Masken der Melancholie in Joseph Roths späten Romanen - Daniela Portmann-Bogosavac - E-Book

Masken der Melancholie in Joseph Roths späten Romanen E-Book

Daniela Portmann-Bogosavac

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Beschreibung

Diplomarbeit aus dem Jahr 2002 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: sehr gut, Universität Wien (Deutsche Philologie), Sprache: Deutsch, Abstract: Schon bei den ersten Begegnungen mit Roths Werk fällt die eigenartig bedrückte Atmosphäre auf. Die Figuren seiner erzählerischen Welt erweisen sich als Melancholiker, die sich jedoch hinter zahlreichen Masken verbergen. Sie versuchen auf diese Weise ihre Unzufriedenheit, ihre Mediokrität, ihre Ängste zu verhüllen, die Unmöglichkeit, sich in ihrer Welt zurechtzufinden zu überspielen. Diese latent melancholische Struktur ist sehr auffallend bei seinen militärischen Charakteren, etwa bei Eichmeister Eibenschütz in Das falsche Gewicht, Carl Joseph Trotta und seinem Vater, sowie dem Freund Carl Josephs, Dr. Demant, im Radetzkymarsch. Nicht nur die Militärs leiden jedoch unter der Last der verborgenen Melancholie. In der Kapuzinergruft wird besonders die junge Generation des Großbürgertums hinter ihrer Oberflächlichkeit von tiefer Melancholie beherrscht. Dieser Melancholie der meisten Figuren Roths, ihren Hintergründen und vor allem ihren Masken in der erzählerischen Gestaltung durch Joseph Roth auf die Spur zu kommen, war der Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit und ihr vordringliches Erkenntnisinteresse.

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INHALTSVERZEICHNIS:

 

I. PRÄMISSE

1. Biographischer hintergrund

1.1.  KINDHEIT UND JUGEND

1.2.  ROTHS ZEIT IM KRIEG

1.3.  ROTH ALS STARJOURNALIST IN DEUTSCHLAND

1.4. SOZIALISMUS - KOKETTERIE ODER ÜBERZEUGUNG?

1.5. EXIL-MONARCHISMUS

2. DIE DONAUMONARCHIE UND IHRE ROLLE IN ROTHS WERK UND LEBEN

2.1. Die WELT DER ZEICHEN: Österreich-Ungarns letzte Jahre

2.2. DIE GROSSE ILLUSION: die peripherie und zentrum bei joseph roth

2.3. MELANCHOLIE UND IHRE MASKEN

2.3.1. DIE MELANCHOLIE

2.3.2. DER Gehorsam

2.3.3. DIE Ehre

2.3.4. Entfremdung

2.3.5. ORDNUNG

2.3.6. DISZIPLIN

3. Das falsche Gewicht

3.1. PERSONENKREIS

3.2. WIEDERKEHRENDE FIGUREN BEI JOSEPH ROTH

3.3. ANSELM EIBENSCHÜTZ ALS TRAGISCH-MELANCHOLISCHE FIGUR

3.4. Leibusch Jadlowker und Kapturak als Eichmeisters Gegenpole

4. Radetzkymarsch

4.1. Der Personenkreis

4.2. DIE SCHWEIGSAMEN HELDEN

4.3. Die Trottas

4.4. Carl Joseph

4.5. Der Bezirkshauptmann und sein Verhältnis zu seinem Sohn

5. Die Kapuzinergruft

5.1. Der Personenkreis

5.2. Franz Ferdinands Melancholie

5.3. Zerbrochene Welt der Illusionen

6. SchlussBEMERKUNG

7. Literaturverzeichnis

 

I.PRÄMISSE

  Schon bei den ersten Begegnungen mit Roths Werk fällt die eigenartig bedrückte Atmosphäre auf. Die Figuren seiner erzählerischen Welt erweisen sich als Melancholiker, die sich jedoch hinter zahlreichen Masken verbergen. Sie versuchen auf diese Weise ihre Unzufriedenheit, ihre Mediokrität, ihre Ängste zu verhüllen, die Unmöglichkeit, sich in ihrer Welt zurechtzufinden zu überspielen.

 Diese latent melancholische Struktur ist sehr auffallend bei seinen militärischen Charakteren, etwa bei Eichmeister Eibenschütz in Das falsche Gewicht, Carl Joseph Trotta und seinem Vater, sowie dem Freund Carl Josephs, Dr. Demant, im Radetzkymarsch. Nicht nur die Militärs leiden jedoch unter der Last der verborgenen Melancholie. In der Kapuzinergruft wird besonders die junge Generation des Großbürgertums hinter ihrer Oberflächlichkeit von tiefer Melancholie beherrscht. Dieser Melancholie der meisten Figuren Roths, ihren Hintergründen und vor allem ihren Masken

1.Biographischer hintergrund

 

 1.1.  KINDHEIT UND JUGEND[1]

 

 Für Joseph Roths Biographen, besonders für den amerikanischen Literaturwis­senschaftler David Bronsen[2], war es keine leichte Auf­gabe die richtigen Informationen zu bekommen, um einen Lebenslauf  dieses Autors zu schreiben. Dieser „Mythomane”, wie ihn Bronsen nennt, liebte es, Geschichten zu erzählen, überall wo er ein Pub­likum dafür fand. Diese Geschichten betrafen nicht selten sein ei­genes Leben. Roths Freund Hermann Kesten erklärt diese Eigen­schaft Roths folgendermaßen:

 

 Keinem kritischen Beobachter von Menschen, keinem Kenner der eige­nen Regungen und unserer fast stets widersprüchli­chen Erwägungen und Beobachtungen entgeht es, daß alle un­sere Wahrheiten im Umgang mit Menschen und mit uns selber aus Fiktion und Fakten sonderbar und unauflöslich gemischt sind, daß alle unsere ausgesprochenen Gefühle und Urteile Elemente von Dichtung und Wahrheit enthalten, daß kein Mensch keinem Menschen ununterbrochen die nackte Wahrheit sagen kann.[3]

 

 Sein Geburtsort war Brody, damals eine Grenzstadt des österrei­chisch-ungari­schen Kaiserreichs, heute Teil der Ukraine. In dieser zu dieser Zeit zu zwei Dritteln von Juden bewohnten Handelsstadt wurde Joseph Moses Roth 1894 geboren. Seinen Vater, der die Fami­lie noch vor der Geburt des Sohnes verlassen hatte, hat Roth nie kennengelernt. Und dieser unbekannte Vater wurde zum Helden mehre­rer Ge­schichten, eine unerschöpfte Quelle immer neuer Erfindungen. Sowohl mündlich als auch schriftlich gab er seinen Freunden oder Bekannten unterschiedliche Aus­künfte über seinen Vater. Einmal war er ein österreichischer Eisenbahnbeamter (frühzeitig pensioniert und in Wahnsinn gestorben)[4], dann der >Kapsel-Roth<, der berühmte Wiener Munitionsfabrikant, ein Kunstmaler, ein hoher österreichi­scher Staatsbeamter, ein Edelmann, sogar ein polnischer Graf, mit dem seine Mutter eine kurze Liebschaft hatte, oder gar ein Offi­zier. Diese Aussagen Roths würden ein Paradebeispiel für die Be­fürworter der Theorien Freuds darstellen, nach denen viele Leute sich einen Vater ausdenken, wenn sie keinen haben.

 

 In einem Brief an seinen Verleger Gustav Kiepenheuer schrieb er:

 

  Er muß ein merkwürdiger Mensch gewesen sein, ein Österrei­cher vom Schlag der Schlawiner, er verschwendete viel, trank wahrschein­lich und starb, als ich sechzehn Jahre alt war, im Wahnsinn. Seine Spezia­lität war die Me­lancholie, die ich von ihm geerbt habe. Ich habe ihn nie gesehen. Doch erinnere ich mich, daß ich als Knabe von vier, fünf Jahren einmal von einem Mann geträumt habe, der meinen Vater darstellte. Zehn oder zwölf Jahre später sah ich zum erstenmal eine Photographie meines Vaters. Ich kannte sie bereits. Es war der Herr aus meinem Traum.[5]

 

  Nach der Volksschule und dem Gymnasium in Brody, inskribierte Roth Germa­nistik an der Universität Wien. Als Hauptstadt des Kai­serreichs und sein kulturelles, gesellschaftliches und politisches Zentrum, war Wien  die Stadt der fast unbegrenzten Möglichkei­ten für den jungen Roth.

 

  Fast sein ganzes Leben lang, ausgenommen die Jahre in Berlin, war Roth sehr arm. Diesen Zustand konnte man ihm nicht anmerken, denn er wahrte in Kleidung und Auftreten den Schein, der einem selbstbewussten Wiener „Gigerl” entsprach, wie ihn sein Freund, der polnische Dichter, Józef Wittlin, beschrieben hat[6]. Sein dandy­haftes Aussehen ließ in ihm keinen galizischen Juden erkennen. Er achtete auch sehr darauf, dass man auch in seiner Aussprache keine Spuren seiner galizischen Heimat merkt. Sein gesprochenes Deutsch war ein korrektes Hochdeutsch, was z. B. der damalige Assistent für die deutsche Literatur an der Uni Wien, Kindermann bemerkte[7]. Keine Spuren auch des Wiener Dialekts konnte man bei ihm hören. Die wenigen erhaltenen Briefe aus der Stu­dienzeit in Wien sind Zeugnisse der schweren Lebensumstände Roths, aber diese Briefe sind nicht von Bitterkeit oder Selbstmitleid erfüllt. Der Ton die­ser Briefe ist „von spielerischer Leichtigkeit, [...] und die Schilderung der Entbehrungen wird ins Humorvolle gewendet. [...]”[8] So schreibt er in einem Geburtstagsbrief an seine Cou­sine Paula Grübel in lässigen und lustigen Tönen:

 

  Herr Wind, mein Freund, hat Frau Wolke geheiratet. Ich war bei der Hochzeit. Es war sehr lustig. Nun gebärt Frau Wolke täglich Kinder: große und kleine Regen. Das ist eine fatale Geschichte. Ich muß den Wind bit­ten, doch aufzuhö­ren. Denn seine Söhne verpatzen mir täglich meine frisch gebügelte Hosenfalte. Du weißt, das ist mein Heiligtum.[9]

 

 Der Cousine berichtet er noch in diesem Brief, wieder auf eine lustige Weise, fast unbekümmert, dass er kein Honorar bekommen hat für seine Ge­dichte, die in »Österreichs Illustrierter Zeitung« er­scheinen hätten sollen. Deswe­gen kann er es sich nicht leisten, ins Kaffeehaus zu gehen, wie es zu der Zeit Journa­listen und Schrift­steller zu tun pflegten, und konnte nicht einmal eine Zeitung kau­fen. „Wenn ich Geld hätte, würde ich es zum Fenster hinauswerfen. [...] Mein Herz ist schwer und meine Tasche leicht. Aber wenn meine Tasche so schwer wäre, wie mein Herz, so wäre mein Herz so leicht wie meine Tasche.”[10] Es ist bemerkbar wie sich Roth durch alle diese Bemühungen den äußeren ‚Schein zu bewahren’, eigentlich sich selbst, sein Innerstes, sein Intimstes, vor anderen geheim gehalten hatte. Er war selber ein Meister der äußerlichen Masken, die keine Einsicht in seine Seele den anderen erlaubt hatten.[11]

 

  Aus diesem Grunde musste Roth schon während seines Studiums eine Beschäf­tigung suchen. Eine Zeitlang war er Privatlehrer für die Söhne der Gräfin Trauttmansdorff, was seine gesellschaftliche Entwicklung sehr beeinflusst hat. Das war für ihn eine Möglich­keit, mindestens als Beobachter, Zutritt in eine ihm bisher völlig unbekannte und fremde Welt von Stil und Niveau zu bekommen. Die zweite Verdienstmöglichkeit sah er im Journalismus. Da er ohne Be­kanntschaften aus die­sen Kreisen war, musste er sich etwas ganz Originelles einfallen lassen. Und das tat er. Dem Redakteur der »Österreichs Illustrierte Zeitung« schrieb er einen Be­werbungs­brief, in dem jede Wendung und jedes Wort sehr sorgfältig und meister­haft gewählt wurde, aus dem eine gewisse Ironie, sowie ein stark ausgeprägtes Selbstbewusstsein des jungen Studenten sichtbar ist.

 

    Sehr geehrter Herr Redakteur! Es ist das Schicksal der Armen, daß sie Allem, was sie beginnen, eine Entschuldigung voraus schicken müssen. Ich gehöre leider zu dieser Gattung und deshalb bitte ich Sie um Verzei­hung.  Wofür? - Nun, daß ich es wage, Sie zu stören. Daß ich es unter­nehme, Sie mit meiner unbedeutenden Persönlichkeit zu langweilen und Ihnen Ihre gewiß sehr kostbare Zeit zu rauben. Aber, bitte, ver­lieren Sie nicht die Geduld. [...]

 

  Es ist nicht die Sehnsucht nach Druckerschwärze, die mich Ihnen schrei­ben heißt, sondern die Not. Sie lehrt heutzutage nicht mehr beten. [...] Die Not lehrt heute  bitten. [...]

 

  So erlaube ich mir denn, Ihnen einige Proben meiner Mühe zu bringen und Ihnen meine Dienste anzubieten. Vielleicht können Sie mich brau­chen. Vielleicht verwenden Sie Einiges in der Sonntagsbeilage.[12]

 

  Und der Brief hat gewirkt. Joseph Roth hat die Stelle bekommen und sein ers­ter Beitrag erschien am 17. Oktober 1915. Das war das Gedicht Welträtsel. Bis zum September 1916 erschienen in dieser Zeitschrift noch sechs Beiträge Roths, vor allem waren es Gedichte und kleine Prosastücke. Roths Cousine Paula Grübel war von seinen Gedichten, die er ihr auch in Briefen geschrieben hat, begeistert und wollte sie mit Wittlins Hilfe ordnen und herausgeben. Sie schätzte die Zahl der Gedichte auf 150 und war der Meinung, dass die Gedichte genau die seelischen Zustände des jungen Roth spie­geln. Leider wurden die Gedichte in der Warschauer Wohnung seines Freundes Józef Wittlin während eines deutschen Angriffs zu Beginn des zweiten Weltkriegs zerstört.

 

  Ab 1916 war er im Militärdienst. Nach dem Ende des Kriegs, im De­zember 1918 kehrte er nach Wien zurück. Da er mittellos war, musste er sein Stu­dium aufgeben und eine Arbeit suchen. Dank sei­ner Bekanntschaften in den jour­nalistischen Kreisen konnte er wie­der in Zeitungen veröffentlichen. Gleich nach seiner Rückkehr von der Front konnte er in der Zeitung »Frieden« ein Kurzfeuille­ton veröffentlichen. Die Honorare, die nach dem Stand von 1916 bezahlt wurden, waren nicht ausreichend für ein sorgloses Leben. Dann gründete der bisherige Chefredakteur des »Frieden«, Bruno Karpe­les, eine neue Zeitung. Sie hieß »Der Neue Tag«. Einer der ersten Mitarbeiter im Team dieser Zeitung war Joseph Roth. Roth schrieb weiterhin Beiträge für die »Österreichs Illustrierte Zeitung«. Vor allem richtete Roth seine journalistische Tätigkeit auf »Der Neue Tag« aus. Dort lernte er viele Kollegen kennen, die ihn förderten. „Jetzt glaubte der ewig zögernde, skeptische und krankhaft selbst­kritische Roth an sich und sein Können”[13], erinnerte sich später Fred Heller, ein Kollege von Roth und ehemaliger Redakteur der Wiener Wochenzeitung »Der Frieden«. Fred Heller überredete ihn auch zum Schreiben von Berich­ten - Roth hatte sich früher vor al­lem auf Poesie konzentriert - und so erwies sich Hellers Hinweis als ein guter Ratschlag. In einem Notizbuch Roths aus den Jahren 1918 und 1919 findet man ca. 90 Themenvorschläge für seine Arti­kel. Und in diesen 13 Monaten, in denen »Der Neue Tag« aktiv war, verfasste Roth über 100 Artikel. Nach der Auflösung der Zeitung »Der Neue Tag« Ende April 1920, sah Roth für sich keinen Grund, weiter in Wien zu bleiben. „Den Wienern stand, so kurz nach der großen Völkerschlächterei, der Kopf nicht nach Federkünsten”[14], meint zu der Auflösung der Zeitschrift Sebastian Kiefer.

 

  Schon im Sommer desselben Jahres war er in Berlin, wo er sehr bald in mehre­ren Zeitungen als Feuilletonist tätig war. Seine Ar­beit in Berlin brachte ihn auf mehrere Reisen durch ganz Europa, von  Russland bis Albanien. Am liebsten hielt er sich in Paris auf, wo er den größten Teil seiner Werke schrieb. Nach Paris zog er endgültig Ende Januar 1933, nach der Machtübernahme in Deutsch­land durch die Na­tionalsozialisten. In diesem Jahr begann sein Le­ben im Exil und endete im Mai 1939 in einem Pariser Krankenhaus.

 

 1.2.  ROTHS ZEIT IM KRIEG[15]

 

  Am Anfang des Ersten Weltkrieges war Roth im zweiten Semester sei­nes Studiums und nicht mal ein ganzes Jahr lang in Wien[16]. Er war sehr um sein Studium bemüht, versuchte sich an der Universität und in Wien zu akklimatisieren. Er besuchte unter anderen die Vor­lesungen aus der Geschichte der deutschen Literatur beim sehr ge­schätzten Professor Walther Brecht, war sehr fleißig und bemühte sich gute Leistungen zu bringen. In dieser Zeit kam es an der Uni Wien zu fast täglichen Auseinandersetzungen zwischen jüdischen Studenten, unterstützt durch die serbischen und tschechischen Kol­legen, und den antisemitisch-nationalistischen Vorgängern der Na­zis. Roth konzentrierte sich vor allem auf sein Studium und den Aus­sagen der Freunde oder der Bekannten zufolge fand sich auch in seinen Schriften kein Interesse für die Ereignisse im und um den Krieg. In seinen Briefen und Veröffentlichungen in »Österreichs Illustrierten Zeitung« aus dieser Zeit, gab es keine patriotischen oder kriegerischen Ausrufe. Er war, im Gegensatz zu vielen öster­reichischen und deutschen Schriftstellern, pazifistisch einge­stellt. Seine Gedichte und kurze Prosastücke aus dieser Zeit rufen nicht zum Kampf auf. Sie zeugen mehr von Traurigkeit und Bedauern um die Menschen, die unter dem Krieg leiden. Den Krieg haben sei­ner Meinung nach nicht die einfachen Menschen angefangen, sondern die „Obrigkeit und das Militär”[17].

 

  Während des Krieges schrieb er Beiträge für einige Zeitungen: »Österreichs Illustrierte Zeitung«, »Abend«, »Prager Tagblatt« und »Frieden«. Einige seiner Beiträge erschienen auch in der »Arbeiter Zeitung« wie z. B. das Gedicht Mütter in der Ausgabe vom 26. Mai 1917[18]. Er schrieb Beiträge auch für eine Militärzeitung, die »Il­lustrierte Kriegszeitung«, in der, unter anderem, am 10. Januar 1917 das Ge­dicht Der sterbende Gaul[19] veröffentlicht wurde.  In »Ös­terreichs Illustrierte Zei­tung« erschien im Dezember 1915 eine Aneinanderreihung von Skizzen  unter dem Titel Herbstwindes Kriegsgeschichten[20]. In diesem kurzen metaphorischen Prosa­werk nimmt er als Erzählenden seinen Freund „den Wind”, der über viele Gegen­den weht und „viel Frohes und viel Trauriges” sieht. In die­sen Skizzen werden vor allem die traurigen Geschichten erzählt. Ein Krieg bringt den Menschen nur Elend und Tod, aber vom Krieg sind nicht nur Menschen betroffen. Er erzählt auch von ei­nem Hund, der seinen Herrn verloren hat und vergeblich in der Gegend herumir­rend nach ihm sucht. Und diese Geschichten sind übernatio­nal, obwohl er in eini­gen von ihnen einige Nationen nennt. Dem Er­zählenden ist es nicht wichtig ob es Juden, Deutsche, Österrei­cher, Polen, Russen oder andere Völker sind, er will nie­manden be­schuldigen. Dem Erzähler geht es vielmehr darum, das Schicksal und die Verluste aller Menschen zu zeigen und bildlich zu machen. Es ist nicht wichtig, ob der Vater in der ersten Geschichte auf ΄unserer΄ oder ΄feindlicher΄ Seite steht. Sein Verlust und die Trauer um den gefallenen Sohn sind allgemein menschlich und solche Schicksale gab es auf allen Seiten.

 

  Roths humanitäre Idee ist noch mehr in seinen Gedichten aus dieser Zeit sicht­bar. Im Gedicht Marschkompagnie[21] benutzt er das Stilmittel Kontrast und be­schreibt einerseits die damals allgegen­wärtige Euphorie der Mobilmachung, und andererseits das Leid und Unglück als Folgen. Die Kriegsbegeisterung hatte auch ihre schat­tigen Seiten.

 

        Und sie stampften, daß ihnen die Ferse sprang

 

   Doch die Sehnsucht weinte im Hörnerklang ...

 

   Und in jedem trotz Johlen und Tanz und Strauß,

 

   Rief es: Mein Haus! ...

 

   [...]

 

   Der Trommler war ein bleicher Mann,

 

   Sie sahen ihn alle erschrocken an

 

    Und plötzlich wußte die ganze Schar,

 

      Wer der bleiche, schweigsame Trommler war.[22]

 

  Doch der Pazifismus Roths und seines Freundes Wittlin ver­blasste im Jahre 1916. Ihre Studienkollegen, darunter der Freund Roths aus den Tagen in Lemberg, Soma Morgenstern, rückten ein, und nur sie zwei blieben hinten, zusammen mit Frauen, Kindern und Greisen. Und Soma Morgenstern berichtet, dass Roth sehr „patrio­tisch und kriegerisch gesinnt”[23] war, als er ihn im Jahre 1916 in Wien getrof­fen hat. Es stellt sich die Frage, wieso Roth plötzlich die Meinung geändert hat und vom Pazifisten zum Kriegsbegeisterten wechselte. Wieso der plötzliche Wandel? Die allgemeine Kriegsbe­geisterung im Volk wurde bis zu dieser Zeit ziemlich schwächer, einige haben schon damals an einen Sieg der Österreicher und der Deutschen nicht mehr geglaubt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Roth sich schämte, noch in Zivil herumgelaufen zu sein, wobei seine Freunde und Be­kannte (wie z. B. Soma Morgenstern) in schönen Uniformen auf Urlaub nach Wien kamen. Was Roth darüber selbst schrieb? „Als der Krieg ausbrach, verlor ich meine Lektionen, allmählich, der Reihe nach. Die Rechtsanwälte rückten ein, die Frauen wurden übelgelaunt, patriotisch, zeigten eine deutliche Vorliebe für Ver­wundete. Ich meldete mich endlich freiwillig zum 21. Jägerbataillon.”[24] Und seine finanzielle Lage, die auf seine psychische Verfassung sehr stark gewirkt hat, war schon früher nicht besonders gut, so dass er sich bereits vor dem Krieg Gedan­ken darüber gemacht hatte, in die Armee zu gehen. Da er mittellos war und die Möglich­keit einer reichen Heirat, die er ebenso sehr ernsthaft in Erwägung zog, er hatte sogar einen Heiratsvermittler kon­sultiert, außer Frage stand, da er auch keine Stellung hatte, schien ihm der Militärdienst der einzige Ausweg zu sein. Doch er wurde aufgrund seiner Körperkonstitution nicht akzeptiert.