Maximen und Moriziaden - Alex Gfeller - E-Book

Maximen und Moriziaden E-Book

Alex Gfeller

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Beschreibung

Ich nasche halbverfaulte Kirschen und würde sie am liebsten mit mir zusammen im Müll entsorgen, und ich berge meine kargen Schätze, ohne sie wirklich wahrzunehmen oder zumindest an sie zu glauben; ich betreue meine aperen Vorstellungen, von denen ich längst weiß, das sie zu nichts mehr taugen und zu nichts mehr nütze sind, und ich hege und pflege alle meine bescheidenen Wünsche und angsterfüllten Träume, so gut es eben geht, Träume, deren Haltbarkeitsdaten auch längst abgelaufen sind. Was will ich also noch?

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Reichlich spät, schon fast zu spät ist mir eingefallen, dass das Alter, das ich jetzt aufweise, viele unbestreitbare Vorzüge hat, denen ich vorher, also noch bevor ich richtig alt geworden war, umständehalber fast keine Aufmerksamkeit geschenkt habe. Das kommt wahrscheinlich daher, dass ich zuvor keine Zeit dafür gefunden habe, mir Gedanken über das Alter zu machen, und das zeigt bereits deutlich, wie stark die Einschränkungen auf mich eingewirkt haben, denen ich früher ständig und somit pausenlos ausgesetzt war.

Diese Einschränkungen konnten sowohl innerer, als auch äußerer Natur gewesen sein, aber sie waren immer da und plagten mich permanent, verfolgten mich andauernd und foppten mich ständig, den Gepeinigten, wirkten allzeit ätzend auf mich ein, den Geschundenen, waren mir natürlich stets unerwünscht, dem Gejagten, waren zudem äußerst ungebeten und extrem unangenehm und verhielten sich mir gegenüber, dem unfreiwillig Misshandelten und schuldlos Geknechteten, fortwährend gleichbleibend eklig, denn sie verhinderten wirkungsvoll eine Entspanntheit oder eine Gelassenheit, die ich, der Bedrückte, mir damals immer gewünscht, doch nie erreicht hatte.

In Wirklichkeit konnte ich ihnen, also meiner eigenen Entspanntheit und meiner gefragten und stets gesuchten Gelassenheit, gar nicht erst begegnen, weil ich als Arbeitnehmer anderswo und anderswie pausenlos aufs Äußerste eingespannt war und hoffnungslos zwischen Bangen und Hoffen eingeklemmt blieb, zwischen Abscheu und Abschaum und zwischen Rasen und Rennen, wie alle Arbeitnehmer. Das führt mich gleich zur ersten Grundsätzlichkeit, von der ich immer ausgehen muss: Als Lohnabhängiger – und das sind die meisten, also Lohnarbeiter und Lohnarbeiterinnen – stand ich immerzu vor einer glatten, senkrechten und absolut unüberwindbaren Felswand, denn ich musste fremdarbeiten, nur um zu überleben; ich musste mich stets verkaufen und versklaven, nur um einigermaßen durchzukommen, wie man sagt, sei es als Tannlisetzer, Heftliverkäufer, Fabrikarbeiter, Hilfslandvermesser, Last- und Lieferwagenfahrer, Fremdenführer, Kuchenblechreiniger, Fischfiletierer, Zettelzähler, Aushilfsbibliothekar, Klinkenpolierer, Bücherbesprecher, Fließbandarbeiter, Stellvertreter, Wäscheausträger, Platzanweiser, Pfannenputzer, Hilfsspleißer, also Telefonleitungshilfsverleger in Neuquartiere1, Ausstellungshüter, Turnhallen- und Garderobenreiniger, als Golfbällesucher, Dreckschaufler, Gebüsch- und Baumstutzer, Hilfskoch, Segelschiffsanbinder, Skilehrer, Schankhilfe, Putzlumpenentsorger, Schnapsumdruckermaschinist, Billettverkäufer oder auch nur als archäologischer Hilfsausgräber im Sumpf des Seelandes.

Das war das eigentliche Grundproblem, das mich ein Leben lang beschäftigte, denn ich war seit meinem 14. Lebensjahr Maler und Schriftsteller, ohne es zunächst überhaupt zu wissen oder wirklich zur Kenntnis zu nehmen – so selbstverständlich war das Malen und das Schreiben für mich bereits damals geworden. Die so genannte Lebensarbeitszeit, ein richtiges Unwort, war die Ursache für alle meine Unannehmlichkeiten, die ich im Verlaufe meiner besagten und gleichzeitig verhassten Lebensarbeitszeit leider viel gründlicher als jemals zuvor kennenlernen musste. Sie machte mich krank, sie machte mich fertig, sie behelligte mich in einem stark übertriebenen Maße, und sie ließ lange Zeit nicht mehr von mir ab, nämlich exakt so lange, wie ich im Schlamassel der Werktätigkeit steckte, also in der Dramatik der Lohnabhängigkeit, was seine unzweifelhafte Logik hat.

Hinzu kam die bittere Erfahrung, dass mich jegliche Lohnarbeit, also jegliche Unterwerfung immer sofort krank machte; sie blokkierte meine Atemwege, ließ meinen Hals wie bei einer Erwürgung zuschwellen, weil sie mich permanent unterwarf, weil sie mich über alle Maßen einband und weil sie mich ständig demütigte; davon musste ich zunächst mal unbesehen ausgehen. Jegliche Art von Unterwerfung und Unterdrückung und Ausbeutung machte mich immer sofort krank; mich überfiel jeweils gleich die schmerzhafteste Angina mit aller psychosomatischen Macht, die man sich nur vorstellen kann, und zwar auf der Stelle, sei es nun im Lohnarbeitsbereich oder im Militärbereich gewesen, und dessen konnte ich mich nie entziehen, selbst wenn ich gewollt hätte.

Ich lutschte wochenlang schachtelweise das Medikament Mébucaïne, gurgelte dreimal täglich mit Dextromethorphane, denn das war mein psychisches Trauma, das mich fast ein ganzes ein Leben lang begleitete, das war meine Lebenstraumazeit, wenn man so sagen kann, und ich wurde nebenher allmählich zum professionellen Traumatologen.

Ich unterwarf mich gezwungenermaßen immerzu dem Diktat meines jeweiligen Arbeitgebers oder allfälligen Vorgesetzten, der mir eigentlich nicht Arbeit gab, sondern Arbeit nahm, denn es war ja immer ich selber, der Arbeit gab, meistens allerdings nur gegen Bezahlung, wenn auch immer in sehr übersichtlichen Beträgen, denn der Arbeitgeber ist eigentlich der wahre Arbeitnehmer, weil er unsere Arbeit nimmt und uns dafür eine mehr oder weniger lausige Entschädigung gibt, und er nimmt uns damit immer auch gleich, ohne dass wir es zunächst merken und wissen können, unsere eigene Lebenszeit weg, weil uns zunächst die Erfahrung fehlt, dazu auch noch unser einziges Lebensgefühl, so bescheiden es sein mag, also unsere unverzichtbare Lebensfreude, unser wichtiges Lebensglück und dazu unseren ganzen, unauswechselbaren Lebenssinn, was weitaus schlimmer ist als alles andere zusammengenommen, und dazu unterwirft er uns auch noch einer Vielzahl von unangenehmen und meist auch schädlichen Ritualen von Kannibalen, die damit unausweichlich im Zusammenhang stehen, und hindert uns aktiv daran, unser eigenes Leben, unsere eigene Würde und somit auch unsere eigene Welt zu entwickeln, zu führen oder weiterzuführen, immer unter der unausgesprochener Androhung von unübersehbaren Konsequenzen und schlimmen Folgen der desaströsesten Art, versteht sich.

Ich wage hier nicht zu behaupten, dass dieses Konzept gut oder jenes Konzept schlecht gewesen sei; ich verweise nur auf die verkehrte gedankliche Ausgangslage, in der wir alle stecken, denn wir müssen uns, ohne es zu wissen, erst einmal bedingungslos unterwerfen, genau wie beim Militär, bevor wir überhaupt ein wenig aufatmen und weiterschauen können, falls wir dann überhaupt noch aufatmen und weiterschauen können oder aufatmen und weiterschauen wollen, versteht sich, und wenn ich somit heute mein ganzes Leben zu überblicken versuche, was ich inzwischen ohne zu schummeln freihändig und freimütig und erstaunlich freizügig und freigebig machen kann, wie Sie anhand dieses kleinen Textes ersehen können, nur weil ich heute mein Leben bereits zu großen Teilen hinter mir habe, stelle ich, grob gesagt, drei Lebensphasen fest:

1. die Aufweck- und Ausbildungsphase (ca. 25 Jahre)

2. die Arbeitnehmerphase (ca. 25 Jahre) und die

3. die Kunstphase (ca. 25 Jahre)

Oder, wenn Sie so wollen, in der Eishokkeysprache gesprochen

das erste Drittel

das zweite Drittel und

das dritte Drittel

2

wobei jedes Drittel etwa 25 Jahren umfasst, grob bemessen. Die erste Phase, das erste Drittel meines Lebens, also etwa die ersten 25 Jahre, waren von meiner persönlichen Entwicklung und Ausbildung geprägt, und ohne vorerst in die Einzelheiten gehen zu wollen, kann ich einerseits bestätigen, dass ich immer mit Leib, Leben und Seele und Willen und Kraft und Saft und Glauben dabei war, bei dieser meiner eigenen Entwicklung und Ausbildung, denn mich interessierte damals schon von klein auf rundweg alles, was mir in der ersten Phase, also im ersten Drittel meines jungen Lebens gezeigt und beigebracht wurde, selbst das, was ich zunächst gar nicht richtig verstand, was ich also zunächst gar nicht benötigte oder überblickte und was mir lange Zeit fremd oder fremdartig geblieben war, denn ich sog unbesehen alles ungefiltert in mich auf, ohne das Gehörte, das Gesehene und das Gelernte überhaupt jemals zu beurteilen oder überhaupt beurteilen zu können, und somit nie wusste, welcher Art und welcher Natur das alles war, was in einem riesigen Durcheinander wie eine mächtige, zuweilen bedrohliche Schlammlawine auf mich zukam, weil mir natürlich nebst der nötigen Distanz auch alle Voraussetzungen und Vergleichsmöglichkeiten fehlten, oft auch die verlässlichen Informationen, nebst dem Sprachverständnis, zumal ich nebenher, wie alle Jugendlichen, unter ständiger, meist ungebetener Beeinflussung von außen und von weit außen stand; ich nenne hier nur die Stichworte Fussball, Zigaretten und später Mädchen. Hier in der Schweiz war es aber eindeutig und ausschließlich und prägnant genug die rechtsbürgerliche Beeinflussung. Sie war immer da in Form von Einschränkungen und Verboten, und sie war schrecklich.

Die sogenannte bürgerliche Welt wurde mir nämlich eindrücklich, ausdrücklich und nachdrücklich als die einzig richtige, als die einzig wahre und als die einzig brauchbare Welt dargestellt und sehr intensiv nähergebracht, ohne dass mir jemals gesagt wurde, wer davon profitiert, und alles andere wurde mir einfach verschwiegen, wurde ausgelassen, wurde ausgeblendet, wurde weggewischt und abgetischt oder sogar ausdrücklich schlecht gemacht. Das dabei entstandene ständige Verschweigen und Vertuschen und Verwedeln und Verwischen selber war wahrscheinlich die eindrücklichste und vor allem die wirkungsvollste Charakteristik dieser ausschließlich bürgerlich geprägten Propagandawelt der bunten Helvetia-Briefmarken, der schweizerischen Heldengeschichten und der schweizer Schokoladebildchen.

Ich hätte damals zum Beispiel gerne etwas über den Zweiten Weltkrieg erfahren, der ja noch gar nicht lange zurücklag, doch es gab weit und breit niemanden, der oder die mir darüber Auskuft geben wollte oder Auskunft geben konnte, obwohl die Erwachsenen damals ja alles Geschehen selber wenigstens von Weitem miterlebt hatten – so meine biedere Vorstellung. Der ganze Zweite Weltkrieg blieb somit jahrelang ein eisernes Tabu, und ich brauchte lange um herauszufinden, warum das so war, denn es war nicht schön, zu den Verlierern gezählt zu werden.3 Über die Alten Eidgenossen indes erhielt ich jede Menge blumiger Auskünfte, so dass in meiner Vorstellung die Alten Eidgenossen zu wahren Übermenschen hochstilisiert wurden. Sie hatten schon sehr früh alles getan, um «unsere» Freiheit zu verteidigen, auch zu Zeiten, als man noch gar nicht wissen konnte, was Freiheit war und als es noch gar keine Schweiz gab, so wie auch ich damals noch gar nicht verstehen konnte, was Freiheit ist oder was damit gemeint sein konnte.

Immerhin bescherte mir das erste Drittel meines Lebens eine sehr umfangreiche und, soweit ich das heute beurteilen kann, eine recht gute und solide Ausbildung, und immerhin hielt es mich von jeglichem Krieg fern, wenn man den täglichen Überlebens- und Existenzkampf der einfachen Leute, wie wir sie waren, nicht hinzuzählt und mitrechnet, und immerhin ließ mir das erste Drittel den Zugang zu einigen wenigen Auskünften und Informationen, die mir meine damalige, allerdings ziemlich verklemmte Welt des Kalten Krieges bescherte, auch wenn sie, wie gesagt, in nahezu allen Fällen ausgesprochen bürgerlich und nur bürgerlich geprägt war, also sehr einseitig und gewiss nicht meiner proletarischen Art und Tendenz entsprechend. Es gab nichts anderes.

Deshalb hatte ich für eine viel zu lange Zeit eine viel zu stark eingeschränkte Vorstellung von dieser Welt; ich wusste in Wahrheit eigentlich nichts von dieser Welt und blieb viel zu lange praktisch ahnungslos, übrigens auch und vor allem der bürgerlichen Welt gegenüber, also genau so, wie man möglichst alle Leute haben wollte: ahnungslos. Lange war ich zum Beispiel der festen Überzeugung, dass Käse nur in der Schweiz hergestellt werde, genau wie Schokolade und Armbanduhren, und dass es sich bei den drei Exportschlagern exklusiv um rein schweizerische Produkte handle, die nirgendwo sonst hergestellt wurden, oder die Vorstellung, dass es nur in der Schweiz Berge gebe, weil man ja ständig nur von den famosen schweizer Bergen sprach, die diese unsere schweizer Freiheit angeblich verteidigen – wie auch immer. Dass aber ausgerechnet der höchste Berg der Alpen ausgerechnet in Frankreich stand, musste einem peinlichen Missgeschick zugeschrieben werden, vermutete ich damals. Da hatten die Alten Eidgenossen offenbar gepfuscht, hatten eindeutig zu wenig gründlich gearbeitet, hatten den Mont Blanc einfach übersehen, nahm ich als meine eigene Erklärung an.4

So verhielt es sich auch mit den Uhren, dem Käse und der Schokolade, denn als Ergebnis all dieser nationalen Beeinflussungen blieb mein biederes Weltbild leider viel zu lange beschränkt und viel zu schweizzentriert, das heißt, ich dachte alles Geschehen ausschließlich von der kleinen, unversehrten Schweiz her und sah alle Ereignisse nur aus der Sicht der Schweiz und der Schweizer, denn ich kannte gar nichts anderes, und ich fürchte, dass dies heute noch bei sehr vielen Schweizern und Schweizerinnen der Fall ist, denn anders kann ich mir diese hinterwäldlerische Rückständigkeit, wie sie sich z.B. bei der Schweizerischen Volkspartei äußert, gar nicht erklären.

Lange Zeit war ich tatsächlich der Meinung, dass diese ausgesprochen schweizzentrierte Sicht auf die Welt die einzige Weltsicht sei, die es gebe, auf die es ankomme und die somit zähle, und es dauerte viel zu lange, um herausfinden zu können, dass es noch ganz andere Weltsichten gab, noch ganz andere Ansichten, auf Grund von ganz anderen Überlegungen und Erfahrungen, von denen man mir wohlweislich nie etwas erzählt hatte. Ich weiß nicht, warum das damals so war; ich verdächtige eine stark eingeschränkte Informationsqualität, obschon man mir immer mit hoch erhobenem Zeigefinger bedeutet hatte, die ganze Welt höre heimlich Radio Beromünster, nur um sich über das Weltgeschehen zu informieren.

Doch diese an sich durchaus interessanten Zeiten rund um die Landesausstellung von 1964 sind heute eindeutig vorbei, denn eine unglaubliche Vielzahl von ganz anderen obskuren Weltsichten, absurden Behauptungen, kranken Ansichten und perversen Anschauungen plagen heute die Heranwachsenden, und die Jugend von heute ist, inmitten von all diesem wenig informativen Überfluss von Blödsinn, Unsinn und Starrsinn steckend, der heute die mediale Welt beherrscht, nicht zu beneiden, denn die Zahl der objektiven Gefahren und Gefährlichkeiten hat sich auf geradezu unvorstellbare Weise vervielfältigt und vervielfacht.

Das ist allerdings längst nicht mehr meine Welt, muss ich dazu sagen, und ich verzichte heute gerne auf sie, denn sie geht mich nichts mehr an. Deshalb gehe ich hier nicht näher auf sie ein, weder auf die klammen Fünfziger, noch auf die abgefahrenen Sechziger, auch nicht auf die wilden Siebziger oder auf die abgeduschten Achtziger, noch auf die bereits völlig demolierten Neunziger. Das sollen heute bitte andere machen; ich habe meinen Teil dazu mit meinen frühen Büchern geleistet.5

Wie gesagt, die ersten 25 Jahre meines Daseins waren die überschaubare Welt des Kalten Krieges, immerzu eingeklemmt zwischen Gut und Böse, wobei wir natürlich zu unserer Erleichterung immer zu den Guten gezählt wurden und gottseidank auf der richtigen Seite standen, so dass wir zwischen Recht und Unrecht oder zwischen richtig und falsch angemessen unterscheiden konnten, weil es ja nur diese zwei Seiten gab, wobei wir das Recht und das Richtige natürlich immer auf unserer Seite gepachtet hatten, versteht sich, oder zwischen gut und schlecht, wenn Sie so wollen, weil wir die Guten und somit auf der guten Seite befindlich waren, und die anderen, die Schlechten, auf der schlechten Seite der Welt, nur weil das einfach zu verstehen war und alle Konsumenten angemessen zu befriedigen schien.6

Die strikte Unterscheidung zwischen richtig und falsch, also zwischen gut und böse, begegnete uns täglich und überall, wobei immer und überall nicht gleich ganz klar war, was gut und was böse war. Wir waren zwar die Guten; die anderen waren die Bösen. Was also richtig und was falsch war; das wusste ich somit von Kindsbeinen an. Ich lief 1956 als Neunjähriger wochenlang mit einer aufgeklebten Ungarnflagge an der Brust herum, weil das damals alle so machten, die etwas auf sich hielten, bis mir eines Tages eine Nachbarin sagte, ich solle doch aufhören mit dem Blödsinn. Ich wusste zwar nie recht, was das war, «Ungarn», aber wir waren jedenfalls und gottseidank auf der richtigen Seite, und viele andere waren leider auf der falschen Seite, doch ich wiederhole mich: Ich sage nicht, dass dies gut oder schlecht war, oder was überhaupt gut oder schlecht war, ich verweise nur auf die gedanklich recht schlichte und ziemlich einfache Ausgangslage in einem festgemauerten, dualen Weltbild, in dem wir in unserer Kindheit und Jugend alle steckten – verglichen mit all den Komplexitäten, Obszönitäten und Skurrilitäten, mit all den Katastrophen, Dramen und komplizierten Konflikten von heute, die eine ganze Welt beherrschen und plagen und terrorisieren – oder zumindest ein unbeständiges Europa, das sich, wie eigentlich immer, in einem schwindelerregenden Wandel befindet und sich heute wieder einmal vorwiegend zu fürchten scheint.

Die Guten waren also wir, und die Bösen waren die andern – und zwar fast alle andern, zumindest die auf der anderen Seite des eisernen Vorhanges, ohne dabei große Unterschiede zu machen, klare Unterscheidungen zu treffen, intelligente Unterschiede zu finden oder geschickte Unterteilungen zu machen.7