Marvel | Xaviers Institut: Das erste Team - Robbie MacNiven - E-Book

Marvel | Xaviers Institut: Das erste Team E-Book

Robbie MacNiven

0,0

Beschreibung

Marvels Mutantenhelden kehren zurück! Victor Borkowski – auch bekannt als Anole – entdeckt, dass seine Eltern von den Purifiers, einer Anti-Mutanten-Extremistengruppe, entführt wurden. Sein Vertrauen in die X-Men wird bis an seine Grenzen belastet. Als er sich gegen den Willen seiner Lehrer allein aufmacht, steckt er schnell in ernsthaften Schwierigkeiten. Denn es sind nicht nur die Purifiers, die seine Familie bedrohen, sondern auch ein böser Wissenschaftler, der Victor in die Finger bekommen will. Vielleicht schafft Victor es doch nicht allein … © 2021 MARVEL.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 494

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DASERSTETEAM

ROBBIE MACNIVEN

INS DEUTSCHE ÜBERTRAGEN VONANNE BERGEN

FOR MARVEL PUBLISHINGVP Production & Special Projects: Jeff YoungquistAssociate Editors, Special Projects: Caitlin O’Connell and Sarah SingerManager, Licensed Publishing: Jeremy WestVP, Licensed Publishing: Sven LarsenSVP Print, Sales & Marketing: David GabrielEditor in Chief: C B Cebulski

Special Thanks to Jordan D White & Jacque Porte

© 2022 MARVEL

Die deutsche Ausgabe von XAVIERS INSTITUT: DAS ERSTE TEAM

wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Anne Bergen; verantwortlicher Redakteur und

Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild;

Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: Anastasia Bulgakova,

Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice. Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:

FIRST TEAM

First published by Aconyte Books in 2021

Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd

German translation copyright © 2022 MARVEL.

Print ISBN 978-3-96658-637-5 (Februar 2022)

E-Book ISBN 978-3-96658-638-2 (Februar 2022)

WWW.CROSS-CULT.DE

Dieses Buch ist der Erinnerungan Grace Gaskell gewidmet.

Inhalt

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

KAPITEL 47

KAPITEL 48

KAPITEL 49

KAPITEL 50

KAPITEL 51

KAPITEL 52

KAPITEL 53

EPILOG

DANKSAGUNG

KAPITEL 1

Am Fenster beging eine Fliege Selbstmord, indem sie immer wieder dagegen flog.

Victor Borkowski tat sein Bestes, sie zu ignorieren. Er stierte auf seinen Prüfungsbogen und schlug sich damit herum, der akkuraten schwarzen Schrift, die ihm entgegenstarrte, eine Antwort abzuringen.

6) a. Verfasse einen Kurzessay (500 Wörter) über die Hauptgründe für das Massaker von Boston. Füge Referenzen aus der Sekundärliteratur hinzu.

Bisher hatte er hundertfünfzig Wörter. Na ja, hundertdreiundfünfzig. Er hatte fünfmal nachgezählt. Etwas mehr als hundertfünfzig Wörter war alles, was er aus dem sehr vagen Wissen über Englands »Reichskrise« in den Siebzehnhundertsechzigern hatte herauspressen können. Hauptsächlich erinnerte er sich deshalb daran, weil Glob sich mitten im Unterricht übergeben hatte. Jemanden mit durchsichtiger Haut erbrechen zu sehen war etwas, das Vic niemals vergessen würde und der Schock schien die gesamte Stunde in sein Gedächtnis gebrannt zu haben.

Komm schon, Vic! Konzentrier dich! Sam Adams. Die Sons of Liberty. In den letzten paar Tagen hatte er sich die komplette Fernsehserie reingezogen. Das zählte doch als Lernen, oder? Sein Plan B fürs Lernen – einfach mit Graymalkin über das Thema zu reden – hatte nicht so gut funktioniert, wie er gehofft hatte. Wie sich rausgestellt hatte, beinhalteten Grays Superkräfte kein perfektes Gedächtnis und im kolonialen Amerika geboren zu sein hatte ihm kein allumfassendes Verständnis für die Ereignisse des Jahres 1770 verliehen. Nachdem Gray bei dem Wort »Dreispitz« abgeschweift war und darüber referiert hatte, dass es eine ungenaue Erfindung des 19. Jahrhunderts sei, hatte Vic ihn einfach weiterreden lassen, während seine Gedanken zu seiner Dankesrede für den Schultheaterpreis abgedriftet waren.

Wäre ein Smoking zu viel des Guten? Würde Striker dieses Jahr da sein? Wäre es zu protzig, zur Hälfte im Chamäleonmodus zu gehen?

Nein! Konzentrier dich! Er warf einen Blick zurück zur Fliege, die sich immer noch unermüdlich gegen das Fenster warf, scheinbar alle Bemühungen darauf ausgerichtet, dem stickigen, tristen Prüfungssaal zu entkommen. Da sind wir schon zu zweit, Kumpel, dachte er. Er fing an zu schreiben, einfach um des Schreibens willen. Jede Antwort war besser als keine. Samuel Adams, der Bruder von John Adams. Er mochte keinen Tee. Niemand im Boston des 18. Jahrhunderts mochte Tee. Und Stempel auch nicht. Mann, Globs Eingeweide hatten echt schräg ausgesehen, als er sich übergeben hatte. Alles hatte sich gewunden und gezuckt. Sahen die Eingeweide bei jedem so aus, wenn man spuckte? Er war noch nie so glücklich darüber gewesen, dass seine eigenen Innereien nicht zu sehen waren, wenn er unsichtbar werden musste.

Er hörte auf zu schreiben, seufzte schwer und kritzelte eine hässliche, gezackte Linie über alles, was er gerade verfasst hatte. Wieder bei hundertdreiundfünfzig. Wie viele Wörter fehlten ihm damit noch, dreihundertsiebenundvierzig? Warum war Mathe so viel leichter als Geschichte? In der Prüfung hatte er eine Eins gehabt. Oder Fechten. Was Aufregendes. Irgendwas, in dem er gut war.

Bzz-Rumms! Bzz-Rumms! Bzz-Rumms!, machte die Fliege.

Er sah zu ihr hoch. Das Insekt war fest entschlossen, sich seinen Weg durch das verstärkte Glas des großen Sichtfensters, das zwischen dem Prüfungssaal und der Einsatzzentrale eingelassen war, mit Kopfstößen freizukämpfen. Seine Bemühungen waren unerbittlich, sein Kopf anscheinend unzerstörbar. Wenn es so weitermachte, würde es genauso fähig sein, eine Prüfung zu bestehen wie er.

Als hätte sie seine Gedanken gehört, sauste die Fliege plötzlich nach oben und begann fieberhaft, Kreise um einen der Lampenkäfige im Saal zu drehen, wie ein Hund, der seinen Schwanz jagte. Vic zwang sich, nicht hinzustarren, indem er seinen Blick neutral auf dem Raum ruhen ließ, der sich vor ihm erstreckte.

Wie so ziemlich alles im Neuen Charles Xavier Institut glich der Prüfungsraum einem Bunker aus dem Kalten Krieg, der entschieden hatte, sich für Halloween als Highschool zu verkleiden. Es war ein langer, gewölbter Raum aus kahlem und unnachgiebigem Beton, in dem jede löchrige Oberfläche vom kalten weißen Licht der Lampenkäfige an der Decke erhellt wurde. In diesem kargen unterirdischen Reich waren ein paar halbherzige Zugeständnisse an die fade Ästhetik einer nordamerikanischen Schule gemacht worden. Eine große Weltkarte war an die Wand gehängt worden, zusammen mit eingerahmten Fotos ehemaliger Schüler und einer Sammlung von hingeschmierten Projekten aus dem Kunstunterricht. Heute wurde der Raum außerdem von mehreren Dutzend klapprigen Tischen und Stühlen in Beschlag genommen, die allesamt so voller Graffiti waren, dass Vic überzeugt war, sie stammten noch aus der Zeit der ursprünglichen Basis.

Es war nicht gerade ein Ort, der einen akademischen Eindruck vermittelte, selbst wenn man die höllische Hitze außer Acht ließ, die sich aufstaute, sobald sich mehr als eine Handvoll warmer, atmender Körper in einer der vielen unterirdischen Kammern versammelte. Natürlich gab es eine Klimaanlage, aber die gab ein unvorstellbar nervtötendes Klappern von sich, also wurde sie während Prüfungen ausgeschaltet. Vic zog ernsthaft in Betracht, die Hand zu heben und darauf zu bestehen, dass seine Unfähigkeit, seine Körpertemperatur selbst zu regulieren, die seinem Dasein als Kaltblüter geschuldet war, als außerordentlicher Umstand bei einer Prüfung gelte. Es kam nicht oft vor, dass er sich wünschte, Schuppen gegen Haut tauschen zu können, die in der Lage war zu schwitzen, aber das war einer dieser Momente.

Bzz-Wumms! Die Fliege war wieder beim Fenster. Sam Adams war ganz sicher John Adams Bruder, oder? Paul Giamatti war großartig in der Rolle gewesen. Er hätte lieber die Adams-Serie weiterschauen statt versuchen sollen, Graymalkin sein Wissen zu entlocken.

Er schielte rüber zu Gray, der am Tisch rechts von ihm saß. Der wehmütig dreinblickende Jugendliche war nach vorn über seinen zu kleinen Tisch gebeugt und schrieb mit hoch konzentriertem Gesichtsausdruck langsam, aber stetig. Da er offenbar Vics Interesse spürte, hielt er inne und sah auf. Vic grinste ihn breit an und hielt beide Daumen hoch. Komm schon, Gray, gib mir was, womit ich arbeiten kann. Graymalkin erwiderte einfach nur kurz seinen Blick, blinzelte dann und konzentrierte sich abrupt wieder auf seinen Text. Das Blatt mit seinen Antworten war voll mit einer lang gezogenen, eleganten Schreibschrift, die Vic wahrscheinlich nicht hätte entziffern können, selbst wenn er es versucht hätte – natürlich tat er das nicht!

Hastig wandte er sich ab, da er Ms. Prydes Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen wollte. Sie schlich in den Gängen zwischen den Tischen umher und schwebte dabei in völliger Stille durch die Luft. Im Gegensatz zu den anderen Prüfern hörte man sie niemals kommen. Himmel, sie konnte sogar phasen, wenn sie wollte, um jemanden unbemerkt zu beobachten. Total unfair. Wenigstens war sie jetzt sichtbar und hatte Vic den Rücken zugewandt, während sie geräuschlos in der Nähe der vorderen rechten Seite des Saals zwischen Pixie und Trance vorbeiglitt.

Er nutzte die Gelegenheit, um zu seiner anderen Sitznachbarin zu spähen, Cipher. Sie war wie wild am Schreiben gewesen, hatte jetzt aber eine Pause eingelegt und starrte mit leerem Blick geradeaus, wobei eine Hand unbewusst mit den Strähnen ihrer langen Dreadlocks spielte.

Vic verspürte ein Gefühl von Genugtuung, das er nicht haben sollte. Es ging nicht nur ihm so, Ci stand ebenfalls auf dem Schlauch. Das scharfsinnigste Mädchen der Klasse, die Quasichefin der Schulsicherheit und die mysteriöseste Schülerin der gesamten Einrichtung hatte genauso viel Schwierigkeiten mit der Geschichte des kolonialen Amerikas wie …

Cipher setzte erneut zum Schreiben an, wobei das abermalige Geräusch ihres Kritzelns Vics Hoffnungen völlig zunichtemachte. Er gab ein weiteres Seufzen von sich und sackte auf seinem Stuhl zusammen, erschrak jedoch ein wenig, als dieser knarrte.

Das Geräusch seiner Niedergeschlagenheit hatte Ms. Prydes Aufmerksamkeit geweckt. Sie warf ihm einen strengen Blick über die gebeugten Köpfe des Dutzends Schüler zu, die zwischen ihnen saßen. Er lächelte zurück und setzte sich gerade.

Wenn er diesmal durchkam, würde er beim nächsten Mal ernsthaft lernen. Das war ein Versprechen. Aber jetzt musste er einfach zum Stift greifen und es hinter sich bringen. Mit zusammengebissenen Zähnen beugte er sich vor und fing an zu schreiben. Kurz vor dem Massaker von Boston hatte es Tumulte zwischen den Anwohnern und den Soldaten gegeben. Straßenschlägereien, zivile Unruhen. Die Spannungen hatten schließlich zu den Schießereien geführt. Bau das noch weiter aus. Du schaffst das. Er legte eine Pause ein, um seine Wörter noch mal zu zählen – zweihunderteinundzwanzig. Es ging voran. Quasi die Hälfte geschafft.

Bzz-Wumms. Bzz-Wum…

Er blinzelte und stellte mit einem Mal fest, dass seine Faust hoch erhoben und geballt war. Die Fliege war vorbeigesummt, wahrscheinlich mit rasenden Kopfschmerzen, und er hatte sie reflexartig aus der Luft geholt. Er konnte fühlen, wie sie seine Hand kitzelte.

Er sah auf. Am anderen Ende des Saals blickte Ms. Pryde ihn erneut an, ihr Ausdruck war kalt. Langsam, kaum wahrnehmbar schüttelte sie den Kopf. Ebenso langsam öffnete Vic seine Faust. Aus ihrem plötzlichen Gefängnis befreit raste die Fliege wieder zurück nach oben zur Lampe.

Wie aufs Stichwort ertönte ein scharfer, summender Ton am Ende des Saals. Mehrere Schüler zuckten zusammen. Ms. Pryde hielt ihren Kommunikator hoch – ein kleines, rundes, aufklappbares Gerät – und schaltete den Timer aus. »Die Prüfung ist beendet«, verkündete sie. »Bleibt bitte alle sitzen, während wir eure Prüfungsbögen einsammeln. Und checkt noch mal, ob eure Namen in Großbuchstaben auf der ersten Seite stehen. Der echte oder euer Deckname, was immer euch lieber ist.«

Vic stellte fest, dass er sogar das vergessen hatte. Er gab seinen Essay auf, klappte seinen Antwortbogen zu und schrieb seinen Superheldennamen ANOLE mit Uhrzeit und Datum auf die Vorderseite. Zur Hölle damit. Er sah Ms. Pryde nicht an, als diese vorbeirauschte und sein Heft einsammelte.

KAPITEL 2

»Der zweite Teil beginnt in zwanzig Minuten«, sagte Ms. Pryde, als sie zum anderen Ende des Saals zurückkehrte. »Ihr dürft alle auf die Toilette und in den Pausenraum. Ihr könnt gehen.«

Der Saal wurde sofort vom schrillen Kratzen von Stühlen auf Beton erfüllt. Vic mischte sich unter den plappernden Haufen der Schüler, der hinausmarschierte, und versuchte, nicht über die letzten beiden Stunden nachzudenken. Wenn er die zweite Prüfung nicht mit Bestnote bestand, würde er den Kurs am Ende des Sommers wiederholen müssen.

»Kopf hoch, Borkowski«, ertönte eine Singsangstimme aus der Menge, die ihn mitriss. Er sah auf und erblickte Megan Gwynn – Pixie –, wie immer mit lila Haaren, spitzen Ohren und einem Grinsen im Gesicht. Wenn Pixie lächelte, war es schwer, nicht zurückzulächeln. Dennoch gab Vic sein Bestes.

»Die war heftig, was?«, presste sie hervor, als sie sich zu ihm gesellte, wobei ihre grazilen Flügel leise surrten.

»Wird sich noch zeigen«, sagte Vic, der nicht wirklich darüber reden wollte.

»Was hast du bei Frage zwei geantwortet? Das Datum des Quebec Act?«

»Sag bitte, das war 1773!«

Pixie zischte durch die Zähne und schüttelte den Kopf. »Ich dachte, das wäre 1774 gewesen.«

Vic stöhnte hörbar und Pixie warf ihren Arm um seine Schulter, während sie sein Gejammer mit einem kurzen Kichern unterbrach. »Es könnte 1773 sein. Ich hab eigentlich nur geraten.«

»Das sagst du nur, damit ich mich besser fühle.«

»Vielleicht«, grinste sie, nahm ihren Arm weg und versetzte ihm einen Stoß in die Rippen. »Oh, Ben!«, sagte sie dann und schwirrte davon, um mit Match – dank seines Flammenhaars nicht zu übersehen – zu plaudern, bevor Vic zu einer Antwort ansetzen konnte. Er trat hinter ihr in den Pausenraum ein, wobei er versuchte, nicht so kläglich auszusehen, wie er sich fühlte – und versagte. Er hasste es, wenn die Leute wussten, dass er down war.

»Pausenraum« war die weniger martialische Bezeichnung für die Einsatzzentrale. Damals, als dieses unterirdische Labyrinth als wichtigste Versuchsanlage des Weapon-Plus-Programms gedient hatte, schien der runde Raum tatsächlich eine Art Kommandozentrale gewesen zu sein. Zwar kleiner als der Prüfungssaal, war er trotzdem aus den gleichen trostlosen, unnachgiebigen Betonklötzen gefertigt worden. Seine aufgereihten Computer waren demontiert und deaktiviert, die Monitore verweilten im Ruhezustand. Kratzspuren auf dem Boden zeigten an, wo einst ein schwerer Kartentisch festgeschraubt gewesen war, während abgewetzte Warnstreifen und Gefahrenschilder einen gepanzerten Notausstieg sowie die Notstromversorgung kennzeichneten.

Der militärisch-industrielle Stil war in den vergangenen Jahren durch die Bemühungen der Schüler ein wenig abgemildert worden. Es gab ein paar schäbige alte Ledersofas sowie Sessel, die im Raum verteilt herumstanden, einen alten Fernseher und ein paar ramponierte Kaffeetische, eine Reihe von Einbauschränken und Vitrinen, die einen Kühlschrank und eine Gefriertruhe flankierten, die von oben bis unten mit Stickern gespickt waren – irgendwann war es für die Schüler zur Tradition geworden, sie mit Bildern und Postkarten von ihren Reisen vollzukleben. Dieser Raum hatte den inoffiziellen Status eines Gemeinschaftsraums angenommen, insbesondere für die Schüler in den Schlafräumen, die westlich des höhlenartigen Gefahrenraums im Zentrum der Einrichtung lagen. Schnell wurde er vom Geschnatter der Prüflinge erfüllt, als diese ihre Antworten austauschten und sich gegenseitig bemitleideten.

Vic fand Cipher und Graymalkin am Rand des Halbkreises aus Sesseln und Sofas, der den Großteil der Mitte des Raums einnahm. Letzterer stand steif da und hörte Ci zu, während sie auf der Lehne des Sessels thronte, in dem zurzeit Triage saß, der in die entgegengesetzte Richtung blickte. Die beiden sahen zu ihm hoch, als er aus der Menge trat.

»Lief übel, was?«, fragte Cipher sanft.

Vic brachte ein Schulterzucken zustande. »Na ja, wenn der Quebec Act 1773 verabschiedet wurde, dann …«

»Das war 1774.«

»Tja, dann lief’s übel.«

»Du hast mein Mitgefühl, Victor«, sagte Graymalkin. Dann, als wäre es ihm erst verspätet eingefallen, streckte er eine Hand aus und legte sie sanft auf Vics Schulter.

Vic konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Weißt du, jemanden, der damals gelebt hat, sollten sie diese Prüfung echt nicht machen lassen«, meinte er zu Gray. »Zählt das für dich überhaupt als Geschichte? Du bist aufgewachsen, als George Washington Abgeordneter in Virginia war.«

»Zur Zeit eines Ereignisses zu leben allein ist noch keine Garantie dafür, ein ausgeprägtes Verständnis dafür zu haben«, machte Graymalkin in seiner steifen, archaischen Redeweise deutlich. »Und lernen wir nicht auch etwas über moderne Geschichte? Haben nicht sämtliche Schüler während der letzten vier Präsidentschaftswahlen gelebt?«

Vic gab sich geschlagen und winkte ab. »Tja, ich schätze, damit ist mein Sommer gelaufen«, seufzte er. »Sieht so aus, als würde ich doch nicht die Chance kriegen, nach Hause zu fahren. Ich werde in diesem schwülen Verlies bleiben müssen, unter Schulbüchern begraben, bis ich die Prüfung wiederholen muss.«

»Ich werde dir Gesellschaft leisten«, bot Graymalkin zuvorkommend an. »Ich kann sonst nirgendwohin.«

»Jupp, willkommen im Die-Schule-ist-dein-Zuhause-Club, Vic«, fügte Cipher hinzu.

»Hattet ihr wirklich keine Pläne für den Sommer?«

Er bemerkte Grays Blick zu Cipher, allerdings war die dunkelhäutige junge Frau wesentlich besser darin, nichts preiszugeben. Er hob eine fragende Augenbraue.

»Nun ja, wir haben Pläne in Betracht gezogen«, gab Graymalkin zu und wirkte dabei beinahe schuldbewusst. »Wir hatten überlegt, wir könnten … verreisen.«

»Urlaub machen«, übersetzte Cipher für den Jungen aus dem 18. Jahrhundert. »Wir haben drüber nachgedacht, einen Roadtrip zu machen. Wir drei, nachdem du ein paar Wochen bei deinen Eltern verbracht hast.«

»Wohin?«, fragte Vic ehrlich überrascht. Er hätte seinen Freunden niemals zugetraut, der Typ für Roadtrips zu sein. Cipher konnte das Unbekannte nicht ausstehen und war praktisch mit den Sicherheitssystemen der Schule verheiratet, während Graymalkin noch immer gewisse Schwierigkeiten mit dem modernen Phänomen des Reisens zur Erholung zu haben schien.

»Wir dachten an die Rockies«, sagte Cipher. »Sie vielleicht in ein oder zwei Wochen von Norden nach Süden abklappern. Gray wollte sie sehen und ich wollte eine hübsche Postkarte für den Kühlschrank im Gemeinschaftsraum haben.«

»Die schönsten Berge dieses Kontinents«, fügte Graymalkin mit etwas an, das einem enthusiastischen Lächeln gleichkam.

»Du sagst ständig, du würdest es nicht wirklich mögen, in der Schule zu leben«, setzte Cipher wieder an. »Wir dachten, es würde uns allen guttun, für eine Weile rauszukommen. Mal etwas Abwechslung kriegen.«

»Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe«, sagte Vic. »Ihr beide habt einen Überraschungs-Roadtrip für uns drei geplant, um das Ende der Prüfungen zu feiern? Einen Trip, den ich gerade versaut habe, weil ich durch die Geschichtsprüfung gerasselt bin?«

»Die Prüfung ist erst zur Hälfte vorbei«, tröstete ihn Graymalkin. »Dir bleibt noch immer Zeit, das Ruder herumzureißen.«

»Bei der zweiten Hälfte geht’s um die Abschaffung der Sklaverei und die Bürgerrechtsbewegung«, fügte Cipher hinzu. »Und bevor du fragst, die Emanzipationsproklamation war 1863. Dasselbe Jahr wie Gettysburg. Du kennst den Anfang der Gettysburg-Rede, oder? ›Vor siebenundachtzig Jahren gründeten unsere Väter …‹ Also 87 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung. So kann man es sich ganz einfach merken.«

»Ganz einfach!«, rief Vic aus. »Wie soll irgendwas von dem, was du gerade gesagt hast, einfach zu merken sein? Woher zur Hölle soll ich wissen, wann die Unabhängigkeitserklärung war?«

»Na 1776, das weiß man doch«, sagte Graymalkin, als wäre es die offensichtlichste Sache der Welt.

»Vic, halt die Klappe«, schnauzte Mark Sheppard. Der Schüler mit rabenschwarzem Haar stand neben dem alten Fernseher, der mit einem der vielen Monitore im Raum verbunden war. Er spielte am Sendersuchlauf herum und versuchte, ein Bild auf einen Monitor zu bekommen, der von statischem Rauschen durchzogen war.

Vic merkte plötzlich, dass das Geplapper, das den Gemeinschaftsraum erfüllt hatte, verstummt war. Alle hatten ihre Aufmerksamkeit auf den Bildschirm gerichtet und jetzt waren Worte über dessen Lautsprecher zu hören. »Erste Berichte deuteten darauf hin, dass in den kommenden Wochen noch fünf weitere Versammlungen im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten geplant sind. Wir schalten jetzt live zu unserem Korrespondenten in Columbus, Ohio, wo der selbst ernannte Prophet Xodus ›eine Predigt an seine Gemeinde‹ hält, wie er es nennt.«

Das Bild wurde genau in dem Moment vollends scharf, als die Kamera von einem CTV-Nachrichtensprecher zu einer Menschenmenge im Columbus-Commons-Park wechselte. Als die Livereporterin die Zusammenkunft hinter ihr schilderte, lief es Vic eiskalt den Rücken runter. Er wusste, was das war. Sie alle wussten es.

Wieder veränderte sich das Bild – jetzt war es eine Totale des Anführers der Versammlung. Vor der Menschenmenge war eine Bühne errichtet worden, mit einem Rednerpult darauf, das mit einem schwarzen Tuch bedeckt war, welches wiederum von einem weißen Emblem geschmückt wurde, einem Radkreuz. Ein großer Balken, auf dem das gleiche Symbol abgebildet war, war hinter dem Rednerpult aufgestellt worden und rahmte dieses ein.

Neun Gestalten füllten die Bühne aus. Je vier von ihnen befanden sich auf einer Seite des Pults, gekleidet in lange schwarze Roben, die mit dem gleichen weißen Radkreuz bestickt waren. Sie hatten Kapuzen auf und ihre Gesichter waren hinter grotesken silbernen Masken verborgen. Die letzte Gestalt stand zwischen ihnen. Auch sie war in eine schwarze Robe gehüllt, doch ihre Maske war golden und anders gestaltet als die anzüglich grinsenden Harlekingesichter derer, die sie flankierten. Sie war engelhaft, ausdruckslos und gleichmütig. Sie schimmerte strahlend hell in den Bühnenlichtern.

Der Ton wechselte vom Kommentar der Reporterin zu den Worten, die von den Mikros, die auf dem Rednerpult aufgebaut waren, dröhnend übertragen wurden. Die Worte hallten im Gemeinschaftsraum wider, der Ton war kraftvoll, schallend und triefte vor purem, greifbarem Hass. »Täuschet euch nicht, meine Kinder! Zweifelt nicht! Die Abrechnung steht bevor! Eine seit Langem überfällige Bestrafung! Euer Prophet ist hier, um euch dies zu verkünden und euch rechtzeitig zu warnen! Wenn die Feuer beginnen, werden sie nicht nur die Mutanten verbrennen. Die Unredlichen werden ebenfalls mit ihnen im Inferno untergehen!«

Die hochgewachsene Gestalt schlug mit der flachen Hand aufs Pult, dann tat sie es noch einmal und betonte jeden Satz mit einem weiteren Hieb. »All jene, die sie unterstützt haben, die ihnen Beihilfe geleistet haben! All jene, die ihre Verderbtheit in Schutz nehmen oder ihre Missbildung befürworten! All jene sind unrein, sie alle werden durch das Feuer neu erschaffen! So sagt es der Prophet Xodus!«

Tosender Beifall brandete in der Menge auf, als das Bild zurück zur Livereporterin schaltete. Darum bemüht, über das Toben hinweg gehört zu werden, erklärte sie, dass diese Veranstaltung in den Staaten entlang der Ostküste wiederholt werden solle.

Der Bericht wurde erneut unterbrochen, als das statische Rauschen zurückkehrte, wobei das Bild von der Zusammenkunft zerhackt und verzerrt wurde. Sheppard versuchte, es wieder einzustellen, bevor er aufgab und zornig auf den Schalter hämmerte. Das Bild wurde schwarz.

Die darauffolgende Stille schien absolut. Niemand sagte etwas. Vic blickte zu Cipher und Graymalkin zurück. Der Blick von Letzterem war leer, ein Ausdruck, den Vic mittlerweile als die Maske kannte, die Gray aufsetzte, wann immer er beunruhigt war. Cipher sah wütend aus und eine Sekunde lang dachte Vic, sie würde phasen.

Er konnte verstehen, warum. Es war nicht die erste Versammlung dieser Art, die es in die Nachrichten geschafft hatte. In den letzten beiden Monaten war der Purifier-Kult im Norden der Vereinigten Staaten und in Südkanada aufgekommen und verbreitete sein quasireligiöses Anti-Mutanten-Gift in jeder Groß- und Kleinstadt. Dabei blieb es nicht nur bei wütenden Aufmärschen, ausgebrannten Autos und Radkreuz-Symbolen, die auf Türen und Fenster geschmiert wurden. Die Eltern, Freunde und Familien eines halben Dutzends Schüler am Institut waren angegriffen worden. Es gab sogar Gerüchte von Entführungen. Vic hatte sich mehr und mehr Sorgen um seine Eltern gemacht und es bedauert, sie so selten gesehen zu haben, seit er sich am Institut eingeschrieben hatte. Jetzt, da es noch eine weitere Gefahr gab – die drohende Unsicherheit ziviler Unruhen –, dachte er fast jeden Tag an zu Hause.

Das Schlimmste an alledem war, dass es so aussah, als hätten die Behörden nicht die Macht, diesem Ausbruch von Hass Einhalt zu gebieten. Verhaftete Kultisten schienen sich den besten Rechtsbeistand leisten zu können, den man mit Geld kaufen konnte, und mehrere Polizeichefs hatten ihren Wunsch zum Ausdruck gebracht, »Krawalle in den Straßen« sowie »ausgewachsene zivile Unruhen« vermeiden zu wollen. Für Vic hieß das, sie hätten genauso gut eine Presseerklärung rausgeben können, die besagte: »Nur zu, geht nur weiter gegen die Mutantenminderheit vor, versucht dabei nur, ihre Nachbarn nicht zu verärgern.«

Er sah sich unter seinen restlichen Mitschülern im Pausenraum um und bemerkte eine verbittere Mischung aus Wut und Angst. Niemand erwiderte seinen Blick. Irgendwie fühlte er sich dadurch noch mieser. Die Stille war unerträglich. »Schätze, Xodus würde bei unserer Geschichtsprüfung gut abschneiden«, sagte er langsam. »Er klingt, als würde er ins 18. Jahrhundert gehören.«

Keiner lachte, aber das hatte er auch nicht erwartet. Die Worte hatten den gewünschten Effekt, sie brachen die Stille, die den Raum in ihrem Bann gehalten hatte. Es wurden wieder Gespräche aufgenommen, auch wenn sie gedämpft blieben.

»Wie können wir einfach ruhig hier unten bleiben, während diese Spinner halb Nordamerika an sich reißen?«, murmelte Vic vor sich hin.

»Ms. Frost und die restlichen X-Men kümmern sich um sie«, antwortete Graymalkin ohne viel Überzeugung, wobei seine Miene erneut verhalten war. »Sie werden tun, was das Beste ist.«

»Und wann sind wir an der Reihe?«, hielt Vic dagegen und versuchte, sich nicht von Grays stoischer Ruhe aus der Fassung bringen zu lassen. In Situationen wie diesen war es ihm beinahe unmöglich, gleichgültig zu bleiben. »Zur Hölle mit Geschichtsprüfungen! Die Geschichte passiert genau jetzt und sie verläuft nicht so, wie sie sollte. Wollt ihr, dass Schüler wie wir in fünfzig Jahren über den erfolgreichen Purifier-Aufstand lesen? Falls dann überhaupt noch irgendwelche Mutanten übrig sind.«

»Im Moment gibt es nichts, was wir tun können.« Cipher klang verärgert. »Ich wünschte, es wäre anders, Vic. Es wird eine Abrechnung geben, aber jetzt gerade liegt das nicht in unserer Hand.«

»Eines Tages, ja«, sagte Vic und stand auf. Er sah, wie Graymalkin und Cipher einen Blick austauschten, aber keiner erwiderte etwas. Sie wussten, dass er recht hatte. Eines Tages würden sie alle X-Men sein und dann würden die Dinge für den Propheten Xodus ganz anders laufen.

Aus der Richtung des Prüfungsraums war ein dröhnendes Geräusch zu hören. Die zwanzigminütige Pause war zu Ende. Ohne mit jemandem ein Wort zu wechseln, reihte sich Vic in den Strom der Schüler, der den Pausenraum verließ, und war in düstere Gedanken versunken.

Die Fliege war weg. Vic wusste, dass er ihr wahnsinnig machendes Summen vom anderen Ende des Saals hätte wahrnehmen können. Hatte sie einen Ausweg durch die Klimaanlage gefunden oder hatte sie sich schließlich doch am Fenster des Prüfungsraums das Hirn eingerannt?

Er zwang sich dazu, sich auf sein Aufgabenblatt zu konzentrieren, um jene unnachgiebigen, einschüchternden Buchstaben zu lesen.

1) a. In welchem Jahr wurde die Emanzipationsproklamation unterzeichnet?

War das 1862 gewesen? Was hatte Ci gesagt? Siebenundachtzig Jahre. Aber ausgehend von was? Der Unabhängigkeitserklärung? Und die war … 1776? Ja, er hatte doch Hamilton gesehen. Also, 1776 plus siebenundachtzig … 1863. Das klang richtig.

Vic kritzelte es hin. Nächste Frage.

1) b. Gib eine kurze Beschreibung (200 Wörter) der Arbeit von Frederick Douglass.

Das wusste er auch. Triage hatte Frederick Douglass bei einem Rollenspiel im Unterricht verkörpert. Vic glaubte nicht, dass er es selbst besser hinbekommen hätte, zumal er den Verdacht hatte, dass der tatsächliche Frederick Douglass weder einen Kamm knochiger Auswüchse auf dem Schädel noch eine Greifzunge besessen hatte.

1) c. Gib die grobe Prozentzahl der afroamerikanischen Soldaten in der Unionsarmee im Jahr 1865 an.

Er hatte keine Ahnung. Vielleicht wäre die nächste Frage ja besser. Nope. Er wusste nicht, wer der Sieger der Präsidentschaftswahl 1876 war, geschweige denn, wie sich das auf die Ära der Reconstruction ausgewirkt hatte. Er lehnte sich zurück und versuchte nachzudenken. Lass deine Gedanken nicht abschweifen. Konzentrier dich, dann schaffst du das.

Er drehte sich zu Graymalkin. Der blasse, kahl geschorene Jugendliche hielt inne und erwiderte seinen Blick. Genau wie vorhin blieb das Gesicht seines Mutantenkumpels undurchschaubar. Doch diesmal hob Graymalkin langsam einen Daumen nach oben – eine Geste, bei der er sich eindeutig unsicher fühlte.

Normalerweise würde Grays zaghafter Versuch, etwas zu tun, das offensichtlich modern war, Vic in schallendes Gelächter ausbrechen lassen. Diesmal jedoch nickte er nur und wandte sich ab. Gray tat ihm leid. Alle taten ihm leid. Keiner von ihnen verdiente das hier. Unter der Erde zu leben, versteckt in einer alten, verlassenen Militäreinrichtung, unfähig, etwas anderes zu tun, als zuzusehen, während die Welt in Hass und Zwietracht versank. Wenn sie den Sommer über hierblieben, wie würde das Land da draußen sich verändern? Was würde sie erwarten, nachdem die Flammen gelöscht waren? Würde dann noch etwas übrig sein, das sie wiedererkannten? Irgendetwas, das nicht verbrannt oder von Rauch und Asche verunstaltet sein würde?

Knacks!

Der Stift in Vics Hand zerbrach. Er blickte auf die schwarze Tinte, die langsam über seine Hand und auf sein Antwortblatt tröpfelte. Ausdruckslos sah er dabei zu, wie sie hinabsickerte und sich allmählich ausbreitete. Dann, plötzlich, ließ er den zerbrochenen Stift fallen und stand auf. Das Schaben seines Stuhls hallte kalt und einsam durch den Saal.

Köpfe drehten sich um. Er ignorierte sie, als er sein tintenverschmiertes Blatt mit Namen und Datum versah und es nach vorn brachte. Ms. Pryde musterte ihn beim Näherkommen. Er hielt ihrem Blick stand, als er das Blatt am Ende des Saals auf ihren Tisch legte.

Sie sagte nichts. Vic drehte sich um und ging hinaus.

KAPITEL 3

Es war beinahe Mitternacht, als Vic ein vertrautes Klopfen an seiner Tür vernahm.

Er hatte sich der Realität komplett entzogen, seit er den Prüfungssaal verlassen hatte, und nur schnell in der Cafeteria vorbeigeschaut, um sich etwas Pasta zu kochen, bevor er sich in seinem Zimmer verbarrikadiert hatte. Wie alle Unterkünfte im Institut war der Raum beengt und gänzlich unterirdisch. Ein kleines Fenster – an dem Vic die Rollläden runtergelassen hatte – ging auf den Korridor hinaus, wahrscheinlich hatte man es in dem Versuch eingebaut, die Klaustrophobie abzumildern. Glücklicherweise hatte ihn die beengende Natur des Raums nie wirklich gestört. Er hatte sich das Zimmer zu eigen gemacht, vor allem, nachdem sein Mitbewohner im letzten Halbjahr ausgezogen war. Filmposter und Autogrammkarten von Schauspielern schmückten die Wände, während eine Xbox leise in einer Ecke unter dem Fernseher vor sich hin summte. Seit Beginn der Prüfungsphase sah es außerdem so aus, als wäre das Zimmer zu einer Bibliothek umfunktioniert worden. Bücher waren neben dem Bett zu wackligen Stapeln aufgetürmt oder lagen auf dem Boden verteilt, manche davon aufgeschlagen, die Seiten mit Klebezetteln übersät. Das Lernen bis spät in die Nacht – oder meistens eher das Prokrastinieren – hatte außerdem für die üblichen Schülerabfälle gesorgt, die sich aus muffigen Klamotten, noch muffigeren Tellern und Verpackungen von Fertiggerichten zusammensetzten und überall herumlagen.

Das Chaos sah ihm nicht ähnlich, aber er war zu gestresst vom Lernen gewesen, um das wachsende Durcheinander in Angriff zu nehmen. Jetzt war er einfach zu gereizt. Er hatte versucht, ein wenig zu lesen, nachdem er in seiner Pasta herumgestochert hatte, aber es hatte sich angefühlt, als würden ihn die Geschichtsbücher, die sich auf seinem Tisch stapelten, verurteilen. Also hatte er seine Xbox eingeschaltet und sich in den Sitzsessel am Ende seines Betts fallen lassen, um sich für die nächsten paar Stunden im Zocken zu verlieren.

Es half nicht wirklich. Er prügelte sich durch vier oder fünf Level von Total Combat – die er schon Dutzende Male zuvor geschafft hatte –, aber dadurch konnte er die Gedanken, die ihn seit der Sache im Gemeinschaftsraum beschäftigten, nicht abschütteln. In der Einsamkeit seines winzigen Zimmers musste er sich eingestehen, dass mehr hinter seiner Frustration steckte als nur die Nachrichten über die Purifier-Randale.

Sie hatten Erinnerungen geweckt. Die Schatten einer Zeit, von der Victor geglaubt hatte, sie hinter sich gelassen zu haben. Er erinnerte sich an seine Kindheit: die oftmals unausgesprochen gebliebenen Kämpfe, die seine Eltern ausgefochten hatten. Wie zur Hölle sollte man ein Mutantenkind in einer Kleinstadt in Illinois großziehen? Wie hatte das nur gut gehen können?

Er kannte die Antwort. Es lag nicht nur daran, dass seine Eltern vom ersten Tag an für ihre Sache gekämpft hatten, obwohl sie das definitiv getan hatten, und zwar unerbittlich. Sie hatten es überstanden, weil die Stadt zu ihnen gehalten hatte. Dan und Martha Borkowski waren Mitglieder der Gemeinschaft. In ganz Fairbury waren sie für ihre Großzügigkeit, harte Arbeit und Ehrlichkeit bekannt. Dan hatte den Elektronikladen in der Stadt eröffnet und keine Mühen gescheut, Kids aus der Stadt einzustellen, die schlechte Noten hatten. Martha hatte fast dreißig Jahre lang als Rezeptionistin im Krankenhaus gearbeitet und sich gleichzeitig in der Historischen Gesellschaft Fairburys, dem Tierschutzverein von Illinois und der Ersten Presbyterianischen Kirche engagiert. Sie hatten viel gearbeitet und ein ehrliches Leben geführt und als schließlich Vic in ihr Leben getreten war, hatten sie festgestellt, dass sie in Fairbury wesentlich mehr Freunde als Feinde hatten.

Natürlich hatte es trotzdem ein paar Leute gegeben, die ihn nicht akzeptiert hatten. Vic erinnerte sich an einen ganz bestimmten Priester aus einem anderen Viertel, der sich mehrfach in seiner Predigt gegen ihn ausgesprochen hatte. Er hatte das erst Jahre später mitbekommen, doch er hatte das eiserne, emotionslose Starren des Mannes, wann immer er in der Stadt an ihm vorbeigegangen war, nicht vergessen. Vic hatte ewig gebraucht, um dahinterzukommen, warum jemand, den er nicht kannte, mit dem er nie gesprochen hatte, so über ihn dachte.

Die Stadt hatte ihn behütet. Man hatte ihn zu Grillfeiern eingeladen, er hatte in der Kirche gesessen, im Baseballteam der Little League mitgespielt. Jeder Anflug von Mobbing in der Schule war von seinen Lehrern unterbunden worden. Seine Freunde schienen stets fasziniert zu sein von seinen Fähigkeiten, Gebäudewände hinaufklettern, mit der Umgebung verschmelzen oder Fliegen mit seiner Zunge fangen zu können – etwas, das er im Alter von acht Jahren als eklig befunden hatte.

Nicht alles war einfach gewesen, aber während Vic herangewachsen war, war es ihm durchaus so vorgekommen. Nach seiner Ankunft im Institut war ihm langsam klar geworden, wie behütet er aufgewachsen war. Er erfuhr, wie selten eine glückliche Kindheit war, als er andere Mutanten getroffen hatte. Ohne Trauma aufzuwachsen, war ein unbezahlbarer Segen, etwas, das man wertschätzen musste. Graymalkin und Cipher waren der lebende Beweis dafür. Gray war von seinem eigenen Vater angegriffen worden, als er versucht hatte, sich ihm gegenüber zu outen. Er war bei lebendigem Leib begraben worden und hatte seine Mutantenkräfte – die Fähigkeit, in der Dunkelheit zu überdauern – erst entdeckt, nachdem er unter der Erde lag. Cipher war sogar noch weniger mitteilsam, was ihre Kindheit anging, aber Vic wusste, dass ihre Eltern sie verstoßen hatten. Nach einem von Grays seltenen Versuchen, auf Vics Konsole spielen zu lernen, hatte dieser ihm von den Gerüchten erzählt, Jean Grey habe sie gefunden, nachdem sie in die Schule eingedrungen sei, indem sie ihre Unsichtbarkeits- und Phasing-Fähigkeiten eingesetzt hatte, um unentdeckt zu bleiben. Sie hatte Vic nie erzählt, wie lange sie tatsächlich schon dort gewesen war, bevor man sie aufgespürt hatte. Er hatte den Eindruck, es dürfte eine ganze Weile gewesen sein.

Sie alle waren von ihrer Kindheit geprägt worden. Vic war einfach nur dankbar, dass seine so lange so glücklich gewesen war. Doch nun stand das alles auf dem Spiel.

GAME OVER.

Seit fast einer Stunde steckte er jetzt schon in Level sieben von Total Combat fest. Er musste einen Combo-Kill bei Boss Red landen, aber er war zu abgelenkt. Er schleuderte den Controller auf sein Bett, kurz davor, aufzugeben. Das war der Moment, in dem das donnernde Klopfen ertönte und ihn aufspringen ließ.

Einen kurzen Augenblick dachte er, das Institut würde angegriffen. Die Tür zu seinem Zimmer erzitterte in ihrem Rahmen und steckte mehrere Schläge nacheinander ein – zwei, drei, vier. In der darauffolgenden Stille wurde ihm klar, wer es war. Niemand sonst in der Schule klopfte auf diese Weise an.

Er richtete sich auf, prüfte, ob er auch keine Pasta auf sein Tanktop gekleckert hatte, und öffnete die Tür. Statt des Korridors fand er sich einer Klippe gegenüber. Ein Berg aus zerklüftetem grauem Stein schien vor seinem Zimmer herabgestürzt zu sein, ein Berg, der nun mit hellen und ungerührten Augen zu ihm herabsah.

»Was geht, Echsenjunge?«, sagte der Fels.

»Nicht viel«, antwortete Vic.

Santo Vaccarro, in der Schule besser bekannt unter seinem Decknamen Rockslide. Seine spezielle Mutation war so offensichtlich wie eindrucksvoll. Seine Körpergröße allein – er war über einen Meter achtzig groß und fast genauso breit – reichte aus, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und dann kam noch seine Beschaffenheit aus Stein dazu. Er bestand komplett aus breiten Schultern, klobigen Brustmuskeln sowie Armen, die dicker waren als Vics Oberkörper, alles aus rauem, solidem Stein. Es war, als hätte ein Bildhauer mit einem Hintergrund in brutalistischer Architektur eine Statue eines Football-Linebackers aus der Seite eines Berges gehauen. Sein zerklüfteter Kopf, der wie ein Felsbrocken auf der Kammlinie seiner Schultern thronte, betrachtete Vic einen Moment lang mit der Unergründlichkeit eines Berggipfels.

»Kann ich reinkommen?«, grollte er.

Vic machte ihm Platz, wobei er mit einer ausladenden Geste in sein Zimmer deutete. »Ich bin mir sicher, du kennst den Weg, Rocky.«

Santo brummte und drehte sich zur Seite – das war die einzige Möglichkeit für ihn, durch die Tür zu passen, ohne sie zu zerkratzen. Vic überprüfte die Außenseite, um sicherzugehen, dass das Klopfen keine Beulen hinterlassen hatte, und zog dann die Tür hinter sich zu.

»Willkommen zu Hause«, sagte er, als er sich wieder Santo zuwandte.

Der Mutant schien den gesamten Raum auszufüllen, als dieser sich mit einem leisen Knirschen der Halswirbel umsah. »Schick, was du aus dem Zimmer gemacht hast«, meinte er in seiner grummelnden, monotonen Stimme. »Kommt mir allerdings kleiner vor.«

»Ich hab mich breitgemacht, seit du weg bist«, witzelte Vic, während er einen Fuß auf der Betonplatte platzierte, die früher Santos Bett gewesen war. Nachdem er ausgezogen war, hatte Vic angefangen, die Platte als zusätzlichen Büchertisch zu nutzen, wobei die einstmals ordentlichen Stapel zu einem ungeordneten Haufen verkommen waren. Er schob ein paar davon beiseite, damit Santo sich auf den Rand setzen konnte.

»Total Combat?«, wunderte sich Rockslide, als er sich mit einem Scharren niederließ. Vic plumpste in seinen Sitzsack zurück, schlug die Beine übereinander und warf ihm den zweiten Controller zu.

»Weißt du noch, wie’s geht?«, fragte er mit einem angedeuteten Grinsen.

»Ich weiß noch, wie man Boss Red plattmacht«, erwiderte Santo. »Was anscheinend mehr ist, als du von dir behaupten kannst.«

»Das werden wir ja sehen«, konterte Vic und ließ das Spiel weiterlaufen.

Weitere Begrüßungsworte waren nicht nötig. So waren die beiden schon immer gewesen, nachdem sie für etwas mehr als zwei Jahre das Zimmer im Institut geteilt hatten. Ob Vic nach einer verpfuschten Bühnenprobe sauer war, einem Jungen hinterherschmachtete, von den Prüfungen gestresst war oder einfach Heimweh hatte, Santo war immer da, sah stundenlang fern und tat so uninteressiert wie ein geduldiger Berggipfel. Sie spielten schweigend Xbox und schließlich sprudelte aus Vic heraus, was los war, oftmals alles auf einmal. Santo ließ ihm dann freien Lauf, sagte wenig und ließ Vic seine aufgewühlten Emotionen in sich abreagieren.

Heute dauerte es etwas länger als sonst.

»Ich wusste nicht, dass du noch hier bist«, sagte Vic, als Boss Red zu Boden ging und vom Bildschirm verschwand. »Ich dachte, du wärst schon einem der Teams zugeteilt worden.«

»Glaubst du, ich würde gehen, ohne vorher vorbeizuschauen?«, entgegnete Santo.

»Darum geht’s hier also?«

»Nein. Ich warte noch auf meine Zuweisung.«

Vic verfiel wieder in Schweigen, als er das Intro zum achten Level wegdrückte. Santo hatte im letzten Halbjahr seine Abschlussprüfung absolviert. Er war auf ein paar Einsätzen gewesen und hatte sogar eine Personalunterkunft bekommen, solange er sich in der Schule aufhielt, aber er hatte noch immer keine Solomission erhalten. Um ehrlich zu sein, so sehr sich Vic für ihn freute, sehnte er den Tag dennoch nicht herbei, an dem Rockslide für immer weg sein würde. Er hatte gehofft, nicht lange nach ihm auf Einsätze zu gehen, aber nachdem er seine Prüfung vergeigt hatte, hingen seine Pläne in der Schwebe.

»Wie war’s, mit Ms. Frost und den anderen da draußen zu arbeiten?«, fragte er, als ein Schlägertrupp auf ihre Spielcharaktere auf dem Bildschirm zugestürmt kam. Er hatte schon alle Geschichten gehört – er war der Erste gewesen, der danach gefragt hatte –, aber er wollte abgelenkt werden. Level acht war sowieso zu leicht.

Santo erzählte ihm noch mal von den Zusammenstößen der letzten paar Monate. Die Hellions, von denen die meisten gerade erst ihren Abschluss gemacht hatten, hatten einen globalen Waffenschmugglerring aufgespürt, der einem noch nicht identifizierten Mutanten hörig zu sein schien. Es gab noch keine Hinweise, nur eine Menge gefährlicher Situationen und knapper Geschichten. Santos geokinetische Kräfte hatten schon Leben gerettet. Vic tat so, als wäre er kein bisschen neidisch.

Im Handumdrehen waren sie bei Level neun. Er war gerade dabei, Santos Avatar wiederzubeleben, als er es aussprach. »Ich bin heute aus der Prüfung abgehauen.«

Er hatte nicht wirklich vorgehabt zu reden, aber jetzt war es raus. Und er fühlte sich schon etwas besser.

»Hab’s gehört«, war alles, was Santo sagte, während er sofort auf die Cyberhunde losging, die auf dem Bildschirm näher kamen. Selbst nach so langer Zeit war es immer noch ein klein wenig witzig, ihm dabei zuzusehen, wie er den Controller mit seinen riesigen, groben Pranken bearbeitete.

»Haben Ci und Gray es dir erzählt?«, fragte Vic.

»Einer der beiden«, antwortete Santo, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.

»Sie hatten für diesen Sommer ’ne Reise geplant«, gestand Vic. »Für uns drei. Ich fürchte, das hab ich ihnen versaut.«

»Du machst deine Sache immer besser, als du denkst«, sagte Santo ohne Emotion. »Das nervt.«

»Tja, keiner mag Angeber«, erwiderte Vic mit einem kleinen Lächeln, während sein Avatar herbeiflitzte, um Santo vor den mechanischen Pixelhunden zu retten.

»Warum bist du abgehauen?«, fragte Santo.

Vic antwortete nicht sofort, sondern verzog das Gesicht, als er sich mit der Combo mit dem rechten Knopf abmühte, um die Hunde auszuschalten. Er überlegte, ob er lügen sollte, behaupten sollte, die Prüfung wäre einfach zu schwer gewesen, aber er wusste, dass Santo ihm das nicht abgekauft hätte. Außerdem war sein alter Mitbewohner nicht hier, um ihn zu verurteilen. Deshalb fühlte sich Vic wohl dabei, es ihm zu erzählen. »Während der Pause gab’s eine Nachrichtenmeldung. Es ging um eine der Purifier-Versammlungen. Prophet Xodus und seine Spinner.«

»Die waren ziemlich oft in den Nachrichten«, sagte Santo ruhig.

»Warum hält niemand sie auf? Die Polizei, die Regierung? Die sind völlig außer Kontrolle!«

»Es wird was unternommen. Einer der Gründe, warum die Hellions Schwierigkeiten hatten, diesen Waffendealer aufzuspüren, war, weil sich alle darauf konzentrieren, die Purifier festzusetzen. Überall werden Mutanten angegriffen. Für die scheint das eine Art Sport zu sein.«

»Irgendwer muss zurückschlagen.«

Zum ersten Mal, seit er das Zimmer betreten hatte, sah Santo Vic an. »Jemand wird das tun, wenn die Zeit gekommen ist«, sagte er.

»Und wann wird das sein? Wenn sie Mutanten auf dem Scheiterhaufen verbrennen?«

Santo wandte sich wieder dem Bildschirm zu, ohne ein Wort von sich zu geben. Level neun war geschafft. Eins fehlte noch.

»Es hat mich an zu Hause erinnert«, fuhr Vic fort, als er das Intro wegdrückte. »In meiner Kindheit hab ich tatsächlich nur einen Typen gekannt, der offen gesagt hat, dass er mich nicht in Fairbury haben will. Er hat versucht, andere dazu zu bringen, ihm zuzustimmen, hat’s aber nicht hingekriegt. Und wenn ich jetzt zurückdenke, erkenne ich erst, wie einzigartig das war. Wie begierig die Leute normalerweise sind, sich gegen etwas zusammenzutun, das in ihren Augen nicht normal ist.«

»Die Leute lassen sich leicht beeinflussen«, erklärte Santo.

Vic schüttelte den Kopf. Das letzte Level. Der berüchtigte Endboss Mechanoidian erhob sich aus seiner Schrotthöhle, während seine Gefechtssirenen aus den Lautsprechern dröhnten. »Ich glaube nicht, dass die meisten Leute so sind«, widersprach er. »Kann sein, dass viele es leichter finden, ihr Fähnchen nach dem Wind zu drehen. Aber es gibt auch gute Leute. Reichlich davon.«

»Und guten Leuten passieren gute Dinge«, sagte Santo, als er direkt auf Mechanoidian zustürmte und dabei Salven auf dessen rostige Hülle niederregnen ließ.

Vic dachte darüber nach. Es stimmte, dass er immer daran geglaubt hatte, das Gute würde siegen. Wann immer es infrage gestellt oder herausgefordert würde, würde es überdauern und sich hervortun. War das nicht genau der Grund, weshalb er hier war? Der Sinn und Zweck hinter dem Neuen Charles Xavier Institut, der Grund, warum er ein X-Man werden wollte? Der Glaube, dass das Gute eine greifbare Macht in der Welt war und dass man es verfechten und hochhalten musste? Das war es, was seine Eltern ihn stets gelehrt hatten.

Nichtsdestotrotz war es nicht das Gute, das in Total Combat gewann. Santos Spielfigur lag am Boden, von einem Rundumschlag mit Mechanoidians Vernichtungsbohrer zu Brei geschlagen. Vic eilte herbei, um ihn wiederzubeleben, während er versuchte, die frisch erschienene Welle der Wahnsinnigen abzuwehren, Mechanoidians cyber-implantierte Gedankensklaven. Er rang mit dem Controller, die Zähne aufeinandergepresst. Setz die Lähmungsfähigkeit für die Horde ein, füll die Wiederbelebungskugel auf, weich dem Vernichtungsbohrer aus und …

Zu spät. Knirsch! Mechanoidian traf mit einer grässlichen Spezialeffektexplosion voll ins Schwarze. Seine Spielfigur wurde niedergemetzelt und der Bildschirm verwandelte sich in ein blutiges Rot.

GAME OVER.

Vic ließ den Controller auf seinen Sitzsack fallen und lehnte sich mit einem entnervten Fauchen an den Bettrand zurück. Sein dreizehnjähriges Ich wäre alles andere als begeistert gewesen, es nicht geschafft zu haben, dem Bohrer auszuweichen. Seine Schnelligkeit ließ nach.

»Isst du das noch?«, fragte Santo.

Vic sah, wie er die halb aufgegessene Schale mit Nudeln hochhielt, die er sich vorhin zubereitet hatte. Er schüttelte den Kopf.

Santo machte sich darüber her, wobei er die Gabel anmutig zwischen Zeigefinger und Daumen hielt, während Vic aufstand und die Xbox ausschaltete. Der Bildschirm wechselte zum normalen Fernsehprogramm und Santo fing an, durch die Kanäle zu zappen, bis er bei der Wiederholung von The Million Dollar Question landete. Vic wusste, dass er sich für den Rest des Abends nicht mehr wegbewegen würde. Snacks und Fernsehen waren der liebste Zeitvertreib des großen Kerls.

»Ich fahr nach Hause«, sagte Vic, der auf seiner Bettkante saß und Rockslide ansah.

»Wann?«, fragte der Steinriese zwischen zwei Happen, den Blick noch immer auf die Fernsehsendung fixiert.

»Morgen oder so.«

»Bist du nicht noch mitten in der Prüfungsphase?«

»Jupp. Ist mir egal. Dieser Ort ist kein Gefängnis, auch wenn er sich manchmal wie eins anfühlt und wirklich wie eins aussieht.«

Santo brummte einfach nur.

»Ich vermisse meine Familie«, gab Vic zu. »Und ich kann nicht hier unter der Erde bleiben, während in der wirklichen Welt alles zum Teufel zu gehen scheint. Ich war nicht mehr zu Hause, seit ich ausgezogen bin. Ich rede nicht so oft mit meiner Mom und meinem Dad, wie ich sollte. Mir ist vor Kurzem klar geworden, was sie durchgemacht haben, als ich ein Kind war. Wovor sie mich beschützt haben. Sie im Stich zu lassen, um Superheld zu spielen, ist nicht richtig.«

»Du willst doch nur in das Café, von dem du dauernd sprichst«, konterte Santo.

Vic blinzelte. »Rede ich echt so oft über das Roundaway’s?«, fragte er ehrlich überrascht.

»Du hast gesagt, du würdest es so sehr vermissen, wie die meisten Schüler ihren Hund vermissen, wenn sie auf dem College sind.«

»Das klingt ganz nach mir«, sagte Vic mit einem Schulterzucken. »Ja, Rocky, du hast meinen ganzen Plan durchschaut. Ich lasse Freunde Freunde sein und tausche den Prüfungserfolg gegen Miss Trimbles Affogato mit extra Eiscreme. Das solltest du den Hellions verraten. Die können gern mal vorbeischauen.«

Santo gab einen tiefen, grollenden Ton von sich, den Vic als Lachen wiedererkannte. Er konnte nicht anders, als ebenfalls zu lächeln. Das hatte er schon eine ganze Weile nicht mehr gehört.

»Du wirst doch nichts Dummes anstellen, oder?«, fragte Santo und blickte ihm direkt in die Augen. »So was wie den Purifiern zu Leibe zu rücken. Denn das wäre ziemlich dämlich.«

»Werde ich nicht«, beteuerte Vic. »Das Letzte, was ich will, ist Ärger nach Fairbury zu bringen. Nur eine ruhige Woche zu Hause, alle wiedersehen, chillen. Das brauch ich. Und etwas Sonne. Ich bin eine verdammte Echse!« Er ließ seine Zunge hervorschnellen, um das zu verdeutlichen, was Santo ein weiteres volltönendes Kichern entlockte.

»Ich sag’s Cyclops morgen früh«, fuhr er fort. »Vielleicht gewährt er mir einen Aufschub für die Prüfungen. Besondere Umstände.«

»Ich könnte ein gutes Wort für dich einlegen, falls das nötig ist«, sagte Santo. »Ich würde dafür sorgen, dass alle die blutigen Details über deinen Roundaway’s-Kaffee-Entzug erfahren. Wie du damit angefangen hast, rohe Kaffeebohnen zu essen, und dass du nachts ohne Schuss nicht schlafen kannst.«

»Nichts anderes hab ich vom besten Mitbewohner des Instituts erwartet«, grinste Vic. »Danke, Santo.«

KAPITEL 4

Auf seiner Schulter lag eine Hand, die ihn auf grobe Weise packte.

Vic schreckte aus dem Schlaf hoch. Er drehte sich in seinem Sitz herum und fand sich einem stoppligen, pockennarbigen Gesicht gegenüber, über dem eine blau-weiße Kappe thronte.

»Willst du nach Fairbury, Junge?«, fragte der Mann. Sein Atem stank nach Tabak und seine Uniform nach Achselschweiß.

»Ja«, erwiderte Vic und versuchte, nicht gehetzt zu wirken, als er feststellte, dass der Bus angehalten hatte. Der Motor brummte und die Leute schlurften mit Koffern und Rucksäcken an ihm vorbei. Seine Kapuze war runtergerutscht, als er geschlafen hatte. Reflexartig riss er sie wieder hoch.

»Tja, wir sind da«, sagte der Fahrer und ging zu seinem Sitz zurück. Vic stand auf und schnappte sich seine Tasche. Er erinnerte sich nicht daran, eingenickt zu sein. Zu Beginn der zweitägigen Reise von Südalberta nach Illinois war er nervös gewesen, ständig auf der Hut vor Ärger. Er hatte die bösen Blicke bemerkt, die manche Leute ihm zugeworfen hatten. Die besorgten waren allerdings noch schlimmer gewesen – er hasste die Vorstellung, dass jemand Angst vor ihm haben könnte, ohne ihn überhaupt zu kennen, dass sie Ärger von ihm erwarteten, nur weil sie im selben Bus saßen wie er. Niemand hatte sich in den dreiundzwanzig Stunden, die er unterwegs gewesen war, neben ihn gesetzt, weder in dem Bus, der die Grenze überquerte, noch in dem, den er von St. Louis aus genommen hatte. Er war überrascht, dass der Fahrer ihn überhaupt geweckt hatte.

Er dankte dem Mann, als er an ihm vorbeiging, und trat ins Sonnenlicht hinaus. Die vertraute Ansicht der West Street erwartete ihn. Die Junisonne brannte auf Reihen gedrungener Häuser aus rotem Backstein herab. Ein Optiker, ein Süßwarenladen, ein mexikanisches Restaurant, das Wayne-County-Press-Büro, aneinandergereihte kleine Geschäfte, die genauso aussahen wie beim letzten Mal, als Vic sie gesehen hatte. Gegenüber der Bushaltestelle standen staubige Fahrzeuge vor einer Tankstelle Schlange, während ein Trucker gleich hinter der nächsten Kreuzung dabei half, Apfelkisten ins Hintere von Hasslers Lebensmittelgeschäft zu entladen. Ein Hund, der vor einer nahe gelegenen Reinigung saß und ihn aufgeregt anbellte, wurde hastig von seinem Besitzer angewiesen, still zu sein. Eine Kleinstadt in Illinois. Anscheinend war sie noch genauso, wie er sie verlassen hatte.

Er schlang sich seinen Rucksack um die Schultern und bog nach rechts ab. Er konnte das Starren einiger Leute spüren, die an der Bushaltestelle warteten, als er an ihnen vorbeilief. Er ignorierte sie und noch weitere, die in der Nähe standen, bis eine Frau ihm von der anderen Straßenseite aus etwas zurief. »Hallo, Victor! Schön, dass du wieder da bist!«

Er warf einen Blick zurück und war überrascht, seine ehemalige Erdkundelehrerin aus der Highschool zu sehen, die ihm zulächelte. Sie hielt einen Wäschesack in beiden Händen und war noch immer so untadelig und ordentlich gekleidet wie damals, als sie ihm etwas über glaziale Erosion und Nationalparks beigebracht oder seine Mutter und seinen Vater sonntags zum Mittagessen eingeladen hatte.

»Hallo, Mrs. Templeton«, konnte er gerade noch zurückrufen, bevor sie in den Bus stieg.

Die Begegnung, so kurz sie auch gewesen war, ließ ihn lächeln, als er die East Locust Street entlanglief. Die Sonne brannte herunter und die Stadt war genauso geschäftig, wie er es für einen Samstagnachmittag in Erinnerung hatte. Überall waren vertraute Gesichter. Die meisten lächelten und nickten ihm zu und er gewöhnte sich schnell an die Blicke der Überraschung und des Wiedererkennens, die sich viele Male wiederholten.

Ein paar lächelten nicht. Sie wandten sich schnell ab, als sie ihn sahen. Einer von ihnen, Tony, der Inhaber des Fitnessstudios, schenkte ihm ein gepresstes Lächeln, dann eilte er über die Straße, seine Basecap tief ins Gesicht gezogen. Vic versuchte, der Sache keine Beachtung zu schenken, versuchte, den Stich nicht zu spüren.

Er hatte damit gerechnet. Den ganzen Weg vom Institut bis hierher hatte er den Einfluss der Purifier gesehen, der in weitaus mehr bestand als nur ein paar bösen Blicken. Ihr Radkreuz-Symbol war überall. Vom Busfenster aus hatte er es in weißer Farbe auf Unterstände geschmiert und auf die Türen und Wände von verfallenen Häusern gesprayt gesehen. Er hatte ausgebrannte Fahrzeuge ausgemacht, die am Straßenrand stehen gelassen und damit gekennzeichnet worden waren. Selbst hier auf dem Land, als er an wogenden Maisund Heufeldern vorbeigefahren war, hatte er hölzerne Kreuze erspäht, die auf Weideländern und einsamen Straßenkreuzungen aufgestellt waren. Jedes Mal, wenn er eins erblickt hatte, war er etwas wütender geworden, und etwas unsicherer. Er hatte angefangen, sich zu fragen, in was für ein Zuhause er zurückkehren würde.

Er bog von der North 7th Street ab und nahm die East Hickory Street, die zur 10th Street führte, sodass er an dem kleinen Baseballpark vorbeilief, in dem er als Kind gespielt hatte. Ein Team scharte sich um einen Coach, den er nicht kannte. Er fragte sich, was aus Coach Martin geworden war. Wie lange war es her, seit er in der Little League gespielt hatte? Fünf Jahre? Sechs? Er folgte der Straße um den Indian-Creek-Teich herum, dann nahm er den Weg nach Norden. Die Geschäfte und Diners, aus denen Fairburys Zentrum bestand, wurden bald von Einfamilienhäusern abgelöst, kleinen, weiß gestrichenen Holzbauten mit großen Vorgärten davor und Feldern dahinter. Die Wohnhäuser wurden spärlicher, die Felder größer, golden und grün erstreckten sie sich unter einem wolkenlosen Himmel und warteten auf die Ernte.

Er folgte der Straße, die sich Richtung Nordosten schlängelte, wobei er ein paarmal zur Seite treten musste, um mehrere Pick-ups vorbeirumpeln zu lassen. Zu seiner Linken erhob sich ein Wald, unter dessen dunklen, schattigen Ästen es im Kontrast zur Sonne kühl war. Der Weg gabelte sich und ein Teil der Straße verschwand zwischen den Bäumen. Die letzte Abzweigung, bevor er zu Hause war.

Als er das Institut verlassen hatte, hatte er angerufen, um seinen Eltern Bescheid zu geben, dass er kommen würde. Sie waren überrascht gewesen. War nicht gerade Prüfungszeit? War alles in Ordnung? Er hatte ihnen versichert, dass Mr. Summers ihn für eine Woche beurlaubt hatte. Er brauchte einfach nur eine Pause. Cyclops hatte Verständnis dafür gehabt. Er hatte Vic gegenüber zugegeben, dass das Institut ohnehin überlegte, die Prüfungen abzukürzen. Die wachsende Gewalt beunruhigte alle. Er war nicht der Erste, dem gestattet wurde zu gehen, um bei seinen Freunden und seiner Familie zu sein. Es waren mehrere Krisensitzungen der Lehrer im Institut angesetzt worden.

Vic war einfach nur froh, weit weg von alldem zu sein. Der Ort war klaustrophobisch geworden, noch mehr als im üblichen, wörtlichen Sinn. Der lang ersehnte Sommer zog vorüber, während er unter der Erde begraben war, völlig gestresst von den Schulbüchern und den Nachrichten. Er hatte rausgemusst.

Er hatte sich ziemlich ins Zeug legen müssen, seine Eltern davon zu überzeugen, sich nicht freizunehmen, um ihn zu Hause zu begrüßen. Er war sich nicht sicher, ob er für diese Art von Aufregung bereit war, und außerdem wäre es zu kurzfristig gewesen. Dad war im Laden und überwachte den Verkaufsstart eines neuen Smart-TVs, während Mom Lebensmittel für Mrs. Keller besorgte. Sie hatten den Schlüssel an seinem üblichen Platz deponiert.

Er konnte sein Haus jetzt durch die Bäume hindurch erkennen, eins von neun Häusern, die in einer kurzen Reihe etwas abseits der Allee lagen. Es war zwei Stockwerke hoch, hatte braune Holzwände sowie ockerfarbene Dachziegel und wirkte genauso stabil und unverändert wie an dem Tag, als er gegangen war. Er blieb vor dem schmiedeeisernen Tor stehen, das in den Vorgarten führte, und nahm alles in Augenschein. Die Sonne wurde von den oberen Fenstern reflektiert und strahlte ihm ins Gesicht, die Luft war schwer vom Geruch nach Herzblattlilien und Lavendel, die den Pfad zur vorderen Veranda säumten. Die Bäume raschelten leise und verliehen dem entfernten Zwitschern eines Spechts bei der Arbeit irgendwo hinter dem Haus einen sanften Unterton. Es war eine Welt fernab des kahlen Betons, der frostigen Korridore und der grellen Beleuchtung des Instituts. Vic atmete langsam und genüsslich ein, bevor er das Tor öffnete und zur Veranda ging.

Direkt davor hielt er an. Der Schlüssel sollte in einem Spalt unter einer der Holzdielen stecken. Während er überlegte, welche es war, drang ein Geruch zu ihm.

Fleisch. Bratendes Fleisch. Erneut sog er die Luft ein und entschied dann, das könne nicht aus dem Haus kommen. Die Fenster waren geschlossen und die Rollläden von innen heruntergelassen, außerdem würden seine Eltern erst in mehreren Stunden nach Hause kommen.

Er warf einen Blick nach links und rechts, ohne ein Anzeichen von Aktivität bei Mr. und Mrs. Wilson oder Mr. McTeal zu erkennen – die Nachbarhäuser lagen so still und ruhig da wie der Wohnsitz der Borkowskis. Verblüfft lief er an der Veranda und seitlich am Haus vorbei, alle Sinne geschärft.

Hinter dem Haus lag ein von einem hohen Lattenzaun umzäunter Garten und jenseits davon erstreckte sich der Wald. Sonnenstrahlen brachen hier und da durchs Blätterdach. Das Laub flüsterte und raschelte verschwörerisch. Der Geruch wurde stärker. Er öffnete das Tor zum Garten. Es war unverschlossen – eine weitere Anomalie. Normalerweise war es von innen verschlossen, wenn seine Eltern unterwegs waren. Mit schneller werdendem Puls schob er es auf und spähte in den Garten.

Der Schrei von der anderen Seite sorgte beinahe dafür, dass er das Tor wieder zuschlug. Der Garten war erfüllt von Dutzenden Leuten und er machte eine Sekunde lang große Augen, bis er realisierte, dass er sie alle kannte. Ihm war klar, dass er vor Verlegenheit rot angelaufen wäre, hätte seine Biologie das zugelassen.

»Willkommen zu Hause, Sohnemann!«, rief Dan Borkowski, der Vic in eine kräftige Umarmung zog. Martha folgte ihm auf dem Fuß und machte mit strahlendem Gesicht ein Gruppenknuddeln aus der stürmischen Umarmung.

»Ich dachte, ihr wärt auf der Arbeit«, war alles, was Vic in den Sinn kam. Er fühlte sich wie ein Idiot.

»Glaubst du etwa, wir lassen uns deine Ankunft nach so langer Zeit entgehen?«, fragte Dan und ließ ihn los, bevor er ihn fest an den Schultern packte. Breit grinsend musterte er ihn von oben bis unten. »Tja, du bist kein bisschen gewachsen, Vic!«

Vic rollte mit den Augen und befreite sich aus dem Griff seines Vaters, wobei er versuchte, nicht zu lachen. Erleichterung überkam ihn. Er hatte keine Ahnung, warum er nicht mit so was gerechnet hatte – seine Stimmung seit der Prüfung in Kombination mit seinen Erfahrungen auf dem Weg schienen die Welt um ihn herum verfinstert zu haben. Doch dies war sein Zuhause, seine Familie, eine Oase des Friedens und der Freude, unbefleckt vom verdreckten Rauch der Scheiterhaufen, der langsam so viele andere Dinge zu verpesten schien.

Und nicht nur seine Familie war hier. Der Garten wimmelte von lächelnden, lachenden Gesichtern, alle aus einer Zeit lange vor seinen jetzigen Problemen. Freunde seiner Eltern, Nachbarn, Gemeindemitglieder, Mitarbeiter des Elektronikladens, Doktor Miller, die alte Mrs. Keller – es schien, als wäre jede Person, die er in seiner Kindheit gekannt hatte, an diesen Ort hinter seinem Haus verfrachtet worden. Sie waren sogar so weit gegangen, ein grün-weißes Banner zu besorgen, das an der Hauswand über der Hintertür aufgehängt worden war – »Willkommen zu Hause, Fairburys ureigener X-Man«.

»Woher wusstet ihr, wann ich hier sein würde?«, fragte er und gab sich alle Mühe, seine Verlegenheit zu verbergen. Es war nicht so, dass er die Aufmerksamkeit nicht zu schätzen wusste – man gewann nicht zwei Jahre in Folge den Institutspreis als Bester Schülerschauspieler, wenn man sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit nicht wohlfühlte –, aber die Überraschung hatte ihn verunsichert.

Dan gab ihm einen Klaps auf die Schulter und deutete auf das Tor hinter ihm. »Wir hatten einen Informanten«, sagte er.

Vic drehte sich um und erblickte Mrs. Templeton, die ums Haus kam und eindeutig selbstzufrieden dreinschaute.

»Der Fahrer war nicht gerade begeistert, als ich sofort wieder aus dem Bus gestiegen bin, um dir zu folgen«, sagte sie mit einem Wink in Vics Richtung, bevor sie ihn kurz, aber herzlich umarmte.

Vic riss die Arme in die Luft und rang damit, seine eigene Belustigung zu verbergen. »Also echt, ihr lasst mich allesamt zweifeln, ob ich das Zeug zum X-Man habe! Geködert, verfolgt und eingefangen! Ich werde ein Team rufen müssen, wenn ich heil aus dieser Sache rauskommen will!«