Mein gestohlener Sohn - Anne Gruner - E-Book

Mein gestohlener Sohn E-Book

Anne Gruner

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Beschreibung

Wie einfach ist es, einer liebevollen Mutter ihr Kind zu nehmen, wenn der Vater perfide und rücksichtslos genug vorgeht? Wie entscheiden zuständige Stellen, wenn sie im Kindesstreit mit haltlosen Unwahrheiten über die Mutter konfrontiert werden. Die schockierende Wahrheit über die Beeinflussbarkeit deutscher Behörden und die Folgen für eine verzweifelt kämpfende Mutter. Emotional und bewegend berichtet Anne Gruner über ihre traumatischen Erfahrungen, die ihren Sohn nahmen und ihren Ruf für immer zerstörten.

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Für meinen Sohn

Die freie Handlung dieser Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie mit Institutionen können auftreten, sind jedoch nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Macht der Hormone

Die Schuld der anderen

Die Oberglucke und ihre giftigen Nattern

Gegenwart und Vergangenheit

Erfüllung eines (Alb-)Traums

Freude, Fehler und Familie

Alles dreht sich – natürlich um Ansgar

Ende und die Hoffnung auf einen Neuanfang

Eltern, die verurteilen

Tausend kleine Nadelstiche

Das Tauziehen beginnt

Der Beginn einer bizarren Tragödie

Zweiter Akt

Kindliche Zerrissenheit

Veränderungen mit Folgen

Abschied

Unter dringendem Tatverdacht

Alle gegen eine

Die Willkür der Beratungsstelle zu sexueller Gewalt

Stillstand

Aufgabe und Neuanfang

Epilog

Macht der Hormone

Begonnen hatte alles an einem dieser lauen Sommerabende, an dem es nichts auf der Welt zu geben schien, dass die perfekte Stimmung hätte beeinträchtigen können. Inzwischen kann ich mich nicht mehr erinnern, ob ich ein breites Lächeln auf meinem Gesicht trug, aber ich bin mir sicher, dass es so war. Was hätte auch dagegensprechen sollen? Schließlich schien die Sonne, mein Leben verlief in die Richtung, die ich mir immer gewünscht hatte und, ja, zu Hause wartete ein wunderbarer Mann auf mich. Wie hätte ich da ahnen können, dass ich, gemeinsam mit meiner Freundin Maria, die Sporttasche locker über die Schulter geschwungen, beim Betreten des Fitnessstudios direkt in den Vorhof der Hölle eingedrungen war, von wo aus mein Leben aus allen Bahnen katapultiert werden sollte?

Mein Blick wanderte über die verschiedenen Übungsgeräte, Ergometer, Laufbänder und all die anderen Folterinstrumente, die nur darauf warteten, mich und meine Figur in Form zu halten und vielleicht sogar noch visuell aufzuwerten. Schließlich, so hatte ich mir vor einigen Wochen gesagt, muss man etwas dafür tun, wenn man fit und in weiblicher Form bleiben wollte. Mit 25 Jahren war ich schließlich auch nicht mehr die Allerjüngste. Also hatte ich unterschrieben – mit allen guten Vorsätzen, die man eben so hat, wenn man sich für ein Leben mit regelmäßigem Sport entscheidet.

An der Rezeption wurde ich freundlich begrüßt und erhielt letzte Instruktionen, bevor ich wirklich loslegen konnte. Natürlich war ich ein wenig aufgeregt, so, wie man immer aufgeregt ist, wenn man etwas Neues beginnt. Nur nicht zu unbeholfen anstellen, redete ich mir ein, während ich mich umzog. Ein letzter Blick in den Spiegel, dann ging es raus ins Studio, wo ich bereits die vielen formschönen Körper sah, die sich da schweißtreibend quälten.

Als ich mich unter Anleitung eines Personal Trainers langsam sicherer fühlte, wurde mir schnell bewusst, dass ich genau das gefunden hatte, was ich in den letzten Wochen vermisst hatte. Vermisst, trotzdem mein Leben doch eigentlich perfekt verlief. Oder zumindest fast, denn ich sehnte mich zu dieser Zeit nach meinen Freund Paul, der zwar körperlich anwesend war, geistig jedoch in einem anderen Universum schwebte. Kein Wunder, denn tagtäglich saß er grübelnd über seinen Büchern, um mit seiner Doktorarbeit voranzukommen. Manchmal, und das wurde mir nach und nach bewusst, fühlte ich mich, als wären wir Bruder und Schwester.

Paul und ich waren seit viereinhalb Jahren ein Paar. Unsere Be - ziehung verlief, abgesehen von den üblichen Aufs und Abs, ausgesprochen glücklich. Ich hatte nie Zweifel an uns, denn wir gehörten zusammen. Und doch sollte ich mich Jahre später fragen, ob nicht tief in mir die Frage geschlummert hatte, ob es doch et - was Besseres geben würde. Etwas Aufregenderes, etwas Außergewöhnliches, etwas, an das man bisher gar nicht zu denken gewagt hatte. Anders gesagt, es war ein Zweifel in mir. Die Angst davor, mit 25 Jahren zu wissen, dass es das jetzt war mit der Suche nach dem perfekten Lebenspartner.

Wie auch immer, Paul und ich führten eine harmonische Beziehung und eigentlich stimmte alles. Die Aussichten auf unsere gemeinsame Zukunft waren ebenfalls hervorragend. Schließlich würde Paul bald sein Studium beendet haben und dann die Früchte der vielen Jahre des Lernens ernten können. Bis dahin könnte ich meine Zeit ja auch damit verbringen, meinen Körper so zu stählen, dass Heidi Klum neben mir wie eine unförmige Bratwurst aussieht.

Mit dieser Überzeugung im Hinterkopf besuchte ich das Fitnessstudio nun immer, wenn es mir möglich war. Da Paul ohnehin in seine Doktorarbeit vertieft war, kam ihm die häusliche Ruhe während meiner Trainingszeiten sicherlich entgegen.

Irgendwann, es waren inzwischen beinahe drei Monate seit meinem ersten Besuch vergangen, hatten die Verantwortlichen ein Sommerfest geplant. Eine schöne Idee, denn die Feier gab Maria und mir nicht nur die Möglichkeit, andere Mitglieder in lockerer Atmosphäre kennenzulernen, sondern auch stolz die Fortschritte zu präsentieren, die der eigene Körper durch die Wochen knallharter Schinderei inzwischen aufzuweisen hatte.

Der Abend verlief ausgesprochen angenehm. Es gab die verschiedensten Salate (sehr kalorienbewusst), vom Grill leckere Steaks und Würstchen (ganz und gar nicht gut für die Figur), dazu Bier und Sekt, soviel man wollte (das war jetzt auch egal). Wir trafen viele nette Menschen, die sich ebenso wie wir dem Fitnesssport verschrieben hatten. Irgendwann am Abend standen wir auch mit einem der Einweiser des Studios gemeinsam an einem Stehtisch. Sein Name war Ansgar und er war ein wirklicher netter Kerl, lustig, schlagfertig und aufgeschlossen. Wir plauderten, lachten und amüsierten uns über diejenigen, die ihren Besuch im Fitnessstudio mit zu viel Ernst angingen.

Inzwischen war es dunkel geworden und langsam kroch die Kühle des Abends über meine frischrasierten Beine. Wir beschlossen, in die untere Etage zu gehen, dorthin, wo im Normalfall die verschiedenen Kurse des Studios stattfanden: Bauch-Beine-Po, Step-Aerobic zu Jennifer Lopez Song »Let`s get loud«, Fatburning und wie sie alle hießen. Hier gab es gemütliche Sitzgelegenheiten und genau auf diese hatten wir es abgesehen. Ohnehin hatten sich die meisten Gäste bereits dorthin verzogen, weswegen es an der Zeit war, dass nun auch wir folgten. Ansgar ging als Erster, ich kurz dahinter – rechts und links ein Glas Bier in der Hand. Was nun folgte, war ein typischer Anne-Auftritt. Ich segelte die Treppen hinunter und landete unsanft auf meinen Knien. Natürlich vollbrachte ich dieses Kunststück nicht leise und unauffällig, sondern dermaßen geräuschvoll, dass sich trotz lauter Musik und noch lauteren Unterhaltungen jeder Kopf sich zu mir drehte. Mein ausgesprochen peinlicher Stunt sorgte unter den Anwesenden jedoch nicht für ein allgemeines Bedauern geschweige denn zahlreiche Angebote, mir wieder auf die Beine zu helfen, sondern für allgemeines Lachen und einen anschließenden Applaus. Das basierte darauf, dass ich es irgendwie geschafft hatte, unter Einsatz meines Lebens die zwei Biergläser in meiner Hand zu retten – ohne dabei etwas zu verschütten. So konnte ich mir den Rest des Abends den stolzen Titel »Retterin des Bieres« ans Revers heften. Vor allem meine aufgeschlagenen Knie, die sich innerhalb kürzester Zeit in diversen Blautönen einfärbten, unterstrichen eindrucksvoll, dass ich diesen Titel voll und ganz verdient hatte.

Das Eis war gebrochen und wir lernten nun auch noch die restlichen Personen des Studios kennen, mit denen wir an diesem Abend bisher noch keinen Kontakt gehabt hatten. Aber am liebsten unterhielt ich mich mit Ansgar. Er war ein wirklich netter Kerl, gar keiner von denen, die nur Eisen, Anabolika und stundenlange Trainingseinheiten im Kopf hatten. Er schien offen und auf eine unverfängliche Art auch an meiner Person interessiert zu sein. Zugegeben, das schmeichelte mir. Unwillkürlich hatte ich ein Bild im Kopf, wie ihn die übrigen Damen in diesem Studio heimlich anschmachteten. Zurecht, denn er erfüllte jedes positive Klischee eines attraktiven Fitnessstudio-Mitarbeiters.

Wir feierten, tranken, lachten, und einige Male berührten sich Ansgars und meine Hand zufällig. Ich spürte, dass ich in den letzten Wochen ein solches Gefühl der Nähe vermisst hatte. Eine Nähe, die mir Paul nicht gegeben hatte. Spät in der Nacht, als einige Gäste bereits nach Hause gegangen waren, sah Ansgar mich an und legte seine Hände auf meine Hüften. Ich war wie elektrisiert und eine Hitzewelle breitete sich augenblicklich durch meinen gesamten Körper aus. Ich schloss die Augen und spürte seinen Atem. Wir küssten uns. Mein Kopf war gedankenleer. Es gab in diesem Moment nichts außer ihn und mich. Die Welt hörte auf, sich zu drehen. Und zwar so lange, bis wir uns irgendwann wieder voneinander lösten. Ich sah Ansgar an und wusste nichts zu sagen.

Auf dem Weg nach Hause schlugen meine Gedanken wilde Kapriolen. Was war da eben geschehen? Und warum war es gerade mir passiert? Ich war von Natur aus ehrlich und das Letzte, was mir jemals in den Sinn gekommen wäre, war es, jemanden zu hintergehen. Vor allem nicht Paul. Und doch hatte ich es grade getan.

Als ich nach Hause kam, erzählte ich Paul von dem Kuss. Ohne jegliche Umschweife. Ich spürte, dass ich mich in Ansgar verliebt hatte. Das war die einzige Sache, die ich für mich behielt. Paul starrte mich an, seine Gesichtsfarbe verlor sich in einem fahlen Weiß und er ließ mich wortlos sitzen. Sein Schweigen hielt an, drei ganze Tage lang. Und ich konnte es ihm nicht verdenken.

Nach dieser endlos erscheinenden Zeit der Stille setzten wir uns noch einmal zusammen, ein Versuch, das Erlebte in sachliche Worte zu fassen. Ich selbst war verwirrt, konnte meine Gefühle nicht einordnen, nicht zwischen dem Alt-Erprobten und dem neuen Aufregendem unterscheiden. Wir beschlossen, es doch noch einmal zu versuchen. Eine vernünftige Entscheidung. Oder erwachsen. Schon komisch, denn eigentlich gab es nichts in unserer Beziehung, was hätte verbessert werden müssen. Allerdings stand für mich der Alltag dem aufregenden Gefühl entgegen, mit Ansgar jemanden getroffen zu haben, der anziehende Aufregung in mein gewohntes Leben gebracht hatte.

Der Versuch, die Beziehung zwischen Paul und mir zu retten, scheiterte. So sehr ich mich auch bemühte, so wenig konnte ich mich gegen meine Gefühle wehren. Ich hatte mich Hals über Kopf verliebt und konnte dies auch nicht überspielen. Und so zog ich aus unserer gemeinsamen Wohnung aus, ließ Paul bei seiner Doktorarbeit und mit all unseren gemeinsamen Erinnerungen zurück.

Jetzt, wo die Fronten auch offiziell geklärt waren, verbrachten Ansgar und ich viel Zeit miteinander. Wir genossen es, uns nicht verstecken zu müssen und niemandem etwas zu verheimlichen. Jeder Kuss in der Öffentlichkeit war erlaubt, denn wir waren ein Paar. Nach kurzer Zeit teilten wir dies auch unserem Umfeld mit, unseren Freunden und Bekannten, sodass jeder wusste, dass sich da wohl zwei zwar nicht gesucht, trotzdem aber gefunden hatten.

Natürlich stellen sich manche Dinge erst im Laufe der Zeit heraus, wenn man nach und nach die rosarote Brille abnimmt und seine Beziehung mit der angebrachten Nüchternheit betrachtet. Das ist dann der Moment, wenn man merkt, dass der Partner die Socken doch oftmals einfach auf dem Boden liegen lässt, dass die Stunden vor dem Fernseher so langsam überhandnehmen oder dass man plötzlich gar nicht mehr so umgarnt wird, wie es in den ersten Wochen der Fall war. Bei uns war das anders. Ansgar überraschte mich oft und gerne. Zwar war mein Kopf voll mit anderen Dingen, aber er schaffte es immer wieder, mich mit kleinen oder größeren Nettigkeiten zu erfreuen. So gelang es ihm auch, trotzdem ich Vollzeit arbeitete, dreimal wöchentlich die Abendschule für den Bilanzbuchhalter und am Wochenende die dazugehörige Lerngruppe regelmäßig besuchte, mich mit der Einladung zu einem Musical-Besuch in Hamburg aus meinem Alltagstrott zu entführen. Wir trafen uns mit Freunden, waren im Biergarten, im Kino. Nach der ersten von zwei Prüfungen meiner Bilanzbuchhalter-Weiterbildung holte mich Ansgar ab und wir fuhren auf eine deutsche Nordseeinsel. Er wollte, dass ich mich erhole. Und gleichzeitig wollte er mir den Platz zeigen, an dem er schon als Kind mit seiner Familie Urlaub gemacht hatte. Wie hätte ich ahnen können, dass ich bereits den ersten Fuß in einen mich verschlingenden Strudel gesetzt hatte? Zu dieser Zeit sah ich nur, wie er sich um mich bemühte. Denn wenn ein Mann so etwas für mich tut, dann habe ich mit meiner Wahl ganz gewiss alles richtig gemacht, war ich überzeugt.

Es gab Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dass er zu gut für mich war. Momente, in denen er mich und meine Eigenheiten ertragen musste. So führte die berufliche Beanspruchung, der ich mich selbst verschrieben hatte, dazu, dass ich häufig früh zu Bett ging, wenn die Anstrengungen des Tages wieder einmal ihren Tribut forderten. Ich schlief, weil mein Körper wieder auftanken musste, um für die Strapazen des folgenden Tages Kraft zu tanken. Doch irgendwann nachts wachte ich auf. Es waren Ansgars Berührungen, mit denen er mich zärtlich liebkoste. Noch verschlafen, aber im vollen Bewusstsein, dass seine Finger über meine Haut strichen, fuhr ich ihn an. Ich sagte ihm eindeutig, dass ich dies nicht wolle und er es sofort unterlassen soll. Vollkommen überrascht über meine heftige Reaktion ließ er von mir ab. Wie hätte er auch wissen sollen, was die wirklichen Gründe für meine Ablehnung waren?

Einige Monate waren in unserer Beziehung vergangen und ich fühlte mich frei, unbekümmert und glücklich. Eines Tages fragte mich Ansgar, ob ich ihn heiraten wolle. Ich war überrascht, immerhin waren wir doch noch nicht einmal ein Jahr zusammen. So sehr ich seinen Antrag als schmeichelnd empfand, so wollte ich doch abwarten und der Beziehung die Zeit geben, die sie benötigte. Es lag auch kein Grund zur Eile vor, denn die Zukunft stand uns offen und einen solchen Schritt könnten wir später immer noch gehen. Außerdem hielt ich es für sinnvoll, dass Ansgar sich erst einmal auf seine Ausbildung konzentrieren solle, um diese bestmöglich bestehen zu können. Die unweigerlich auftretenden Vorbereitungen auf ein Hochzeitsfest hätten ihn unter Garantie davon abgelenkt. Trotzdem, es war schön, dass er sich offensichtlich vorstellen konnte, den Rest seines Lebens mit mir zu verbringen. Aber wir standen ja noch am Anfang. Ich konnte nicht ahnen, dass er nie wieder von sich aus fragen würde.

Die Schuld der anderen

Ansgar hatte inzwischen seinen Job im Fitnessstudio aufgegeben. Das war keine große Überraschung, hatte er doch diese Beschäftigung nur neben seiner Ausbildung zum Industrie- und Handelskaufmann ausgeführt und außerdem war er auf das hier verdiente Geld nicht zwingend angewiesen. Die Lehre hatte ihm sein Vater, selbst Betriebsrat in dem Unternehmen, ermöglicht. Für mich war seine Entscheidung absolut nachvollziehbar, denn ein Leben als Einweiser in einem Fitnessstudio war nur schwer vorzustellen und, zugegeben, ihn nicht mehr täglich zwischen den interessierten Frauen an den Fitnessgeräten zu wissen, beruhigte mich zusätzlich. Außerdem, so redete ich mir ein, sei es ja durchaus sinnvoll, das eigene Leben auf solide Füße zu stellen, wenn man offensichtlich den Wunsch hat, sich zu verheiraten – früher oder später.

Was mir etwas Sorge bereitete, war, dass Ansgar keinerlei Einsatz an den Tag legte, als die Abschlussprüfung seiner Ausbildung bedrohlich naherückte. Zwar wusste ich inzwischen, dass er sein Leben gerne im Laissez-faire-Stil führte, aber nach meinem Verständnis war es durchaus ein guter Zeitpunkt, hin und wieder für die Prüfung zu lernen. Scheinbar stand ich mit dieser Über - zeugung jedoch allein. Als ich ihn eines Abends darauf hinwies, antwortete er kurz:

»Lernen? Ach, nein. Und diese Ausbildung wollte ich ja auch gar nicht machen. Du weißt doch, dass ich lieber an Autos rumschrauben wollte.«

»Warum hast Du Dich dann nicht woanders beworben?«

»Du kennst doch meine Mutter. Sie wollte nun mal nicht, dass ich mir die Hände bei der Arbeit schmutzig mache.«

Ich dachte kurz nach und legte dann meinen Arm um ihn. »Mach diese Ausbildung doch jetzt einfach vernünftig zu Ende. Dann ist Deine Mutter zufrieden. Danach kannst Du ja eine andere Ausbildung anschließen, die Dir besser gefällt.«

Dieser Vorschlag war durchweg unterstützend gemeint, hatte jedoch zur Folge, dass Ansgar so reagierte, wie er es meistens tat: Er verließ Situationen, indem er andere für sein Dilemma verantwortlich machte. Und so wiegelte er ab:

»Noch eine Ausbildung? Kommt nicht infrage. Ich will Geld für Dich verdienen. Und das richtig!«

In diesem Moment nahm ich diese Aussage noch wahr, als würden sich die Gedanken meines Partners einzig und allein um uns drehen. Irgendwie rührend, auch wenn es nicht nötig war, denn schließlich verdiente ich selbst ein durchaus gutes Gehalt. Und das sollte Ansgar eigentlich auch wissen. Aber nun gut, der Stolz der Männer ist für eine Frau manchmal nur schwer nachzuvollziehen … Ansgar beendete die Ausbildung mit der Gesamtnote Vier. Sein Arbeitgeber verzichtete darauf, ihn nach seiner Lehre zu übernehmen.

Natürlich war Ansgar ernüchtert. Er war darüber enttäuscht, dass man ihm (nach seinem Dafürhalten) bei der Prüfung zu schlecht bewertet und im Nachhinein keine Stelle angeboten hatte. Nach seiner Überzeugung hätte er spielend die eine oder andere verantwortliche Führungsposition bekleiden können. Es dauerte nicht lange, da wich diese Überzeugung jedoch einer neuen Einsicht: Ansgar wollte jetzt erst recht viel Geld verdienen! Und das nicht im üblichen Rahmen, sondern weit darüber hinaus. Wenn er schon seine Arbeitskraft zur Verfügung stellen würde, dann nur, wenn es dabei entsprechend honoriert werden würde. Und dies, davon war er felsenfest überzeugt, wäre am leichtesten im Vertrieb möglich.

Nun bekleidete ich nicht gerne die Position der skeptischen Partnerin, fühlte mich in diesem Moment aber doch dazu veranlasst, etwas zu den hehren Plänen meines Partners zu sagen. Er tat jedoch meine Warnungen recht unbeeindruckt ab und wies noch einmal darauf hin, dass der Vertrieb sowohl der einfachste als auch die sicherste Methode wäre, um sich mit wenig Aufwand die Taschen bestmöglich füllen zu können. Okay, er würde seien Weg schon gehen, dachte ich mir, und letztendlich war es ja auch seine persönliche Entscheidung. Schließlich waren wir ja nicht verheiratet.

Eines Tages hatte ich mich mit Astrid verabredet. Sie war die Frau von Wolfgang, dem besten Freund Ansgars. Wir hatten uns bereits bei unserem Kennenlernen ausgesprochen gut verstanden, nicht nur, weil wir als die beiden »Anhängsel« der seit Jahren verbundenen Haudegen zusehen mussten, wie wir den ausufernden Männergesprächen Paroli bieten konnten. Seitdem hatte sich eine vertrauensvolle Freundschaft zwischen uns entwickelt und wir genossen es, wenn wir Zeit miteinander verbringen konnten.

Wie es bei Gesprächen unter Frauen üblich ist, kommt irgendwann auch das Thema »Beziehung« auf. Wir bildeten da keine Ausnahme. Ich erzählte Astrid von Ansgars zukünftigen Arbeitsplänen, ohne dabei jedoch meine Bedenken auszusprechen. Mit einem Mal schaute sie mich sehr ernst an, legte eine Hand auf mein Bein, und sagte:

»Lass bloß die Finger von dem.«

Wie bitte? Da saß mir die Frau seines besten Freundes gegenüber und äußerte so etwas? Selbst als einige Sekunden des Schweigens verstrichen waren, blieb ihr Blick fest auf mich gerichtet. Ein untrügliches Zeichen, dass sie das eben Gesagte ernst gemeint hatte. Aber warum? Was bewog sie dazu, mich zu warnen? Wusste sie durch Wolfgang etwas, was ich nicht wusste?

Ich dachte mir: »Wenn er nicht der Richtige ist, wer will mich dann überhaupt noch?«

Bei mir blieb ein ausgesprochen flaues Gefühl in der Magengrube zurück und mir wurde klar, dass ich in der Zeit unserer Beziehung mir selbst eigentlich kaum Momente geschaffen hatte, in denen ich hätte reflektieren können. Vielleicht war dies eben gerade der offene Hinweis darauf, dass es an der Zeit war, dies endlich einmal zu tun.

Astrids Warnung vergaß ich schneller, als dass sie diese ausgesprochen hatte. Schließlich musste das Leben weitergehen und dabei, das verrät jeder Psychologie-Ratgeber, hilft ein offener Blick nach vorne, gepaart mit einer positiven Lebenseinstellung. Außerdem können Freundinnen auch einmal daneben liegen. Apropos Freundschaften: Thiemo und Sandra, ein weiteres Pärchen, mit dem wir uns gut verstanden, hatten uns dazu eingeladen, an einer gemeinschaftlichen Kochgruppe teilzunehmen. Dies mag sich im ersten Moment ein wenig absonderlich anhören, hatte aber durchaus seinen Reiz und führte zu diversen Treffen, bei denen wir sehr schöne Abende verbrachten. Die Grundidee hinter dieser Gruppe war es, in wechselnder Reihenfolge eins der teilnehmenden Paare zu besuchen, dass an diesem Abend für seine Gäste kochte.

An einem dieser Abende fuhren wir mit gemischten Gefühlen zu unseren Gastgebern. Auf der einen Seite freuten wir uns auf das Essen und noch viel mehr auf die netten Menschen, mit denen wir Zeit verbringen würden. Auf der anderen Seite hatte Ansgar vor wenigen Tagen wieder einmal seinen Job gekündigt, weil ihm nicht gefallen hatte, wie seine Kollegen seine Leistung wertschätzten. »Ich habe gekündigt, so `nen Scheiß mache ich nicht mit. Ein Kollege hat mich angeschissen«, erklärte Ansgar lapidar.

Okay, »angeschissen« ist ein dehnbarer Begriff. Deshalb forschte ich weiter, ganz darauf bedacht, eventuell lauernde Fettnäpfchen sicher zu umgehen.

»Was ist denn passiert?«

Ansgar behauptete, dass sein Verständnis einer Vertriebstätigkeit im Innendienst und eines menschenwürdigen Arbeitsplatzes sei, dass er bei Geschäftsöffnung um zehn Uhr auch erst um Punkt zehn den Laden aufschließen müsse. Vorher wäre doch ohnehin kein Kunde zugegen. Die täglichen Vorbereitungen für das Funktionieren eines Geschäftes betrachtete Ansgar als unnötig und als ich versuchte, dieses Thema mit ihm zu besprechen, winkte er nur ab.

»Mach Dich mal locker und sieh das nicht immer alles so eng. Die Kunden können doch einen Kaffee trinken, während sie warten.« Als wenn diese nichts Besseres zu tun hätten.

An diesem Tag hatte Ansgar, so erzählte er aufgebracht, einen Anruf seines Unternehmens erhalten, in dem seine diesbezügliche Einstellung gerügt worden war. Das wiederum hatte ihn so erbost, dass er sich mit seinem Arbeitgeber im Laufe des Tages überworfen und kurzerhand gekündigt hatte. Eine vernünftige Entscheidung, beteuerte er, zumal er ohnehin etwas Besseres verdient habe.

Während Ansgar mir sehr emotional sein Verständnis der Vorkommnisse offenbarte, merkte ich, wie mir die Tränen über die Wangen liefen. Er sprach, ich hörte verständnislos zu, und konnte in diesem Moment nichts anderes tun, als zu weinen. Schließlich war es nicht die erste Situation dieser Art und das Gefühl, auf der Stelle zu treten, war wieder sehr präsent.

Thiemo wusste über Ansgars berufliche Situation Bescheid. In anderen Worten: Es war ihm zu Ohren gekommen, dass Ansgar den Vertriebsjob, mit dem er sich die Reichtümer versprochen hatte, bereits wieder aufgegeben hatte. Als guter Freund wollte er ihm in dieser schwierigen Situation helfen. Und so nahm er Ansgar nach einem der gemeinschaftlichen Abende beiseite, während ich mich gerade angeregt mit seiner Frau Sandra unterhielt.

»Hör zu, Ansgar«, begann Thiemo. »Wenn die Arbeit mit Kunden im Vertrieb wirklich Deine Sache ist, dann kann ich Dir helfen. In dem Unternehmen, in dem ich tätig bin, suchen wir gerade im Innendienst einen neuen Mitarbeiter.«

»Aha?«

»Die Anforderungen sind nicht zu hoch. Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Organisationsvermögen. Das reicht aus und Dir werden eine Menge Chancen geboten.«

»Gibt es auch einen Firmenwagen?«, fragte Ansgar zwischen.

Thiemo lächelte, hielt er diese Frage doch für einen Scherz.

Ansgar fügte nach kurzer Überlegung hinzu: »Okay, ich kann`s mit dem Job ja mal versuchen.«

Thiemo hielt sein Versprechen und legte bei seinem Arbeitgeber ein gutes Wort für Ansgar ein. Ich freute mich, denn so hatte mein Partner endlich einmal Gelegenheit, sich wirklich zu beweisen. Nachdem bei seiner letzten Anstellung das Verhältnis zu einigen Kollegen nach seinen Erzählungen zu angespannt gewesen war, so war es jetzt an der Zeit, dass auch er sich etwas aufbaute. Irgendwo in der Zukunft sah ich uns glücklich in einem Reihenhaus, beide beruflich erfolgreich, und vielleicht sogar mit einem Kind. Und jetzt war dieser Traum nicht einmal mehr reine Fiktion. Er schien so langsam greifbar zu werden.