Marvel | Legenden von Asgard: Die Schlange und der Tod - Anna Stephens - E-Book

Marvel | Legenden von Asgard: Die Schlange und der Tod E-Book

Anna Stephens

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Beschreibung

Ein außergewöhnliches Duo asgardischer Heldinnen kämpft sich in diesem epischen Abenteuer quer durch die Neun Welten. Nach "Das Schwert des Surtur" und "Der Kopf des Mimir" der dritte Roman zum Fantasy-Universum von Marvel. Inmitten eines blutigen Konflikts muss Lady Sif, die tapfere asgardische Kriegerin, mit ansehen, wie ihre enge Freundin in einer glorreichen Schlacht stirbt – doch ihre Seele gelangt nicht in die ewigen Hallen von Walhalla. Wütend und wie gelähmt vor Angst, dass das Leben nach dem Tod für sie und alle Asen in Gefahr ist, bittet sie die Walküre Brunnhilde um Hilfe, die furchterregende Kriegerin, die damit betraut ist, würdige Seelen ins Jenseits zu befördern. Gemeinsam durchforsten sie Asgard nach Antworten. Gerüchte machen die Runde, dass Städte von einer Horde von Soldaten angegriffen werden, die nicht getötet werden können. Jemand baut eine unsterbliche Armee auf und stiehlt die Seelen der Asen … Eine angemessene Herausforderung für zwei der mächtigsten Helden Asgards!

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Seitenzahl: 410

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DieSCHLANGEund derTOD

EIN ROMAN VON

ANNA STEPHENS

INS DEUTSCHE ÜBERTRAGENVON STEPHANIE PANNEN

FOR MARVEL PUBLISHING

VP Production & Special Projects: Jeff Youngquist

Associate Editor, Special Projects: Caitlin O’Connell

Manager, Licensed Publishing: Jeremy West

VP, Licensed Publishing: Sven Larsen

SVP Print, Sales & Marketing: David Gabriel

Editor in Chief: C B Cebulski

Special Thanks to Wil Moss

© 2022 MARVEL

Die deutsche Ausgabe von DIE SCHLANGE UND DER TOD

wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Stephanie Pannen; verantwortlicher

Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild;

Satz: Rowan Rüster; Layout: Cross Cult; Cover-Illustration: Massimiliano Haematinon Nigro;

Printausgabe gedruckt von CPI book GmbH, Leck. Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:

THE SERPENT AND THE DEAD

First published by Aconyte Books in 2021

Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd

German translation copyright © 2022 MARVEL.

Print ISBN 978-3-96658-862-1 (August 2022)

E-Book ISBN 978-3-96658-863-8 (August 2022)

WWW.CROSS-CULT.DE

Mädchen (jeglicher Art):Seid eure eigenen Heldinnen.

Inhalt

EINS: LADY SIF

ZWEI: SEELENFÜHRERIN DER GEFALLENEN

DREI: TRAUER

VIER: INGE

FÜNF: DIE TAPFERSTE

SECHS: GIFTE UND TARNZAUBER

SIEBEN: FÜRCHTERLICHE ENTHÜLLUNGEN

ACHT: WIESENFALL

NEUN: TODLOS

ZEHN: BLUTIGE NACHT

ELF: UM DAS PORTAL ZU HALTEN

ZWÖLF: DAS VERSPRECHEN

DREIZEHN: JOTUNHEIM

VIERZEHN: DIE HÖHLE

FÜNFZEHN: DAS GEHEIMNIS DES BERGES

SECHZEHN: LEBENDIG UND TODLOS

SIEBZEHN: DIE GRÖßTE ANGST

ACHTZEHN: DAS SCHICKSAL DER VERMISSTEN

NEUNZEHN: BLUT UND HEILUNG

ZWANZIG: DER WAHRE FEIND

EINUNDZWANZIG: DIE SCHLANGE

ZWEIUNDZWANZIG: VERTRAUEN UND WAHRHEIT

DREIUNDZWANZIG: ILLUSIONEN UND LÜGEN

VIERUNDZWANZIG: DER GOTT DES SCHABERNACKS

FÜNFUNDZWANZIG: DAS LETZTE GEFECHT

SECHSUNDZWANZIG: ASGARD

DANKSAGUNGEN

EINS

LADY SIF

Sif machte sich unter dem Schutz ihres Schilds bereit und stöhnte auf, als sie der Aufprall des Felsens einen Schritt zurückzwang. Am anderen Ende des Schlachtfelds stieß der Bergriese, der ihn geworfen hatte, ein Wutgebrüll aus und stapfte auf sie zu. Seine Magie riss einen großen Graben in den Boden und formte die lose Erde zu einer Welle, die die Schildmaid unter ihrem Gewicht begraben würde.

Sif fletschte die Zähne und stieß ihr Schwert in die Erdmauer, die sie einzuhüllen drohte. Das brach den Zauber. Die Erde fiel lose zu Boden. Sie sprang darüber und griff an. Die Ebene östlich von Asgardia wurde von fast hundert Bergriesen heimgesucht und Sif wusste – wie alle Krieger –, warum sie gerade jetzt gekommen waren: Odin hielt sich in Vanaheim auf und versuchte erneut, den Frieden mit den Vanir zu sichern, für den sie so hart gekämpft hatten. Die Abwesenheit des Allvaters hatte nicht so sehr die Frage aufgeworfen, ob es einen Angriff geben würde, sondern eher, von wem und wie vielen.

Und warum.

Sif beschäftigte sich nicht mit dem Warum, jedenfalls nicht in diesem Moment. Ihr Bruder Heimdall der Weitsehende hatte Thor vor der Ankunft der Riesen in Asgard gewarnt und hinzugefügt, dass es sich dabei nur um die Vorhut einer größeren Invasion handeln könnte. Sif hatte darum gebeten, die Verteidiger anzuführen, und Thor hatte ihr diesen Wunsch gewährt, da er so in Asgardia bleiben konnte, um einen Gegenangriff zu planen.

Sif grinste, als sie die letzten paar Meter zwischen sich und ihrer Beute zurücklegte. Felsen regneten herab und überall um sie und ihre dreihundert Krieger herum spritzte Erde auf. Was die Bergriesen auch heute hier zu erreichen hofften, sie erwartete nur ein schmachvoller Tod. Ihr Schwert fest in der einen, ihren Schild in der anderen, griff sie an. Doch der Riese sah sie kommen und obwohl er viermal größer war als Sif, war er überraschend schnell. Die Keule, die er mit tödlicher Präzision schwang, war der Stamm eines jungen Baumes, der poliert worden war, bis die helle asgardische Sonne von seiner Oberfläche reflektiert wurde. Sie zischte horizontal durch die Luft, doch Sif passte den perfekten Moment ab. Sie traf die Brust des Riesen, kurz bevor die Keule dort durch die Luft sauste, wo sie sich gerade noch befunden hatte. Sie ließ ihren Schild los, um sich an seiner Rüstung festzuhalten, und stach in seine Halsbeuge. Der Stahl ihres Schwerts war schärfer als Helas Zunge und grub sich tief in seinen Hals, der breiter war als Sifs Torso. Sie zog die Klinge heraus, während ihr Gegner ins Taumeln geriet, als er nach ihr greifen wollte.

Die Krieger von Asgardias erstem Schildwall hatten die Bergriesen im Handumdrehen in Dreiergruppen umzingelt und griffen sie stets von hinten an. Als Sif nun wieder auf dem schlammigen Boden landete, sprang ihre Freundin Gyda auf den Rücken des Riesen und stach mit langen Dolchen in jeder Hand auf seine Lederrüstung ein. Hektisch versuchte der Riese, über seine Schulter zu greifen und sie zu packen. Als es ihm nicht gelang, machte er eine ausladende Geste und überall um sie herum explodierte Erde.

»Gyda!«, rief Sif. Sie rannte bereits, als der Boden um sie herum plötzlich aufgesprengt wurde. Instinktiv schloss sie die Augen und schützte ihr Gesicht mit dem Schild, als Erde und scharfe Steine auf sie zuflogen. Die Keule des Riesen traf sie an den Rippen und schleuderte sie zwanzig Meter über das Schlachtfeld. Doch Sifs Rüstung hielt und als sie auf den Boden traf, rollte sie sich ab.

Selbst von hier und über den Schlachtenlärm hinweg konnte sie hören, wie Gyda ihren Namen rief. Sif atmete tief durch und spürte einen brennenden Schmerz in ihrer Flanke. Doch es schien nichts gebrochen zu sein und einen Herzschlag später war sie wieder auf den Beinen. Sie hob ihren Arm, um zu zeigen, dass sie in Ordnung war, und hörte ihre Freundin jubeln, während sie weiter mit ihren Dolchen auf den Riesen einstach. »Den hier haben wir, Sif! Zu deiner Rechten!«

Sif blinzelte noch Dreck aus ihren brennenden Augen, zögerte jedoch nicht, als Gyda ihre Warnung rief, und wich zur Seite aus. Sie war nicht ganz schnell genug, als ihre Gegnerin – eine etwas kleinere, aber immer noch bedrohliche Riesin – mit einem wütenden Knurren einen Felsen nach ihr warf.

Der Stein traf Sif am Unterschenkel und sie schrie vor Schmerzen auf. Der Fels rollte weiter, glücklicherweise ohne sie zu zermalmen, auch wenn sie das fast vorgezogen hätte, denn im nächsten Atemzug schloss sich die enorme Hand der Riesin um Sifs Kopf und hob sie hoch.

Es war leicht, Sif auf dem Schlachtfeld zu entdecken, und sie war zum Fokus der gegnerischen Aufmerksamkeit geworden. Inmitten eines Meers aus Gold war ihr Haar schwärzer als die Flügel eines Raben, ein Banner der Nacht, das alle Blicke, allen Zorn auf sich zog. Wenn die ersten Gegner ihrer Klinge zum Opfer fielen, wusste Sif genau, dass weitere kommen würden, um ihre toten Verwandten zu rächen. Und sie begrüßte es.

Nun raubte ihr die Hand der Riesin den Atem und verdeckte ihr die Sicht, während sie hochgezogen wurde. Glücklicherweise musste sie weder atmen noch sehen können, um anzugreifen. Sie ließ ihren Schild am Gurt von ihrem Unterarm hängen und stach auf das Handgelenk der Riesin ein. Sie spürte, wie die Waffe tief in ihrem Fleisch versank.

Der Griff ihrer Gegnerin ließ gerade genug nach, dass Sif Luft schnappen konnte, dann packte diese wieder zu. Immer wieder stach Sif auf sie ein, selbst noch als die andere Hand der Kreatur ihren Fuß zu fassen bekam und sie entzweizureißen versuchte. Sifs Hände, Arme und Rüstung waren bereits ganz klebrig vor heißem Riesenblut und ihr Rückgrat wurde schmerzhaft gedehnt, als die Riesin sie endlich vor Schmerz heulend zu Boden schleuderte.

Sif prallte heftig auf und rollte davon, während die Riesin auf die Knie sank und dann zur Seite fiel. In ihrem Hals steckten drei Speere.

»Mylady!«, rief ein Krieger, als Sif wieder auf die Beine gekommen war. »Hinter Euch!«

Sif hechtete vorwärts und sprang über den leblosen Körper der Riesin. Sie riss einen der Speere aus dem Hals der Toten und wirbelte herum. Der andere Riese, gegen den sie mit Gyda und dem dritten Krieger gekämpft hatte, war einer der letzten auf dem Schlachtfeld, der noch lebte. Sifs ursprüngliche Erleichterung – dass es fast vorbei war – verwandelte sich in Entsetzen, als der Riese einen gewaltigen gepanzerten Fuß hob und sich darauf vorbereitete, etwas oder genauer gesagt jemanden zu zerquetschen, der hilflos unter ihm lag.

Schnell schleuderte Sif den Speer. Er bohrte sich tief in den Oberschenkel des Riesen und dieser begann zu taumeln. Sie ging davon aus, es geschafft zu haben, doch dann fand er sein Gleichgewicht wieder. Er sah ihr in die Augen, sein Mund verzog sich zu einem grausamen Lächeln und er trat zu.

Sif erkannte die Schienen an den Armen der Kriegerin, als sie sich in einem letzten mitleiderregenden Verteidigungsversuch hoben: Es war Gyda. Die Schildmaid, die Sif in zahllosen Schlachten und ebenso vielen Siegesfeiern zur Seite gestanden hatte. Ihre Freundin Gyda.

»Nein!«, schrie Sif, riss einen weiteren Speer aus dem Hals der toten Riesin und schleuderte auch diesen. Sofort rannte sie ihm nach, so schnell, dass ihre Füße kaum die aufgewühlte Erde berührten. Ihr Schild fing das Sonnenlicht ein, während sie hochsprang und mit ihrem Schwert auf die Kehle ihres Gegners zielte. Sie war schnell und tödlich, und jetzt war sie vor allem wütend. Mit der ganzen Wucht ihrer Wut drang die scharfe Spitze ihres Schwerts in weiches, ungeschütztes Fleisch und trat in seinem Nacken wieder aus.

Sif stemmte ihre Füße gegen die massive Brust und riss die Klinge zur Seite, um die Hauptschlagader zu durchtrennen. Der Riese ging in die Knie und kippte dann seitlich zu Boden. Sein enormes Herz pumpte einen Schwall Blut aus seinem Hals, der sich heiß über ihre Arme und das Innere ihrer Brustplatte ergoss. Doch die Schildmaid beachtete es gar nicht. Sie riss sich los, landete geschmeidiger als eine Katze und eilte zu Gyda. Ein Schimmer erhob sich aus ihrem Körper. Mit Tränen in den Augen verlangsamte Sif ihre Schritte und wartete auf die Walküren, die Gyda nach Walhalla begleiten würden. Sie sah ein paar Seelenführerinnen der Gefallenen auf dem Schlachtfeld, die sich um Sterbende kümmerten, doch keine erschien für Gyda.

Sif ging näher heran. Wenn keine Walküre zu ihr kam, waren die Verletzungen vielleicht doch nicht so schlimm. Sie hörte den abgehackten Atem ihrer Freundin, das Schimmern wurde stärker und dann … nichts. Das Licht erlosch und Gyda bewegte sich nicht mehr.

Erschrocken riss Sif den Mund auf. Was war gerade geschehen? Hatte Gyda das Bewusstsein verloren? War sie tot? Sif sah sich erneut auf dem Schlachtfeld um, doch immer noch näherte sich keine Halbgöttin, also legte sie die letzten paar Schritte zurück, kniete sich an Gydas Seite und suchte mit ihren Fingern an ihrem Hals nach einem Puls. Doch da war nichts.

»Gyda? Gyda, sieh mich an. Antworte mir!«

Sie zog den leblosen Körper ihrer Freundin in ihre Arme und hielt sie fest. Die Kriegerin bewegte sich nicht. Atmete nicht. Ihre Brustplatte war eingedrückt und gab einen Hinweis auf den Zustand ihres Körpers darunter.

»Nein«, flüsterte Sif »Nein, das ist nicht richtig. Das kann nicht richtig sein. Du … Wo bist du, Gyda? Wohin bist du gegangen?«

»Lady Sif? Lasst sie uns jetzt ehren.«

Erschrocken drehte sich Sif um. »Brunnhilde? Wie konntet ihr? Wieso habt ihr sie mir vor ihrer Zeit genommen? Sie war nicht tot! Sie hat noch geatmet. Ich habe sie atmen sehen und dann habt ihr sie genommen. Sie war noch nicht bereit.« Ihre Stimme brach. Sie schluchzte und ein gefährlicher Zorn erfüllte sie. »Wie konntet ihr sie vor ihrer Zeit stehlen?«

Brunnhilde, die Anführerin der Walküren und einer der wenigen Krieger, die Sif im Kampf schlagen konnten – und das auch nur knapp –, kniete sich neben sie und legte mitfühlend eine Hand auf ihre blutige, verbeulte Rüstung. »Es tut mir leid, Sif, aber ich kann nichts für sie tun. Ich weiß, dass ihr euch nahegestanden habt, aber sie ist jetzt mit einer meiner Schwestern auf dem Weg nach Walhalla. Ihr Tod war so ruhmreich wie ihr Leben – und sie wird dort auf dich warten, da bin ich mir sicher.«

Sif schlug ihre Hand weg. »Du hörst mir nicht zu«, sagte sie mit rauer Stimme. Brunnhilde kniff die Augen zusammen. Sie waren seit langer Zeit befreundet, aber hier am Ende einer Schlacht befanden sie sich in Brunnhildes Territorium. Sif schuldete ihr Respekt. Doch das war ihr in diesem Moment egal.

»Sie wurde nicht auserwählt«, beharrte sie. »Keine von euch ist gekommen, um sie zu holen, aber jetzt ist sie fort. Sie hat noch geatmet!« Sie konnte die Verzweiflung in ihrer eigenen Stimme hören, doch sie war dankbar, als die Walküre die Stirn runzelte und sich näher heranbeugte.

»Sag das noch mal. Erzähl mir genau, was du gesehen hast.«

Die Erinnerung war gleichzeitig in Sifs Gedächtnis eingebrannt und durch Trauer getrübt, doch dies war wichtig. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Da war ein … ein Schimmern über ihr. Ich habe sie mühevoll atmen hören …« Sie musste sich räuspern. »Und dann nichts mehr. Das Leuchten verschwand. Ihr habt sie vor ihrer Zeit genommen. Sie hätte … Vielleicht hätte ich mich noch verabschieden können.« Es gelang ihr nicht, den vorwurfsvollen Ton aus ihrer Stimme zu halten.

»Leg sie hin«, befahl die Walküre barsch und Sif gehorchte ihr ohne Widerspruch. Sie rutschte ein wenig zurück, um ihr mehr Platz zu geben. Brunnhilde lehnte sich über Gyda und löste unter Schwierigkeiten die Brustplatte. Die Walküre schob eine Hand sanft unter die Rüstung und legte die andere auf Gyndas Stirn. Sie schloss ihre Augen und Sif spürte das Kribbeln von Magie auf ihrer Haut.

Brunnhilde blieb quälende, endlose Minuten lang schweigend so sitzen und Sif wartete elendig ab, bis die andere Frau endlich ihre Augen wieder öffnete und sich aufrichtete. »Bei Odins Auge«, fluchte die Walküre. »Sie ist fort.«

»Das habe ich doch gesagt«, entgegnete Sif durch zusammengebissene Zähne. Ihr Blick fiel auf ihr Schwert, das neben ihr im Schlamm lag. In einem Augenblick reinen Wahns wollte sie nichts mehr, als damit die Seelenführerin anzugreifen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Brunnhilde musste ihr diese Gedanken angesehen haben, denn sie beobachtete sie aufmerksam, bis sie schließlich seufzte und ihre Gefühle beiseiteschob. Sie nickte und die Walküre erwiderte es.

»Du verstehst nicht«, sagte sie sanft. »Das Todesleuchten hier … Sie lag im Sterben, Sif, und nichts hätte es aufhalten können. Aber dann ist sie nicht wirklich gestorben.«

Sif starrte sie verständnislos an. »Sie ist nicht gestorben? Aber wo ist sie dann?« Die Schildmaid lehnte sich erneut vor, bis die schwarzen Strähnen über ihre Schultern fielen, und starrte in Gydas blutüberströmtes Gesicht. Ihre Haut war totenbleich, kein Atemzug regte sich in ihrer Brust und ihre Augen waren gebrochen. »Wie kann sie …? Sie sieht …« Sif brachte es nicht über sich, den Satz zu beenden, da sie von der plötzlichen und entsetzlichen Überzeugung ergriffen war, Gyda könnte sie hören.

»Ich weiß, meine Freundin«, versicherte Brunnhilde sanft. »Ich verstehe selbst nicht, was hier geschehen ist, aber ich verspreche dir, es herauszufinden.« Die Walküre machte eine vage Handbewegung, als könnte sie das, was sie wusste, nicht in Worte fassen. »Ihr wurde etwas in dem Moment, in dem sie sterben sollte, angetan. Die … die Seele lässt nach dem Tod ein Echo im Körper zurück. Das in Gyda ist falsch. Die Form des Echos ihrer Seele ist verzerrt. Mehr als das: Gydas letzter Atemzug fehlt. Der Atem, mit dem die Seele entkommt, wenn jemand stirbt, hat eine besondere Aura, eine gewisse Resonanz. Sie ist für eine Walküre sehr klar zu erkennen und hilft, uns zu jenen zu führen, die wir nach Walhalla geleiten sollen. Gydas letzter Atemzug ist fort. Oder genauer, sie hat ihn niemals getan.«

Sif war von all dem, was Brunnhilde gesagt hatte, ganz schwindlig. »Sie lag also im Sterben, ist aber nicht tot. Sie hat ein- aber nicht ausgeatmet und ihre Seele konnte nicht auf diesem Atemzug entkommen, richtig?« Die Walküre nickte. »Ist sie denn dann tot? Ihr Körper ist es, aber ihr Atem nicht? Ihre Seele? Ich verstehe das nicht.«

Brunnhilde runzelte die Stirn, strich Gyda aber mit sanfter Hand eine Strähne aus dem blutigen Gesicht. Der Anblick schnürte Sif erneut die Kehle zu.

»Kannst du bei ihr warten?«, fragte Brunnhilde. »Ich muss nach Walhalla und mit den anderen Walküren reden. Vielleicht ist Gyda ja schon dort oder mit einer meiner Schwestern auf dem Weg dorthin. Vielleicht hast du im Chaos der Schlacht nicht das gesehen, was du gesehen zu haben glaubst. Bleib … bleib einfach bei ihr. Bitte?«

Sif nickte stumm und nahm Gyda wieder in ihre Arme. Normalerweise würde es sie wütend machen, dass jemand ihre Worte anzweifelte, aber hier klammerte sie sich verzweifelt an die Hoffnung, dass sie sich tatsächlich geirrt hatte, dass sie beide sich irrten. Gyda war bereits in Walhalla und was sie gesehen hatte, war etwas völlig anderes gewesen. Bitte, Frigga, lass mich mich getäuscht haben. Bitte.

Ihre Verwirrung und Wut verwandelten sich immer mehr in Trauer, die sie erfüllte, bis sie ihr aus den Augen strömte. Und unter diesem Sturm baute sich eine Furcht auf, die ihr bis ins Mark ging. Brunnhilde war besorgt. Nicht einmal in den vielen Jahren, seit sie der Allvater für diese Aufgabe auserkoren hatte, war sie gescheitert. Die Seelen der Krieger, die zu Einherjar geworden waren, wurden geehrt und beschützt. Es war unmöglich, sich etwas anderes auch nur vorzustellen. Bis jetzt.

Brunnhilde hatte ihre Pflicht stets mit einer Mischung aus Trauer über den Tod der Krieger und gleichzeitiger Freude darüber erfüllt, dass sie diese nach Walhalla geleiten durfte. Jetzt zu sehen, wie sie nervös auf ihrer Lippe herumkaute und die Stirn runzelte, erfüllte Sifs Magen mit kaltem Entsetzen.

Aragorn, Brunnhildes geflügeltes Ross, bahnte sich vorsichtig seinen Weg durch die Toten des Schlachtfelds. Nachdem die Walküre Sif ein letztes Mal die Hand gedrückt hatte, stand sie auf und stieg in den Sattel. »Halte durch«, sagte sie, wartete jedoch nicht auf eine Antwort, sondern erhob sich mit dem edlen Tier in den Himmel und verschwand. Dort waren noch andere Walküren zu sehen, die die glorreichen Toten in ihr neues Zuhause in Walhalla brachten.

Die Schildmaid mit den rabenschwarzen Haaren hielt Gyda fest an sich gepresst. Die zarten Züge ihrer Freundin waren mit Schmutz und Blut befleckt und im Tod – oder Untod – völlig reglos. Bitte, Odin und Frigga, bitte lasst sie nicht tot sein. Lasst ihre Seele zu uns und ihrem Körper zurückkehren. Oder wenn schon nicht zu ihrem Körper, dann wenigstens nach Walhalla. Lasst meine Freundin in Odins Halle ausruhen, bis die Letzte Schlacht sie ruft. Lasst sie friedvoll und fröhlich sein, nicht verloren.

Lasst uns alle nicht verloren sein.

Sif kniete in der aufgewühlten Erde, ihre Haut verklebt vom Blut ihrer Feinde und Verbündeten, und ließ Tränen den Schmutz von ihren Wangen waschen.

ZWEI

SEELENFÜHRERIN DER GEFALLENEN

Brunnhilde trieb Aragorn auf der Reise nach Walhalla immer schneller voran. Sie eilte an ihren Schwestern und den Seelen vorbei, die diese voller Liebe und Ehrfurcht vor ihrem Mut und ihrem Opfer umsorgten. Einige bewegten sich widerstrebend voran, wie betäubt von dem Wissen, dass sie aus ihrem Körper und ihrem Leben gerissen worden waren. Andere, meistens Ältere, gingen eifrig voran und freuten sich auf die Halle und die mit ihnen gefallenen Kameraden und Freunde. Das Wiedersehen mit den ruhmreichen Toten war Balsam für viele, die ansonsten um jene getrauert hätten, die sie im Leben zurücklassen mussten. Einige wenige, und solche gab es immer, weinten offen um den Verlust ihrer Körper und ihres Lebens unter Asgards strahlender Sonne. Die Walküren hielten sie sanft im Arm und sprachen im gleichen beruhigenden Tonfall mit ihnen, wie es Eltern bei einem verunsicherten Kind taten.

Sie spendeten jedem der gefallenen Krieger den Trost, den er oder sie benötigte. Walküre zu sein war die höchste Ehre in allen Neun Welten. Es bedeutete nicht nur, den Mut und das Opfer zu würdigen, das die Seelen zu ihnen führte, sondern auch das wunderbare und zugleich schmerzliche Privileg zu haben, das Letzte zu sein, was die Sterbenden jemals sehen würden, während sie mit einem letzten Atemzug aus ihren leidenden Körpern entschwanden. Es bewegte Brunnhilde jedes Mal bis in die tiefsten Tiefen ihrer eigenen Seele. Doch heute eilte sie ohne einen zweiten Blick an den Toten vorbei.

Aragorn spürte ihre Nervosität und schlug schneller mit den Flügeln, galoppierte durch den Himmel und ins Totenreich. Seine großen Muskeln bewegten sich unter seinem seidig glänzenden Fell. Schließlich erreichten sie das Ufer des Sees und die üppige Wiese vor Odins großer Halle. Die Walküre stieg von ihrem Ross, noch bevor es richtig zum Stehen gekommen war, und marschierte ohne Rücksicht auf Etikette zum Eingang. Dies war zu wichtig für Respektsbekundungen.

Sie stieß die hohen Türen auf und hielt nicht mal inne, um deren kunstvolle Schnitzereien zu bewundern, die von gewonnenen Schlachten, getöteten Gegnern und dem Triumph Asgards erzählten. Nie zuvor hatte sie die Grüße ihrer Schwestern und der versammelten Seelen einfach ignoriert. Brunnhilde nahm sich sonst immer Zeit, mit den ruhmreichen Toten anzustoßen. Jetzt jedoch hätte es sich ebenso um die Tür eines Bauernhauses voller Fremder handeln können, so wenig wie sie auf ihre Umgebung achtete.

Ungefähr kannte Brunnhilde Form und Geschmack von Gydas Seele und konnte sich ihr Antlitz vorstellen, als es sich im Tode das letzte Mal entspannt hatte, wo gerade noch die starken Emotionen einer lebenden Frau getobt hatten. Sie blieb auf der Schwelle stehen und überflog die Gesichter am Rand der gewaltigen Halle. Die Neuankömmlinge schlossen sich nur selten sofort dem Gelage in Inneren oder den Kampfesübungen im Außenbereich an. Es gab eine Übergangszeit der Trauer und Akzeptanz, oftmals auch der Verbitterung und der Reue, bevor sich die Einherjar mit dem Wissen abfinden konnten, dass ihr sterbliches Leben ein Ende gefunden hatte, so heldenhaft es auch gewesen sein mochte.

Wohin Brunnhilde auch blickte, sah sie Walküren leise mit ihren Schützlingen sprechen oder sanft lächeln, die Hände auf ihre Arme oder Schultern gelegt, während sie sie beruhigten und ihnen Zeit gaben, sich einzugewöhnen. Andere winkten Krieger zu sich, die den Seelen während der ersten Tage ihres Lebens nach dem Tod als Führer und Mentoren dienen würden.

Die Halle war voller Leben und Farben: An den Wänden hingen bunt bemalte Schilde und neben ihnen noch viel buntere Waffen – Schwerter, Speere und Äxte. Brunnhildes Hand sank auf den Griff ihres eigenen Schwerts Drachenfang und sein Gewicht an ihrer Hüfte spendete ihr Trost. Die Waffe erinnerte sie daran, dass ihre Loyalität und Hingabe es gewesen waren, die den Allvater dazu bewegt hatten, sie zu einer der Seelenführerinnen der Gefallenen zu ernennen, dass sein Vertrauen in sie nie nachgelassen hatte. Sie wiederum hatte ihn niemals enttäuscht.

Und das werde ich auch jetzt nicht. Das schwöre ich bei meiner eigenen Seele und meiner Hoffnung, während Ragnarök an Thors Seite zu stehen.

Trotz des Schwurs, der gleichzeitig ein Gebet war, konnte sie Gyda unter den neuen Bewohnern Walhallas nicht finden. Sie befragte vier Walküren, die ihre Pflicht getan hatten und auf dem Weg hinaus waren. Sie zeigte ihnen die Gestalt von Gydas Seele, doch keine von ihnen erkannte sie wieder. Brunnhilde nickte und ließ sie gehen – es gab noch viele weitere Walküren, an die sie sich wenden konnte, bevor sie sich die Panik eingestehen würde, die in ihrer Brust lauerte.

Einherjar drehten sich besorgt und neugierig zu ihr um und runzelten die Stirn über ihre stumme, regungslose Anwesenheit. Schnell nickte ihnen Brunnhilde freundlich zu, bevor sie zum Ausgang eilte und in die süße, warme Luft des Totenreichs zurückkehrte. Sie ging um die Halle herum zu den Übungsfeldern und wiederholte ihre Inspektion, dann warf sie einen Blick auf die Insassen der wenigen Boote auf dem See, auch wenn es noch unwahrscheinlicher war, Gyda hier zu finden als bei den Kampfesübungen. Doch sie musste gründlich sein. Sie musste jede Möglichkeit hier in Walhalla ausschließen, bevor sie zu Sif zurückkehren und ihr verkünden musste, dass ihre Freundin fort war. Wahrhaft fort. Vielleicht für immer.

Schließlich ging Brunnhilde zu Aragorn zurück. Das geflügelte Ross weidete im Gras, hob jedoch den Kopf und wieherte leise, als sie näher kam. Dann drückte es seine Nüstern gegen ihre Brust und sie wurde von seinem süßen Moschusduft eingehüllt. Sie schwang sich in den Sattel und trieb ihn an, tiefer in Walhalla vorzudringen. In einem leichten, mühelosen Galopp näherten sie sich der Halle der Aufzeichnungen, in der der Name jedes toten Kriegers zu finden war. Auf dem Weg wandte sich Brunnhilde telepathisch an alle ihre Walküren, damit ihr diese jede Seele bestätigten, die sie vom Schlachtfeld dieses Tages nach Walhalla geleitet hatten.

Die Anweisung war ungewöhnlich genug, um von einigen wenigen ihrer Schwestern hinterfragt zu werden. Ihre Stimmen hallten in Brunnhildes Gedanken wider, doch sie formulierte ihre Antwort mit solchem Nachdruck, dass sie sich sofort fügten.

Doch selbst mit dieser Antwort konnte sie sich nicht sicher sein. Die Walküren konnten nur die Seelen bestätigen, die sie persönlich nach Walhalla gebracht hatten und dass keine von ihnen auf dem Weg verloren gegangen war. Wenn niemand dagewesen war, um Gyda zu geleiten, hatte auch niemand ihre Abwesenheit bemerken können. Sie brauchte die Liste in der Halle der Aufzeichnungen, in der die Details jedes Lebens zu finden waren, das auf dem Schlachtfeld vor Asgardia geendet hatte. Damit konnte sie überprüfen, was Odins Seelenführerinnen berichtet hatten.

Nicht alle, die in Asgard starben, wurden mit einem Platz in Walhalla geehrt, doch der Archivar schrieb ihre Namen dennoch auf. War es möglich, dass die Schildmaid von Hel geholt worden war? Die bloße Vorstellung, Sif eine solche Nachricht überbringen zu müssen, ließ Brunnhilde das Gesicht verziehen. Sie war mit Thor und Loki aufgewachsen und hatte Seite an Seite mit den Tapferen Drei gekämpft. In all der Zeit war Sif ebenso loyal wie stur gewesen. Die Walküre würde ihr zutrauen, nach Hel zu marschieren und Gydas Seele zurückzuverlangen, wenn sie sich tatsächlich dort aufhalten sollte. Aber es waren nicht nur die langen Jahre der Freundschaft, die Brunnhilde dazu veranlassten, herausfinden zu wollen, wo Gydas Seele verblieben war. Sie war eine Walküre und dazu auserwählt, die Toten zu beschützen.

Brunnhilde trieb Aragorn in einen Galopp.

Die Halle der Aufzeichnungen war ein riesiges Steingebäude mit hoch aufragenden Fenstern und beeindruckenden Reliefs, die Götter und Legenden darstellten. Es gab mehr Etagen, Räume und Gänge, als von außen möglich schien, und Brunnhilde wusste aus Erfahrung, dass der schnellste und sicherste Weg, um herauszufinden, was sie wissen wollte, darin bestand, den Archivar direkt zu fragen. Sonst könnte sie sich tagelang zwischen den Regalen verlieren.

Sie brachte Aragorn zum Stehen und stieg ab. Ihr Ross bewegte sich störrisch zur Seite und die Walküre tätschelte seinen Hals zärtlich, aber auch warnend. Im Vorbeigehen spürte sie sein Schnauben in den feinen goldenen Haaren, die sich aus ihrem breiten Zopf gelöst hatten. Doch sie beachtete ihn nicht weiter, sondern betrat die Halle der Aufzeichnungen.

Brunnhildes Hand legte sich erneut auf Drachenfangs Griff und sie atmete tief ein, bevor sie die große Holztür aufdrückte. Der Archivar … irritierte sie. Er hatte die Position schon innegehabt, lange bevor Brunnhilde von Odin erwählt worden war, und es hieß, dass ihn der Allvater persönlich hier eingesperrt hatte. Damals, als dieser noch ein Junge gewesen war, der mit seinen Brüdern Vili und Ve um Ruhm und Ehre gewetteifert hatte.

Bei dem Archivar handelte es sich um einen Troll, durch Odins Stärke und Magie für alle Ewigkeit seinem Willen unterworfen. Sein Verbrechen, seine Gründe und seine Hoffnungen waren mit der Zeit in Vergessenheit geraten. Die Walküre wusste nur, dass der Archivar die Fähigkeit hatte, den Tod jedes Asen zu spüren, und durch Odins Macht über ihn gezwungen war, ihn aufzuzeichnen. Nichts davon machte sie weniger misstrauisch, während sie die Halle der Aufzeichnungen betrat. Sie hatte völliges Vertrauen in Odins Kontrolle über den Archivar, doch er war immer noch ein Troll und sie hatte im Lauf der Jahre gegen zu viele dieser Kreaturen gekämpft, um auch nur einem von ihnen zu trauen.

Ihre Schritte hallten über den Stein, während sie das Gebäude betrat, und sie versuchte nicht einmal, die Hand zu verstecken, die auf ihrem Schwertgriff ruhte. Der Archivar sah von seinem Pult und dem riesigen, in Leder gebundenen Buch, in das er schrieb, auf. Eine dunkle Kapuze verhüllte sein Gesicht, doch die unförmige Robe konnte weder seine Größe noch den missgestalteten Buckel verbergen. Die Hand, mit der er die Schreibfeder hielt, war ledrig, mit viel zu langen gelben Fingernägeln, die eher an Krallen erinnerten.

Er atmete scharf ein. »Walküre.«

Brunnhilde nickte. »Archivar. Gyda Horunsdottir.« Sie bekam den Eindruck, dass der Troll auf mehr wartete, doch sie hatte weder Zeit noch Lust, seinem Wunsch zu entsprechen. »Sofort.«

Lange, klauenartige Finger blätterten eine Seite um. »Ja. Heute, vor weniger als zwei Stunden.« In der heiseren Stimme lagen Neugier und ein Hauch Belustigung. »Warum? Hast du sie verloren, kleine Walküre? Wünschst du, etwas über ihr Leben zu erfahren oder wohin sie ihr Schicksal nun geführt hat?«

Der Troll konnte unmöglich wissen, ob Gyda nach Walhalla oder Hel geschickt worden war, denn er registrierte lediglich die Tode. Und zu behaupten, er hätte Kenntnis von etwas, das nur den Nornen zugänglich war, grenzte an Ketzerei.

Noch bevor seine Worte verhallt waren, hatte sie Drachenfang gezogen und hielt es dem Archivar an die Kehle. »Was weißt du?«, knurrte Brunnhilde. Der Troll bewegte sich nicht und trotz ihrer Nähe konnte sie sein Gesicht unter der Kapuze immer noch nicht erkennen. Doch sie spürte seinen Blick. Er schien sich zu fragen, ob sie den Mut haben würde, die Klinge in seine Kehle zu stoßen. Wie schlecht sie der Troll kannte, das infrage zu stellen. »Sprich«, blaffte sie.

Der Archivar lehnte sich sehr langsam zurück und Brunnhilde zog Drachenfang von dem dichten Stoff und der Haut darunter zurück. »Ich weiß viele Dinge, Walküre. Mehr Dinge, als du denkst. Aber das nicht. Wenn du wirklich die Seele einer Kriegerin verloren hast, gibt es nichts, was ich tun kann. Gyda Horunsdottir ist tot. Ihr Name steht im Buch und kann nicht geändert werden. Das Schicksal ihrer Seele geht mich nichts an.«

»Was hat sie gefühlt, als sie gestorben ist?«, fragte Brunnhilde.

»Angst, Schmerz, Verwirrung«, erwiderte der Troll noch amüsierter als zuvor, als sei die Antwort offensichtlich. Er hielt inne und fügte dann fast widerwillig hinzu: »Besorgnis. Ein Gefühl von Verkehrtheit. Eine fast violette Furcht.«

Brunnhilde runzelte die Stirn. »Violett?«

»Die Gefühle eines Sterbenden sind so stark, dass sie mir in Farben, Gerüchen oder sogar Geräuschen zufliegen. Gydas Furcht war violett und eine einsame Knochenflöte spielte eine Arie des Bedauerns.«

»Und was bedeutet das?«

Der Troll schwieg für einen Moment und tippte mit seinen langen Krallen auf das Pult, ein rhythmisches Klacken, das der Walküre durch Mark und Bein ging. »Es bedeutet, dass sie vor ihrem Tod die größtmögliche Angst verspürte. Es bedeutet, sie war sich darüber im Klaren, dass etwas nicht stimmte, vom Ende ihres sterblichen Lebens abgesehen. Gyda Horunsdottir starb schreiend.«

Die Freude in der Stimme des Trolls war so offensichtlich, dass Drachenfang in ihrem Blut sein Lied der Gewalt zu singen begann, und Brunnhilde sich körperlich davon abhalten musste, auf das Monster einzustechen, bis es nicht mehr war als ein Haufen Fleisch.

»Ich verstehe«, gelang es ihr hervorzubringen und sie staunte selbst über die Festigkeit ihrer Stimme. »Und hast du diese Falschheit, diese Farbe und diese Klänge schon einmal gehört?« In diesem Moment schwor sie sich, dass Sif diese spezielle Information niemals erfahren würde. Wichtig war nur, dass sich Gyda im Sterben bewusst gewesen war, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht konnte Brunnhilde das irgendwie nutzen.

»Ich fühle viele, viele Dinge, wenn Asen sterben, Seelenführerin. Verkehrtheit und Beunruhigung sind nicht ungewöhnlich. Aber ja, dieses spezielle … Aroma habe ich schon einmal verspürt.«

»Wie oft? Wann, wo? Welche Seelen waren es?« Zurückhaltende Aufregung erwachte in Brunnhildes Bauch und versuchte, die Beklemmung zu vertreiben, die sich dort scharf wie Glas eingenistet hatte.

»Es wird dauern, das herauszufinden«, sagte der Archivar. »Und die Toten werden nicht aufhören zu sterben. Die Schlacht mag vorbei sein, doch ich habe noch viele Namen zu schreiben. Komm in ein paar Tagen wieder.«

Brunnhilde biss die Zähne zusammen, doch es gab nichts, was sie tun konnte. Der Troll war der Einzige mit der Fähigkeit – und der Erlaubnis –, die Toten aufzuzeichnen, und der Einzige, der die von ihm erwähnte Verkehrtheit spüren konnte. Sie konnte die Antwort nicht früher erzwingen, doch ihre Anwesenheit konnte sie definitiv verzögern.

»In zwei Tagen kehre ich zurück – oder schicke eine meiner Schwestern.«

Der Troll winkte ab und beugte sich wieder über das Buch. Er tauchte seine Feder in die Tinte und begann erneut mit seiner aufwendigen und präzisen Niederschrift. Die Namen der Verstorbenen und die Umstände ihres Todes, ob ruhmreich oder bescheiden.

Brunnhilde würde vom Archivar nicht mehr erfahren und auch keine weiteren Antworten in Walhalla finden. Irgendwo hier gab es einen Hinweis auf etwas, ein Versprechen, dass Gydas Seele zurückgeführt werden konnte, zusammen mit weiteren, die verschwunden waren. Der Gedanke ließ sie erschauern. Wie lange schon versagten die Walküren, ohne es zu wissen? Welche böse Magie stahl eine Seele und ihren letzten Atemzug, ohne dass die Führerinnen der Toten etwas davon mitbekamen?

Und vor allem: warum?

DREI

TRAUER

Sif war vor Sorge und Frustration völlig außer sich, während die Minuten so langsam verrannen wie das Harz eines Baums, ohne dass Brunnhilde zurückkehrte.

Gydas Körper war erkaltet und begann, steif zu werden. Andere Krieger waren gekommen, um ihren Leichnam für die Todesriten einzusammeln, doch sie hatte sie mit gefletschten Zähnen wie ein Tier verscheucht. Sie durfte ihnen nicht erklären, was geschehen war, das wusste sie instinktiv. Walhalla war das Versprechen, das ihnen Mut im Kampf gab. Zu wissen, dass die Möglichkeit bestand, es nach dem Tod nicht zu erreichen, könnte verheerende Auswirkungen haben. Und in Odins Abwesenheit würde sie diese Enthüllung verwundbar zurücklassen. Möglicherweise würde nicht einmal der Gott des Donners in der Lage sein, ihnen wieder Tapferkeit einzuflößen, wenn die Riesen erneut angriffen, sollte bekannt werden, dass Seelen verschwunden waren.

Sif hatte keine Ahnung, wie viel Zeit bereits vergangen war. Sie starrte ins Nichts, über blutiges Gras und aufgewühlte Erde hinweg auf zurückgelassene Waffen und tiefe Furchen. Letztere waren entstanden, als die anderen getötete Riesen fortgeschleift hatten, um sie zu verbrennen. Plötzlich war die Aussicht von einem Paar Beine in weichen Kalbslederstiefeln und einer feinen blauen Hose versperrt. Sie blickte ohne großes Interesse auf. Es war Thor, der sie mit einer Mischung aus Wut und Sorge betrachtete.

»Sif, was tust du hier?« Mjölnir lag in seiner Hand, als hätte er erwartet, sie immer noch in einen Kampf verwickelt vorzufinden. »Warum kommst du nicht mit den anderen des Schildwalls zurück? Du solltest mir doch nach der Schlacht Bericht erstatten.«

Sie sah zu ihm auf. Das Licht der Nachmittagssonne ließ sein blondes Haar erstrahlen. Trotz der Schatten konnte sie sehen, wie angespannt er sie musterte, während sie mit einem Leichnam im Schoß im Dreck saß. »Gyda«, sagte sie unnötigerweise und der Name ließ ihre Stimme brechen.

Thor seufzte und kniete sich neben sie. »Es tut mir leid, Sif. Ich weiß, dass ihr befreundet wart. Aber es ist jetzt an der Zeit, sie gehen zu lassen.« Er strich Sifs offene Haare zurück und drückte ihren Arm. »Man wird sich um sie kümmern.«

»Noch nicht«, murmelte sie und sah sich um, um sich zu vergewissern, dass sie allein waren. »Es gibt etwas, das ich dir sagen muss.« Mit leiser Stimme erzählte sie ihm alles, was sie gesehen, und alles, was Brunnhilde gesagt hatte, einschließlich der Tatsache, dass es noch niemand sonst wusste. Der Gott des Donners wurde sehr still, während sich über ihnen Wolken mit unnatürlicher Geschwindigkeit sammelten. Er roch nach Blitzen und Regen. Ihr lief ein Schauer über den Rücken.

»Verdammt«, fluchte er, als sie fertig war. Der Himmel über ihnen grollte, doch Thor gelang es, die Blitze zu unterdrücken, die aus seiner Haut schießen wollten.

»Es war gut von dir, zu schweigen. Ich werde dem Allvater eine Nachricht schicken müssen, aber erst, wenn wir ein paar Antworten haben. Der Frieden mit den Vanir ist noch nicht völlig zerbrochen, und das ist es, worauf er sich gerade konzentrieren muss. Was auch immer das für ein Angriff war – was auch immer mit Gyda geschehen sein mag –, wir dürfen nicht zulassen, dass es ihn von den Friedensverhandlungen ablenkt.« Er hielt inne. »Außer, es war von den Vanir selbst geplant.«

Sif schnaubte. »Denkst du wirklich, sie wären zu so etwas fähig? Zu einem Überraschungsangriff, während sich der Allvater in ihrem eigenen Reich befindet? Du denkst, die Vanir würden Riesen benutzen und irgendeine obszöne Magie, um Seelen asgardischer Krieger zu stehlen? Wir wissen doch beide ganz genau, nach wem das in Wirklichkeit klingt.«

Thor seufzte, widersprach ihr aber nicht, und das war zumindest ein Anfang. »Vater wird noch einige Wochen in Vanaheim sein. Wir müssen das hier in Ordnung bringen, bevor er zurückkehrt … wer auch immer dahinterstecken mag.«

Sif zog Gyda weiter in ihren Schoß. »Ich werde sie finden«, sagte sie entschlossen. »Vertrau mir. Ich werde Gyda finden, sie in Sicherheit bringen und dafür sorgen, dass der Täter seiner gerechten Strafe zugeführt wird.«

Thor tippte sich mit seinem Hammer ans Kinn. »Also gut. Ich muss in die Stadt zurück. Dein Bruder hält nach weiteren Angriffen Ausschau. Tu nichts Unbesonnenes, Sif.«

Sie lächelte. »Werde ich nicht.«

Der Gott des Donners wirkte skeptisch. »Du vergisst, wie lange ich dich schon kenne«, sagte er. »Renne nicht einfach los. Ich will einen vollständigen Bericht über das, was Brunnhilde in Erfahrung bringen konnte, und dann will ich einen ordentlichen Plan sehen. Dann werde ich mir überlegen, ob ich dich etwas unternehmen lasse.« Er hob eine Hand und stand auf, bevor sie antworten konnte. »Das ist keine Bitte. Ich kann und werde jemanden an deiner Stelle schicken, wenn es sein muss.«

Sif schluckte ihre Frustration schnell hinunter. »Ich verspreche es.«

»Es tut mir wirklich leid um deine Freundin«, fügte er leise hinzu und verneigte sich zu Ehren von Gydas Opfer, bevor er davonging und Sif in der Stille eines leeren Schlachtfelds und der vermissten Toten zurückließ.

Sie waren die Einzigen, die noch auf dem Feld waren, doch die Schildmaid musste nicht allzu lange ihre einsame Wache halten, bevor Brunnhilde schließlich zurückkehrte. Aragorns Hufe landeten auf der Erde und der Luftzug seiner großen Flügel bewegte die Strähnen ihrer schwarzen Haare.

»Was gibt es Neues?«, fragte Sif, sobald die Walküre abgestiegen war. »Thor war hier. Er hat mir die Erlaubnis gegeben, Gydas Seele zu holen, sobald wir wissen, wo Loki sie versteckt hat. Sag mir, was du weißt.«

Brunnhilde presste die Lippe zusammen. »Wir wissen nicht, ob es Loki war«, sagte sie und Sif verdrehte die Augen.

»Es ist immer Loki«, zischte sie giftig. »Wer sonst würde so etwas tun?« Sie atmete tief durch, um die Trauer zu unterdrücken, und strich erneut Gydas Haare glatt. »Ich werde dich finden und dafür sorgen, dass du Walhalla erreichst, meine Freundin«, murmelte sie, bevor sich ihr entschlossener Blick auf die Walküre richtete. »Bitte, Brunnhilde, sag mir, was du erfahren hast.«

»Gyda ist nicht in Walhalla. Der Archivar sagte, dass sie vor ihrem Tod gespürt hätte, dass etwas nicht stimmt, unabhängig von den üblichen Gefühlen, als ihr klar wurde, dass sie starb. Und er sagte, dass dies schon ein paarmal geschehen sei. In zwei Tagen erhalte ich eine Liste, wer diese Leute waren und unter welchen Umständen sie gestorben sind.«

Endlich legte Sif Gyda vorsichtig auf den Boden und erhob sich. Ihre Glieder waren steif vom Kampf und dem langen Knien. »Zwei Tage?«, wiederholte sie und konnte die Skepsis in ihrer eigenen Stimme hören. »Du erwartest, dass ich zwei Tage lang herumsitze und nichts tue, während meine Freundin wer weiß wo ist, in der Gewalt dieses … Frostriesen? Auf keinen Fall. Du musst mehr als das haben.«

Brunnhildes Finger legten sich um Drachenfangs Griff. Der Kontakt ließ die Klinge schimmernd an ihrer Hüfte erscheinen. »Das ist eine Aufgabe für die Walküren«, begann sie. »Ich weiß, dass Gyda deine Freundin war und du um sie trauerst, aber genau das ist auch der Grund, warum du nichts damit zu tun haben solltest. Du bist zu nah dran und in deiner Trauer und Wut gefangen. Du neigst zu unbesonnenen Taten, Sif. Es wäre nicht …«

»Spar dir das. Thor hat vor nicht einmal einer Stunde das Gleiche zu mir gesagt. Das ist ein viel größeres Problem, als dass sich nur Walküren darum kümmern sollten. Der Schildwall muss wissen, dass eine der ihren beteiligt ist. Vergib mir, Brunnhilde, aber warum sollten sie euch vertrauen, wenn es die Seelenführerinnen selbst waren, die dies überhaupt erst zuließen?«

In Brunnhildes Gesicht blitzte Wut auf, doch aus Respekt für Gyda verschwand sie ebenso schnell, wie sie gekommen war.

»Dann komme ich mit dir«, sagte die Walküre. »Du hast keine Ahnung, wo du suchen sollst oder was du finden könntest. Ob nun Loki dahintersteckt oder nicht, es muss sich um ein Wesen mit enormer Macht handeln, um den Wunsch einer Seele zu bezwingen, Walhalla zu erreichen, und sie mitsamt ihrem letzten Atemzug zu stehlen.«

Sifs Finger klammerten sich um den Griff ihres eigenen Schwerts. »Damit werde ich fertig«, knurrte sie.

»Das weiß ich«, sagte Brunnhilde und besänftigte damit den Zorn der Schildmaid. »Ich sage nur, dass du es nicht allein tun musst.«

»Du und die anderen Walküren solltet euch auf die Lebenden konzentrieren. Dafür sorgen, dass es nicht noch einmal geschieht. Es ist an der Zeit, dass Loki für seine unzähligen Verbrechen bezahlt. Er wird mir nicht erneut entkommen. Ich werde seine Anwesenheit in den Neun Welten nicht länger hinnehmen.«

»Du bist jetzt schon unbesonnen«, erwiderte Brunnhilde scharf. »Du lässt zu, dass dein Hass auf ihn dein Urteilsvermögen trübt. Denkst du wirklich, Thor will, dass du gegen seinen Bruder in den Krieg ziehst? Du hältst dich für qualifiziert, seine Richterin und seine Henkerin zu sein? Er ist ein viel höherer Gott als du.«

»Ja«, fauchte Sif. »Ich halte mich für qualifiziert. Und fähig.« Ohne den Leichnam zwischen ihnen hätte sie der Walküre vielleicht gezeigt, wie qualifiziert sie war. In ihr tobten Trauer und Wut und jetzt, wo sie ein Ziel für beides hatte, wollte Sif sie unbedingt nutzen, bevor sie zu lähmendem Schmerz wurden. Mit Zorn konnte sie umgehen, mit Verlust nicht.

»Thor wird alles, was du tust, absegnen müssen«, sagte Brunnhilde völlig ruhig, als würde zwischen ihnen keine Gewalt in der Luft knistern. Es war Jahre her, seit sie einander in etwas anderem als einem freundlichen Kampf geprüft hatten, und Sif war bereit, die Walküre in den Dreck zu schicken. Ihr Blut lechzte danach.

Sif schnappte empört nach Luft. »Du wirst ihn gegen mich aufhetzen?«

Die Walküre stöhnte und blickte in den Himmel. »Warum denkst du, dass alle gegen dich wären, Sif? Das hier ist keine große Verschwörung. Ich sorge mich um dich! Ich befürchte, dass dich deine Wut und dein Leichtsinn zu einer Dummheit verleiten werden. Dass du, sollte wirklich Loki dahinterstecken – und bis jetzt gibt es keinerlei Beweise dafür, egal wie sehr du davon überzeugt bist –, zu sehr von deinem Rachedurst erfüllt bist, um dich richtig um Gydas Seele und die möglicher anderer Einherjar zu kümmern.«

Sie hatte recht und Sif hasste es. Statt zu antworten, steckte sie ihr Schwert wieder in seine Scheide und hob Gyda sanft in ihre Arme. Sie blickte zur fernen Stadt und ihre Rüstung schabte am Metall der zerschmetterten Brustplatte ihrer Freundin. Es war der Klang eines trauernden Herzens. »Es muss sich um sie gekümmert werden und ich muss Thor sagen, dass ich das hier unter Kontrolle habe.«

Gyda war weder die erste noch die liebste Person, die sie in ihrem Leben schon verloren hatte, es war nicht so sehr ihr Tod selbst, sondern all diese fürchterlichen Geheimnisse, die ihn umgaben, die Sif so sehr trafen. Sie war keine Närrin und der Tod war in ihrer Position kein abstraktes Konzept. Sie war ihm selbst schon unzählige Male begegnet. Jedes Mal hatte sie Angst gehabt und hatte doch gleichzeitig mit absolut unerschütterlicher Sicherheit gewusst, dass sie Walhalla erreichen und mit zahllosen anderen bei einem ewigen Bankett und Kampfesübungen die letzte Schlacht erwarten würde.

Dieser Sicherheit beraubt zu werden fühlte sich an, als ob sich plötzlich der Boden unter ihren Füßen aufgetan hätte. Es brachte alles, was sie wusste, ihr ganzes Wesen, aus dem Gleichgewicht.

Hinter ihr herrschte Schweigen und als sie sich schließlich wieder umdrehte, waren die Walküre und ihr Ross fort. Sif sah sich auf dem Schlachtfeld um, bemerkte die verstreuten zerbrochenen Waffen und Rüstungen von Asen wie Riesen, die rostroten Flecken, wo Blut in die Erde gesickert war oder das Gras dunkelrot gefärbt hatte. Die Farbe verblasste langsam, wie der Nachmittag, als würde das Leben selbst entschwinden.

»So ist es besser«, murmelte sie zu sich und Gyda, trotz der Stimme in ihrem Kopf, die etwas anderes sagte. »Ich brauche niemanden, um diesen Frostriesen zu finden und sein Leben zu beenden. Ich habe noch nie jemanden gebraucht.«

VIER

INGE

»Inge? Inge, meine Liebste, ich brauche deine Hilfe bei etwas.«

Inge saß im Schneidersitz im Gras vor ihrem Haus. Das Licht aus der offenen Tür vergoldete ihre hohen Wangenknochen und ließ ihr honigblondes Haar wie eine Krone leuchten. Sie hatte beim Polieren ihrer Beinschienen gesungen, doch nun hielt sie inne und sah mit hochgezogener Augenbraue auf. »Die große Brunnhilde, loyale Gefährtin und Freundin des Thor, vom Allvater persönlich mit den Seelen der Toten betraut, benötigt die Hilfe dieser bescheidenen Schildmaid?«, fragte sie und lächelte.

»An dir ist nur wenig bescheiden, mein Herz«, sagte Brunnhilde, nahm ihr Rüstung und Polierlappen aus den Händen und legte sie beiseite. Dann zog sie Inge in eine Umarmung und küsste sie, um ihr Lachen zu verschlucken. Inge presste sich an sie und auch wenn Brunnhilde es in ihrer Rüstung nicht spüren konnte, badete sie im Duft ihrer Geliebten – Öl, Rauch und Sonnenlicht. Sie hielt sie noch fester, spielte mit ihrer goldenen Mähne und öffnete ihren Mund unter Inges leidenschaftlichem Ansturm. Der Drang, in ihren Armen zu bleiben, war stark. Stattdessen löste sie sich mit einem tiefen Seufzer des Bedauerns aus dem Kuss und trat zurück.

Inges meergrüne Augen waren voller Erwartung, doch dann blinzelte sie und grinste. »Wen hast du diesmal beleidigt, oh weise und impulsive Göttin?«, neckte sie und hielt ihre Arme um Brunnhildes Hals geschlungen.

»Lady Sif.«

Inge riss übertrieben die Augen auf und löste sich aus den Armen der Walküre. »Und du erwartest, dass ich nun dazwischengehe und die Wogen glätte? Mir steht nicht der Sinn danach, erstochen zu werden, vielen Dank auch. Es ist unangenehm und macht eine große Schweinerei.«

»Sehr witzig. Du weißt, dass ich das niemals zulassen würde.«

»Und was, wenn du es wärst, die zusticht? Du gehst davon aus, dass du in diesem geheimnisvollen Streit Recht hast. Und wichtiger noch, warum nimmst du an, dass ich Schutz brauche?«, fügte Inge hinzu und stemmte die Hände in die Hüften.

Brunnhilde massierte ihren Nasenrücken. Der heutige Tag wurde immer schlimmer. »Inge. Meine Liebste. Mein Herz. So habe ich es nicht gemeint«, begann sie. Inge lachte über ihre Miene, über ihre Entschuldigung, und ihr Grübchen erschien. Brunnhilde verzog das Gesicht. »Das ist jetzt nicht der richtige Moment für Scherze, du Monster. Inge, ich meine es ernst. Ich habe nicht viel Zeit.«

»Erst bin ich dein Herz und dann ein Monster«, murmelte Inge und deutete auf Aragorn, der auf der Wiese graste. »Dann bring mich zu ihr und erzähle mir auf dem Weg, was du getan hast. Warte, hat es etwas mit der Schlacht heute zu tun? Ich weiß, dass der Sieg unser war, Odin sei Dank, aber ist noch etwas anderes geschehen?« Nun war sie völlig ernst.

Brunnhilde nickte. »Es hat … einen Vorfall gegeben. Lady Sif ist aufgebracht.«

Inge starrte sie an, dann begann sie, im Gras herumzusuchen. »Lass mich schnell meine Rüstung anlegen!«

»Der Kampf ist vorbei, Liebste«, sagte Brunnhilde.

»Du sagtest, die Lady Sif wäre aufgebracht. Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme, um nicht erstochen zu werden.« Ihr Grinsen lockerte die aufkommende Spannung.

Die Walküre biss die Zähne zusammen und schwang sich in Aragorns Sattel. »Schildmaiden«, murmelte sie.

Als sie die Stadt erreichten, war Inge nicht mehr amüsiert. Stattdessen wirkte sie so besorgt wie Brunnhilde und ebenso entschlossen, Sif davon zu überzeugen, sich von der Walküre bei der Rettung der verlorenen Seelen helfen zu lassen. Sie fanden sie in der Halle der Toten, wo sie an der Seite der toten Gyda saß. Leise schickte Brunnhilde jemanden los, um Thor zu holen. Sie hatte das Gefühl, dass Sifs Sturheit vom Gott des Donners persönlich besänftigt werden musste.

»Lady Sif«, sagte Inge leise und verbeugte sich vor dem Leichnam und der schwarzhaarigen Kriegerin. »Dein Verlust tut mir sehr leid. Brunnhilde hat mir erzählt, was geschehen ist, und …«

Sif hob den Kopf und starrte die Walküre zornig an. »Was? Ich habe doch gesagt, dass es keine gute Idee ist, mit jemandem darüber zu sprechen. Ich habe dir gesagt, dass Thor es nicht will.«

Brunnhilde spürte, wie sie unter dem wütenden Blick errötete. Sie hat recht. Thor hat ihr gesagt, wir sollen es für uns behalten.

Sie begann, sich zu entschuldigen, doch Sif sah weg. »Ich werde mich darum kümmern, Inge, das schwöre ich. Bitte mach dir keine Sorgen. Du und die anderen Krieger habt nichts zu befürchten.«

»Danke, es bedeutet mir viel, dass du diese Angelegenheit so ernst nimmst«, sagte Inge.

Brunnhilde blinzelte verwirrt und misstrauisch. Sollte Inge nicht auf ihrer Seite sein? Aber dann bemerkte sie, wie Sif ein wenig in sich zusammensank.

»Und wie, wenn ich fragen darf, wirst du die Seelen nach Walhalla bringen, wenn du sie gefunden hast?«, fuhr Inge fort.

Sif starrte sie ausdruckslos an. »Was?«