Marvel | Legenden von Asgard – Der Kopf des Mimir - Richard Lee Byers - E-Book

Marvel | Legenden von Asgard – Der Kopf des Mimir E-Book

Richard Lee Byers

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Beschreibung

Der junge Heimdall begibt sich auf eine Quest, um Odin – und alle aus Asgard – zu retten. Es ist eine düstere Zeit für Asgard. Der Allvater liegt im Odinschlaf gefangen, was die Frostriesen zu einem direkten Angriff bewegt. Sie weichen der Verteidigung der Götter mit ungewöhnlicher Leichtigkeit aus. Heimdall, ein kluger junger Krieger auf der Suche nach seiner Stellung unter den Verteidigern Asgards, hält es nicht für Zufall, dass Odin außer Gefecht ist und die Riesen so gut informiert sind. Er bricht in Odins Gemächer ein und entdeckt, dass der abgetrennte Kopf Mimirs – eine Quelle großer Weisheit – verschwunden ist. Begleitet von seiner Schwester, Lady Sif, muss Heimdall die Zehn Welten durchsuchen, um ihn zurückzuholen, damit Asgard nicht fällt. Marvels Die Legenden von Asgard ist eine neue Fantasyreihe, in der mächtige Helden aufregende Abenteuer voller Ehre und Ruhm erleben. © 2021 MARVEL.

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Seitenzahl: 417

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DerKOPFdesMIMIR

EIN ROMAN VON

RICHARD LEE BYERS

INS DEUTSCHE ÜBERTRAGENVON STEPHANIE PANNEN

FOR MARVEL PUBLISHING

VP Production & Special Projects: Jeff Youngquist

Associate Editor, Special Projects: Caitlin O’Connell

Manager, Licensed Publishing: Jeremy West

VP, Licensed Publishing: Sven Larsen

SVP Print, Sales & Marketing: David Gabriel

Editor in Chief: C B Cebulski

Special Thanks to Will Moss

© 2021 MARVEL

Die deutsche Ausgabe von DER KOPF DES MIMIR

wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Stephanie Pannen; verantwortlicher

Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild;

Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: Grant Griffin;

Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice. Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:

THE HEAD OF MIMIR

First published by Aconyte Books in 2020

Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd

German translation copyright © 2021 MARVEL.

Print ISBN 978-3-96658-410-4 (Juni 2021)

E-Book ISBN 978-3-96658-411-1 (Juni 2021)

WWW.CROSS-CULT.DE

Für Duane und Dolly vom Comics Club,die mich mit Marvel-Comics versorgt haben seit …es können unmöglich schon so viele Jahre sein, oder?

Inhalt

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

EPILOG

DANKSAGUNGEN

ANMERKUNG DES AUTORS

PROLOG

Die Sonne Asgards strahlte auf die Rüstungen und stumpfen Langschwerter der Jungen und Mädchen, die sich auf der Wiese in Zweiergruppen gegenüberstanden. Jedem Duo war ein erwachsener Schiedsrichter zugeteilt, der die Runden und Punkte zählte. Einige der Kinder wirkten nervös, während andere selbstbewusst und entspannt waren. Und dann gab es noch ein paar, denen die Vorfreude auf den Wettbewerb am Grinsen anzusehen war. Volstagg, dessen Körperfülle in einem scharlachroten Wams steckte, passend zu seinem buschigen Bart in der Farbe eines Fuchsfells, gehörte zu den Eltern, die in den Zuschauerring um den Turnierbereich verbannt worden waren.

Wie die anderen Väter und Mütter beobachtete Volstagg sein eigenes Kind mit einer Mischung aus Stolz, Hoffnung und Sorge. Er konzentrierte sich so stark auf den jungen Bjarke, dass trotz seines legendären Appetits, über den seine Freunde oft scherzten, eine halb aufgegessene Gänsepastete vergessen in seiner Hand lag. Bjarke wollte das Turnier unbedingt gewinnen und sein Vater wünschte sich das ebenso für ihn. Der Bursche war groß für sein Alter, stark und aggressiv und hatte seine ersten beiden Gegner vernichtend geschlagen, doch nun waren nur noch die besseren Teilnehmer verblieben. Diesmal würde ein Weiterkommen schwerer werden.

»Fangt an!«, rief der Schiedsrichter.

Sofort hob Bjarke sein stumpfes Übungsschwert und griff an. Seine Gegnerin, ein schmächtiges Mädchen, das einen Kopf kleiner war als er, bewegte sich nicht. Andere hätten vielleicht angenommen, Bjarkes plötzlicher Angriff hätte sie vor Schreck erstarren lassen, doch Volstagg hatte Jahrhunderte von Kämpfen überlebt, wenn auch oft nur, indem er den Kopf eingezogen hatte, und sein Instinkt sagte ihm, dass sie nur auf den Angriff wartete. Er wollte eine Warnung rufen, doch das war nicht erlaubt. Außerdem könnte das Bjarke im entscheidenden Moment ablenken.

Bjarkes Schwert sauste auf ihren Helm nieder, doch das Mädchen wich aus und griff seine Seite an. Ihre Waffe prallte klirrend gegen sein Kettenhemd, als sie ihn an den Rippen traf.

»Halt!«, rief der Schiedsrichter. »Ein Punkt für Ulrika!«

Jetzt war es Volstagg gestattet, etwas zu rufen, und das tat er auch. »Schon gut, mein Sohn! Das war nur die erste Runde!«

Die Kinder kehrten in ihre Startposition zurück und der Schiedsrichter gab erneut das Zeichen, zu beginnen.

Diesmal näherte sich Bjarke ein bisschen vorsichtiger, während Ulrika nicht zu weit zurückweichen konnte, ohne die Kreidelinie zu übertreten, die den Kampfbereich markierte. Als er sie so weit wie möglich zurückgedrängt hatte, begann Bjarke mit einer Reihe schneller Hiebe. Ulrika parierte, Stahl klirrte gegen Stahl, doch es gelang ihr einfach nicht, zu kontern. Volstagg dachte, dass der Junge vielleicht zu schnell angriff oder die Wucht seiner Hiebe ihren Griff auf die Waffe schwächten. Die Übungsschwerter waren mit ihrer Parierstange und dem Stahlknauf wirklich schwer. Er hoffte, dass er recht hatte, denn wieder warnte ihn sein Bauchgefühl, dass das Mädchen Bjarke eine Falle stellte.

Mit einem Kampfschrei führte sein Sohn einen horizontalen Schwung aus. Ulrika ließ sich auf ein Knie fallen und Bjarkes Schwert streifte ihren Helm. Sie stach gleichzeitig zu und ihre Waffe prallte gegen den mit Metallstreifen verstärkten Stiefel ihres Gegners.

»Halt!«, rief der Schiedsrichter. »Noch ein Punkt für Ulrika!«

Volstagg verzog ungehalten das Gesicht. Er bezweifelte, dass er die gleiche Entscheidung getroffen hätte. Dennoch widerstand er dem Impuls, mit dem Schiedsrichter zu streiten. Er würde nichts erreichen, außer seinen Sohn in Verlegenheit zu bringen. Der Schiedsrichter hatte zu beurteilen, ob der Treffer gegen den Helm verheerend gewesen wäre, hätte es sich um scharfe Schwerter gehandelt. Und man musste es Bjarke zugutehalten, dass er zwar ebenfalls die Stirn runzelte, aber auch nicht protestierte. Während das Mädchen und er in ihre Startpositionen zurückgingen, rief Volstagg: »Sei vorsichtig, mein Sohn! Du kannst immer noch gewinnen, wenn du dein Können anwendest!«

Der Schiedsrichter gab das Signal. Bjarke versuchte es mit einer Angriffskombination, um Ulrikas Abwehr zu durchdringen, doch sie ließ sich von den Finten nicht täuschen und ihre Klinge war immer in Position, um den eigentlichen Hieb abzuwehren. Nach ein paar dieser Manöver griff sie an, während Bjarke antäuschte, und er konnte seine Arme gerade noch rechtzeitig zurückziehen, um einen Schlag zu vermeiden, der ihn in einem echten Kampf möglicherweise die Hand gekostet hätte.

Zu Volstaggs Bestürzung war dies Bjarkes letzter Versuch, Finesse zu zeigen. Der Junge schlug hart, schnell und schonungslos zu, bis Ulrika wie zuvor einem vertikalen Hieb auswich und mit einem weiteren klirrenden Schlag seine Flanke erwischte.

»Halt!«, rief der Schiedsrichter. »Punkt für Ulrika! Damit ist Ulrika die Siegerin!«

Bjarke salutierte ihr mit seinem Schwert und gab dem Mädchen die Hand, wie es Brauch war. Es gelang ihm sogar, dabei zu lächeln. Doch als er seinen Helm abnahm und zu Volstagg trottete, verwandelte sich das Lächeln in Verdrossenheit. Volstagg war ebenfalls enttäuscht, doch er gab sein Bestes, es sich nicht anmerken zu lassen, damit der Junge bloß nicht auf den Gedanken kam, er wäre vonihm enttäuscht.

Stattdessen zerraufte er seinem Sohn das schweißnasse Haar, rot wie sein eigenes, aber mehr in Richtung Kupfer gehend. »Gut gemacht.«

Der Junge wich vor der Berührung seines Vaters zurück. »Nicht gut genug«, erwiderte er.

»Es kommen noch andere Turniere«, sagte ihm Volstagg. »Willst du dir das Ende von diesem ansehen?«

»Nein«, antwortete der Junge.

»Wie du willst. Aber da hinten ist ein Stand, der Kirschkuchen verkauft. Ein Krieger braucht nach dem Kampf seine Stärkung.« Volstagg bemerkte, dass er immer noch die halb gegessene Gänsepastete hielt, und warf den Rest einem streunenden Elchhund zu. Das Tier fing sie in der Luft auf und verschlang sie mit einem Bissen.

»Können wir nach Hause gehen?«, fragte Bjarke.

»Und dem armen Händler unsere Taler vorenthalten? Wir sind Thane von Asgard, Junge. Es ist unsere Pflicht, den Handel florieren zu lassen. Jetzt komm mit und lass dein Schwert nicht über den Boden schleifen. Ein Krieger respektiert seine Waffe.«

Vater und Sohn setzten sich auf eine Bank in einiger Entfernung vom Tumult des Turniers, auch wenn sie immer noch den Jubel und das Klirren des Metalls hören konnten. Die warmen Kirschküchlein waren so schmackhaft, wie es Volstagg erhofft hatte, die perfekte Mischung aus süß und sauer. Doch Bjarke kostete kaum davon, obwohl solche Leckereien zu seinen Leibspeisen gehörten. Allen Anzeichen nach war der Bursche von seiner Niederlage noch entmutigter, als Volstagg anfangs gedacht hatte. Er hatte vor, das wieder in Ordnung zu bringen. Vielleicht nützte es etwas, Bjarke zu ermutigen, dass er sich das nächste Mal besser schlagen würde.

»Also gut«, sagte Volstagg. »Wenn du das Turnier nicht vergessen kannst, lass uns darüber reden. Mal sehen, was sich daraus lernen lässt.«

Bjarke warf seinem Vater einen Blick zu, der andeutete, er wisse genau, dass er durch die Erfahrung etwas lernen sollte, aber eigentlich keine Lust auf eine Analyse seiner Fehler und Defizite habe. »Na gut.«

»Immer wenn Ulrika nicht selbst gekämpft hat«, begann Volstagg, »hat sie die beobachtet, die es taten. Dich zum Beispiel. Hast du sie auch beobachtet?«

»Ich glaub schon«, antwortete Bjarke. »Ein paar der anderen Kämpfe hab ich mir angesehen.«

Volstagg kam das wie eine Ausrede vor. »Aber hast du sie ebenso studiert, wie sie dich studiert hat?«

Bjarke runzelte die Stirn. »Keine Ahnung.«

»Wenn nicht, warst du nicht auf ihre Taktiken und Lieblingstechniken gefasst, während sie sich auf deine vorbereitet hat.«

»Aber ich hätte sie trotzdem besiegen müssen. Diesen zweiten Punkt hatte sie nicht verdient.«

Auch wenn Volstagg das Gleiche gedacht hatte, sollte das nicht die Lektion sein, die sein Junge aus dem Kampf zog, und sie sollte erst gar nicht einsinken. »Ob sie ihn verdient hat oder nicht, ist egal«, sagte er. »Das war nur ein Punkt von dreien. Wenn auf dem Schlachtfeld etwas nicht so läuft, wie du dachtest, wirst du dann auch schmollen oder es hinter dir lassen und nach vorn blicken?«

Bjarke seufzte. »Nach vorn blicken, schätze ich. Aber ich hab’s versucht! Was hätte ich denn anders machen können?«

»Du bist größer und stärker als die meisten Kinder in deinem Alter – das hast du deinem mächtigen Vater zu verdanken –, aber du verlässt dich zu sehr darauf. Bei einem Kampf versuchst du es immer wieder mit den gleichen einfachen Angriffstechniken und hoffst, dass dich reine Kraft und Aggressivität zum Erfolg führen.«

Bjarke runzelte die Stirn. »Durch meine Art zu kämpfen habe ich die ersten zwei Runden gewonnen.«

Das war ebenfalls die falsche Lektion. Kurz wünschte sich Volstagg, dass sein geliebtes Weib Gudrun hier wäre. Sie war manchmal besser darin, den Kindern den richtigen Weg zu zeigen. Doch sie war nicht hier, also musste er sich etwas einfallen lassen. »Aber die dritte hast du verloren«, sagte er.

»Ich hab meine Taktik doch geändert …«, begann der Junge.

»Aber nur kurz«, entgegnete Volstagg. »Dann wurdest du ungeduldig und bist in deine alte Technik zurückgefallen. Und genau das hat Ulrika gewollt.«

»Thor ist der stärkste von allen und er gewinnt immer.«

Diese Bemerkung brachte Volstagg auf eine Idee, wie er vielleicht zu Bjarke durchdringen konnte. »Nicht jeden Kampf«, sagte er. »Und wenn er gewinnt, was tatsächlich meistens der Fall ist, dann nicht allein durch Stärke. Ein siegreicher Krieger denkt nach. Er beobachtet und plant. Er ist geduldig und beharrlich genug, um einen Plan bis zum Ende zu verfolgen, doch anpassungsfähig genug, um zu ändern, was nicht funktioniert. Vielleicht wird dich eine Geschichte überzeugen.«

Endlich horchte Bjarke auf. Er hatte die Geschichten seines Vaters schon immer gemocht. »Handelt sie von Thor?«

»Diesmal nicht«, sagte Volstagg. »Sondern von Heimdall, lange bevor er zum Wächter des Bifröst wurde. Genauer gesagt, als er noch sehr jung war und in Asgard finstere Zeiten herrschten.«

EINS

Eine letzte Salve Pfeile schlug die beiden Frostriesen in die Flucht. Sie hatten überraschend angegriffen und offenbar gehofft, dass dies zusammen mit ihrer Stärke, Größe und Wildheit ausreichen würde, um ihnen den Sieg zu sichern, doch asgardische Treffsicherheit hatte sie eines Besseren belehrt.

Die Jotunen waren so groß wie Bäume, hatten blaue Haut, trugen gehörnte Helme, andere kleinere Rüstungsteile, primitiven Eisen- und Elfenbeinschmuck sowie Lendenschürze, waren ansonsten jedoch hauptsächlich nackt, da sie die Kälte nicht spürten. Sie flohen den Engpass hinunter, der zwischen zwei Hügeln verlief. Ihre knirschenden Schritte hinterließen Spuren, die für einen ausgewachsenen Mann groß genug waren, um sich hineinzulegen.

»Ihnen nach!«, rief Hauptmann Ivar. In der einen Hand hielt er eine Streitaxt, am anderen Arm einen runden Schild und sein gelblicher Bart war zu drei Zöpfen geflochten.

Andere Mitglieder der Wachpatrouille Asgards schwangen ihre Waffen und brüllten zustimmend. Einige Monate zuvor hatte Jotunheim auf Befehl seines Königs Skrymir, eines mächtigen Kriegers, Magiers und Illusionisten, Asgard überfallen und seither befanden sich beide Länder im Krieg. Doch obwohl die Patrouille diese Provinz am Rand des Ewigen Reichs nun seit vielen Wochen auskundschaftete, hatte sich bisher keine Gelegenheit ergeben, um dem Feind einen Schlag zu versetzen. Sie hatten vor, das jetzt nachzuholen.

Den Langbogen gespannt und einen weiteren Pfeil angelegt konnte Heimdall ihre Begeisterung nicht teilen. Ihm kam es so vor, als seien die Frostriesen viel zu schnell davongerannt. Als hätten sie die Absicht, die Krieger Asgards in eine Falle zu locken.

Aber was wusste er schon? Seine Schwester und er waren die jüngsten Krieger der Truppe. Ivar war der mit Abstand erfahrenste Krieger und ihr Anführer. Es war an ihm, Befehle zu geben, und die Rolle rotznäsiger Rekruten wie Heimdall, sie auszuführen, vorzugsweise mit dem für asgardische Krieger typischen Wagemut.

Genau jener Wagemut, den seine Schwester Sif verkörperte. Während sie in ihrer roten Kriegstracht mit der weißen Verzierung neben ihm herging, fiel ihr schwarzes Haar in einem Pferdeschwanz über ihren Rücken. Das wilde Funkeln ihrer blauen Augen und ihr entschlossenes Kinn offenbarten ihren Eifer, zu verfolgen und zu kämpfen, zu beweisen, dass sie ebenso tapfer und geschickt war wie ihre älteren Kameraden. Er nahm sich vor, mehr wie sie zu sein.

Die Truppe marschierte voran. Sif sah zu Heimdall und schien die Besorgnis in seinem Gesicht zu bemerken. »Kopf hoch, Bruder«, sagte sie. »Es wird schon alles gut gehen.«

Heimdall hoffte, dass sie recht hatte. Die Frostriesen waren zugegebenermaßen nicht dafür bekannt, schlaue Fallen zu legen oder sich subtiler Taktiken zu bedienen. In der Vergangenheit hatten sie sich meist wie Berserker in den Kampf gestürzt.

Wie der Pfad vor ihnen waren die bewaldeten Berghänge mit Schnee bedeckt und von den Ästen hingen Eiszapfen. Ein Großteil Asgards war in ewigen Sommer gehüllt. Hier, nahe der Grenze, war dem zwar nicht so, dennoch hätte der Winter bereits dem Frühling weichen müssen, doch das hatte er nicht. Vielleicht lag es daran, dass die einfallenden Jotunen ihr eigenes bevorzugtes Klima mit sich brachten.

Oder vielleicht war Odins Wille und Magie nötig, um das Rad der Jahreszeiten zu drehen, und da er schon seit Monaten aus unerklärlichen Gründen im Odinschlaf lag, steckte es fest. In diesem Fall würde es so bleiben, bis der Allvater wieder erwachte.

Heimdall runzelte die Stirn und schob solch düstere Gedanken beiseite. Selbst wenn er in der Position gewesen wäre, Einfluss auf solch hohe und geheimnisvolle Angelegenheiten zu nehmen, war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzugrübeln. Sif, ihre Kameraden und er zogen in den Kampf, darauf musste er sich konzentrieren.

Der Kampf war nur eine Möglichkeit. Er war nicht sicher, aber abgesehen von ihren Fußspuren im Schnee schien es, als hätten sich die Frostriesen in Luft aufgelöst. Vielleicht waren sie einfach weggelaufen, schließlich erlaubten es ihnen ihre langen Beine, ihre Verfolger mit Leichtigkeit abzuhängen. Vielleicht waren sie längst fort.

Aber angenommen, nur mal angenommen, die Jotunen waren weggelaufen, um sich weiteren ihrer Art anzuschließen. In diesem Fall warteten die Kreaturen vielleicht dort, wo ihnen das Terrain einen Vorteil bot. Heimdall war zum ersten Mal in diesem Teil des Ewigen Reichs, doch er hatte die Karten studiert und versuchte nun, sich an die Details dessen zu erinnern, was vor ihnen lag.

Die Krieger in den ersten Reihen wurden langsamer, weil sie in tieferem Schnee versanken. Fluchend preschten sie weiter vor und da sah Heimdall etwas, das ihn ernsthaft beunruhigte.

Einen Moment lang zögerte er, da er nicht der Krieger sein wollte, der den Befehl seines Hauptmanns hinterfragte oder in irgendeiner Weise ängstlich wirkte. Aber er konnte nicht zulassen, dass seine Schwester und seine Kameraden sich ahnungslos in Gefahr begaben, ohne etwas zu sagen.

»Halt!«, rief er. »Haltet alle an!«

Ivar sah zu ihm. »Was ist denn?«, fragte ihr Anführer ungeduldig.

»Wenn ich mich richtig an die Karte dieses Gebiets erinnere«, antwortete Heimdall, »liegt vor uns ein langes Gefälle. Wenn wir weiter vorrücken, wird uns der Schnee schnell über den Kopf reichen.«

»Dann müssen wir eben einen anderen Weg finden«, sagte Ivar.

»Aber das ist noch nicht alles«, erwiderte Heimdall. »Die Spuren der Riesen enden hier. Wo sind sie hin? Vielleicht sind sie gar nicht weitergegangen. Ich denke …«

In diesem Moment brachen Frostriesen durch die schimmernde weiße Oberfläche vor ihnen und schleuderten dabei Schnee in alle Richtungen. Sie hatten sich versteckt und es war ihnen gelungen – durch Magie oder vielleicht nur ihre natürliche Affinität für den Winter –, alle Spuren ihrer Anwesenheit zu verschleiern.

Wären die Asen tiefer in den Schnee marschiert, hätten sie sich nicht gegen ihre Feinde verteidigen können. Doch selbst jetzt, wo sie kurz vor dem Hinterhalt stehen geblieben waren, sah es nicht gut für sie aus. Acht brüllende Frostriesen stürmten vorwärts. Riesige Keulen trafen die Männer und Frauen der ersten Reihen und schleuderten ihre zerschmetterten Körper durch die Luft.

»Schießt!«, befahl Ivar seinen Truppen.

Mit pochendem Herzen spannte Heimdall immer wieder seinen Bogen und schoss Pfeil um Pfeil ab. Er zielte auf die Augen und hoffte, dass die anderen das Gleiche taten. Denn genau das wurde den Kriegern Asgards beigebracht.

Zu seiner Überraschung hielt die erste Salve Pfeile die Frostriesen lange genug auf, um den wenigen Überlebenden der ersten Reihen die Gelegenheit zu geben, sich zurückfallen zu lassen. Die Kreaturen wedelten mit den Händen vor ihren Gesichtern wie jemand, der sich eine Wolke Mücken vom Leib halten wollte. Einer der blauhäutigen Jotunen fiel sogar hintenüber, als Sif einen Pfeil so tief in seinem Auge versenkte, dass er ganz darin verschwand.

»Ha!«, rief sie. »Einer ist erledigt!«

»Rückzug!«, brüllte Ivar. Doch die Gelegenheit dazu war vertan, bevor das Wort verklungen war.

Ein mit Gold und riesigen blauen Edelsteinen geschmückter Frostriese rannte trotz der Pfeile auf sie zu und die anderen Jotunen folgten dem Beispiel ihres Anführers. Sie brauchten nur einen Moment und wenige Schritte, um direkt vor Heimdall, Sif und dem Rest der Patrouille aufzuragen.

Eine riesige, mit Eisenspitzen versehene Keule rauschte auf sie herab. Sif packte Heimdalls Arm und riss ihn aus dem Weg, sonst hätte der Schlag sie beide getötet. Dann ließ sie ihren Bogen fallen und zog ihre Klinge. Heimdall hingegen griff nicht sofort nach dem großen Schwert, das auf seinem Rücken hing.

Er war ein geübter Schwertkämpfer. Der Waffenmeister und so ziemlich jeder andere auf dem Gut seines Vaters waren überrascht gewesen, dass der seltsame Junge, der gern las und alles hinterfragte, was jeder andere einfach als gegeben hinnahm, ein solches Talent besaß. Sogar Heimdall selbst war von sich überrascht gewesen.

Doch es lag ein Riesenunterschied zwischen dem Training und einem Kampf um Leben und Tod. Zu Letzterem war er bisher nur wenige Male gezwungen gewesen und wer bei gesundem Verstand würde sich einem so schrecklichen Gegner wie einem Frostriesen im Nahkampf stellen wollen?

Dennoch war es undenkbar, sich zurückzuhalten, während Sif und seine anderen Kameraden ihr Leben riskierten, und er zögerte auch nur ganz kurz. Dann ließ er seinen Bogen fallen, zog seinen Zweihänder und rief »Für Vanaheim!«, den Kampfschrei seiner Heimatwelt, um die Angst zu vertreiben und ihn ins Getümmel zu treiben.

Sif und er stachen auf den riesigen Fuß ein, der in einen Stiefel aus Ziegenhaut gehüllt war. Ihre Schwerter drangen durch das Leder und der Frostriese schrie auf. Der Jotun sprang vor seinen Feinden, die ihm klein wie Mäuse vorkommen mussten, zurück und schwang erneut seine Keule nach ihnen.

Heimdall und Sif sprangen zwischen die Beine des Jotunen und die Keule traf nichts als Schnee und die Erde darunter. Die Geschwister stachen weiter auf den Fuß ein, den sie bereits verletzt hatten, und der Riese stolperte davon.

Während die Kreatur versuchte, das Gleichgewicht zu halten, sah sich Heimdall nach dem Frostriesen mit dem Goldschmuck und den blauen Edelsteinen um. Er wollte den Anführer der Jotunen, bei dem es sich wahrscheinlich um den wildesten von ihnen handelte, nicht angreifen, doch vielleicht bestand darin die einzige Hoffnung, dass die Asen diesen Hinterhalt überlebten. Der Riese verzog höhnisch sein Gesicht, während er seine mit Metallspitzen versehene Keule schwang wie ein Bauer seine Sense und mit jedem Schwung ein asgardisches Leben erntete.

»Den dort!«, sagte Heimdall und zeigte auf ihren Anführer.

»Der andere …«, begann Sif. Wahrscheinlich wollte sie sagen, dass der andere noch nicht tot oder kampfunfähig war und sie ihm nicht den Rücken zukehren sollten. Doch als klar war, dass ihr Bruder nicht zuhörte, rannte sie ihm hinterher.

Sie erreichten den Anführer und griffen ein blauhäutiges Bein an. Der Frostriese hob seinen Fuß und stampfte damit auf. Sie wichen ihm aus und stachen weiter auf ihn ein.

Trotz des dicken Kalbsleders, aus dem der Stiefel der Kreatur bestand, versank Sifs Breitschwert tief darin. Als sie es wieder aus der Wunde zog, spritzte Blut über den Schnee. Der Anführer der Jotunen brüllte auf und fiel auf die Knie.

»Rückzug!«, befahl Ivar. Er und seine überlebenden Krieger drehten sich um und rannten davon.

Ein Mann fiel sofort zurück. Ein Keulenschlag der Riesen hatte ihn erwischt, wie durch ein Wunder aber nicht getötet. Als Sif seine Notlage bemerkte, eilte sie zurück, hob ihn mit ihrer asgardischen Kraft hoch und trug ihn.

Nach einem Moment riskierte Heimdall einen Blick über seine Schulter. Die Frostriesen verfolgten sie noch nicht, sondern scharrten sich um ihren gestürzten Anführer.

Doch Sif und er hatten die enorme Kreatur nicht getötet, also ging er davon aus, dass ihre Gegner schon bald die Verfolgung aufnehmen würden. Zu seiner Erleichterung erreichten die Asen jedoch kurz darauf einen dichten Hain aus Kiefern und Grauerlen, die rechts auf einem Hang wuchsen. Die Wälder würden sie verlangsamen, so große Kreaturen wie die Frostriesen jedoch noch stärker einschränken.

Ivar war wohl der gleiche Gedanke gekommen, denn er änderte den Kurs. »Den Hügel hinauf!«, rief er.

Der Trick funktionierte, wie Heimdall gehofft hatte. Während seine Kameraden und er durch den Wald rannten, wurde der Lärm der umstürzenden Bäume und das Gebrüll der Jotunen immer leiser und als der Abend dämmerte, verstummte es schließlich ganz.

ZWEI

Die Hälfte von Ivars Truppe hatte überlebt, doch die Abschlachtung der anderen Hälfte führte dazu, dass die Krieger in die Hauptstadt des Ewigen Reichs zurückkehrten, auch bekannt als Asgard, um ihre Ränge mit neuen Rekruten zu füllen oder die Truppe mit einer anderen zu vereinigen, wenn seine Vorgesetzten das als zweckdienlicher ansahen.

Auch wenn Heimdall den praktischen Grund dafür einsah, wollte er nicht zurückkehren. Er war stets entschlossen gewesen, Asgard nach besten Kräften zu verteidigen, um sein Volk zu beschützen und seine Familie mit Stolz zu erfüllen. Und diese Entschlossenheit war nun, wo er um so viele seiner treuen Kameraden trauerte, nur noch stärker geworden.

Seine Trauer war mit Schuld vermischt. Was, wenn er Hauptmann Ivar seine Bedenken früher gemeldet hätte? Vielleicht wären dann noch alle am Leben.

Sobald ihm Sif den Grund seiner Grübelei aus der Nase gezogen hatte, sagte sie ihm, dass er sich albern aufführte. Er hatte bemerkt, was sonst niemandem aufgefallen war, und wenn er das nicht in dem Moment gemeldet hätte, als er es getan hatte, wäre die gesamte Truppe ums Leben gekommen. Er sollte stolz auf sich sein.

Doch das war er nicht und wenn Sif sich unbeobachtet fühlte, bemerkte er manchmal, wie sie den Kopf und die Schultern hängen ließ. Der Verlust ihrer Kameraden machte ihr mehr zu schaffen, als sie sich anmerken lassen wollte.

Doch selbst so kam es ihm so vor, als wäre sie besser darin, den Tod als unvermeidbare Konsequenz des Krieges zu akzeptieren und ihn hinter sich zu lassen. Möglicherweise ein weiterer Hinweis darauf, dass sie für das Leben eines Kriegers besser geeignet war als er.

In jedem Fall hatte sie ihm auf dem Weg zurück gesagt, dass sie viele Monate unterwegs gewesen waren und fand, dass er sich ein paar Tage der Ruhe und Erholung verdient hatte, egal wie unerfreulich die Umstände waren, die zu dieser Gelegenheit geführt hatten. Schließlich hatte sie ihn überzeugen können und er hatte sich vorgenommen, diese Verschnaufpause zu genießen, so gut er konnte.

Leider machten es die Zustände in der Stadt unmöglich, den Krieg zu vergessen, der in den Provinzen tobte. Natürlich herrschte hier ewiger Sommer – bis jetzt jedenfalls – und in den vielen Parks und Gärten blühte lila Steinbrech, blauer Ehrenpreis und weißes Hornkraut. Die goldenen Türme und Paläste erstrahlten wie eh und je. Doch große Teile der Stadt waren in Militärlager umfunktioniert worden. Baumeister waren damit beschäftigt, neue Befestigungsanlagen zu errichten, Handwerker setzten neue Katapulte zusammen und die Gassen hallten vom beständigen Klirren der Schmiede an ihren Essen wider. Noch entmutigender waren die nach Blut, Schweiß und Fieber stinkenden Krankenzelte und die ausgemergelten Flüchtlingsfamilien, die auf den Straßen bettelten und schliefen.

Heimdall saß Sif in einer Taverne voll angeschlagener, bandagierter Krieger gegenüber, einen Krug Bier in der Hand, und sprach aus, was für ihn offensichtlich war. »Wir verlieren.«

»Nicht so laut!«, zischte seine Schwester und sah sich zwischen den angrenzenden Tischen um. Nachdem sie sich versichert hatte, dass niemand ihren Bruder gehört hatte, warf sie ihm einen bösen Blick zu. »Du gerätst sonst noch in eine Prügelei und ich weiß nicht, ob ich dir zur Seite stehen würde.«

Heimdall seufzte. »Du weißt, dass ich niemandem hier mangelnden Mut oder Können unterstellen will. Das Problem – na ja, eines der Probleme – besteht darin, dass die Frostriesen einfach anders kämpfen. Der Hinterhalt auf unsere Truppe ist nur eines von vielen Beispielen. Laut den Sagen und Chroniken gab es eine Zeit, in der sie uns einfach direkt angegriffen haben, ohne eine ausgeklügelte Strategie und nur mit den primitivsten Taktiken. Jetzt ist es anders.« Manchmal kam es ihm so vor, als könnte Asgards Seite einen ähnlichen Schub von Raffinesse gebrauchen, doch das war etwas, das er niemals laut aussprechen würde. Es würde ihm illoyal vorkommen und Sif wahrscheinlich noch mehr verärgern als das, was er bereits gesagt hatte.

»Wir werden sie dennoch schlagen.« Sif trank einen Schluck Bier aus ihrem Krug und wischte sich den Schaum vom Mund. »Das tun wir immer.«

»Immer währt nur so lange, bis wir es nicht mehr tun. Ich wünschte, der Allvater würde erwachen. Er wüsste bestimmt, wie der Krieg zu gewinnen ist. Vielleicht könnte er sogar die Verbindung zwischen Asgard und Jotunheim schließen.«

Asgard und Jotunheim waren zwei der Neun Welten, die an Yggdrasil hingen, dem Weltenbaum, doch ihre relative Positionierung war komplizierter, als es den Anschein hatte. Manchmal erforderte es Magie, um von einer Welt in die andere zu reisen, doch es gab auch Stellen, an denen sie miteinander verbunden waren, als würde es sich schlicht um zwei angrenzende Königreiche auf dem gleichen Kontinent handeln. Eine solche Verbindung existierte momentan zwischen Asgard und Jotunheim und diese Tatsache, zusammen mit Odins verlängertem Schlummer und der neuentdeckten Schläue der Frostriesen, resultierte in einer Situation, die für die Asen so unvorteilhaft war, wie man sich es nur vorstellen konnte.

Sif nickte, um anzudeuten, dass sie zumindest in diesem Punkt die Ansicht ihres Bruders teilte. »Ich bin mir sicher, dass er bald wieder aufwacht«, sagte sie.

Heimdall spürte einen Anflug von Verärgerung, auch wenn er nicht genau wusste, auf wen oder was. Vielleicht auf Sifs blindes Vertrauen in den Allvater. »Ach ja?«, fragte er. »Früher dauerte der Odinschlaf immer nur eine Woche. Dieses Mal sind es schon Monate.«

Sif schnaubte. »Du bist ja ein ganz schöner Experte, dafür dass du Asgard erst vor ein paar Monaten das erste Mal betreten hast.«

Sie hatte natürlich recht. Bevor er sich der Armee Asgards angeschlossen hatte, war er in Vanaheim aufgewachsen. Dennoch war er nicht bereit, das Thema einfach fallen zu lassen. »Ich lese Bücher«, sagte Heimdall. »Ich rede mit Leuten.«

»Kurz gesagt, du denkst zu viel nach. Das war immer schon dein Problem«, erwiderte sie. »Der Allvater wacht auf, wenn er aufwacht. Es gibt nichts, was du tun kannst, um den Prozess zu beschleunigen.«

Heimdall runzelte die Stirn. Tatsächlich hatte er sich auch darüber schon Gedanken gemacht. Es war eine Idee, die er bereits mehrere Male als närrisch abgetan hatte. Doch sie kam immer wieder zurück und jetzt erlebte er gerade etwas, das er von früher kannte, als Sif und er noch Kinder gewesen waren. Wenn jemand anders augenscheinlich davon überzeugt war, Heimdall sei ein Narr, sollte er eine bestimmte Idee weiterverfolgen, schürte das in ihm nur das trotzige Verlangen, genau das zu tun. »Vielleicht ja doch«, sagte er.

DREI

Drei Tage später kamen Heimdall jedoch Zweifel, als die königlichen Wachen die große Doppeltür des Thronsaals für ihn öffneten und er den langen Mittelgang des Thronsaals hinunterging. Er war bereits zweimal in diesem riesigen Raum mit seinen hohen, kuppelförmigen Decken gewesen, doch nur als Mitglied von Hauptmann Ivars Kompanie bei feierlichen Anlässen. Nun stellte er fest, dass es das eine war, still in einer Reihe zu stehen, aber etwas ganz anderes, die Herrscher von Asgard allein und auf eigene Initiative aufzusuchen.

Während Odin schlief, regierte seine Gemahlin Frigga Freyrdottir an seiner Stelle. Sie war eine große, blauäugige Frau mit markanten Gesichtszügen und weißem Haar, das sie hochgesteckt trug. Heute hatte sie nur wenig Schmuck angelegt und statt der prächtigen Roben, in denen Heimdall sie zu Staatsanlässen gesehen hatte, war sie in ein viel schlichteres hellgelbes Gewand gekleidet. Angemessen, um sich um die Angelegenheiten eines Landes im Kriegszustand zu kümmern.

Die hektische Betriebsamkeit um das Podium, auf dem sie saß, neben ihr der unbesetzte goldene Thron ihres Gatten, unterstrich dies. Ratgeber boten ihre Weisheit. Krieger eilten herein, erstatteten Bericht oder eilten davon, um Befehle auszuführen. Federkiele kratzten über Pergament, während die Schreiber die Dekrete der Königin festhielten. An der Seite warteten einfache Bürger entweder schüchtern und nervös oder ungeduldig von einem Bein aufs andere tretend darauf, dass ihre Regentin einen Moment erübrigen konnte, um ihren Anliegen zu lauschen.

Heimdall fragte sich, ob er vielleicht besser umdrehen und wieder gehen sollte. Frigga war augenscheinlich sehr beschäftigt, sie war die Königin der Götter. Er war natürlich ebenfalls ein Gott, aber nur dem Namen nach, mit dem Riesen, Zwerge, Elfen und Sterbliche die Bewohner von Asgard betitelten. Sie dagegen war wirklich eine Göttin, eine der wenigen Personen, die entweder mit außergewöhnlichen Kräften geboren worden waren, sie von Odin geschenkt bekommen hatten oder beides. Wie konnte er, ein gemeiner Soldat – noch dazu erst kürzlich in die Armee aufgenommen –, sich anmaßen, einer solchen Persönlichkeit die Zeit zu stehlen?

Doch nachdem er erfolgreich um eine Audienz gebeten hatte, konnte er nicht einfach einen Rückzieher machen, ohne sich lächerlich zu machen und Hauptmann Ivar zu enttäuschen, dessen Empfehlung dabei geholfen hatte, ihm Zutritt zu verschaffen. Was war außerdem, wenn er erneut etwas Wichtiges erkannt hatte, das sonst niemand sah? War es in diesem Fall nicht seine Pflicht, etwas zu unternehmen?

Diese Gedanken stärkten seine Entschlossenheit und er ging auf den Thron zu. Doch sein Mund war ganz trocken und die Pracht all dessen, was er vor sich sah, schürte die Angst, dass er sich anmaßenderweise an einen Ort begab, an den er nicht gehörte. Natürlich hatte er sich so gut wie möglich zurechtgemacht und seine beste Kleidung für seine königliche Audienz angelegt. Dennoch vermutete Heimdall, dass er verglichen mit all den Höflingen in ihren glanzvollen Gewändern ziemlich schäbig und unbedeutend aussah.

Doch nun war es wirklich zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen. Er wäre sich schon wie ein Narr vorgekommen, wenn er umgekehrt und geflohen wäre, als er noch direkt an der Tür war, wo ihn wahrscheinlich erst wenige Leute bemerkt hatten. Inzwischen befand er sich weit genug im Raum, dass es jeder sehen würde. Vielleicht war dies die Überlegung, die ihm das letzte Quäntchen Mut gab, das er brauchte, um bis zum Podium zu gehen, auf ein Knie zu sinken und darauf zu warten, angesprochen zu werden.

Nachdem die Königin das Gespräch mit einem ihrer Gesandten beendet hatte, wurde er das. »Erhebe dich«, sagte Frigga. Sie warf einen Blick auf eine Liste, die neben einem Glas Wasser auf einem kleinen Beistelltisch lag. »Heimdall, richtig?«

Er musste schlucken. »Ja, Eure Majestät.«

»Aus Vanaheim.«

»Ja.«

Frigga lächelte. »Es ist immer schön, einen Landsmann zu treffen.« Sie hatte ebenfalls zu den Vanir gehört, vor ihrer Hochzeit mit Odin und dem Friedensabkommen, das den längst vergessenen Krieg mit den Asen beendet hatte. »Hauptmann Ivar sagte, nur dir sei es zu verdanken, dass bei dem Hinterhalt der Jotunen auf eure Truppe nicht alle getötet wurden.«

Das machte Heimdall verlegen. Was auch immer er erreicht hatte, war nicht viel verglichen mit den wichtigen Angelegenheiten, mit denen sich Frigga befasste. »Es gab einen Moment, in dem ich wohl etwas Hilfreiches gesagt habe, Eure Majestät. Aber es war unsere Zusammenarbeit, durch die wir die Frostriesen davon abhalten konnten, uns alle zu töten.«

»Nun, bei Ivar klang es weitaus spektakulärer und deshalb habe ich dir diese Audienz gewährt. Aber wie du siehst, ist es recht hektisch heute Nachmittag.« Die Königin deutete auf all die Berater, Krieger, Diener und wartenden Bürger im Saal. »Vergib mir, wenn ich dich bitte, direkt zum Punkt zu kommen.«

»Nun …«, begann Heimdall. Er hatte einstudiert, was er sagen wollte, doch jetzt, wo der Augenblick gekommen war, fiel es ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. »Der Odinschlaf dauert nun schon viele Monate länger an als sonst.«

Frigga seufzte. »Dessen bin ich mir bewusst.«

»Odins Krieger brauchen seine Führung.« Sobald die Worte seine Lippen verlassen hatten, wurde Heimdall mit Schrecken bewusst, dass er sie damit möglicherweise beleidigt haben könnte. »Auch wenn Eure Majestät natürlich hervorragende Arbeit leistet!«

»Ich bin mir ebenfalls darüber bewusst, dass ich nicht mein Gemahl bin«, sagte Frigga. »Ich lasse dich nicht dafür in den Kerker werfen, es auszusprechen. Allerdings würde ich gern wissen, ob diese Darstellung des Offensichtlichen irgendwo hinführt.«

»Das tut sie, Eure Majestät. Ich meine, das hoffe ich zumindest. Ist schon jemandem der Gedanke gekommen, dass der Schlummer des Allvaters unnatürlich verlängert wurde?«

Frigga runzelte die Stirn. »Was meinst du?«

»Nun, vielleicht durch Zauberei?«

Die Königin warf einen Blick zu ihren Beratern. »Lady Amora. Habt Ihr zugehört?«

Eine Frau in gemustertem grünem Leder trat vor. In ihrem blonden Haar trug sie einen Kopfschmuck und ihre Beine steckten in langen Stiefeln. Sie lächelte herablassend. »Das habe ich, Eure Majestät, und ich versichere Euch, dass dieser junge Mann ein Narr ist. Odin ist der Mächtigste von allen. Niemand könnte ihn mit einem Bann belegen.«

Damit war das also abgehakt, dachte Heimdall. Lady Amora war eine Zauberin, er hingegen nicht, und jetzt, wo sie gesagt hatte, dass seine Idee lächerlich war, sollte er ihr Urteil akzeptieren und von diesem Ort verschwinden, an dem er ohnehin nichts zu suchen hatte.

Aber so einfach war es nicht. Sobald er sich in eine Idee verbissen hatte, fiel es ihm schwer, sie gehen zu lassen, bis er sie gründlich überprüft hatte. Selbst wenn seine fortgesetzte Fragerei – die gelegentlich sogar zu Diskussionen ausartete – andere verärgerte. Und daher sagte er wider besseres Wissen: »Niemand könnte Odin mit einem Bann belegen, solange er wach ist. Aber ist er während des Odinschlafs nicht verwundbarer? Zieht er sich deshalb nicht zurück? Was, wenn er bereits geschlafen hat, als der Feind zuschlug?«

»Selbst wenn wir davon ausgingen, dass das einen Unterschied macht«, entgegnete Amora, »kann niemand seine Kammer betreten. Das ist der Sinn der Verteidigungsmaßnahmen.«

Frigga breitete die Hände aus. »Lady Amora weiß, wovon sie spricht. Sie ist einer der weisesten Zauberer Asgards.«

Das war, wie Heimdall wusste, zumindest der Ruf, der ihr vorauseilte. Soweit er wusste, hatte Lady Amora bei der Nornenkönigin Karnilla Magie studiert sowie bei anderen Zauberern des Ewigen Reichs und darüber hinaus.

Doch hatte man je wirklich ausgelernt? Er nahm an, dass das auch für die Zauberei galt, was bedeutete, dass es möglicherweise irgendwo einen Hexer gab, der Tricks kannte, die Amora unbekannt waren.

»Ich verbeuge mich vor Lady Amoras Weisheit«, sagte er. »Dennoch wäre es nicht vielleicht eine gute Idee, wenn jemand in die Kammer gehen und nachsehen würde. Auf diese Weise könnte sich Eure Majestät sicher sein.«

Frigga riss schockiert die Augen auf. »Odin hat ausdrücklich angewiesen, dass sie unter gar keinen Umständen betreten werden darf. Ungehorsam käme einem Hochverrat gleich.«

»Selbst wenn es ein Befehl Eurer Majestät wäre? Bis jemand hineingeht, wie können wir uns auch nur sicher sein, dass der Allvater überhaupt noch lebt?«

»Junger Mann!«, rief Frigga aus. »Ich habe dich soeben vor Verrat gewarnt. Diese Bemerkung grenzte schwer an Blasphemie. Odin ist nicht nur unser König, sondern eines der Urwesen. Seine Brüder und er schufen die Neun Welten. Damit will ich sagen, dass er, sein Wille und seine Mysterien weit über deinen Verstand hinausgehen. Konzentriere dich besser auf deine eigenen Aufgaben.«

VIER

Trotz Sifs Plan, sich zu erholen und ihre Zeit in der Stadt zu genießen, hatte es nicht lange gedauert, bis sie ruhelos geworden war und ihr Kampftraining wieder aufgenommen hatte. Es war vielleicht ein Zeichen, dass sie trotz ihrer nach außen zur Schau getragenen Zuversicht genauso über den Verlauf des Krieges beunruhigt war wie Heimdall. An diesem Nachmittag, dem Tag nach Heimdalls Audienz bei der Königin, besuchte sie einen Schießstand und da er nichts Besseres zu tun hatte, begleitete er sie.

In einer flüssigen Bewegung legte sie den Pfeil auf, spannte den Bogen und schoss, scheinbar ohne sich Zeit zum Zielen zu nehmen. Wie die anderen davor traf ihr Pfeil mit seiner rot-weißen Befiederung genau ins Schwarze der weit entfernten Zielscheibe. »Konzentriere dich besser auf deine eigenen Aufgaben«, sagte sie. »Ein ausgezeichneter Ratschlag.«

Hinter der Schusslinie standen ungeöffnete Kisten mit Pfeilen und Heimdall hatte eine davon auserkoren, um sich daraufzusetzen. Genauer gesagt, um dort zu sitzen und zu schmollen, wie Sif es ausgedrückt hatte, auch wenn er diese Einschätzung als ungerecht empfand. Allerdings war ihm klar geworden, dass er nach seiner königlichen Audienz ein Durcheinander an Gefühlen empfand, darunter Besorgnis, Enttäuschung und Frustration. Ein klein bisschen Schmollen war vielleicht auch darunter. »Ich dachte, dass zumindest meine eigene Schwester ein bisschen Mitgefühl haben würde«, sagte er.

»Keine Ahnung, wie du darauf kommst«, erwiderte Sif und legte einen weiteren Pfeil an. Etwas weiter entfernt gaben sich zwei andere Schützen die Hand. Die beiden hatten offenbar eine Art Wette abgeschlossen. »Wenn du mir gesagt hättest, dass du vorhast, die Königin – die Königin – mit deinen wilden Ideen zu belästigen, hätte ich mein Bestes getan, um dir das auszureden.«

Daran hatte er keinen Zweifel. Während ihrer gemeinsamen Kindheit hatte sie immer versucht, auf ihn aufzupassen, was manchmal bedeutet hatte, ihn zurückzuhalten, wenn er etwas ihrer Meinung nach Hirnrissiges tat. Er liebte seine Schwester und war dankbar, dass sie ihn beschützte, oft empfand er diese Eigenschaft aber auch als erdrückend und hasste sie.

»Ich hätte wahrscheinlich eh nicht auf dich gehört«, gab er zu.

»Natürlich nicht. Das tust du schließlich nie.« Sif schoss und traf erneut ins Schwarze. »Zumindest bist du davongekommen, ohne deinen Kopf zu verlieren. Und jetzt vergiss es und schieß.«

Heimdall blieb sitzen. »Ich weiß, was du denkst, aber ich bin nicht wütend, dass die Königin meinen Rat nicht angenommen hat.«

Sif lächelte skeptisch. »Ach nein?«

»Wirklich nicht. Na ja, jedenfalls nicht sehr. Wer bin ich, dass Frigga Freyrdottir auf mich hören sollte? Aber ich bin aufgebracht, dass sie und ihre Berater meine Idee verworfen haben, ohne sie auch nur in Erwägung zu ziehen. Sie waren vor Ehrfurcht vor Odin wie blind.«

»Taub.«

»Was?«

»Wenn sie dich nicht hören konnten«, sagte seine Schwester, »waren sie nicht blind, sonderntaub vor Ehrfurcht. Nur so ergibt es Sinn. Hast du denn keine Ehrfurcht gegenüber dem Allvater?«

»Du weißt, dass ich die habe. Aber laut den Geschichtsbüchern ist selbst Odin nicht allmächtig. Und er ist nicht das einzige mächtige Wesen in den Neun Welten. Es ist zumindest möglich, dass ihn der richtige Feind unter den richtigen Umständen erledigen könnte.«

»Und wer soll dieser richtige Feind sein? Glaubst du wirklich, ein Frostriese könnte unbemerkt in die Kammer des Odinschlafs im Herzen von Asgard eindringen?«

»König Skrymir mit seinen Illusionen könnte es.«

»Soweit ich weiß, sitzt Skrymir immer noch in Jotunheim. Und selbst wenn er jemals nach Asgard kommen sollte, kommt mir das Einschleichen in die Zitadelle nicht wie eine Mission vor, die ein König selbst unternehmen würde.«

»Stimmt schon«, räumte Heimdall ein. »Aber was, wenn er sich die Hilfe eines Verräters am Hof gesichert hat? Anders als Frostriesen oder andere Eindringlinge hätte ein Verräter einen großen Vorteil. Er könnte sich frei in der Zitadelle bewegen und niemand würde auch nur einen Gedanken daran verschwenden.«

Sif spuckte aus. »Das sind jetzt nur noch wilde Spekulationen. Wen beschuldigst du? Wer benimmt sich verdächtig? Wer könnte daraus einen Nutzen ziehen?«

»Woher soll ich das wissen, wenn ich nicht selbst ein Mitglied des Hofes bin? Ich hatte nicht die Gelegenheit, jemanden zu beobachten.«

»Ganz genau. Frigga sieht offensichtlich nichts, was ihr Misstrauen erregt, also lass uns darauf zurückkommen, dass Odins Magie die Kammer schützt. Leute, die älter, weiser und hochrangiger sind als du sagen, dass niemand hineinkommen kann, also lass es dabei bewenden, Bruder.«

Heimdall spürte Zorn in sich aufsteigen. Er würde ja gern die Vorstellung akzeptieren, dass es die Mächtigen besser wussten – das Leben schien für jene, die das glaubten, einfacher zu sein –, doch stimmte das auch immer?

»Ich würde es dabei bewenden lassen, wenn es nicht um etwas so Wichtiges gehen würde«, sagte er. »Ich schwöre, das würde ich. Aber denk doch bitte nur ganz kurz nach. Was, wenn ich recht habe, aber weil niemand auf mich hört, gewinnt Jotunheim den Krieg?«

Sif warf ihm einen bösen Blick zu. »Die Frostriesen werden nicht gewinnen, wenn sich Krieger wie wir auf unsere Aufgaben konzentrieren!« Ihr Gesicht nahm einen sanfteren Ausdruck an. »Bruder, ich weiß, dass du denkst, du würdest nicht in Ivars Truppe passen. Ich weiß, dass du dich fragst, ob die Nornen nicht ein anderes Schicksal für dich vorgesehen haben. Aber …«

»Du irrst dich«, beharrte Heimdall. »Oder genauer gesagt liegt ein Körnchen Wahrheit in dem, was du sagst, aber darum geht es hier nicht, sondern wirklich nur darum, unser Volk zu beschützen. Ich denke …« Die Anmaßung, die Gefahr, ja vielleicht der schlichte Irrsinn dessen, was er gleich sagen würde, stürzten auf ihn ein und er musste innehalten und tief durchatmen, bevor er weitersprach. »Ich denke, jemand sollte versuchen, in Odins Kammer einzudringen, ob mit oder ohne Friggas Einverständnis.«

»Und mit jemand meinst du dich? Das ist Wahnsinn!«

»Ich will es nicht tun, aber wer bleibt sonst?«

»Abgesehen von der Tatsache, dass allein der Versuch deinen Tod bedeuten würde, was würdest du tun, wenn es dir gelänge?«

»Ich könnte mich wenigstens umsehen«, sagte Heimdall. »Falls jemand vor mir da war und ich Spuren dieses Eindringens entdecke, Beweise für dunkle Magie, kann ich Frigga meine Ergebnisse melden und vielleicht können dann sie, Lady Amora und die anderen königlichen Zauberer den Bann aufheben.«

»Du kannst doch nicht dein Leben für falls und vielleicht aufs Spiel setzen.«

»Ist das nicht die Aufgabe eines Kriegers?«, fragte Heimdall.

»Aber nur auf Befehl seines Kommandanten und seinem Eid entsprechend, Bruder. Ich werde das nicht zulassen.«

Da war sie wieder, ihre Überfürsorglichkeit. Sie verärgerte Heimdall und ihm wurde klar, dass es ihm nicht mehr gefiel, wie seine Schwester auf ihn herabsah. Er stand auf und sie starrten sich finster, aber auf Augenhöhe an.

»Wirst du mich melden?«, fragte er. »Denn das ist die einzige Möglichkeit, um mich aufzuhalten. Dann wird man mich in einem Kerker verrotten lassen oder hinrichten und auf unserer Familienehre wird auf immer ein schwarzer Fleck lasten.«

Sif starrte ihm noch ein paar Sekunden länger in die Augen, dann zischte sie: »Verdammt!«

»Bedeutet das, du verrätst mich nicht?«

»Es bedeutet, dass ich mit dir komme, du Idiot!« Ihr Gesichtsausdruck wurde sanfter und sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wo einer mit Sicherheit sterben würde, gelingt es zweien vielleicht, zu überleben und sich hinein- und wieder hinauszuschleichen, ohne erwischt zu werden. Also kann ich dich natürlich auf keinen Fall allein gehen lassen.«

FÜNF

Heimdall und Sif waren übereingekommen, dass sie ihren Einbruch in Odins Kammer am besten noch in dieser Nacht durchführen sollten. Ohne zu wissen, was sie erwartete, gab es ohnehin keine Möglichkeit, sich vorzubereiten, also warum warten? Er wusste, dass dies nur seine Nerven strapazieren und an seiner Entschlossenheit nagen würde.

Und nun war der Moment gekommen. Er spähte um die Ecke in den Gang dahinter, sah etwas, das er nicht erwartet hatte, und zog seinen Kopf zurück. »Vor der Tür steht eine Wache«, flüsterte er.

Sif runzelte die Stirn. »Wenn der Weg dahinter ohnehin tödlich ist, welchen Sinn hat das dann?«

»Vielleicht ist es einfach der Odin zustehende Prunk? Oder vielleicht soll der Wächter andere davon abhalten, aus Versehen hineinzugehen. Der Palast ist das reinste Labyrinth. Als wir das erste Mal hier waren, hast du dich verirrt.«

»Ich habe nur für einen Moment die Orientierung verloren«, erwiderte Sif, gereizt über die Erinnerung. »Jedenfalls sind magische Verteidigungsmaßnahmen das eine. Wenn dort ein lebender, atmender Wächter steht, können wir es nicht tun.«

Die Erleichterung in ihrer Stimme verärgerte Heimdall. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie die Erleichterung widerspiegelte, die er selbst kurz verspürt hatte. Doch der trotzige Teil von ihm akzeptierte diesen Vorwand, um umzukehren, nicht.

»Mit dem Wächter werde ich fertig«, sagte er und hoffte, dass es auch stimmte. »Du wartest hier.«

Er zog sich seine Kapuze tief ins Gesicht und wickelte seinen Schal um die untere Hälfte, wie ein Mann, der auf einem wilden Ritt keinen Straßenstaub einatmen wollte. Sein Herz schlug schneller, als er um die Ecke bog und den Gang entlanglief. »Da bist du ja!«, rief er.

Der Wächter, ein stämmiger Bursche mit Lanze und einem runden Schild mit dem Abbild der zwei Raben, den Wappentieren Odins, starrte ihn überrascht an. »Was?«

»Ich habe gerade einen Bericht an den Thanen deiner Truppe übergeben. Dann hat er mir aufgetragen, dich zu finden. Du sollst dich bei ihm melden.«

»Ich darf meinen Posten nicht verlassen«, erwiderte der Wächter.

»Aber der Than befiehlt es dir.«

Der stämmige Mann musterte Heimdall misstrauisch. »Ach ja? Wie heißt denn mein Hauptmann, wenn du wirklich von ihm geschickt wurdest?«

Heimdalls Herz klopfte noch schneller. Er konnte seinen Puls im Hals spüren und unter seinen Armen brach ihm der Schweiß aus. »Ich bin seit gestern geritten, mein Freund. Ich kann mich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten und ich weiß den Namen nicht mehr. Aber …«

»Das kommt mir nicht richtig vor«, sagte der Wächter. »Schnall dein Bandelier ab und leg dein Schwert auf den Boden.« Er richtete die Lanze auf Heimdall.

Gleich würde die Spitze auf ihn zeigen, also reagierte Heimdall instinktiv. Er machte einen Satz nach vorn, verpasste dem Wächter einen Schlag ins Gesicht und schlug weiter auf ihn ein, bis er bewusstlos zu Boden sank.

Sif eilte über den Gang. »Was hast du getan?«, rief sie.

»Ich konnte ihn mit Worten nicht dazu bringen, seinen Posten zu verlassen.«

»Also hast du ihn angegriffen?«

»Ich weiß«, erwiderte er. »Das war dumm. Aber es war meine Dummheit. Er weiß nicht, dass jemand bei mir war. Du kannst immer noch gehen.«

»Das bedeutet, du willst es weiterhin durchziehen?«

»Ja« Er fühlte sich schlecht und schämte sich dafür, den Wächter niedergeschlagen zu haben, doch auf seltsame Weise hatte es auch seine Entschlossenheit gestärkt. Es war, als hätte er mit dieser Tat eine unsichtbare Grenze überschritten. Umkehr war nun keine Option mehr.

»Dann komme ich mit«, entschied Sif. Sie klang nun weniger wütend als resigniert. »Zumindest warst du schlau genug, dein Gesicht zu verbergen, und wie du schon sagtest, hat der Mann mich nicht mal gesehen. Mit ein bisschen Glück wird er uns nicht beschreiben können.«

Unter dem Schal lächelte Heimdall. Jetzt, wo die unbekannten Gefahren der Krypta vor ihm lagen, wurde ihm klar, wie dankbar er für ihre Gesellschaft war.

»Und wenn wir etwas Wichtiges entdecken«, erklärte er, »wird die Tatsache, dass ich den Wächter außer Gefecht gesetzt habe, keine Rolle mehr spielen. Sieh mal nach, ob die Tür verschlossen ist.«

Sif drückte auf die goldene Klinke und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. »Ist sie nicht. Ich bin überrascht.«

»Wenn dahinter tatsächlich tödliche Gefahren lauern, braucht sie das vielleicht nicht zu sein.« Heimdall schleifte den Wächter durch die Tür zu einem Treppenabsatz, von dem Stufen tiefer nach unten führten. Sobald Sif die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, wurde der Raum in tiefe Dunkelheit gehüllt.

Heimdall berührte das Amulett, das er am Nachmittag von einem Händler magischer Gegenstände erworben hatte, und erweckte den Zauber zum Leben. Weißes Licht strömte aus der Kupferscheibe.

Ein zweites Licht breitete sich aus, als Sif ihr eigenes Medaillon aktivierte. »Dann mal los«, sagte sie.

Ohne Zwischenfall schlichen sie sich die Treppe hinunter. Am unteren Ende erstreckte sich ein weiterer Gang, der nach altem Stein roch, in die Schatten. Sie folgten ihm für etwa ein Dutzend Schritte, dann entdeckte Heimdall rostbraune Verfärbungen an den Wänden und dem Boden vor ihnen.

»Halt.« Er deutete auf die Spuren. »Siehst du das?«

»Ja«, antwortete Sif. »Jemand ist hier verblutet. Doch die Person oder das Ding, das ihn getötet hat, ist nicht mehr hier.«

»Vielleicht nicht«, sagte Heimdall. »Aber stell dir mal Klingen oder Stacheln vor, die aus den Wänden schießen und sich nach getanem Werk wieder zurückziehen. Das würde sowohl die Spritzer erklären als auch die Spuren am Boden. Es würde zu dem passen, was wir sehen.«

»Was ich nicht sehe«, entgegnete Sif, »sind irgendwelche Schlitze oder Löcher, aus denen Klingen und Stacheln kommen könnten.«

»Aber wenn dieser Ort magisch ist, gibt es vielleicht keine Löcher.«

Sif stöhnte genervt. »Sagen wir mal, dass du recht hast. Wie kommen wir daran vorbei?«

»Die Spritzer sind entweder hüfthoch oder höher«, erwiderte Heimdall. »Ich denke, wenn wir kriechen, sollte es gehen.« Er ging auf Hände und Knie und seine Schwester tat es ihm nach.

Als sie vorwärtskrochen, gaben die Wände über ihnen plötzlich seltsame Geräusche von sich. Lange, spitze Objekte schossen aus dem Stein und zogen sich wieder zurück. Hätten Sif und Heimdall versucht hindurchzugehen, hätten die vertikalen Stalagmiten sie mit Sicherheit aufgespießt.

Dennoch zuckte er bei jedem Knacken und Knirschen zusammen. Er nahm an, herausgefunden zu haben, wie man an den Stacheln vorbeikam, doch was, wenn er sich geirrt hatte? Was, wenn sie auch aus dem Boden schießen konnten, um Eindringlinge zu töten? Erleichtert seufzte er auf, als seine Schwester und er die letzte bräunliche Verfärbung und die spitzen Objekte hinter sich gelassen hatten.

Als sie seiner Meinung nach weit genug von der Falle entfernt waren, stand er auf und Sif folgte seinem Beispiel. Sie liefen weiter und kamen an eine offene Tür.