Martin Eden - Jack London - E-Book

Martin Eden E-Book

Jack London

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Beschreibung

Bringt Erfolg auch Erfüllung? Der Matrose Martin Eden verliebt sich in die aus wohlhabendem Hause stammende Ruth. Um die gebildete junge Frau für sich zu gewinnen, wird er zum Autodidakten. Dabei entdeckt Martin seine Liebe zum Schreiben und beschließt, Schriftsteller zu werden. Aber niemand scheint seine Bemühungen ernst zu nehmen und selbst Ruth distanziert sich von ihm. Doch dann wendet sich das Blatt ...

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Jack London

Martin Eden

Roman

Neu übersetzt, mit einem Nachwort, Anmerkungen und einer Zeittafel von Lutz-W. Wolff

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

1

Der eine öffnete die Tür mit seinem Schlüssel und ging hinein. Der junge Bursche, der ihm folgte, nahm verlegen die Mütze ab. Er trug derbe Kleidung, die nach Salzwasser roch, und war in der geräumigen Eingangshalle ganz offensichtlich fehl am Platz. Er wusste nicht, was er mit seiner Mütze tun sollte, und wollte sie gerade in die Jackentasche stopfen, als der andere sie ihm abnahm. Das geschah ganz selbstverständlich und ruhig, wofür der junge Bursche dankbar war. »Er versteht mich«, dachte er. »Er wird dafür sorgen, dass ich das hier überstehe.«

Er folgte dem anderen dicht auf den Fersen, mit unbewusst schwingenden Schultern und breiten Schritten, als ob das Parkett sich im Wellengang auftürmen und wieder absinken könnte. Die großen Räume schienen zu schmal für seinen wiegenden Gang, und er hatte eine Mordsangst, dass seine breiten Schultern am Türrahmen anstoßen oder die Nippes vom niedrigen Sims des Kamins fegen könnten. Er schwankte von einer Seite zur anderen zwischen den Hindernissen und vervielfältigte damit die Gefahr, die eigentlich nur in seinem Kopf existierte. Zwischen dem Flügel und einem hoch mit Büchern beladenen Tisch wäre Platz für ein halbes Dutzend Männer nebeneinander gewesen, aber er wagte die Passage nur zitternd und zagend. Seine schweren Arme hingen schlaff an der Seite herab. Er wusste nicht, was er mit diesen Armen und Händen tun sollte, und als es ihm in seiner Aufregung schien, als ob einer der Arme die Bücher auf dem Tisch streifen könnte, sprang er zur Seite wie ein scheuendes Pferd und verfehlte nur knapp den Klavierhocker. Er beobachtete den leichten Gang des anderen vor ihm und merkte zum ersten Mal, dass sein eigener Gang anders war als der von anderen Leuten. Einen Moment lang schämte er sich, dass er so grobschlächtig ging. Kleine Schweißtröpfchen brachen auf seiner Stirn aus. Er blieb stehen und wischte sich das sonnengebräunte Gesicht mit seinem Taschentuch ab.

»Arthur, mach mal langsam, mein Junge«, sagte er und versuchte, seine Ängstlichkeit mit Sarkasmus zu überdecken. »Das geht für mich alles zu schnell. Gib mir eine Chance, mich zusammenzureißen. Du weißt ja, ich wollte lieber nicht mitkommen, und ich vermute, deine Familie ist auch nicht so wild drauf, mich zu sehen.«

»Das ist schon in Ordnung«, war die tröstliche Antwort. »Du brauchst dich vor uns nicht zu fürchten. Wir sind ganz einfache Leute – hoppla, da liegt ja ein Brief für mich.«

Arthur kehrte zum Tisch zurück, riss den Umschlag auf, begann zu lesen und gab dem anderen dadurch Gelegenheit, sich zu erholen. Der Fremde verstand und war dankbar dafür. Er besaß die Gabe der Empathie, des Verstehens; und unter seinem alarmierten Äußeren lief genau dieser Prozess des Verstehens ab. Er wischte seine Stirn trocken und sah sich mit kontrollierten Gesichtszügen um, obwohl in seinen Augen ein Blick stand, wie wilde Tiere ihn zeigen, wenn sie eine Falle fürchten. Er war umgeben vom Unbekannten; er hatte Angst vor dem, was geschehen könnte, und er wusste nicht, was er tun sollte; er war sich bewusst, dass er sich ungeschickt bewegte und verhielt, und er fürchtete, dass all seine anderen Kräfte und Fähigkeiten gleichermaßen beeinträchtigt waren. Er war extrem verletzlich und hoffnungslos verlegen; und der amüsierte Blick, den der andere ihm über den Rand des Briefs heimlich zuwarf, war wie ein brennender Dolchstoß für ihn. Er spürte den Blick, ließ es sich aber nicht anmerken, denn zu den Dingen, die er gelernt hatte, gehörte auch Disziplin. Außerdem ging dieser Dolchstoß ihm gegen die Ehre. Er verfluchte sich dafür, dass er gekommen war, und beschloss gleichzeitig, dass er die Sache jetzt, wo er schon hier war, auch durchziehen müsse, egal was passieren würde. Seine Züge verhärteten sich, und ein kämpferisches Feuer trat in seine Augen. Er sah sich etwas entspannter, aber scharf beobachtend um, und sein Gehirn prägte sich jede Einzelheit der hübschen Einrichtung ein. Seine Augen standen weit auseinander, nichts in ihrem Blickfeld entging ihrer Aufmerksamkeit, und als sie die Schönheit einsogen, die vor ihm lag, erlosch das kämpferische Feuer und ein warmes Leuchten trat an seine Stelle. Er reagierte auf Schönheit, und hier gab es Gründe zu reagieren.

Ein Ölgemälde fesselte seinen Blick. Eine schwere Brandung brach sich donnernd an einem aufspringenden Felsen; schwere Sturmwolken hingen über dem Himmel; und vor dem Sonnenuntergang jenseits der Brandung war ein Lotsenboot zu sehen, das sich, hart am Wind, so weit auf die Seite legte, dass jede Einzelheit an Deck zu erkennen war. Die Schönheit des Bildes zog ihn unwiderstehlich an. Er vergaß seinen unbeholfenen Gang und trat näher an das Gemälde heran, sehr nahe. Die Schönheit verschwand von der Leinwand. Sein Gesicht zeigte seine Verwirrung, als er die scheinbar lieblose Farbschmiererei anstarrte. Dann trat er wieder zurück. Sofort kehrte die ganze Schönheit zurück auf die Leinwand. »Ein Trickbild«, dachte er, verwarf den Gedanken zwar gleich wieder, empörte sich im Widerstreit verschiedenster Empfindungen aber doch, dass so viel Schönheit geopfert wurde für eine Täuschung. Er kannte sich nicht aus mit der Malerei. Er war mit Lithografien und Farbdrucken aufgewachsen, die aus der Nähe wie aus der Ferne immer nur scharfe Umrisse zeigten. Ölgemälde hatte er in Schaufenstern manchmal gesehen, das stimmte, aber da hatte das Glas seine eifrigen Augen gehindert, sich allzu sehr anzunähern.

Er sah sich nach seinem Freund um, der immer noch seinen Brief las, und bemerkte die Bücher, die auf dem Tisch lagen. Verlangen und Sehnsucht sprangen so plötzlich in seine Augen wie die Gier eines Hungrigen beim Anblick von Nahrung. Ein impulsiver Schritt, bei dem die Schultern einmal nach rechts und einmal nach links schwankten, brachte ihn zum Tisch, wo er liebevoll nach den Büchern griff. Er suchte nach den Titeln und den Autorennamen, las kleine Textpassagen, streichelte die Bände mit den Augen und mit den Händen. Einmal erkannte er ein Buch, das er gelesen hatte. Der Rest waren fremde Bücher und fremde Autoren. Er stieß auf einen Gedichtband und begann stetig zu lesen, wobei er völlig vergaß, wo er war. Sein Gesicht glühte. Zweimal schloss er das Buch über dem Zeigefinger, um noch einmal nach dem Namen des Autors zu sehen. Swinburne! Den Namen würde er sich merken. Der Bursche hatte ein gutes Auge, und er hatte mit Sicherheit Farben und blitzende Lichter gesehen. Aber wer war dieser Swinburne? War er auch schon hundert Jahre tot, wie die meisten Dichter? Oder lebte und schrieb er noch? Er schlug die Titelseite auf … ja, er hatte noch andere Bücher geschrieben. Nun, er würde gleich morgen früh zur öffentlichen Bibliothek gehen und sich noch mehr von Swinburnes Werk zu verschaffen versuchen. Er wandte sich wieder dem Text zu und verlor sich darin. Er bemerkte gar nicht, dass eine junge Frau das Zimmer betreten hatte. Er wurde erst aufmerksam, als er Arthurs Stimme sagen hörte: »Ruth, das ist Mister Eden.«

Wieder wurde das Buch über dem Finger geschlossen, aber schon ehe er sich umdrehte, erfasste ihn eine neue Empfindung, die nicht vom Anblick des Mädchens, sondern von den Worten ihres Bruders ausgelöst worden war. In seinem muskelbepackten Körper wohnte nämlich eine Fülle zitternder Empfindlichkeiten. Beim leisesten Angriff der Außenwelt auf sein Bewusstsein schlugen seine Gedanken, Gefühle und Empathien wie züngelnde Flammen hoch. Er war außerordentlich empfänglich für alle Wahrnehmungen, und seine hochgespannte Fantasie war ständig damit beschäftigt, Muster von Ähnlichkeit und Verschiedenheit herzustellen. »Mister Eden« war das, was ihn fasziniert hatte, war er doch sein ganzes Leben nur »Eden«, »Martin Eden« oder bloß »Martin« genannt worden. Und jetzt plötzlich »Mister«! Das war wirklich ein Fortschritt, dachte er. Sein Schädel verwandelte sich augenblicklich in eine Camera obscura mit Bildern aus seinem Leben: beim Kohlenschaufeln, im Vorschiff, am Strand, im Zeltlager und im Gefängnis, in Schnapsbuden, Krankenhäusern und Slums. Der rote Faden in diesem Bewusstseinsstrom war die Frage, wie er in diesen Situationen genannt worden war.

Dann hatte er sich endlich herumgedreht und erblickte die junge Frau. Die Spukgebilde in seinem Schädel verschwanden bei ihrem Anblick. Sie war ein blasses, ätherisches Geschöpf mit großen, durchgeistigten blauen Augen und einer Fülle von goldenem Haar. Wie sie gekleidet war, bemerkte er gar nicht, nur dass ihr Kleid genauso wunderbar wie sie selbst war. Sie erschien ihm wie eine blassgoldene Blume auf einem schlanken Stängel. Nein, sie war ein göttlicher Geist, eine Göttin. Eine solche sublime Schönheit konnte nicht irdisch sein. Oder hatten die Bücher doch recht, und in den besseren Kreisen gab es viele solche Geschöpfe? Dieser Bursche, dieser Swinburne zum Beispiel, hätte sie durchaus besingen können. Vielleicht hatte er jemanden wie sie vor Augen gehabt, als er diese junge Frau, Iseult, in dem Buch auf dem Tisch da beschrieben hatte?

Dieser ganze Wirbel von Gefühlen und Gedanken folgte gleich auf den ersten Blick. Es gab keine Lücke in den Wirklichkeiten, die ihn umgaben. Er sah, wie ihre Hand sich zu seiner ausstreckte, und beim Händedruck blickte sie ihm direkt in die Augen, ganz offen, wie ein Mann. Die Frauen, die er bisher gekannt hatte, schüttelten nicht so die Hände. Genau genommen schüttelten die meisten überhaupt nicht die Hände. Eine Flut von Assoziationen und Erinnerungen daran, wie er die Bekanntschaft von Frauen gemacht hatte, brach über ihn herein und drohte ihn zu überschwemmen, doch er schüttelte sie ab und sah Ruth an. Noch nie hatte er so eine Frau gesehen.

Die Frauen, die er gekannt hatte! Sofort gruppierten die Frauen, die er gekannt hatte, sich links und rechts neben ihr. Eine kleine Ewigkeit stand er in der Mitte einer Bildergalerie, in der sie den zentralen Platz einnahm, während links und rechts von ihr viele Frauen aufgereiht standen, die mit einem Blick gewogen und gemessen sein wollten, während sie der alleinige Maßstab für alle war. Er sah die schwachen, kranken Gesichter der Mädchen in den Fabriken und die kichernden, lärmenden Mädchen aus der Gegend südlich der Market Street. Da waren die Frauen der Cattle Camps und die olivhäutigen, Zigaretten rauchenden Frauen im Alten Mexiko. Diese wiederum wurden verdrängt von puppenhaften Japanerinnen, die auf hölzernen Sandalen dahertrippelten; von Eurasierinnen mit delikaten, degenerierten Gesichtern; von üppigen, braunhäutigen Südsee-Insulanerinnen mit Blütenkränzen. Aber all diese Frauen wurden ausgelöscht von einer grotesken, schrecklichen Albtraumbrut – den schlurfenden, schlampigen Bordsteinschwalben aus Whitechapel, aufgeschwemmten Ginsäuferinnen des Rotlichtviertels und dem Gefolge der Hölle, den lästerlichen, schmutzigen Harpyien, die in monströser weiblicher Gestalt den Seeleuten auflauern, diesem Bodensatz der Häfen und schleimigen Abschaum des menschlichen Pfuhls.

»Wollen Sie sich nicht setzen, Mr. Eden?«, fragte das junge Mädchen. »Ich habe mich schon darauf gefreut, Sie kennenzulernen, seit uns Arthur erzählt hat, wie mutig Sie waren.«

Er wedelte abwehrend mit der Hand und murmelte, es sei doch eigentlich gar nichts gewesen und jeder andere hätte es auch getan. Sie bemerkte allerdings, dass die Hand, die er wedelte, bedeckt war mit frischen Abschürfungen, die gerade erst zu heilen begonnen hatten, und dass sich die andere, lose herunterhängende Hand im selben Zustand befand. Ihrem raschen, kritischen Blick entging auch die Narbe auf seiner Wange nicht, ebenso wenig wie eine zweite auf seiner Stirn, die unter den Haaren hervorlugte, und eine dritte, die nach unten verlief und unter dem steifen Kragen verschwand. Sie unterdrückte ein Lächeln, als sie die rote Linie bemerkte, wo der gestärkte Kragen am sonnengebräunten Hals scheuerte. Steife Kragen war Mr. Eden offenbar nicht gewöhnt. Auch seine billigen, schlecht geschnittenen Kleider nahm ihr weiblicher Blick wahr, die Falten, die seine Jacke an den Schultern warf, genauso wie die ausgebeulten Ärmel, in denen die schwellenden Oberarmmuskeln steckten.

Während er noch mit der Hand wedelte und murmelte, er habe doch gar nichts Besonderes getan, folgte er bereits ihrem Befehl und versuchte, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Er staunte über die Leichtigkeit, mit der sie sich setzte, und stolperte dann zu einem Stuhl, der ihrem gegenüberstand. Dabei war er völlig von dem Gefühl beherrscht, eine sehr unglückliche Figur abzugeben. Das war eine neue Erfahrung für ihn. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nie darüber nachgedacht, ob er ungeschickt oder anmutig wirkte. Solche Überlegungen über sich selbst waren ihm nie in den Sinn gekommen. Er setzte sich vorsichtig auf die Stuhlkante, mit großen Sorgen wegen seiner Hände. Sie waren ständig im Weg, wo auch immer er sie zu verstecken versuchte. Arthur verließ das Zimmer und Martin Eden verfolgte seinen Abgang mit einem sehnsüchtigen Blick. Er fühlte sich verloren in diesem Raum, allein mit diesem blassen Geist einer Frau. Es gab keinen Barkeeper, bei dem man etwas zu trinken hätte bestellen können, keinen kleinen Jungen, den man nach einem Krug Bier hätte schicken und so mithilfe dieser geselligen Flüssigkeit Freundschaftsbekundungen hätte in Gang bringen können.

»Sie haben so eine Narbe am Hals, Mr. Eden«, sagte die junge Frau. »Wie ist das passiert? Ich bin sicher, das ist ein Abenteuer gewesen.«

»Ein Mexikaner mit einem Messer, Miss«, sagte er, befeuchtete seine ausgetrockneten Lippen und räusperte sich. »Es war nur eine Schlägerei. Nachdem ich ihm das Messer abgenommen hatte, hat er mir die Nase abzubeißen versucht.«

Obwohl er es nur dürftig beschrieben hatte, stand ihm das pralle Bild jener heißen, sternenbeglänzten Nacht in Salina Cruz noch sehr deutlich vor Augen: der weiße Strand, die Lichter der Zuckerdampfer im Hafen, die Stimmen der betrunkenen Matrosen in der Entfernung, die Rempeleien der Hafenarbeiter, die leidenschaftliche Wut in den Augen des Mexikaners, das Glitzern der Sterne in seinem tierischen Blick, der brennende Messerstich an seinem Hals und der Schwall von Blut, die Zuschauer und ihre Schreie, die beiden Körper, die sich umklammerten, sein eigener und der des Mexikaners, die sich im Sand wälzten, und von weither das sanfte Klimpern einer Gitarre. Die Erinnerung an die Szene erregte ihn, und er fragte sich, ob der Mann sie malen könnte, der das Lotsenboot an der Wand gemalt hatte. Der weiße Strand, die Sterne und die Lichter der Zuckerdampfer würden großartig aussehen, dachte er, und in der Mitte auf dem Sand die schwarze Gruppe der Gestalten, von denen die Kämpfer umringt waren. Auch das Messer verdiente einen Platz auf dem Bild, beschloss er; die blitzende Klinge würde sich im Licht der Sterne gut abheben. Von alledem war in seine Worte jedoch nichts eingeflossen. »Er hat mir die Nase abzubeißen versucht«, wiederholte er.

»Oh«, sagte die junge Frau mit schwacher, weit entfernter Stimme, und er sah den Schrecken auf ihrem zarten Gesicht.

Er selbst war auch erschrocken und auf seinen sonnenverbrannten Wangen erschien eine leicht verlegene Röte, die er selbst so brennend heiß empfand, als ob er vor dem Feuerloch im Kesselraum stünde. Solche scheußlichen Dinge wie eine Messerstecherei waren ganz offensichtlich kein guter Gegenstand für ein Gespräch mit einer Dame. Die Leute in den Büchern, die Menschen aus ihren Kreisen redeten nicht über solche Dinge – wussten möglicherweise gar nichts davon.

Es entstand eine kurze Pause in der Unterhaltung, die sie in Gang zu bringen versuchten. Dann fragte sie vorsichtig nach der Narbe auf seiner Wange. Schon als sie fragte, merkte er, dass sie sich bemühte, auf seine Weise zu reden, und beschloss, davon wegzukommen und auf ihre Weise zu reden.

»Das war nur ein Unfall«, sagte er und berührte die Wange mit seiner Hand. »Während einer Flaute in der Nacht ist bei schwerem Seegang die Mastbaumdirk gerissen, und die Talje hat sich gelöst. Die Dirk war aus Draht und peitschte wie eine Schlange herum. Die ganze Wache hat versucht, sie zu packen. Ich bin auch losgerannt und kriegte ein Ding verpasst.«

»Oh«, sagte sie verständnisvoll, obwohl ihr sein Bericht ziemlich unverständlich gewesen war und sie sich heimlich fragte, was eine Dirk war und was sie einem verpassen konnte.

»Dieser Swineburne«, sagte er, um das Thema zu wechseln, sprach den Namen aber mit langem i aus.

»Wer?«

»Swineburne«, wiederholte er. »Der Dichter.«

»Swinburne«, korrigierte sie.

»Ja, genau, das ist der Bursche«, stotterte er, wieder mit heißen Wangen. »Wie lange is’ der schon tot?«

»Ich wüsste nicht, dass er gestorben ist.« Sie sah ihn neugierig an. »Wo haben Sie seine Bekanntschaft gemacht?«

»Hab ihn nie gesehen«, war seine Antwort. »Ich hab ein paar Gedichte von ihm gelesen, kurz bevor Sie hereinkamen, in dem Buch da auf dem Tisch. Wie gefallen Ihnen seine Gedichte?«

Daraufhin begann sie rasch und leicht über das von ihm angeschlagene Thema zu reden. Er fühlte sich etwas besser und setzte sich etwas weiter nach hinten auf seinem Stuhl, klammerte sich aber mit beiden Händen an dessen Lehnen fest, damit er ihm nicht entwischte und ihn auf den Boden warf. Es war ihm gelungen, sie zum Reden zu bringen – in ihrer Sprache. Und während sie immer weiter redete, versuchte er, ihr zu folgen. Er staunte über all die Kenntnisse, die in ihrem hübschen Kopf verstaut waren, und sog dabei die blasse Schönheit ihres Gesichts ein. Er konnte ihr durchaus folgen, auch wenn ihn all die fremden Wörter, kritischen Begriffe und Gedankengänge beunruhigten, die ihr fließend über die Lippen kamen. Sie waren seinem Denken fremd, stimulierten und kitzelten sein Gehirn aber. Das also war intellektuelles Leben, dachte er, und es war von einer wunderbaren Wärme und Schönheit, wie er sie sich nie erträumt hätte. Er vergaß sich und starrte sie mit hungrigen Augen an. Hier gab es etwas, wofür es sich zu leben lohnte, worauf man setzen, wofür man kämpfen und – ja, auch sterben konnte. Die Bücher sagten die Wahrheit: Es gab auf der Welt solche Frauen. Und sie war eine davon. Sie verlieh seiner Fantasie Flügel. Große, leuchtende Leinwände breiteten sich vor ihm aus, auf denen unbestimmt und gewaltig die Umrisse von Romantik und Liebe und heroischen Taten aufragten, die für Frauen getan wurden – für eine blasse Frau, eine Blüte des Goldes. Und durch die schwankende, pulsierende Vision dieses Feenwunders hindurch starrte er auf die reale Frau, die da saß und von Kunst und Literatur redete. Er hörte auch zu, aber vor allem starrte er – ohne sich der Fixiertheit seines Blicks oder der Tatsache bewusst zu sein, dass alles, was männlich an ihm war, in diesem Blick lag. Sie hingegen, die von der Welt der Männer kaum etwas wusste, spürte seine brennenden Augen sehr deutlich. Noch nie hatten sie Männer so angesehen, und es machte sie verlegen. Sie stolperte und zögerte in ihren Darlegungen, der rote Faden entglitt ihr. Der Mann machte ihr Angst, und zugleich war es irgendwie angenehm, so angeschaut zu werden. Ihre Erziehung warnte sie vor Gefahr und einem subtilen Unrecht, das ebenso rätselhaft wie verlockend war, während die Fanfaren ihrer Instinkte ihr ganzes Wesen erfüllten und sie dazu drängten, die Hürden von Kaste und Stellung zu überspringen, um zu diesem Reisenden aus einer anderen Welt zu gelangen, zu diesem ungeschlachten jungen Burschen mit aufgerissenen Händen und einer blutig roten Linie über der Kehle, wo der ungewohnte Kragen gescheuert hatte. Ein junger Bursche, der nur allzu offensichtlich von einem ungnädigen Dasein beschmutzt und befleckt war. Sie war rein, und ihre Reinheit empörte sich; aber sie war auch eine Frau und lernte gerade das paradoxe Wesen der Frauen kennen.

»Wie ich schon sagte – wo war ich stehen geblieben?« Sie brach abrupt ab und lachte vergnügt über ihr Missgeschick.

»Sie sagten gerade, dass dieser Mann, der Swinburne, deshalb kein großer Dichter ist, weil – und weiter sind Sie nicht gekommen, Miss«, erinnerte er sie und spürte einen plötzlichen Hunger, während ihm beim Klang ihres Lachens köstliche kleine Schauer den Rücken hinauf- und hinunterliefen. Wie Silber, dachte er bei sich selbst, wie klingelnde Silberglöckchen; und sogleich wurde er für einen Moment in ein fernes Land versetzt, wo er unter rosa Kirschblüten saß, eine Zigarette rauchte und den Glöckchen einer spitzen Pagode zuhörte, die Gläubige in Strohsandalen zur Andacht anhielten.

»Ja, danke«, sagte sie. »Swinburne scheitert letztendlich daran, dass er, nun ja, unschicklich ist. Es gibt etliche Gedichte von ihm, die nie gelesen werden sollten. Bei wirklich großen Dichtern dagegen ist jede Zeile von Schönheit und Wahrheit erfüllt und wendet sich an das Erhabene und Edle im Menschen. Auf keine Zeile der großen Dichter kann man verzichten, ohne die Welt ein Stück ärmer zu machen.«

»Ich fand es großartig«, sagte er unsicher. »Das wenige, was ich gelesen habe. Ich hatte keine Ahnung, dass er so ein … Schmutzfink ist. Das kommt wohl mehr in seinen anderen Büchern zum Vorschein.«

»In dem Buch, das Sie gelesen haben, gibt es viele Zeilen, auf die man verzichten könnte«, sagte sie streng und belehrend.

»Die hab ich wohl übersehen«, gestand er. »Was ich gelesen hab, war echt gut. Es war so strahlend und hell, das hat in mich hineingeschienen und alles erleuchtet, wie die Sonne oder ein Scheinwerfer. So ist das bei mir angekommen, aber ich versteh wohl nich’ viel von Gedichten, Miss.«

Lahm brach er ab. Er war verwirrt, war sich seiner Sprachlosigkeit schmerzhaft bewusst. Er hatte die Größe und den Glanz des Lebens in dem gespürt, was er gelesen hatte, aber seine Sprache war zu unzulänglich, um es zu beschreiben. Er konnte nicht sagen, was er dachte, und fühlte sich wie ein Seemann, der in dunkler Nacht auf einem fremden Schiff in der unbekannten Takelage herumklettert. Nun, beschloss er, es liegt bloß an mir, diese neue Welt kennenzulernen. Er hatte noch nichts gesehen, was er nicht lernen konnte, wenn er nur wollte, und es war Zeit, dass er lernte, so über die Dinge zu reden, die in seinem Inneren waren, dass sie es verstehen konnte. Sie nahm dabei einen gewaltigen Raum an seinem Horizont ein.

»Longfellow zum Beispiel –«, sagte sie gerade.

»Ja, den hab ich gelesen«, unterbrach er sie impulsiv, um seinen kleinen Vorrat an Bücherwissen so groß wie möglich erscheinen zu lassen und ihr zu zeigen, dass er kein völlig ungebildeter Tropf war. »Den ›Psalm des Lebens‹, ›Excelsior‹ und … ja, ich glaube, das war’s.«

Sie nickte und lächelte, und er hatte das Gefühl, dass ihr Lächeln herablassend war: mitleidig nachsichtig. Er war ein Idiot, wenn er versuchte, auf diese Art Eindruck zu machen. Dieser Bursche Longfellow hatte wahrscheinlich zahllose Gedichtbücher geschrieben.

»Entschuldigen Sie, Miss, dass ich so reingeplatzt bin. Tatsache ist, dass ich überhaupt nicht viel über so Sachen weiß, schätze ich. Das hatten wir nicht in der Klasse. Aber ich werd dafür sorgen, dass es künftig zu meiner Klasse gehört.«

Es klang wie eine Drohung. Seine Stimme war entschlossen, seine Augen blitzten und seine Züge waren hart geworden. Sie hatte sogar den Eindruck, dass sich der Winkel seines Unterkiefers geändert hatte; er schien jetzt unangenehm aggressiv. Gleichzeitig schien eine Woge von Männlichkeit von ihm auszugehen und gegen sie anzubranden.

»Ich glaube, Sie können es schaffen in – in Ihrer Klasse«, sagte sie mit einem Lachen. »Sie sind sehr entschlossen.«

Ihr Blick ruhte für einen Augenblick auf dem muskulösen, sonnenverbrannten, fast stierhaften Nacken und seinen mächtigen Muskelsträngen, die von rauer Gesundheit und Stärke strotzten. Und wieder fühlte sie sich zu ihm hingezogen, obwohl er so verlegen und demütig dasaß. Ein verrückter, unkontrollierter Gedanke schoss ihr durchs Hirn. Es kam ihr vor, dass all seine Stärke und Energie in sie einfließen würde, wenn sie ihre Hände um diesen Hals schlingen könnte. Der Gedanke schockierte sie. Er schien eine ungeahnte Verdorbenheit in ihr zu enthüllen. Abgesehen davon war Kraft etwas grob Tierisches für sie. Ihr Ideal männlicher Schönheit war stets schlanke Anmut gewesen.

Dennoch hielt der Gedanke an. Es verwirrte sie, dass sie den Wunsch haben sollte, ihre Hände um diesen sonnenverbrannten Nacken zu schlingen. Sie war tatsächlich alles andere als robust, und sowohl ihr Körper als auch ihre Seele verlangten nach Stärke. Das wusste sie allerdings nicht. Sie wusste nur, dass sie bisher kein Mann so beeindruckt hatte wie dieser, der sie jeden Augenblick mit seiner scheußlichen Ausdrucksweise schockierte.

»Ich bin ja kein Behinderter«, sagte er. »Wenn’s drauf ankommt, kann ich Eisen fressen. Aber jetz’ gerade leide ich unter Dyspepsie. Das meiste von dem, was Sie sagen, kann ich nich’ verdauen. Bin nie ausgebildet worden dazu, versteh’n Sie? Ich mag Gedichte und Bücher, ich hab sie gelesen, so oft ich nur Zeit hatte, aber ich hab nie so darüber nachgedacht wie Sie. Deshalb kann ich auch nich’ darüber reden. Ich bin wie ein Steuermann, der ohne Karte und Kompass auf einem fremden Meer treibt. Jetzt will ich meine Peilung finden, vielleicht könn’ Sie mir ja helfen. Wie haben Sie all das gelernt, wovon Sie geredet haben?«

»In der Schule, vermutlich, und beim Studium«, erwiderte sie.

»Aber ich bin doch auch zur Schule gegangen, als ich ein Kind war«, protestierte er.

»Ja; aber ich habe die Highschool gemeint und Vorlesungen an der Universität.«

»Sie sind zur Universität gegangen?«, sagte er mit blankem Erstaunen. Er hatte das Gefühl, dass sie sich gerade Millionen Meilen von ihm entfernt hatte.

»Ich gehe immer noch hin. Ich habe spezielle Kurse in Englisch belegt.«

Er wusste nicht, was »Englisch« hieß, und machte sich eine gedankliche Notiz über diese spezielle Unwissenheit, ehe er fortfuhr.

»Wie lang müsst ich denn studieren, ehe ich zur Universität gehen könnte?«, fragte er.

Sie lächelte erfreut und ermutigend über seinen Wissensdurst und sagte: »Das hängt davon ab, wie viel Sie schon gelernt haben. Waren Sie auf der Highschool? Natürlich nicht. Aber die Grammar School, die haben Sie doch zu Ende gebracht?«

»Ich hatte noch zwei Jahre, als ich abgegangen bin«, sagte er. »Aber ich bin immer mit Anstand versetzt worden.«

Im nächsten Augenblick ärgerte er sich über das Eigenlob und packte die Lehnen seines Stuhls mit solcher Wut, dass seine Fingerspitzen brannten. Im selben Augenblick bemerkte er, dass eine Frau den Raum betrat. Er sah, wie das junge Mädchen aufstand und schnell zu der Eintretenden hineilte. Sie küssten sich und traten auf ihn zu, die Arme um die Taille der anderen geschlungen. Das muss ihre Mutter sein, dachte er. Sie war eine hochgewachsene, blonde Frau, schlank, stattlich und schön. Ihr Kleid war so, wie man es in einem solchen Haus erwarten durfte. Seine Augen erfreuten sich an dem anmutigen Faltenwurf. Zusammen mit diesem Kleid erinnerte sie ihn an Frauen auf der Bühne. Dann fiel ihm ein, dass ähnlich grandiose Damen und Kleider auch in die Theater in London gegangen waren, während er dagestanden und zugeschaut hatte, bis ihn die Polizisten in den Nieselregen außerhalb der Markise zurückgedrängt hatten. Als Nächstes sprangen seine Gedanken zum Grand Hotel in Yokohama, wo er vom Bürgersteig aus auch solche vornehmen Damen gesehen hatte. Dann wirbelten die Stadt und der Hafen von Yokohama in tausend Bildern vorbei. Er legte das Kaleidoskop der Erinnerung aber eilig beiseite, denn die Gegenwart erforderte seine ganze Aufmerksamkeit. Er wusste, dass er aufstehen musste, um vorgestellt zu werden, und kämpfte sich ungeschickt auf die Füße. Seine Hosen waren ausgebeult an den Knien, seine Arme hingen schlaff und albern herunter, und seine Gesichtszüge waren erstarrt in Erwartung der Feuerprobe.

2

Der Weg ins Esszimmer war ein einziger Albtraum für ihn. Zwischen Stoppen und Stolpern, Stoßen und Schwanken schien jedwede Fortbewegung zeitweise unmöglich. Aber am Ende hatte er es geschafft und wurde neben sie gesetzt.

Der Aufmarsch der Messer und Gabeln machte ihm Angst. Sie drohten mit unbekannten Gefahren, und er starrte sie fasziniert an, bis ihr Glanz hinter einer Serie von Szenen aus dem Vorschiff zurücktrat, in denen er und seine Kameraden mit den Fingern und Matrosenmessern Salzfleisch aßen oder mit verbogenen Löffeln fette Erbsensuppe aus Blechnäpfen schöpften. Der Geruch von verdorbenem Fleisch stieg ihm in die Nase, während das Schmatzen seiner Kameraden sein Ohr füllte, begleitet vom Knarren der Balken und ächzenden Schotts. Er sah ihnen zu und beschloss, dass sie wie Schweine fraßen. Nun, hier würde er vorsichtig sein. Er würde keine Geräusche machen. Auch wenn er sich die ganze Zeit darauf konzentrieren musste.

Er sah sich am Tisch um. Ihm gegenüber saßen Arthur und sein Bruder Norman. Sie waren ihre Brüder, sagte er sich, und sein Herz erwärmte sich für sie. Wie sie sich liebten, die Mitglieder dieser Familie! Das Bild ihrer Mutter erschien vor seinem inneren Auge, wie sie sich zur Begrüßung geküsst hatten und umschlungen auf ihn zugekommen waren. In seiner Welt gab es solche Liebesbezeugungen zwischen Eltern und Kindern nicht. Sie waren eine Offenbarung von Daseinshöhen, die nur in der Oberwelt erlangt wurden, und sie waren das Schönste, was er bei seinem kurzen Blick in diese Welt bisher gesehen hatte. Er war zutiefst gerührt davon, und sein Herz schmolz in emphatischer Zartheit. Er hatte sein ganzes Leben nach Liebe gehungert. Seine Natur verlangte nach Liebe. Das war eine organische Forderung seines Wesens. Dennoch hatte er ohne sie auskommen müssen und war dabei hart geworden. Er hatte nicht gewusst, dass er Liebe brauchte. Er wusste es auch jetzt noch nicht. Er sah nur, wie sie wirkte, und wurde davon ergriffen. Er fand sie schön, erhaben und herrlich.

Er war froh, dass Mr. Morse nicht da war. Es war schon anstrengend genug, sie, ihre Mutter und ihren Bruder Norman kennenzulernen. Arthur kannte er ja schon ein bisschen. Aber der Vater wäre zu viel gewesen, dessen war er sich sicher. Ihm schien, dass er im ganzen Leben noch nie so hart gearbeitet hatte. Die ärgste Schufterei war ein Kinderspiel gegen das hier. Kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn, und sein Hemd war klatschnass, weil er so viele ungewohnte Dinge auf einmal tun musste. Er musste essen, wie er nie zuvor gegessen hatte, fremde Geräte benutzen und sich dabei unauffällig umsehen, um zu sehen, wie die anderen damit umgingen, er musste eine Fülle von Eindrücken zur Kenntnis nehmen und einordnen, die auf ihn einprasselten. Obendrein war er sich einer heftigen Sehnsucht nach der jungen Frau bewusst, die ihn als dumpfe, schmerzende Unruhe quälte; er spürte den Stachel des Wunsches, die gesellschaftliche Ebene zu erreichen, auf der sie sich bewegte, während seine Gedanken sich in Spekulationen und vagen Plänen verloren, wie er an sie herankommen könnte. Wenn seine heimlichen Blicke zu Norman oder jemand anderem hinüberwanderten, um zu prüfen, welches Messer und welche Gabel bei welcher Gelegenheit eingesetzt wurden, prägten sich auch die Züge der jeweiligen Person in sein Gehirn ein, das ganz automatisch versuchte, sie einzuschätzen und zu erraten, in welcher Beziehung sie wohl zu ihr standen. Dann musste er noch reden, zuhören und darauf achten, was sonst gesagt wurde. Wenn es nötig war, musste er antworten – und das mit einer lockeren Zunge, die ständig unter Kontrolle gebracht werden musste. Und um weitere Verwirrung auf die Verwirrung zu häufen, gab es da noch den Diener, eine ständige Bedrohung, die lautlos an seiner Schulter erschien, eine düstere Sphinx, die immer wieder Rätsel und Fragen aufwarf und eine sofortige Antwort verlangte. Während der gesamten Mahlzeit quälte ihn der Gedanke an Fingerschalen. Praktisch ununterbrochen, zwanzigfach fragte er sich, wann sie wohl auftauchen und wie sie aussehen würden. Er hatte von ihnen gehört, und früher oder später würde er sie jetzt sehen, womöglich innerhalb der nächsten Minuten. Er würde am selben Tisch mit Wesen sitzen, die sie benutzten und – ja, er selbst würde sie auch benutzen. Vor allem aber, tief unten und zugleich ganz im Vordergrund seines Bewusstseins, stand das Problem, wie er sich gegenüber diesen Wesen verhalten sollte. Welche Haltung sollte er einnehmen? Beharrlich und voll banger Sorge kämpfte er mit dem Problem. Es gab feige Einflüsterungen, dass er etwas vortäuschen solle und eine Rolle spielen; und dann gab es noch feigere Stimmen, die ihm sagten, dabei würde er bloß scheitern und sich zum Narren machen, weil seine Natur dafür nicht geeignet war, so etwas durchzuhalten.

Zu Beginn der Mahlzeit, als er noch um die richtige Haltung rang, war er sehr still. Er wusste nicht, dass er Arthur damit Lügen strafte, der seiner Familie am Tag zuvor angekündigt hatte, er werde einen »wilden Mann« nach Hause zum Dinner mitbringen, aber man solle sich deswegen nicht beunruhigen, er sei ein sehr interessanter Verrückter. Martin Eden hätte damals ohnehin nicht geglaubt, dass ihr Bruder zu einem solchen Verrat fähig gewesen wäre – schon deshalb nicht, weil er derjenige gewesen war, der diesen Bruder aus einer sehr unangenehmen Schlägerei gerettet hatte. Deshalb saß er bei Tisch, verstört von seiner eigenen Unfähigkeit und zugleich begeistert von allem, was um ihn herum geschah. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass Essen nicht nur einen praktischen Nutzen hatte. Was er aß, war ihm nicht bewusst. Das war nur Nahrung. Er genoss seine Liebe zur Schönheit an diesem Tisch, wo das Essen eine ästhetische Funktion hatte. Und eine intellektuelle dazu. Sein Geist war aufgewühlt. Er hörte Worte, die keinen Sinn für ihn ergaben, und andere, die er nur in Büchern gesehen hatte und die kein Mensch, den er kannte, auch nur hätte aussprechen können. Wenn er hörte, wie die Mitglieder dieser wunderbaren Familie, ihrer Familie, solche Wörter achtlos von ihren Lippen tropfen ließen, bebte er vor Entzücken. Die Romantik, Schönheit und Kraft der Bücher bewahrheitete sich. Er befand sich in jenem seltenen und seligen Zustand eines Menschen, der sieht, wie die Träume aus den Winkeln seiner Fantasie heraustreten und Tatsachen werden.

Noch nie hatte er eine solche Höhe des Lebens erreicht, und so hielt er sich im Hintergrund, hörte zu und beobachtete, und versuchte gefällig zu sein. Er antwortete ihr meist nur einsilbig: »Ja, Miss« und »Nein, Miss« und zu ihrer Mutter »Ja, Ma’am« und »Nein, Ma’am«. Den von der Seefahrt herrührenden Impuls, ihren Brüdern mit »Ja, Sir« und »Nein, Sir« zu antworten, konnte er gerade noch unterdrücken, denn er spürte sofort, dass es unangemessen gewesen wäre. Er hätte sich damit selbst klein gemacht, und wenn er sie je erringen wollte, wäre das ganz unmöglich gewesen. Außerdem ließ es sein Stolz nicht zu.

»Bei Gott!«, rief er sich einmal selbst zu. »Ich bin genauso gut wie die. Sie wissen vielleicht viel, was ich nicht weiß, aber ich könnte denen auch einiges beibringen!« Aber im nächsten Moment, wenn sie oder ihre Mutter ihn »Mr. Eden« nannten, war sein aggressiver Stolz schnell vergessen, und er glühte vor Freude. Er war ein zivilisierter Mann, einer, der Schulter an Schulter mit Leuten beim Dinner saß, über die er in Büchern gelesen hatte. Er war jetzt selbst in den Büchern und abenteuerte durch die gedruckten Seiten.

Aber während er hinter Arthurs Beschreibung zurückblieb und durchaus nicht als »wilder Mann« erschien, sondern fast wie ein frommes Lämmchen, suchte er innerlich nach einer Strategie. Er war kein sanftes Lamm und die Rolle der zweiten Geige passte nicht zum Herrschaftsanspruch seiner Natur. Er redete nur, wenn er musste, und dann so ähnlich, wie er zu Tisch gegangen war: mit Stoppen und Stolpern. Er suchte nach Wörtern in seinem polyglotten Vokabular, prüfte Wörter, die passten, die er aber womöglich nicht aussprechen konnte, sortierte andere aus, die hier niemand verstehen würde, die plump oder grob waren. Aber die ganze Zeit bedrückte ihn das Gefühl, dass ihn seine behutsame Wortwahl zum Trottel machte und daran hinderte, das zu sagen, was er in sich hatte. Außerdem rieb sich seine Freiheitsliebe an diesen Beschränkungen, so wie sein Hals sich am gestärkten Kragen rieb. Er wusste, er würde das nicht lange durchhalten. Er war von Natur aus stark im Denken und Fühlen, und sein schöpferischer Geist war störrisch und unruhig. Rasch überwältigten ihn die Begriffe und Gefühle, die nach Ausdruck und Form suchten; er vergaß, wo er war, und die alten Wörter – die vertrauten Werkzeuge seiner Gedanke – schlüpften heraus.

Als ihn der Diener wieder einmal bedrängte und unterbrach, sagte er kurz und knapp: »Pau!«

Sofort wurden alle am Tisch aufmerksam und sahen ihn erwartungsvoll an. Der Diener lächelte süffisant, und er schämte sich schrecklich, erholte sich aber schnell.

»Das is’ Kanakisch für ›fertig‹«, erläuterte er. »Ist mir einfach so rausgerutscht. Buchstabiert wird es p-o-w.«

Er merkte, dass sie neugierig und forschend auf seine Hände blickte, und da er einmal angefangen hatte, sich zu erklären, sagte er: »Bin gerade auf einem Pazifik-Postdampfer die Küste heruntergekommen. Er hatte Verspätung, und in den Häfen am Puget Sound mussten wir schuften wie Nigger, als wir die Fracht verstaut haben. Stückgut, wissen Sie? Dabei hab ich mir die Haut runtergerissen.«

»Ach, nicht doch«, erklärte sie hastig. »Ihre Hände sehen bloß so klein aus, verglichen mit Ihrem Körper.«

Sein Gesicht wurde heiß. Er hatte das Gefühl, dass ein weiterer Mangel bei ihm aufgedeckt worden war. »Ja«, sagte er abschätzig. »Sind nich’ groß genug für die Belastung. Mit meinen Armen und Schultern kann ich wie ein Maultier zuschlagen. Sind zu stark, und wenn ich einem aufs Maul haue, geh’n dabei meine Hände kaputt.«

Er war nicht zufrieden mit dem, was er da gesagt hatte. Er empfand Widerwillen gegen sich selbst. Er hatte seine Zunge nicht unter Kontrolle gehalten und Dinge gesagt, die nicht nett waren.

»Es war sehr mutig von Ihnen, Arthur so zu helfen, wie Sie es getan haben. Dabei kannten Sie ihn doch gar nicht«, sagte sie taktvoll. Sie spürte sein Unbehagen, wusste aber nicht, wo es herkam.

Er dagegen begriff durchaus, was sie da gerade getan hatte, und eine warme Woge der Dankbarkeit ließ ihn seine lose Zunge vergessen.

»Das war doch nichts«, sagte er. »Jeder würde das für einen anderen tun. Diese Bande von Rowdys hat Streit gesucht. Dabei hat Arthur überhaupt nichts von ihnen gewollt. Sie sind auf ihn losgegangen, und dann bin ich auf sie los und hab ihnen paar reingehauen. Dabei is’ noch ’n bisschen mehr Haut von meiner Hand abgegangen, und denen sind ein paar Zähne verloren gegangen. War ein Mordsspaß. Als ich gesehen habe –«

Er unterbrach sich, mit offenem Mund, am Rand seiner eigenen Verkommenheit. Er war es offensichtlich nicht wert, dieselbe Luft zu atmen wie sie. Und während Arthur zum zwanzigsten Mal von seinem Abenteuer mit den betrunkenen Hooligans auf der Fähre erzählte, und wie Martin Eden sich auf sie gestürzt und ihn gerettet hatte, saß der Genannte stirnrunzelnd da und überlegte noch angestrengter, warum er sich so zum Narren machte und wie er sich gegenüber diesen Leuten benehmen sollte. Bis jetzt war er nicht sehr erfolgreich gewesen. Er gehörte nicht zu ihrem Stamm und beherrschte ihre Sprache nicht, so erklärte er sich das. Er konnte auch nicht so tun, als ob er ihresgleichen wäre. Die Maskerade würde scheitern, außerdem war sie seinem Wesen fremd. Für Verstellung und List gab es in ihm keinen Raum. Was immer passierte, er musste auf jeden Fall ehrlich sein. Jetzt konnte er zwar noch nicht so reden wie sie, aber mit der Zeit würde er’s lernen. Dazu war er entschlossen. Aber reden musste er jetzt schon, und zwar in seiner eigenen Sprache, allerdings abgeschwächt, damit sie ihn verstehen konnten und nicht zu schockiert waren. Außerdem durfte er nicht einmal stillschweigend so tun, als ob er irgendetwas verstünde, was er in Wirklichkeit gar nicht verstand. Infolge dieser Entscheidung fragte er, nachdem die Brüder in ihrem Universitätsjargon mehrfach den Ausdruck »Trig« benutzt hatten: »Was ist ›Trig‹?«

»Trigonometrie«, sagte Norman. »Eine höhere Form von Mathe.«

»Und was ist ›Mathe‹?«, war seine nächste Frage, was Norman irgendwie zum Lachen brachte.

»Mathematik, Arithmetik«, war die Antwort.

Martin Eden nickte. Er hatte einen Blick auf das scheinbar unbegrenzte Panorama des Wissens geworfen. Und was er sah, wurde irgendwie greifbar. Seine starke Vorstellungskraft ließ die Abstrakta konkrete Formen annehmen. In der Chemie seines Hirns verwandelten sich Trigonometrie, Mathematik und die umliegenden Wissensgebiete in eine Art Landschaft. Das Panorama, das er erblickte, bestand aus sanft leuchtendem Blattwerk und lichtdurchschossenen Wäldern. In der Entfernung wurden die Einzelheiten von einem violetten Dunst eingehüllt und blieben verschwommen, aber hinter diesem Nebel lagen der Glanz und die romantische Verlockung des Unbekannten, das wusste er. Es war wie Wein für ihn. Hier gab es Abenteuer für Kopf und Hand, eine Welt, die es zu erobern galt – und sofort stürmte aus dem Hintergrund der Gedanke, dass er sie damit erobern könnte, das lilienweiße Geschöpf neben sich.

Diese strahlende Vision wurde aber von Arthur beiseitegefegt, der schon den ganzen Abend versucht hatte, seinen »wilden Mann« aus der Reserve zu locken. Martin Eden ließ sich darauf ein. Zum ersten Mal wurde er ganz er selbst, anfangs noch sehr bewusst und überlegt, aber bald verlor er sich in der Freude des Erzählens und versuchte das Leben, das er kannte, auch in den Köpfen seiner Zuhörer lebendig werden zu lassen.

Er war Besatzungsmitglied der Schmugglerjacht »Halcyon« gewesen, die von einem Zollkutter aufgebracht worden war. Er hatte alles mit wachen Augen gesehen und konnte erzählen, was er gesehen hatte. Er stellte ihnen das pulsierende Meer und die Männer und Schiffe darauf vor. Er vermittelte ihnen die eigene Sehkraft, bis sie durch seine Augen sahen, was er gesehen hatte. Aus der gewaltigen Masse von Einzelheiten wählte er mit dem Geschick des Künstlers aus und malte Bilder des Lebens, die vor Licht und Farbe glühten und brannten. Dann injizierte er ihnen Bewegung, bis seine Zuhörer auf einer Welle von Enthusiasmus, Kraft und rauer Beredsamkeit mit ihm dahinjagten. Manchmal schockierte er sie mit seinen Redensarten und der Lebhaftigkeit seiner Erzählung, aber auf jede Brutalität folgte Schönheit, Tragisches wurde abgelöst von Humor oder Ausführungen über die sonderbaren Eigenarten und Schrullen der Seeleute.

Und während er redete, sah die junge Frau ihn mit großen Augen an. Sein Feuer wärmte sie. Sie fragte sich, ob sie vielleicht ihr ganzes Leben gefroren hätte. Sie wollte sich anlehnen bei diesem brennenden, feurigen Mann, der Kraft, Robustheit und Gesundheit versprühte wie ein Vulkan. Sie hatte das Gefühl, sie müsse sich anlehnen und konnte sich nur mit Mühe zurückhalten. Aber es gab auch den Gegenimpuls, vor ihm zurückzuweichen. Sie fühlte sich abgestoßen von den zerschundenen Händen, die so von der Arbeit verdreckt waren, dass sich der Schmutz des Lebens fast bis ins Fleisch gefressen hatte, aber auch von dem wundgescheuerten Hals und den schwellenden Muskeln. Seine Grobheiten ängstigten sie; jeder derbe Ausdruck war eine Beleidigung für ihr Ohr und jedes rohe Detail seines Lebens eine Kränkung für ihre Seele. Dennoch zog es sie immer mehr zu ihm hin, bis sie dachte, er müsse der Böse sein, weil er solche Macht über sie hatte. Alles geriet ins Wanken, was so fest in ihrem Hirn verankert schien. Seine Romantik und seine Abenteuer rannten gegen die Konventionen an. Vor den bestandenen Abenteuern und seinem raschen Lachen war das Leben keine Frage der Zwänge und ernsten Bemühungen mehr, sondern ein Spielzeug, das man auf den Kopf stellen, leben und genießen und sorglos wegwerfen konnte.

»Spiel doch!«, war der Ruf, der sie durchdrang. »Lehn dich bei ihm an, wenn du willst, und leg ihm deine Hände um den Hals!«

Sie wollte laut schreien bei diesem kühnen Gedanken, aber vergeblich stellte sie ihm die eigene Unbeflecktheit und Kultur entgegen, warf ihr ganzes Sein in die Waagschale gegen all das, was er nicht war. Aber als sie sich umsah, stellte sie fest, dass die anderen ihn hingerissen und aufmerksam anstarrten. Sie wäre wohl verzweifelt, wenn sie nicht das Entsetzen in den Augen ihrer Mutter bemerkt hätte – fasziniertes Entsetzen, das ließ sich nicht leugnen, aber eigentlich doch Entsetzen. Dieser Mann aus dem Dunkel da draußen war böse. Ihre Mutter sah es, und sie hatte recht. Sie vertraute dem Urteil ihrer Mutter in dieser Angelegenheit, wie sie ihr immer in allen Dingen vertraut hatte. Sein Feuer wärmte sie nicht länger, und die Angst vor ihm stach sie nicht mehr.

Später am Flügel spielte sie für ihn, oder eigentlich aggressiv gegen ihn, mit der unbestimmten Absicht, die unüberwindliche Kluft zu betonen, die sie von ihm trennte. Ihre Musik war ein Knüppel, den sie ihm brutal auf den Kopf schlug; und obwohl sie ihn betäubte und niederwarf, stachelte sie ihn auch an. Ehrfürchtig blickte er zu ihr auf. Wie in ihrem so erweiterte sich die Kluft auch in seinem Kopf; aber schneller als sie sich erweiterte, wuchs sein Ehrgeiz, sie zu überwinden. Er war ein zu kompliziertes Gewirr von Wahrnehmungen, als dass er sich einen ganzen Abend darauf hätte beschränken können, in einen Abgrund zu starren. Insbesondere nicht, wenn es Musik gab. Er war für Musik sehr empfänglich. Sie war wie ein starkes Getränk, das seine Gefühle zu besonderer Kühnheit anspornte – ein Rausch, der seine Fantasie wolkenhoch über den Himmel trieb. Musik verbannte die öde Realität, überschwemmte die Seele mit Schönheit, setzte die Romantik frei und heftete Schwingen an ihre Fersen. Er verstand die Musik nicht, die sie spielte. Sie war ganz anders als das Klaviergehämmer der Tanzhallen und die schmetternde Blasmusik, die er kannte. Hinweise auf solche Musik hatte er allerdings in den Büchern gefunden und vertraute ihrem Spiel einfach gutgläubig. Zunächst wartete er noch darauf, dass betonte einfache Rhythmen auftreten würden, und war ein bisschen verwirrt, als sie immer nur kurz blieben. Jedes Mal, wenn er sie erfasst hatte und sein Gedankenflug ansetzte, gingen sie in einem chaotischen Gewirr von Tönen wieder unter, das ihm nichts bedeutete und seine Fantasie träge zur Erde zurückfallen ließ.

Einmal kam ihm der Gedanke, dass dahinter eine bewusste Zurückweisung stand. Er spürte ihren Widerstand und bemühte sich, die Botschaft zu erraten, die ihre Hände auf den Tasten ausdrückten. Dann verwarf er den Gedanken als unwürdig und unmöglich und gab sich der Musik umso freier hin. Der alte entzückte Zustand stellte sich wieder her. Seine Füße bestanden nicht länger aus Lehm, und sein Fleisch wurde Geist; vor und hinter seinen Augen schien ein herrlicher Glanz; dann verschwand die Szene vor ihm und er war auf und davon, schwebte über einer Welt, die ihm sehr teuer war. Das Bekannte und das Unbekannte vermischten sich in einem geträumten Schauspiel, das seine Augen bedrängte. Er lief fremde Häfen in sonnengleißenden Ländern an, ging durch die Märkte barbarischer Völker, die noch kein Mensch gesehen hatte. Der Duft der Gewürzinseln, den er in warmen, windstillen Nächten gerochen hatte, stieg ihm in die Nase; er kreuzte lange, tropische Tage gegen den Südost-Passat, ließ mit Palmen bestandene Koralleninseln zurück und sah andere aus der türkisgrünen See vor sich aufsteigen. Die Bilder kamen und gingen gedankenschnell. Eben noch saß er auf einem Bronco und flog durch die märchenhafte Landschaft der Painted Desert, im nächsten Augenblick starrte er durch die flimmernde Hitze in das weiße Grab des Death Valley oder ruderte durch ein eiskaltes Meer, aus dem gewaltige Eisberge aufragten und in der Sonne glitzerten. Er lag auf einem Korallenstrand, wo sich die Kokospalmen zur leise rauschenden Brandung herabkrümmten. Der Rumpf eines alten Wracks wurde von blauen Feuern beleuchtet, in deren Licht sich die Hula-Mädchen zum Klang der wilden, von klimpernden Ukulelen und rumpelnden Trommeln begleiteten Liebeslieder im Tanz wiegten. Es war eine sinnliche, tropische Nacht. Im Hintergrund zeichnete sich vor dem Licht der Sterne ein Vulkankrater ab. Ein blasser Halbmond trieb über den Himmel, und das Kreuz des Südens brannte niedrig über dem Horizont.

Er war jetzt wie eine Harfe; das Leben, das er gelebt und in seinem Bewusstsein aufbewahrt hatte, spannte die Saiten, die vom Wind der Musik zum Klingen gebracht wurden und Erinnerungen und Träume erzeugten. Er fühlte aber nicht nur. Seine Empfindungen nahmen Gestalt an, sie hatten Farbe und Strahlkraft. Dort, wo sich seine Fantasie hinwagte, schuf sie Gegenstände auf erhabene und magische Weise. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermischten sich, und er segelte beschwingt durch eine weite, warme Welt, durch große Abenteuer und edle Taten zu ihr – und mit ihr. Es gelang ihm, sie zu gewinnen, die Arme um sie zu legen und mit ihr durch das Reich seiner Seele zu fliegen.

Und als sie ihn einmal über die Schulter anblickte, sah sie all das in seinem Gesicht. Es war ein verklärtes Gesicht mit großen, strahlenden Augen, die über den Schleier der Töne hinaussahen und dahinter den pochenden Pulsschlag des Lebens und gewaltige Phänomene des Geistes erblickten. Das erstaunte sie. Der grobe, ungeschickte Lümmel war weg. Die schlecht sitzenden Kleider, die zerschundenen Hände und das sonnenverbrannte Gesicht waren noch da, aber sie schienen nur noch wie Gitterstäbe, durch die eine große unartikulierte und stumme Seele heraussah, deren bebende Lippen noch keine Sprache hatten. Nur einen kurzen Moment lang sah sie das alles aufblitzen, dann kehrte der grobe Lümmel zurück, und sie lachte über die Laune ihrer Fantasie. Aber der Eindruck dieses flüchtigen Augenblicks war geblieben, und als es Zeit für ihn wurde zu gehen und er sich holperig verabschiedete, lieh sie ihm den Gedichtband von Swinburne und einen weiteren von Robert Browning – den sie in einem ihrer Proseminare las. Er schien wie ein kleiner Junge, als er errötend dastand und seinen Dank stammelte, sodass sie eine Welle von mütterlichem Mitleid erfasste. Sie dachte nicht mehr an den groben Klotz oder an die gefangene Seele und erinnerte sich auch nicht an den Mann, der sie den ganzen Abend in seiner Männlichkeit angestarrt, entzückt und geängstigt hatte. Sie sah nur noch einen Jungen vor sich, der ihre Hand mit einer Hand schüttelte, die so schwielig war, dass sie sich wie eine Muskatreibe anfühlte und ihr die Haut aufschürfte.

»Hatte hier die beste Zeit meines Lebens«, sagte er hektisch. »Wissen Sie, ich bin an so was nicht gewöhnt …« Er sah sich hilflos um. »An Leute und Häuser wie dieses. Das ist alles neu für mich, und es gefällt mir.«

»Ich hoffe, Sie kommen bald wieder«, sagte sie, während er ihren Brüdern Gute Nacht sagte.

Er setzte seine Mütze auf, stolperte hoffnungslos aus der Haustür und war weg.

»Nun, was hältst du von ihm?«, fragte Arthur.

»Er ist sehr interessant, ein Hauch von Ozon«, erwiderte sie. »Wie alt ist er denn?«

»Zwanzig – fast einundzwanzig. Ich hab ihn heute Nachmittag gefragt. Dachte gar nicht, dass er so jung ist.«

Und ich bin drei Jahre älter, dachte sie, als sie ihren Brüdern den Gutenachtkuss gab.

3

Als Martin Eden die Treppe hinunterging, wanderte seine Hand in die Jackentasche und kam mit einem Stück braunem Reispapier und etwas mexikanischem Tabak wieder heraus, die er geschickt zu einer Zigarette drehte. Er sog den ersten Zug tief in die Lunge ein und stieß dann lange und langsam den Rauch aus.

»Bei Gott!«, sagte er laut, voller Ehrfurcht und Staunen. »Bei Gott!«, wiederholte er. Und murmelte noch einmal: »Bei Gott!«

Dann fasste er sich an den Hals, riss den Kragen heraus und stopfte ihn in die Tasche. Ein kalter Nieselregen fiel, aber er nahm die Mütze ab und knöpfte die Weste auf. In herrlicher Sorglosigkeit ging er dahin. Er spürte kaum, dass es regnete. Er war in Ekstase, träumte Träume und hielt sich das eben Erlebte noch einmal vor Augen.

Endlich hatte er die Frau getroffen – die Frau, an die er bisher kaum je gedacht hatte, weil er gar keine Zeit dazu hatte, an Frauen zu denken, auch wenn er auf unbestimmte Weise erwartet hatte, ihr irgendwann zu begegnen. Er hatte neben ihr am Tisch gesessen. Er hatte ihre Hand in seiner gespürt, er hatte ihr in die Augen geschaut und das Bild einer schönen Seele gesehen, die doch nicht schöner war als die Augen, aus denen sie leuchtete, oder das Fleisch, das ihr Ausdruck und Form gab. Er dachte an ihr Fleisch nicht als Fleisch – was durchaus neu für ihn war, denn bei den Frauen, die er bisher gekannt hatte, hatte er immer nur daran gedacht. Ihr Fleisch war irgendwie anders. An ihren Körper dachte er nicht als Körper, der körperlichen Schwächen und Krankheiten unterlag. Er war mehr als das Gewand ihres Geistes. Er war Ausdruck des Geistes, eine reine und anmutige Kristallisation ihres göttlichen Wesens. Dieses Gefühl von etwas Göttlichem verblüffte und erschreckte ihn. Es riss ihn aus seinen Träumen heraus und ernüchterte ihn. Bisher hatte ihn das Göttliche nie erreicht, kein Wort, keine Ahnung, kein Hinweis. Er hatte an das Göttliche nicht geglaubt. Er war unreligiös und hatte gutmütig über die Himmelslotsen und ihre unsterbliche Seele gespottet. Es gab kein Leben im Jenseits, hatte er behauptet; es gab nur das Hier und Jetzt und danach ewige Finsternis. Aber was er in ihren Augen gesehen hatte, war Seele – eine unsterbliche Seele, die niemals erlöschen konnte. Kein Mann und keine Frau waren ihm je begegnet, die ihm die Botschaft der Unsterblichkeit überbracht hätten. Aber jetzt hatte sie es getan. Sie hatte ihm diese Botschaft gleich mit dem ersten Blick zugeflüstert. Ihr Gesicht schimmerte vor seinen Augen, als er dahinschritt – blass und ernst, süß und empfindsam, voller Mitleid und Zärtlichkeit lächelnd, wie nur ein höherer Geist lächeln konnte, und so rein, wie er es nie für möglich gehalten hätte. Ihre Reinheit hatte ihn wie ein Schlag getroffen. Sie verblüffte ihn. Er hatte Gut und Böse gekannt; aber Reinheit als Merkmal des Daseins war ihm nie in den Sinn gekommen. Jetzt nahm er diese Reinheit als höchste Steigerung von Güte und Unschuld wahr, deren Summe das ewige Leben ausmachte.

Was ihn sofort dazu trieb, nach diesem ewigen Leben zu greifen. Er war es nicht wert, ihr das Wasser zu reichen – das wusste er. Es war ein wunderbares Glück und ein fantastischer Zufall, dass er heute Abend in der Lage gewesen war, sie zu besuchen, mit ihr zusammen zu sein und mit ihr zu reden. Ein Zufall. Nicht sein Verdienst. Er hatte keinen Anspruch auf solches Glück. Seine Stimmung war jetzt zutiefst religiös. Er war bescheiden und demütig, erfüllt von Selbstkritik und Erniedrigung. In solchem Gemütszustand kamen Sünder zur Bußbank. Er war von seiner Sündhaftigkeit überzeugt. Aber so wie die Demütigen und Erniedrigten auf der Bußbank den ersten Blick auf ihr künftiges herrliches Dasein werfen, so hatte er einen Blick auf den Zustand erhascht, den er erringen würde, wenn er sie erst besaß.

Wie diese Besitzergreifung aussehen sollte, war unklar und nebulös, aber auf jeden Fall vollkommen anders als das, was er bisher darunter verstanden hatte. Sein Ehrgeiz erhob sich auf rasenden Schwingen, er sah sich mit ihr zu den höchsten Höhen aufsteigen, Gedanken mit ihr teilen und sich an schönen und edlen Dingen mit ihr erfreuen. Es war ein Seelenbesitz, von dem er träumte, über jede Grobheit hinaus verfeinert, eine freie Kameradschaft des Geistes, die er nicht in präzise Gedanken zu fassen vermochte. Er dachte das eigentlich gar nicht. Er dachte eigentlich überhaupt nicht. Die Gefühle überwältigten den Verstand, er zitterte und bebte in einer Erregung, wie er sie noch nie erlebt hatte, trieb dahin auf einem köstlichen Meer von Empfindungen, wo die Gefühle überhöht und vergeistigt waren und über die Gipfel des Lebens hinauswuchsen.

Wie ein Betrunkener stolperte er dahin, immer wieder fieberhaft stammelnd: »Bei Gott! Bei Gott!«

An der Straßenecke warf ihm ein Polizist einen misstrauischen Blick zu, dann bemerkte er seinen wiegenden Seemannsgang.

»Wo hast du dir den angesoffen?«, fragte der Polizist.

Martin Eden kehrte zurück auf die Erde. Sein Organismus war geschmeidig und anpassungsfähig, er vermochte alle Ritzen und Winkel rasch auszufüllen. Als der Beamte ihn ansprach, war er sogleich wieder völlig normal und erfasste die Situation sehr genau.

»Eine Schönheit, nicht wahr?«, lachte er. »Hab gar nich’ gemerkt, dass ich laut geredet habe.«

»Als Nächstes fängst du noch an zu singen«, stellte der Polizist fest.

»Nee, mach ich nich’. Geh’m Sie mir ’n Streichholz, und ich fahr mit der nächsten Straßenbahn heim.«

Er steckte sich die Zigarette an, sagte Gute Nacht und ging weiter. »Ist das nicht schlimm?«, stieß er lautlos hervor. »Der Bulle hat gedacht, ich bin blau.« Er lachte in sich hinein und fuhr fort: »Na, das bin ich wahrscheinlich sogar. Hätte nie gedacht, dass man vom Gesicht einer Frau betrunken sein kann.«

Er nahm die Telegraph-Avenue-Bahn, die nach Berkeley hinausfuhr. Sie war voll junger Burschen, die lauthals sangen und ihre Schlachtrufe brüllten. Er betrachtete sie mit Interesse. Das waren also Studenten. Sie gingen zur selben Universität wie sie, gehörten zur selben Gesellschaftsschicht, konnten sie kennenlernen und jeden Tag besuchen, wenn sie das wollten. Er wunderte sich, dass sie das offenbar nicht wollten, dass sie lieber eine Sause gemacht hatten, statt an diesem Abend bei ihr zu sein, mit ihr zu reden und voller Anbetung und Bewunderung um sie herumzusitzen. Seine Gedanken wanderten weiter. Er bemerkte einen mit engen Schweinsäugelchen und lose hängenden Lippen. Das musste ein übler Bursche sein, dachte er. An Bord eines Schiffes wäre er sicher ein Spitzel, ein Jammerlappen und Schwätzer gewesen. Er, Martin Eden, war ein besserer Mann als der da. Der Gedanke freute ihn. Er schien ihn näher an sie heranzubringen. Er fing an, sich mit den Studenten zu vergleichen. Er wurde sich seines Muskelapparats und seines Körpers bewusst und war überzeugt, dass er ihnen körperlich weit überlegen war. Aber ihre Köpfe waren mit Wissen angefüllt, das es ihnen erlaubte, in ihrer Sprache mit ihr zu reden – ein Gedanke, der ihn deprimierte.

Aber wozu hat man ein Gehirn?, fragte er voller Leidenschaft. Was die geschafft hatten, konnte er auch. Sie hatten das Leben in Büchern studiert, er hatte das Leben gelebt. Sein Kopf war genauso voll von Wissen wie ihrer, aber es war eine andere Art Wissen. Wie viele von denen konnten einen Taljereepknoten knüpfen, am Ruder stehen oder den Ausguck besetzen? Sein Leben erschien ihm wie eine Bilderfolge von Wagemut und Gefahr, Entbehrung und Mühsal. Er erinnerte sich, wie oft er bei diesen Lernprozessen gerade noch so durchgekommen war oder versagt hatte. Da hatte er denen etwas voraus. Die würden das Leben erst später leben und so wie er durch die Mühle gedreht werden. Nur zu! Während sie damit beschäftigt waren, konnte er aus den Büchern die andere Seite des Lebens kennenlernen.

Während die Bahn durch die Zone verstreuter Siedlungen fuhr, die Oakland von Berkeley trennten, hielt er Ausschau nach einem vertrauten zweistöckigen Gebäude, dessen Vorderseite die stolze Aufschrift zeigte: Higginbotham’s Cash Store. An dieser Ecke stieg Martin Eden aus und starrte einen Augenblick zu dem Schild hoch. Es enthielt eine Botschaft, die über die bloßen Worte hinausging. Die Buchstaben schienen Kleinlichkeit, Egoismus und Verschlagenheit auszustrahlen. Bernard Higginbotham hatte Martins Schwester geheiratet, und er kannte ihn gut. Er schloss die Haustür mit seinem Schlüssel auf und ging die Stufen zum ersten Stock hoch. Hier wohnte sein Schwager. Im Erdgeschoss war der Laden. Der Geruch von welkem Gemüse hing in der Luft. Er tastete sich durch den dunklen Flur, stolperte über ein Wägelchen, das einer seiner zahlreichen Neffen und Nichten dort hinterlassen hatte, und stieß krachend an eine Tür. »Dieser Geizhals«, dachte er. »Zu geizig, um für zwei Cent das Gaslicht brennen zu lassen und seinen Mietern den Hals zu retten.«

Er suchte nach dem Türknopf und betrat ein beleuchtetes Zimmer, wo seine Schwester und Bernard Higginbotham saßen. Sie flickte ihm ein Paar Hosen, während sein magerer Körper gleich auf zwei Stühle verteilt war. Seine Füße steckten in abgetragenen Hausschuhen und baumelten von der Kante des zweiten Stuhls. Er spähte über seine Zeitung und zeigte dabei einen dunklen, unaufrichtigen, stechenden Blick. Martin Eden konnte ihn nie ohne Widerwillen betrachten. Was seine Schwester in ihm gesehen hatte, verstand er nicht. Der Mann erschien ihm wie Ungeziefer und weckte stets den Impuls, ihn unter dem Fuß zu zerquetschen. »Irgendwann schlag ich ihm die Fresse ein«, dachte er, um sich darüber hinwegzutrösten, dass er die Existenz des Mannes ertragen musste. Die Wieselaugen sahen ihn anklagend an.

»Na«, sagte Martin. »Was ist?«

»Ich hab die Tür erst letzte Woche streichen lassen«, sagte Mr Higginbotham halb winselnd, halb drohend. »Du weißt doch, wie hoch die Tariflöhne sind. Du musst besser aufpassen.«

Martin wollte erst antworten, aber dann wurde ihm klar, wie aussichtslos das gewesen wäre. Über die monströse Schäbigkeit dieser Seele hinweg betrachtete er einen Farbdruck, der an der Wand hing, und erlebte eine Überraschung dabei. Das Bild hatte ihm immer gefallen, aber jetzt schien ihm, als ob er es zum ersten Mal sähe. Es war billig, billig war es, so wie alles andere im Haus. In Gedanken kehrte er in das Haus zurück, das er gerade verlassen hatte, und sah als Erstes die Gemälde und dann die schmelzende Süße, mit der sie ihn angeschaut hatte, als sie ihm zum Abschied die Hand gab. Er vergaß, wo er war, und erst recht das Dasein von Bernard Higginbotham, bis dieser Gentleman plötzlich fragte: »Hast du ’n Geist geseh’n?«

Martin kehrte zurück und betrachtete die hämischen Knopfaugen, die ihn feige und streitsüchtig ansahen, und schon sprangen ihm wie auf einer Leinwand dieselben Augen ins Blickfeld, wenn der Eigentümer unten im Laden etwas verkaufte: Dann waren sie selbstgefällig-schmeichlerisch, unterwürfig, ölig und diensteifrig.

»Ja«, sagte Martin. »Ich hab einen Geist gesehen. Gute Nacht. Gute Nacht, Gertrude.« Als er das Zimmer verlassen wollte, stolperte er über den Saum des zerschlissenen Teppichs.

»Nicht mit den Türen knallen«, warnte ihn Mr. Higginbotham.

Er spürte, wie das Blut in seinen Adern pochte, beherrschte sich aber und machte die Tür ganz leise hinter sich zu.

Mr. Higginbotham sah seine Frau triumphierend an. »Er hat getrunken«, erklärte er mit einem heiseren Flüstern. »Ich habe dir doch gesagt, dass er trinkt.«

Sie nickte resigniert. »Er hatte ziemlich glänzende Augen«, musste sie zugeben. »Und den Kragen hatte er auch nicht mehr, mit dem er gegangen ist. Aber vielleicht hat er ja bloß ein paar Gläser getrunken.«