausend Gallonen Milch.« Mc-Auliffs Stimme drang aus dem Lautsprecher des Funkgeräts. »Und alles wird verderben, wenn Sie diese verdammte Kühlanlage nicht bald wieder in Gang kriegen.«

»Ich eile.« Jack steckte sich die Daumen in die Ohren und schnitt eine hässliche Fratze in Richtung Funkgerät.

2

Der frühere Klempner Arnie Kott, Oberster Gildebruder der Örtlichen Kanalarbeiter, Filiale Vierter Planet, stieg um zehn Uhr früh aus dem Bett und schlenderte seiner Gewohnheit gemäß geradewegs ins Dampfbad.

»Hallo, Gus.«

»Grüß dich, Arnie.«

Jeder nannte ihn beim Vornamen, und das war gut so. Arnie Kott nickte Bill und Eddy und Tom zu, und alle grüßten zurück. Die dampfgesättigte Luft bildete Tropfen an seinen Füßen und lief über die Kacheln ab, auf Nimmerwiedersehen. Das gefiel ihm: Die Bäder waren so gebaut, dass sie das ablaufende Wasser nicht sammelten. Es wurde nach draußen in den heißen Sand abgeleitet und verschwand für immer. Wer konnte sich das sonst noch leisten? Er dachte: Ich wüsste doch zu gern, ob diese reichen Juden oben in Neu-Israel ein Dampfbad haben, in dem Wasser vergeudet wird.

Arnie Kott stellte sich unter die Dusche und sagte zu den Kumpels ringsum: »Ich hab da ein Gerücht gehört, das ich so schnell wie möglich überprüft haben will. Ihr kennt doch dieses Kombinat aus Kalifornien, diese Portugiesen, die ursprünglich einen Titel auf die FDR-Berge hatten und versuchten, dort Eisenerz abzubauen, aber es war zu minderwertig und wog die Kosten bei weitem nicht auf? Ich hab gehört, die haben ihren Besitz verkauft.«

»Ja, hab ich auch gehört.« Sämtliche Jungs nickten. »Ich frag mich, wie viel die wohl draufzahlen mussten. Dürften mächtig Prügel bezogen haben.«

Arnie sagte: »Nein, wie ich hörte, haben sie einen Käufer gefunden, der bereit war, mehr hinzublättern, als sie bezahlt haben; nach all den Jahren haben die sogar noch einen Schnitt gemacht. Hat sich für sie also gelohnt, bei der Stange zu bleiben. Ich frag mich, wer bescheuert genug ist, dieses Land zu wollen. Ich hab dort ein paar Schürfrechte, wisst ihr. Ich möchte, dass ihr herausfindet, wer das Land gekauft hat und aus welcher Branche die Leute kommen. Ich möchte wissen, was die da drüben vorhaben.«

»Immer gut, so was zu wissen.« Wieder nickten alle, und einer – es war wohl Fred – riss sich von seiner Dusche los und trottete davon, um sich anzuziehen. »Ich geh der Sache nach, Arnie«, sagte Fred über die Schulter hinweg. »Ich kümmer mich gleich darum.«

Arnie wandte sich an die Übrigen und sagte, wobei er sich gründlich einseifte: »Wisst ihr, ich muss meine Schürfrechte schützen. Ich kann nicht zulassen, dass so ein aalglatter Knilch von der Erde hier reinschneit und aus diesen Bergen womöglich eine Art Nationalpark für Picknicker macht. Ich sag euch, was ich gehört hab. Ich weiß, dass vor circa einer Woche ein Haufen kommunistischer Funktionäre aus Russland und Ungarn hier war, hohe Tiere, zweifellos, um sich umzuschauen. Meint ihr etwa, die haben aufgegeben, weil ihr Kollektiv letztes Jahr den Bach runtergegangen ist? Nein. Die haben den Verstand von Wanzen, und wie Wanzen kommen sie immer wieder. Diese Roten brennen doch darauf, auf dem Mars ein erfolgreiches Kollektiv auf die Beine zu stellen; das ist für die daheim so was wie ein feuchter Traum. Würde mich nicht überraschen, wenn sich herausstellt, dass diese Portugiesen aus Kalifornien an Kommunisten verkauft haben, und demnächst sehen wir dann, wie sie den Namen FDR-Berge, der richtig und zutreffend ist, in so was wie Joe-Stalin-Berge abwandeln.«

Die Männer lachten alle beifällig.

»Also, ich hab heut noch einiges zu erledigen«, sagte Arnie und spülte sich mit wilden Heißwasserströmen den Seifenschaum vom Leib. »Deswegen kann ich mich auch nicht weiter drum kümmern – ich verlass mich drauf, dass ihr der Sache nachgeht. Zum Beispiel bin ich neulich in den Osten gefahren, wo wir diesen Melonenversuch am Laufen haben, und es scheint, als würd’s ein voller Erfolg, die New-England-Melonen hier in der Umgebung heimisch zu machen. Ich weiß, dass ihr euch das alle schon gefragt habt, weil doch jeder, wenn irgend möglich, morgens gern eine schöne Scheibe Cantaloupe zum Frühstück hat.«

»Stimmt, Arnie«, pflichteten die Jungs bei.

»Aber die Melonen sind nicht alles, was mir im Kopf herumspukt. Gestern hat uns einer dieser UN-Knilche einen Besuch abgestattet und gegen unsere Behandlung der Nigger protestiert. Oder vielleicht sollte ich’s anders ausdrücken; vielleicht sollte ich’s wie die UN-Knilche machen und von ›Resten der einheimischen Bevölkerung‹ sprechen oder einfach von Bleichmännern. Worauf er rauswollte, war, dass wir für den Betrieb der Bergwerke, die im Besitz unserer Siedlung sind, Bleichmann-Nigger unter Tarif beschäftigen, ich meine, unter dem Mindestlohn – schließlich ziehen ja nicht mal diese Torfköpfe von der UN ernsthaft in Betracht, dass wir bleiche Nigger nach Tarif bezahlen. Wie auch immer, wir haben dieses Problem, dass wir den bleichen Niggern keinen Mindestlohn zahlen können, weil die bei der Arbeit so wankelmütig sind, dass wir glatt bankrottgehen würden, und wir müssen sie unter Tage beschäftigen, weil sie die Einzigen sind, die da unten atmen können, und wir Sauerstoffgeräte in größeren Mengen nur zu Preisen herschaffen lassen können, die einfach schwindelerregend sind. Jemand verdient sich daheim an diesen Sauerstofftanks und Kompressoren dumm und dämlich. Das ist Schiebung, sag ich euch, und wir lassen uns nicht abzocken.«

Alle nickten finster.

»Wir können doch nicht zulassen, dass die UN-Bürokraten uns vorschreiben, wie wir unsere Siedlung zu verwalten haben. Schließlich hatten wir schon den Betrieb aufgenommen, als die UN hier noch nichts weiter waren als eine Flagge im Sand; wir haben Häuser bauen lassen, ehe sie noch einen Topf zum Pissen auf dem Mars hatten, einschließlich des ganzen Geländes im Süden, um das sich die Vereinigten Staaten und Frankreich prügeln.«

»Genau, Arnie«, stimmten die Jungs allesamt zu.

»Allerdings gibt’s da das Problem, dass diese UN-Früchtchen die Wasserwege kontrollieren, und wir brauchen Wasser; wir brauchen es als Verkehrsweg in unsere Siedlung rein und wieder raus und als Energiequelle und zum Trinken und wie jetzt, wie hier zum Baden. Ich meine, diese Schweine können uns doch jederzeit das Wasser abdrehen; die haben uns an der Kandare.«

Arnie beendete sein Duschbad und stapfte über die warmen, feuchten Fliesen zum Badewärter, um sich ein Handtuch geben zu lassen. Schon der Gedanke an die UN brachte seinen Magen in Aufruhr, und sein einstiges Zwölffingerdarmgeschwür fing ziemlich weit unten auf der linken Seite, in der Leistengegend, wieder zu brennen an. Ich sollte besser etwas frühstücken, wurde ihm klar.

Als der Badewärter ihn angekleidet hatte und er wieder seine grauen Flanellhosen und das T-Shirt, die weichen Lederstiefel und die Seglermütze trug, verließ er das Dampfbad und ging durch den Flur des Gildehauses in sein Esszimmer, wo Helio, sein bleicher Koch, bereits mit dem Frühstück auf ihn wartete. Kurz darauf saß er vor einem Stapel Maiskuchen und Schinken, Kaffee und einem Glas Orangensaft und der Sonntagsausgabe der New York Times von voriger Woche.

»Guten Morgen, Mr. Kott.« Auf seinen Knopfdruck hin war eine Sekretärin vom Pool erschienen, ein Mädchen, das er noch nie vorher gesehen hatte. Sieht nicht sonderlich gut aus, entschied er nach einem flüchtigen Blick; er wandte sich wieder der Zeitungslektüre zu. Und sie nannte ihn auch noch Mr. Kott. Er nippte an seinem Orangensaft und las von einem Schiff, das im Weltraum verunglückt war, wobei alle dreihundert Personen an Bord den Tod gefunden hatten. Es handelte sich um ein japanisches Handelsschiff, das Fahrräder geladen hatte. Das brachte ihn zum Lachen. Fahrräder im Weltraum, und jetzt waren alle hin; ein Jammer, denn auf einem Planeten mit so geringer Masse wie dem Mars, wo es – außer dem schlammigen Kanalsystem – praktisch keinerlei Kraftquelle gab und wo sogar Kerosin ein Vermögen kostete, waren Fahrräder von großem ökonomischem Wert. Ein Mensch konnte Hunderte von Meilen kostenlos radeln, und auch noch geradewegs über den Sand. Die einzigen Leute, die mit Kerosin-Turbinen angetriebene Fortbewegungsmittel benutzten, waren überlebenswichtige Funktionäre wie Mechaniker und Wartungstechniker und natürlich bedeutende Personen wie er selber. Selbstverständlich gab es auch öffentliche Verkehrsmittel wie die Traktorbusse, die die Siedlungen untereinander verbanden und außerhalb liegende Wohngebiete mit dem Rest der Welt … doch sie verkehrten unregelmäßig und waren hinsichtlich des Treibstoffs auf Lieferungen von der Erde angewiesen. Und was ihn betraf, so bewegten die Busse sich ohnehin dermaßen langsam fort, dass sie Klaustrophobie hervorriefen.

Die New York Times zu lesen gab ihm immer eine Weile das Gefühl, wieder zu Hause in South Pasadena zu sein; seine Familie hatte die Westküsten-Ausgabe der Times abonniert, und er erinnerte sich noch, wie er sie als Junge immer aus dem Briefkasten holte, von der mit Aprikosenbäumen gesäumten Straße, der warmen, rauchverhangenen kleinen Straße mit den sauberen, einstöckigen Häusern und geparkten Autos und den Rasenflächen, um die man sich regelmäßig jedes Wochenende kümmerte. Es waren die Rasenflächen, die er am meisten vermisste – den Handwagen für den Dünger, den frischen Grassamen, die Heckenscheren, das Netz gegen die Spatzen im Frühling … und die Rasensprenger, die den ganzen langen Sommer tätig waren, wann immer das Gesetz es erlaubte. Auch dort herrschte Wasserknappheit. Sein Onkel Paul war einmal eingesperrt worden, weil er an einem Tag, an dem Wasser rationiert war, sein Auto gewaschen hatte.

Als er weiter in der Zeitung las, stieß er auf einen Artikel über den Empfang einer Mrs. Lizner im Weißen Haus, die als Funktionärin des Amts für Geburtenkontrolle achttausend therapeutische Abtreibungen vorgenommen und damit den amerikanischen Frauen ein Beispiel gegeben hatte. Eine Art Krankenschwester, entschied Arnie Kott. Nobler Beruf für Frauen. Er blätterte um.

In großen Lettern stand dort eine viertelseitige Anzeige, die er mitverfasst hatte, eine zündende Aufforderung an die Menschen zu emigrieren. Arnie lehnte sich in seinem Stuhl zurück, legte die Zeitung zusammen und empfand großen Stolz beim Studium der Anzeige; sie wirkte gelungen, fand er. Sie würde die Leute sicher ansprechen, sofern sie auch nur ein Quäntchen Schneid besaßen und, wie es in der Anzeige hieß, echte Abenteuerlust in ihnen steckte.

Die Anzeige führte sämtliche Berufe auf, für die auf dem Mars Nachfrage bestand, und das war eine lange Liste, auf der, wenn überhaupt etwas, dann lediglich Kanarienvogel-Züchter und Fachärzte für Darmkrankheiten fehlten. Sie wies darauf hin, wie schwierig es zurzeit war, auf der Erde Arbeit zu finden, und dass es auf dem Mars sogar gutbezahlte Jobs für Leute gab, die nichts weiter als einen Bachelor hatten.

Das müsste wirken, dachte Arnie. Er selbst war auch ausgewandert, weil er nur den niedrigsten akademischen Grad hatte. Alle Türen waren ihm verschlossen geblieben, und dann war er als simpler Gildeklempner auf den Mars gekommen, und schon innerhalb weniger Jahre – seht her! Auf der Erde würde ein Klempner, der nur einen Bachelor hatte, in Afrika tote Heuschrecken zusammenkehren, im Einsatz des US-Entwicklungshilfe-Korps. Sein Bruder Phil machte das übrigens gerade; er hatte einen Abschluss der Universität von Kalifornien und nie die Chance gehabt, seinen Beruf, den eines Milchprüfers, auszuüben. In seiner Klasse hatten über einhundert Milchprüfer die Abschlussprüfung bestanden, und wozu? Es gab keine Möglichkeiten auf der Erde. Da musst du schon auf den Mars kommen, sagte sich Arnie. Hier können wir dich gebrauchen. Sieh dir nur die knochigen Kühe draußen auf den Milchfarmen vor der Stadt an. Die könnten ein paar Stichproben gebrauchen.

Aber der Haken an der Anzeige war einfach der, dass dem Einwanderer, sobald er erst auf dem Mars war, nichts garantiert wurde, noch nicht einmal die Gewissheit, aufgeben und wieder nach Hause zurückkehren zu können; Rückflüge waren wegen der unzureichenden Startanlagen viel teurer. Und hinsichtlich seiner Anstellung gab es schon mal gar keine Garantien. Schuld waren die Großmächte zu Hause, China und die Vereinigten Staaten, Russland und Deutschland. Statt die Entwicklung der Planeten angemessen zu fördern, hatten sie ihre Aufmerksamkeit auf weitere Entdeckungen gerichtet. Sie hatten ihre Zeit, ihr Geld und ihren Verstand samt und sonders Sternenprojekten gewidmet, wie diesem verflixten Flug zum Centaurus, der bereits Milliarden von Dollar und Arbeitsstunden verschlungen hatte. Arnie Kott konnte den Sinn der Sternenprojekte nicht einsehen. Wer wollte schon auf einen Vierjahresflug zu einem anderen Sonnensystem gehen, das es womöglich nicht einmal gab?

Und doch fürchtete Arnie auch einen Wandel im Verhalten der irdischen Großmächte. Angenommen, sie erwachten eines Morgens und sahen die Kolonien auf Mars und Venus in einem neuen Licht? Angenommen, sie nahmen die lasche Erschließung des Planeten genauer unter die Lupe und entschieden, dass etwas dagegen unternommen werden musste? Mit anderen Worten, was wurde aus Arnie Kott, wenn die Großmächte zu Verstand kämen? Diese Möglichkeit durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Allerdings zeigten die Großmächte keinerlei Anzeichen von Vernunft. Nach wie vor beherrschte sie verbissener Konkurrenzkampf; in ebendiesem Augenblick kreuzten sie zu Arnies Erleichterung zwei Lichtjahre entfernt die Klingen.

Beim Weiterlesen in der Zeitung stieß er auf einen kurzen Artikel, der von einer Frauenorganisation im schweizerischen Bern handelte, die zusammengekommen war, um erneut ihrer Besorgnis über die Kolonisierung Ausdruck zu verleihen.

Koloniales Sicherheitskomitee entsetzt über Zustände auf Marslandeplätzen

Die Damen hatten in einer Eingabe an das Kolonialministerium der UN noch einmal ihre Überzeugung bekräftigt, dass die Marsbereiche, auf denen Schiffe von der Erde landeten, sich zu weit von den Wohngebieten und vom Wassersystem entfernt befänden. In einigen Fällen hatte man von Passagieren verlangt, mehr als hundert Meilen durch die Einöde zu ziehen, darunter Frauen, Kinder und alte Leute. Das Koloniale Sicherheitskomitee verlangte, dass die UN eine Vorschrift erließ, wonach die Schiffe gezwungen würden, auf Landeplätzen niederzugehen, die in fünfundzwanzig Meilen Umkreis eines größeren (bekannten) Kanals lagen.

Weltverbesserer, dachte Arnie Kott beim Lesen des Artikels. Wahrscheinlich hatte nicht einer von denen jemals die Erde verlassen; die wissen doch bloß, was jemand in einem Brief nach Hause geschrieben hat, irgendeine Tante, die auf dem Mars ihren Lebensabend fristet, gratis auf UN-Gelände wohnt und selbstredend meckert. Und außerdem verließen sie sich natürlich auf ihre ständige Vertretung auf dem Mars, eine gewisse Mrs. Anne Esterhazy; sie setzte mimeographisch vervielfältigte Rundschreiben an andere öffentlichkeitsbewusste Damen der diversen Siedlungen in Umlauf. Arnie bezog und las ihr Blättchen Der Revisor antwortet, ein Titel, der ihm die Galle hochtrieb. Einfach zum Kotzen fand er auch die ein- bis zweizeiligen Sticheleien, die zwischen längere Artikel eingeschoben waren:

Betet für die Ungiftigkeit der Getränke! Kontaktiert

charismatische Kolonialratsherren und werdet Zeuge

einer Wasserfiltrierung, auf die wir stolz sein können!

Bei manchen dieser Der Revisor antwortet-Artikeln kam er kaum hinter den Sinn, eines solchen Spezialjargons befleißigten sie sich. Aber offenbar hatten die Rundschreiben eine Leserschaft ergebener Frauen angezogen, die sich gnadenlos jede Thematik zu Herzen nahm und genau das tat, wozu man sie aufforderte. Jetzt beschwerten sie sich zweifellos gerade zusammen mit dem Kolonialen Sicherheitskomitee auf der Erde über die schrecklichen Entfernungen, die die meisten Landeplätze auf dem Mars von den Wasserquellen und Habitaten der Menschen trennten. Sie trugen ihren Teil zu einer der vielen großen Auseinandersetzungen bei, und in diesem besonderen Fall war es Arnie Kott gelungen, seinen Brechreiz unter Kontrolle zu halten. Von den ungefähr zwanzig Landeplätzen auf dem Mars lag nämlich nur einer innerhalb der Fünfundzwanzig-Meilen-Zone eines größeren Kanals, und das war der Samuel-Gompers-Landeplatz, der für seine Siedlung zuständig war. Sollte der Druck des Kolonialen Sicherheitskomitees überraschend Erfolg haben, dann müssten alle von der Erde eingehenden Passagierschiffe auf Arnie Kotts Landeplatz niedergehen, und die Einnahmen kämen seiner Siedlung zugute.

Es war alles andere als Zufall, dass Mrs. Esterhazy und ihre Organisation auf der Erde mit dem Rundschreiben eine Sache vertraten, die für Arnie von wirtschaftlichem Nutzen gewesen wäre. Anne Esterhazy war Arnies frühere Frau. Sie waren nach wie vor gute Freunde und besaßen gemeinsam noch eine Anzahl von Wirtschaftsunternehmen, die sie während ihrer Ehe gegründet oder in die sie sich damals eingekauft hatten. In vieler Hinsicht arbeiteten sie noch immer zusammen, obgleich sie auf rein persönlichem Gebiet keine wie auch immer gearteten Gemeinsamkeiten mehr hatten. Er fand sie aggressiv, dominant und über die Maßen maskulin, eine große und knochige Frau, die beim Gehen weit ausschritt, niedrige Absätze trug, einen Tweedmantel und Sonnenbrille, und der an einem Riemen eine große Ledertasche von der Schulter baumelte … aber sie war durchtrieben und intelligent und eine natürliche Führungspersönlichkeit. Solange er sie nur im Rahmen geschäftlicher Beziehungen zu sehen brauchte, konnte er mit ihr auskommen.

Der Umstand, dass Anne Esterhazy einmal seine Frau gewesen war und dass sie noch immer Gelddinge aneinanderketteten, war nicht allzu bekannt. Wenn er mit ihr Verbindung aufnehmen wollte, diktierte er nicht etwa einer Stenotypistin der Siedlung einen Brief; vielmehr benutzte er ein kleines Chiffrierdiktaphon, das er in seinem Schreibtisch aufbewahrte, und ließ ihr das Band durch einen Boten zukommen. Der Bote gab das Band in einem Kunstgewerbeladen ab, den Anne drüben in der israelischen Siedlung führte, und ihre Antwort – wenn es denn eine gab – wurde auf die gleiche Weise im Büro eines Zement- und Kieswerks am Bernard-Baruch-Kanal hinterlegt, das Arnies Schwager Ed Rockingham gehörte, dem Mann seiner Schwester.

Vor einem Jahr, als Ed Rockingham für sich, Patricia und ihre drei Kinder ein Haus baute, hatte er sich das Unmögliche geleistet: einen eigenen Kanal. Unter offener Missachtung des Gesetzes hatte er ihn sich zum Privatgebrauch anlegen lassen, und das Wasser bezog er aus dem großen öffentlichen Wassernetz. Selbst Arnie war damals wütend gewesen. Aber niemand hatte Klage erhoben, und heute beförderte der Kanal, bescheiden nach Rockinghams ältestem Kind benannt, das Wasser achtzig Meilen weit hinaus in die Wüste, damit Pat Rockingham an einem hinreißenden Ort leben und einen Rasen, einen Swimmingpool und einen vollbewässerten Blumengarten ihr Eigen nennen konnte. Sie züchtete besonders große Kameliensträucher, die als einzige die Verpflanzung auf den Mars überstanden hatten. Den ganzen Tag lang drehten sich die Rasensprenger und besprühten die Sträucher und bewahrten sie vor dem Verdorren und Eingehen.

Zwölf riesige Kameliensträucher hielt Arnie Kott für Prahlerei. Er verstand sich nicht besonders gut mit seiner Schwester oder Ed Rockingham. Weshalb waren sie eigentlich auf den Mars gekommen?, fragte er sich. Um unter unglaublichen Kosten und größtmöglichem Aufwand genauso zu leben wie zu Hause auf der Erde? Das erschien ihm absurd. Weshalb dann nicht auf der Erde bleiben? Für Arnie war der Mars ein neuer Ort, und er bedeutete ein neues Leben, das man auf neue Art führte. Er und die anderen Siedler, die kleinen wie die großen, hatten in der Zeit, die sie nun auf dem Mars lebten, in einem Anpassungsprozess unzählige geringfügige Korrekturen vorgenommen und dabei so viele Stadien durchlaufen, dass sie sich allen Ernstes verändert hatten; sie waren jetzt neue Lebewesen. Ihre Kinder, die auf dem Mars zur Welt gekommen waren, setzten an diesem Punkt an, überraschend und eigenartig, in mancher Hinsicht sogar den Eltern ein Rätsel. Zwei seiner eigenen Jungs – seine und Annes – lebten jetzt in einem Siedlungscamp in den Außenbezirken von Lewistown. Bei seinen Besuchen wurde er aus ihnen nicht schlau; sie sahen ihn mit trüben Augen an, als warteten sie nur darauf, dass er wieder ginge. Soweit er das beurteilen konnte, hatten die Jungs nicht den geringsten Sinn für Humor. Und doch waren sie sensibel; sie konnten pausenlos über Tiere und Pflanzen, selbst über die Landschaft sprechen. Beide Jungs hatten Haustiere, Marsgeschöpfe, die ihm schauerlich vorkamen: Wanzen, die wie Gottesanbeterinnen aussahen, so groß wie Esel. Die verdammten Dinger wurden Boxer genannt, weil man sie oft dabei sah, wie sie in einem rituellen Kampf hochaufgerichtet Schläge tauschten, was im Allgemeinen damit endete, dass einer getötet und vom anderen gefressen wurde. Bert und Ned hatten ihre Hausboxer so abgerichtet, dass sie einfache Handreichungen ausführten und einander nicht auffraßen. Und die Viecher waren ihre Gefährten; Kinder auf dem Mars waren einsam, zum Teil, weil es noch so wenige gab, und zum Teil, weil … Arnie wusste es nicht. Die Kinder schauten verängstigt und mit großen Augen drein, als sehnten sie sich nach etwas, das noch unsichtbar war. Sie neigten dazu, sich bei der erstbesten Gelegenheit abzusetzen und fortzuwandern, um in der Einöde herumzustöbern. Was sie zurückbrachten, war wertlos, für sie und für die Siedlungen, vielleicht ein paar Knochen oder Überreste der alten Niggerzivilisation. Wenn er mit dem Hubschrauber unterwegs war, entdeckte Arnie immer einige versprengte Kinder, eines hier, ein anderes dort, wie sie sich mühsam durch die Wüste schleppten und an Steinen und im Sand kratzten, als versuchten sie irgendwie, die Marsoberfläche aufzubrechen und darunterzugelangen …

Arnie schloss die untere Schublade seines Schreibtischs auf, holte das kleine batteriebetriebene Chiffrierdiktaphon heraus und machte es aufnahmebereit. Er sprach hinein: »Anne, ich möchte mich mit dir treffen und reden. Im Komitee sind zu viele Frauen, und es läuft in die falsche Richtung. Zum Beispiel beunruhigt mich diese letzte Anzeige in der Times, weil …« Er brach ab, denn die Chiffriermaschine war ächzend stehengeblieben. Er stupste dagegen; die Spulen begannen sich langsam zu drehen, stockten dann aber wieder.

Ich dachte, sie wäre repariert, dachte Arnie zornig. Können diese Idioten denn gar nichts beheben? Womöglich musste er jetzt auf den Schwarzmarkt pilgern und sich zu einem horrenden Preis ein anderes Gerät kaufen. Er zuckte bei dem Gedanken zusammen.

Die nicht sonderlich gutaussehende Sekretärin vom Pool hatte ihm ruhig wartend gegenübergesessen und reagierte nun auf sein Nicken. Sie zückte Bleistift und Block und begann aufzunehmen, was er diktierte.

»Normalerweise«, sagte Arnie Kott, »kann ich verstehen, wie schwer es ist, alles in Schuss zu halten, wo es doch kaum Ersatzteile gibt und die Witterung hier Metall und Drähte massiv angreift. Aber ich hab’s satt, bei einem so lebenswichtigen Gerät wie meiner Chiffriermaschine um kompetente Reparaturarbeiten zu betteln. Ich brauche sie einfach, und damit basta. Wenn ihr Typen also nicht dafür sorgen könnt, dass sie funktioniert, werde ich euch entlassen und euch die Lizenz für das Mechanikerhandwerk hier in der Siedlung entziehen, und unsere Wartung vertraue ich einem Kundendienst von außerhalb an.« Er nickte erneut, und das Mädchen hörte auf zu schreiben.

»Soll ich noch schnell den Chiffrierer in die Reparaturabteilung bringen, Mr. Kott?«, fragte sie. »Es wäre mir eine Freude, Sir.«

»Ach was«, brummte Arnie. »Gehen Sie nur.«

Als sie fort war, nahm Arnie wieder seine New York Times zur Hand und las weiter. Zu Hause auf der Erde bekam man einen neuen Chiffrierer praktisch umsonst; überhaupt konnte man zu Hause sogar … verdammt. Was die für Sachen anboten – von alten römischen Münzen über Pelzmäntel und Campingausrüstungen bis zu Diamanten, Düsenflugzeugen und giftigem Digitalis. Meine Fresse!

Sein dringendstes Problem war jetzt aber, wie er ohne Chiffrierer seine Exfrau erreichen sollte. Vielleicht kann ich kurz vorbeigehen und mich mit ihr treffen, sagte sich Arnie. Prima Vorwand, um das Büro zu verlassen.

Er griff zum Telefon und ordnete an, dass man oben auf dem Dach des Gildehauses einen Hubschrauber bereitstellte, dann aß er die Reste des Frühstücks auf, wischte sich rasch den Mund ab und ging in Richtung Fahrstuhl.

»He, Arnie«, begrüßte ihn der Hubschrauberpilot, ein freundlich aussehender junger Mann vom Piloten-Pool.

»Hallo, mein Junge«, sagte Arnie, als der Pilot ihm in den Spezialledersitz half, den er eigens im Polsterladen der Siedlung hatte anfertigen lassen. Während der Pilot sich in den Sitz vor ihm zwängte, lehnte Arnie sich behaglich zurück, schlug die Beine übereinander und sagte: »Starten Sie jetzt einfach, und oben dirigiere ich Sie dann. Und gehen Sie’s ruhig an, ich hab’s nicht eilig. Scheint ein schöner Tag zu werden.«

»Ein wirklich schöner Tag«, sagte der Pilot, und der Rotor des Hubschraubers begann sich zu drehen. »Bis auf den Nebel da drüben bei den FDR-Bergen.«

Sie waren kaum in der Luft, als der Lautsprecher im Hubschrauber zum Leben erwachte. »Katastrophenmeldung. Bei Kompasspunkt 4.65003 ist draußen in der offenen Wüste eine kleine Gruppe Bleicher durch Wetterbedingungen und Wassermangel vom Tode bedroht. Nördlich von Lewistown befindliche Schiffe werden gebeten, sofort mit größtmöglicher Geschwindigkeit diesen Punkt anzufliegen und Hilfe zu leisten. Das Gesetz der Vereinten Nationen verlangt von allen Handels- und Privatschiffen, dass sie der Aufforderung Folge leisten.« Die Meldung wurde im knappen Tonfall des UN-Sprechers wiederholt, der von einem UN-Sender an Bord des künstlichen Satelliten irgendwo über ihnen sprach.

Als Arnie merkte, dass der Hubschrauber seinen Kurs änderte, sagte er: »He, nicht doch, mein Junge.«

»Ich muss mich dran halten, Sir«, erwiderte der Pilot. »Gesetz ist Gesetz.«

Um Himmels willen, dachte Arnie entrüstet. Er machte sich eine mentale Notiz darüber, den Jungen feuern oder wenigstens vom Dienst suspendieren zu lassen, sobald sie von ihrem Ausflug zurück waren.

Schon befanden sie sich über der Wüste und strebten in beachtlichem Tempo dem Kompasspunkt zu, den der UN-Sprecher genannt hatte. Bleiche Nigger, dachte Arnie. Wir müssen alles stehen- und liegenlassen, um ihnen aus der Patsche zu helfen, diesen verdammten Narren – können die nicht einmal durch ihre eigene Wüste ziehen? Sind die nicht fünftausend Jahre lang ohne unsere Hilfe ausgekommen?

Als Jack Bohlen mit seinem Reparaturschiff der Yee Company zur Landung auf der McAuliff-Milchfarm ansetzte, hörte er den UN-Sprecher seine Katastrophenmeldung durchgeben, die gleiche, die Bohlen schon oft gehört hatte und die ihm jedes Mal wieder einen Schauer über den Rücken jagte.

»… ist draußen in der offenen Wüste eine kleine Gruppe Bleicher«, erklärte die sachliche Stimme, »durch Wetterbedingungen und Wassermangel vom Tode bedroht. Nördlich von Lewistown befindliche Schiffe …«

Mein Revier, dachte sich Jack Bohlen. Er schaltete das Mikro ein und sagte: »Reparaturschiff der Yee Company nahe Kompasspunkt 4.65003, sofort rettungsbereit. Könnte sie in zwei, drei Minuten erreichen.« Er schwenkte seinen Hubschrauber nach Süden, fort von McAuliffs Farm, und empfand diebische Freude bei dem Gedanken, wie erbost McAuliff jetzt sein musste, wenn er den Hubschrauber abdrehen sah und sich den Grund dafür denken konnte. Keiner war so schlecht auf die Bleichmänner zu sprechen wie die großen Farmer; unablässig tauchten die ärmlichen, nomadisierenden Ureinwohner auf den Farmen auf und bettelten um Nahrung, Wasser, medizinische Hilfe und manchmal auch bloß um ein altmodisches Almosen, und nichts schien die wohlhabenden Milchfarmer rasender zu machen, als von den Wesen ausgenutzt zu werden, deren Land sie sich angeeignet hatten.

Jetzt meldete sich noch ein Hubschrauber. Der Pilot sagte: »Ich befinde mich außerhalb von Lewistown bei Kompasspunkt 4.78995 und werde dem Hilferuf schnellstens Folge leisten. Ich habe Verpflegung an Bord, darunter fünfzig Gallonen Wasser.« Er identifizierte sich und schaltete ab.

Die Milchfarm mit den Kühen verschwand im Norden, und Jack Bohlen blickte wieder gespannt hinunter auf die offene Wüste und versuchte, die Gruppe Bleicher zu erspähen Alles klar, da waren sie. Fünf Personen, im Schatten eines kleinen Steinhaufens. Sie rührten sich nicht. Vielleicht waren sie schon tot. Der UN-Satellit hatte sie auf seiner Bahn am Himmel entdeckt, doch er konnte ihnen nicht helfen. Ihre Mentoren waren machtlos. Und wir, die wir ihnen helfen können – was schert es uns?, dachte Jack. Die Bleichmänner starben sowieso aus, und ihre kümmerlichen Reste wurden jedes Jahr zerlumpter und verzweifelter. Sie standen unter dem Schutz der UN. Schöner Schutz, dachte Jack.