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Um ihren Traum zu verwirklichen und Bühnenbildnerin zu werden, zieht die 18-jährige Alexandra aus ihrem kleinen Heimatort nach München. Zunächst fällt es ihr schwer, Anschluss zu finden, doch in der Theaterschreinerei des Gärtnerplatztheaters trifft Alex auf den 19-jährigen Tobi, der gerade sein IT-Studium geschmissen hat und dort nun als Aushilfe arbeitet. Die beiden verstehen sich auf Anhieb, und es beginnt sogar zwischen ihnen zu knistern. Aber dann kommt es zu einem Zwischenfall, und die Funken gefrieren zu Eis. Erst nach und nach merken sie, dass sie vielleicht beide einen Fehler begangen haben. Bekommt ihre Liebe eine zweite Chance?
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Seitenzahl: 415
Cover
Titel
Weitere Titel
Widmung
Mein Herz weiß schon, was es tut
Impressum
Viele Träume führen ans Ziel
Titel auch als Hörbuch erhältlich
Für all diejenigen, die keine Buchreihen lesen,weil sie sich nur den ersten Teil leisten können.
Ich bin raus.
Was machst du eigentlich hier? Spätestens als ich vor einem Jahr mit meinem Mini-Laptop in die erste Vorlesung marschiert bin und meine Mitstudierenden mich und mein Arbeitsgerät mitleidig musterten, hätte mir klar sein müssen, dass ich mich für den falschen Weg entschieden habe. In dem Moment habe ich mich gefühlt wie ein Sechsjähriger mit seinem Spielzeugplastikcomputer, zwischen all den Erwachsenen, die in der Freizeit nicht nur gerne zocken, sondern sich ernsthaft mit der Technologie auseinandersetzen wollen. Ich hingegen habe nur das Geld gesehen, das man mit einem erfolgreichen Studienabschluss in der IT-Branche verdienen kann. Dabei möchte ich mir später gar kein Haus in Grünwald und einen Sportwagen leisten können, sondern einfach nur meine Familie unterstützen. Meine Mama, meine Schwester und meinen Bruder. Nichts und niemand ist mir wichtiger.
Ich dachte, mit viel Ehrgeiz und Durchhaltevermögen würde ich das Studium schaffen, doch je mehr Zeit verging, desto schwerer fiel es mir, den Fokus zu bewahren. Und das spiegelte sich schnell in meinen Leistungen wider.
Das dumpfe, drückende Gefühl des Versagens breitet sich in meinem Magen aus, als sich meine Finger krampfhaft an das Stück Papier klammern, welches meine Entscheidung festigt. Die deprimierend niedrige Punktzahl leuchtet mir schonungslos entgegen und wirkt gleichzeitig so, als hätte sie sich dank des Rotstifts durch meine Klausur gebrannt.
Was habe ich erreicht? Wie hat mich die Zeit an der Uni weitergebracht? Vermutlich klingt meine Antwort armselig, und doch ist sie die einzige, die ich geben kann: Ich weiß es nicht.
Ist das die Antwort, die es braucht, um einen Schlussstrich zu ziehen? Ja, ich denke schon.
Der Gedanke, der mir bereits seit Ende letzten Semesters nicht mehr aus dem Kopf geht, wird von Sekunde zu Sekunde stärker, und der Drang, endlich zu handeln, wird übermächtig, auch wenn mich eine mahnende Stimme erinnert, dass ich niemals aufgeben wollte. Aber soll ich mich weiterhin anlügen? Denn nichts anderes ist es: eine Lüge. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag gegen die Stirn. Ich will nicht jeden Tag aufwachen und mich fragen, was ich hier mache und warum ich es mache. Ich möchte vorwärtskommen.
Okay. Das war's jetzt also. Ich bin raus.
»Was hast du bekommen?«, fragt mich Larissa, und ihr Blick huscht zu meinem Klausurergebnis.
Mit gespielter Gelassenheit zucke ich mit den Schultern und vermeide es, ihr in die Augen zu sehen. »Ich wollte eh abbrechen.«
»Abbrechen? Dein Studium?« Sie stutzt. »Bist du dir sicher?«
»Ja«, bestätige ich und versuche mein Scheitern kleinzureden. »Das hier ist einfach nicht das Richtige für mich. Der Schmarrn macht mir keinen Spaß.«
Larissa klappt ihren Laptop zu. »Ist nicht böse gemeint, aber ich habe mich schon länger gefragt, ob irgendwas nicht stimmt.«
Nun schaue ich ihr doch in die Augen. Larissa ist mit ihren hellbraunen glänzenden Haaren und ihren großen bernsteinfarbenen Augen sehr hübsch und eine liebe Person. In einer anderen Welt wären wir vielleicht sogar ein Paar geworden, doch für eine Beziehung fehlt mir die Zeit. »Dabei habe ich mir wirklich Mühe gegeben, so zu tun.«
Sie zieht die Augenbrauen nach oben. »Dann bist du ein mieser Schauspieler.«
»Mmpf«, mache ich und verschränke die Arme. Mein Blick wandert durch den Hörsaal. Unsere Mitstudierenden verstauen gerade ihre Hochleistungsrechner in den Laptoptaschen und ihre Unterlagen in den Rucksäcken. Der Saal wird tröpfelnd leerer. Ich beobachte die Menschen um mich herum mit einer komischen Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung. Enttäuschung, weil ich mehr von mir erwartet habe, und Erleichterung, weil ich weiß, dass dieser Schritt überfällig ist. Bis jetzt war ich in jedem Kurs mittelmäßig, nirgendwo habe ich besondere Fähigkeiten bewiesen.
»Welches Studienfach möchtest du stattdessen machen?«, fragt Larissa, als ich aufstehe und meine fehlgeschlagene Klausur in meinen Rucksack stopfe.
»Hab mich noch nicht entschieden«, murmle ich und schlage meinen kleinen Laptop zu. Er passt ohne Probleme ebenfalls in die Tasche. »Vielleicht BWL oder so was.«
Doch die Wahrheit ist, dass ich mich nicht mit BWL identifizieren kann. Und auch nicht mit Jura oder Germanistik oder Medizin oder Wirtschaftsingenieurwesen oder Pädagogik. Für nichts von alldem verspüre ich einen Reiz. Nichts davon interessiert mich. Was mache ich also überhaupt hier an der Uni?
»Bist du dir echt sicher?« Larissa sieht mich durchdringend an. »Schlechte Klausuren schreibt jeder mal, aber das ist doch noch lange kein Grund, gleich alles hinzuschmeißen. Du packst das schon, da bin ich sicher!«
Ich lächle müde. »Du weißt doch, dass ich heute nicht zum ersten Mal verkackt hab. So lieb ich deinen Zuspruch finde, wir wissen beide, dass ich hier ein hoffnungsloser Fall bin.«
»Ja, okay, vielleicht bist du nicht unbedingt der Beste, aber ein Semester einfach wegwerfen?«, versucht Larissa einen weiteren Anlauf.
Ich werfe mir den Rucksack über die rechte Schulter. »Weißt du, ich spiele schon länger mit dem Gedanken abzubrechen. Das heutige Klausurergebnis war ein Wink des Schicksals, und es sagt mir ganz deutlich, dass ich bestimmt viele Kompetenzen habe, aber ganz sicher nicht im IT-Bereich.« Dann hebe ich zur Verabschiedung die Hand, weil ich aus diesem Hörsaal verschwinden möchte. Nicht nur, um meinen Worten endlich Taten folgen zu lassen, sondern auch, um einem Gespräch mit meinem Dozenten zu entgehen, der gerade auf uns zusteuert.
»Hey!«, ruft mir Larissa hinterher, als ich mich durch die engen Tischreihen quetsche. »Sehen wir uns?«
»Klar.« Ich lächle sie entschuldigend an. »Wir schreiben uns.« Doch noch während ich spreche, weiß ich bereits, dass unsere Bekanntschaft im Sand verlaufen wird, so wie ich fast alle Kontakte vernachlässige.
Ich mache mich auf den Weg nach draußen, aus der Uni raus, während ich mich frage, ob ich die Marmorflure je wieder betreten werde oder ob mich mein Weg nie wieder zurückführen wird. Eine leise Stimme in meinem Kopf tippt auf Letzteres.
Auf dem Vorplatz des Gebäudes lasse ich mich auf eine der Steinbänke fallen, die rund um den großen plätschernden Brunnen aufgereiht sind. Ich seufze und werfe meinen Rucksack achtlos zu Boden, was ich im selben Moment bereue. Der Laptop im Inneren hat mich ein Vermögen gekostet, und normalerweise passe ich auf meine Sachen auf. Aber heute ist nicht normalerweise.
Mit hängenden Schultern beobachte ich die Leute um mich herum, die das sonnige Wetter nutzen und auf dem Rasen zusammensitzen, um Pause zu machen oder gemeinsam den Stoff zu wiederholen. Sie sehen motiviert aus, während sie sich ihre Tablets unter die Nase halten, fast eifrig. Gefühle, die ich schon lange nicht mehr mit meinem Studium verbinde. Und, um endlich ganz ehrlich mit mir zu sein ... das hier – die Uni und ihr Studentenleben – das war ich noch nie. Schule nach der Schule. Der Gedanke, den ich bereits im Hörsaal hatte, ist wieder da. Die ganze Zeit fühlte es sich an, als würde ich auf der Stelle treten, als würde sich nichts verändern, als würde ich all das hier umsonst über mich ergehen lassen. Nun weiß ich, dass ich mich nicht getäuscht habe.
Mit dem Studium verschwende ich wertvolle Zeit, ohne meiner Familie zu helfen. Ich hab's versucht, aber jetzt brauche ich einen Plan B.
»Oh, du bist schon zu Hause?« Mama begrüßt mich mit einem verwunderten Lächeln. Ihre Wangen sind gerötet und ihre Haare zerzaust. Sie ist im Stress, wie jeden Tag um die Mittagszeit. Ich zögere kurz, drauf und dran, ihr zu erzählen, dass ich heute mein Studium geschmissen habe. Sie wäre nicht wütend, sie wäre enttäuscht. Denn seit meiner Schulzeit wird sie nicht müde, mir zu sagen, dass sie sich für mich eine bessere Zukunft wünscht.
»Ist ein Kurs ausgefallen?«, hilft sie mir auf die Sprünge.
»J-ja, genau!«, stottere ich. »Kurs ausgefallen.« Ich kann ihr von meiner Entscheidung nicht zwischen Tür und Angel erzählen. Dafür ist sie zu groß.
»Könntest du dann Leo vom Kindergarten abholen? Ich komme sowieso schon zu spät zur Arbeit.«
»Natürlich«, sage ich sofort. »Kein Problem.«
Mama schlüpft in ihre Jeansjacke und wirft sich die schwarze Umhängetasche über. »Danke, mein Schatz. Gib Leo einen Kuss von mir.« Sie drückt ihre Lippen an meine Wange und streicht mir kurz über meine dunkelbraunen Haare. »Wenn ich dich nicht hätte«, seufzt sie und lächelt. Dann ist sie auch schon verschwunden.
Ich bleibe für einige Augenblicke in unserem kleinen beengten Flur stehen und starre den alten abgenutzten Parkettboden an. Dass ich ein schlechter Schauspieler bin, wurde mir schon öfter gesagt. Aber dass es mir schon seit vielen Monaten nicht gut geht, hat dennoch niemand erkannt. Das liegt einzig und allein daran, dass ich nicht schauspielern musste, um meine Gefühle zu verstecken. Ich habe sie nämlich einfach verdrängt und mir eingeredet, dass alles gut ist. So lange, bis ich irgendwann selbst vergessen habe, dass die Gefühle trotzdem da sind.
Leos große blauen Augen leuchten, als ich im Kindergarten auftauche, um ihn abzuholen. Begeistert juchzt er, lässt die Knete fallen, die er gerade zu einem Ball geformt hat, und springt auf mich zu. Seine kleinen Arme schlingen sich fest um meine Beine, sodass ich fast das Gleichgewicht verliere. »Tobiii!«, ruft er vergnügt.
»Hey, du kleiner Rabauke!«, begrüße ich ihn und verwuschle seine seidigen Haare. Als ich in Leos Alter war, sah ich fast genauso aus wie er. Dunkelbraunes Haar, blaue Augen, die Stupsnase und das runde Gesicht. Wenn ich ihn ansehe, sehe ich mich. Doch will ich ihm eine schönere Kindheit schenken, als ich sie hatte.
»Was machen wir jetzt? Spielen wir heute?«
»Was immer du willst«, antworte ich lächelnd. »Aber zuerst koche ich uns was.«
Leo springt vor mir auf und ab. »Nudeln mit Tomatensoße!«
»Aber das hatten wir doch gestern schon.«
»Eeeeeegal!« Seine klebrigen Finger schließen sich um meine, und er zieht mich zur Garderobe.
Leo lässt sich auf die kleine Bank fallen und schlüpft in die Schuhe, während ich den Inhalt seines Rucksacks überprüfe, der jeden Tag brav am Garderobenhaken auf seinen Besitzer wartet.
»Du hast deine Semmel nicht gegessen«, stelle ich fest, als ich die volle Brotzeitdose herausfische.
Leo rümpft die Nase. »Mama gibt mir immer die dunklen Semmeln mit, aber die mag ich nicht, die sind doof. Ich will nur die hellen.«
Vollkornsemmeln. »Aber die sind gesund und machen dich groß und stark!«, versuche ich ihn zu überzeugen und zeige auf meine Armmuskulatur. Ohne Erfolg.
Er schüttelt heftig mit dem Kopf. »Die sind doof«, wiederholt er nur.
Ich seufze und schwinge mir den Rucksack über eine Schulter. Leo ist immer noch in seiner Trotzphase, in der er alles ablehnt, was Erwachsene ihm andrehen wollen. Er mag keinen Spinat, keine Radieschen, keine Gurken und keine Tomaten. Wenn ich ihm den Spinat aber als grünes Spinatmonster verkaufe und das Gemüse zu verschiedenen Tierchen schnitze, dann sind seine Vorbehalte plötzlich wie weggeblasen.
»Auf geht's.« Ich lege ihm eine Hand auf den Rücken und schiebe ihn sanft aus dem Gebäude.
Ein dumpfes Geräusch im Flur kündigt meine vierzehnjährige Schwester an. Eine Sekunde später streckt Selina die Nase durch die Tür und schnuppert. »Was gibt's zu essen?«
»Nudeln mit Tomatensoße«, antworte ich ihr, während ich eine Spaghetti aus dem kochenden Salzwasser fische und probiere. Zwei Minuten brauchen sie noch.
»Schon wieder?«, brummt Selina und lässt ihre Schultasche zu Boden gleiten.
»Wenn du mal selbst kochen würdest, könntest du dir aussuchen, was du möchtest.«
»Hallo? Ich hab Schule! Und Hausaufgaben!«, entgegnet sie prompt.
»Und ich studiere. Das kommt aufs Gleiche raus«, entgegne ich trocken. Eigentlich möchte ich sie deswegen gar nicht triezen, denn es macht mir nichts aus, die Familie zu bekochen. Vielmehr macht es mir sogar Spaß.
Selina schnaubt zwar, aber nachdem sie ihre Strickjacke an den Kleiderhaken gehängt hat, hilft sie mir beim Tischdecken.
»Wie war denn dein Tag?«, fragt sie ehrlich interessiert, als sie drei Teller aus dem Schrank holt.
»Themenwechsel«, murmle ich gerade laut genug, dass sie mich hören kann.
Selina zieht die Augenbrauen nach oben. »Okay«, sagt sie dennoch und verteilt das Geschirr. »Wenn du es wissen willst, mein Tag war auch beschissen. Ich hab eine Fünf in Mathe, und die blöde Tanja hat sich wieder über mich lustig gemacht.«
Ich horche auf. »Wieso?«
»Na, wegen dem hier, was sonst?« Sie deutet auf ihr übergroßes Karohemd.
»Wegen deiner Kleidung?« Unsere Familie muss an allen Ecken sparen, auch an den Klamotten. Nicht selten trägt meine Schwester daher meine abgetragenen Sachen.
Selina nickt betrübt. »Ja, damit ärgert sie mich schon seit der fünften Klasse.«
Mitgefühl breitet sich in mir aus, und ich umarme sie fest. »Das tut mir leid«, murmle ich. »Soll ich mit dieser Tanja reden? Oder mit den Lehrern?«
Erschrocken windet sie sich aus meinen Armen. »Bloß nicht! Sag bitte auch Mama nichts davon, ja? Sie würde sich nur Sorgen machen und Schuldgefühle bekommen.«
Widerstrebend nicke ich. Auch ich mache mir Sorgen, auch ich entwickle Schuldgefühle. Seit mein Vater uns vor vier Jahren, kurz vor Leos Geburt verlassen hat, ist meine Verantwortung für die Familie um ein Vielfaches gestiegen. Statt Party zu machen, bleibe ich zu Hause, um zu kochen, um Selina bei ihren Hausaufgaben zu helfen oder um auf Leo aufzupassen. Und Mama rennt von Job zu Job, damit wir überhaupt Lebensmittel haben, die ich verkochen kann.
Nur deswegen habe ich mit dem blöden IT-Studium begonnen. Weil man mit dem Abschluss viel Kohle verdienen kann und ich meine Familie damit auch endlich finanziell unterstützen könnte. Aber mit meiner heutigen Entscheidung, das Studium zu schmeißen, ist diese Chance dahin. Ich komme mir schäbig und egoistisch vor, mein eigenes Wohl über das der Familie gestellt zu haben. Der Kloß in meinem Hals ist zu groß, um ihn einfach runterzuschlucken.
»Die Spaghetti sind bestimmt schon überfällig.« Selina holt mich aus meinen Gedanken, und ich stelle schnell das Sieb in die Spüle, um die Nudeln abzugießen. Sie hat recht. Der Garpunkt ist schon überschritten und die Spaghetti damit nicht mehr al dente. Das kratzt ein bisschen an meiner Koch-Ehre.
»Würdest du Leo holen?«, sage ich an Selina gewandt, während ich die Nudeln auf drei Teller aufteile und würzige Tomatensoße aus dem Topf schöpfe.
»Klar!« Sie nickt und taucht eine Minute später mit Leo im Arm wieder auf. »Himmel, bist du schwer geworden«, ächzt sie unter seinem Gewicht.
»Weil ich groß und stark werde, ohne dunkle Semmeln zu essen«, erwidert Leo mit stolzgeschwellter Brust.
Ich schnaube, und beim Anblick meiner Geschwister wird mir ganz warm ums Herz. Vielleicht klingt es klischeehaft, aber niemand hat eine bessere Familie als ich. Wir halten zusammen und lassen uns nicht unterkriegen, egal, wie vielen Herausforderungen wir uns stellen müssen.
Während ich Selina beobachte, wie sie Leo die Spaghetti klein schneidet, schweifen meine Gedanken wieder ab, und mein schlechtes Gewissen wird von Tatendrang abgelöst. Mein Studium ist vorbei, ich stehe ohne Abschluss da. Doch anstatt mich selbst zu bemitleiden, muss ich einen anderen Weg finden, meiner Verantwortung gerecht zu werden, und das Beste aus meiner Situation machen. Ich werde mir Arbeit suchen und Geld verdienen, denn mit dem Studium habe ich sowieso schon viel zu viel Zeit und auch Geld verloren. Bis ich mir einen Job gesucht habe, werde ich Mama nichts von meiner Entscheidung erzählen, denn wenn sie sieht, dass ich sie mit meinem neuen Weg viel besser unterstützen kann, wird sie nicht mehr enttäuscht sein. Das ist doch mal ein Plan, oder?
Lieber Montag, wir müssen reden.
Als ich meinen Koffer auf dem hellen Laminatboden abstelle, hallt das dumpfe Geräusch an den kargen weißen Wänden wider. Meine eigenen vier Wände. Zwar ist es nur ein Wohnheimzimmer mit kleinem Bad und ohne Küche, dennoch fühlt sich dieser Schritt größer an als jeder andere zuvor. Auch wenn meine Familie nur zwei Stunden von München entfernt wohnt, sind es zwei Stunden zu viel. Zu viel, um täglich zu pendeln, und zu viel, um sie täglich in die Arme zu schließen. Diese Erkenntnis musste ich mir schweren Herzens eingestehen, nachdem ich während meines Berufsgrundschuljahres diese lange Fahrtstrecke in Kauf genommen habe, um bei meiner Familie und meinen Freunden bleiben zu können. Erst habe ich die Kosten und die Zeit ignoriert, die für lange Bahnfahrten draufgegangen sind, aber irgendwann habe ich es nicht mehr geschafft, die Augen zu verschließen. Schließlich habe ich mich doch dafür entschieden, für meine Ausbildung nach München zu ziehen. Durch den frühen Arbeitsbeginn in der Schreinerei war es auch nicht möglich, den Umzug weiter aufzuschieben.
Einen Moment stehe ich einfach nur vor meiner geschlossenen Zimmertür und lasse die einsame Stille auf mich wirken. Das schlichte weiße Bett und einen dazu passenden kleinen Schreibtisch habe ich bereits letztes Wochenende mit Papa aufgebaut. Den Rest werde ich nach und nach kaufen oder selbst bauen. Ich gehe langsam durch den Raum und lasse mich auf die Bettlaken fallen. Bei der Aussicht darauf, heute nicht nach Hause zu fahren, zurückzukehren in ein Haus voller Leben und Vertrautheit, bildet sich ein Kloß in meinem Hals. Eine Träne stiehlt sich meine Wange hinab, und ich wische sie schnell mit meinem Pullover-Ärmel weg.
Ich will nicht weinen und Heimweh haben. Ich will mich nicht fragen, ob ich das hier bereuen werde. Immerhin habe ich mich selbst für den Umzug nach München entschieden, also muss ich mir nun beweisen, dass diese Entscheidung richtig war.
Ich seufze schwer und stemme mich vom Bett wieder nach oben. Ein paar Kartons, die ich letzte Woche mit Papa hergefahren habe, kann ich heute bereits auspacken, denn zumindest die Unterlagen für meine Lehre zur Schreinerin werde ich im Schreibtisch verstauen können. Andere Kartons, in denen sich meine Büchersammlung und meine Kleidung befinden, müssen noch ein paar Wochen auf ihren großen Auftritt warten. Ich drehe mich einmal im Kreis und lasse den Blick über die spärliche Einrichtung schweifen. Es ist eine Menge zu tun. Doch genau das wird mich die nächste Zeit davon abhalten, zu viel nachzudenken.
Die nächsten Stunden verbringe ich damit, kopfüber in den Umzugskisten zu wühlen und für so viele meiner Sachen wie möglich ein Plätzchen zu finden. Nachdem ich mein Badezimmer vollständig eingeräumt habe, knurrt mein Magen vorwurfsvoll, und ich beschließe, es für heute gut sein zu lassen.
In der Gemeinschaftsküche, gleich gegenüber meiner Zimmertür, mache ich mir in der Mikrowelle das Kartoffelgratin warm, das mir Mama in einem Glasbehälter mitgegeben hat. Während ich ungeduldig mit den Fingern auf die dunkle Holzimitat-Arbeitsfläche der Küche tippe, starre ich auf das Display und warte, dass die vier Minuten endlich vorbei sind.
03:02
Ich habe bisher niemanden hier im Wohnheim kennengelernt und möchte heute Abend auch noch nicht damit starten. Ich will mich nur ins Bett legen, mir Serien auf dem Laptop reinziehen und das letzte Stückchen Heimat essen, das mir geblieben ist. Irgendwo höre ich eine Tür ins Schloss fallen.
02:31
Über das Wochenende fahren viele Leute nach Hause, darauf hat mich bereits die Hausverwaltung aufmerksam gemacht. Aber Sonntagabend trudeln sie alle wieder ein. Auszubildende und Studierende. Nur bitte nicht genau jetzt.
01:10
Fast geschafft. Ich werde mir mein Essen schnappen und mich einsperren. Und dann gibt es nichts, außer mir und ...
»Hey, dich habe ich hier noch nicht gesehen.«
Ich stöhne innerlich und drehe mich langsam um. Im Türrahmen steht ein schwarzhaariger Junge. Einen halben Kopf größer als ich, schmale braune Augen und einen dunklen Bartschatten auf den Wangen. Hinter mir ertönt das Piepen der Mikrowelle. Leider zu spät.
»Weil ich erst seit heute hier wohne«, bestätige ich seine Feststellung und versuche zu lächeln. Mein Kloß im Hals macht es mir nicht einfach.
Auf seinem Gesicht breitet sich ebenfalls ein Lächeln aus. »Cool. Wie heißt du?«
»Alex. Und du?«
»Sebastian. Ich wohne da hinten, gleich neben dem Eingang.« Er deutet mit dem Daumen nach links.
Ich schmunzle. »Ah, die First Row.«
Er lacht. »Ja, sozusagen. In der Nacht ein echter Vorteil.«
Ich drehe mich wieder um und hole mein dampfendes Kartoffelgratin aus der Mikrowelle. Das Glas des Behälters ist verdammt heiß, und ich ziehe die Ärmel über meine Hände, damit ich mich nicht verbrenne.
»Was studierst du?«, fragt Sebastian.
»Ich studiere nicht, ich mache eine Ausbildung zur Schreinerin. Im Theater«, füge ich hinzu. »Ich will Bühnenbildnerin werden.«
Er mustert mich interessiert. »Wow, eine Handwerkerin. Klingt total spannend.«
Ich lege den Kopf schief und beobachte ihn prüfend. Zeigt er ernsthaftes Interesse an meiner Ausbildung, oder ist er nur neugierig auf die Neue? »Und du?«, frage ich.
Er wirft sich in die Brust. »Ich studiere BWL im zweiten Semester.«
»Und gefällt's dir?« Eine reine Höflichkeitsfrage, denn der herzhafte Duft des Kartoffelgratins kitzelt ungeduldig in meiner Nase.
»Joa, läuft ganz gut«, antwortet Sebastian, grinst mich an, ohne aber weiterzusprechen.
»Hm.« Ich räuspere mich, als die Stille immer länger anhält. »Na dann, Sebastian, man sieht sich«, sage ich freundlich und drücke mich an ihm vorbei.
»Basti«, verbessert er mich. »Ich freu mich drauf!
Als vor über einem Monat endlich der praktische Teil meiner Ausbildung begonnen hat, dachte ich, von nun an könnte ich jeden Tag die in der Berufsschule erlernten Techniken anwenden und spannende Projekte umsetzen. Denn nach einem langen Jahr Theorie war ich heiß darauf, in der Werkstatt anzupacken.
Doch wieder beginnt ein Montag damit, dass eine undankbare Aufgabe die nächste jagt und mir kaum Gehirnschmalz abverlangt. Sozusagen das Kaffeekochen in Handwerkssprache.
Ich puste mir eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht, während ich die neue Ware einsortiere, die erst vor einer halben Stunde in die Schreinerei geliefert wurde. Schwere Holzplatten, eine nach der anderen. Ich erkenne das stabile Holz des Ahornbaums, die deutliche Maserung der Eiche, die helle Fichte und frage mich, zu welchem Möbelschmuckstück sie bald verarbeitet werden. Gleichzeitig hoffe ich, dass ich daran teilhaben werde. Ich keuche, als ich die Platten auf den Hubwagen hieve, um sie in unser geräumiges Lager zu schaffen. Dabei schiele ich hin und wieder in den Aufenthaltsraum zu meinen Kollegen, die gerade dabei sind, im Zuge der sogenannten Werkstattabgabe ein neues Projekt zu diskutieren, also wie es durch die Schreinerei technisch umsetzbar ist und welche Materialien dafür notwendig sind. Diesen Arbeitsschritt kenne ich bisher nur aus der Theorie, und ich würde zu gerne mithören, um vielleicht etwas Neues zu lernen. Zehn Minuten später liefere ich die nächste Platte im Lager ab, und auf dem Rückweg nehme ich all meinen Mut zusammen.
»Kann ich irgendwie helfen?«, frage ich meinen Ausbilder Paul.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen sieht er auf, leicht verwirrt wirft er einen Blick auf meine leeren Arme. »Ist die Lieferung denn schon verräumt?«
»Nein, aber ich dachte ...« Der zweite Teil des Satzes verliert sich in den Tiefen meiner Zurückhaltung. »Ich bin gleich fertig.«
»Respekt.« Er nickt anerkennend und tippt auf seinen Bizeps. »Für eine Frau bist du echt fix.«
»Äh, ... danke?«, antworte ich, weil ich nicht weiß, wie ich sonst auf dieses fragwürdige Kompliment meines Ausbilders reagieren soll. Will er damit andeuten, ich sei körperlich stärker als der Durchschnitt meines Geschlechts, aber im Vergleich zu Männern – egal, ob schwach oder stark – immer noch zu schwach? Ja, vielen Dank auch.
Ohne einen Blick zurück trotte ich wieder zu den Holzplatten.
Der Tag hat bereits bescheiden begonnen, als ich verschlafen, mir daraufhin in meiner Panik den großen Zeh an der Badezimmertür angehauen habe und dann noch feststellen musste, dass natürlich genau heute die U-Bahnen wegen irgendeiner Störung nur im Zwanzig-Minuten-Takt fuhren. Die schweißtreibende und wenig lehrreiche Azubi-Aufgabe konnte meine Laune danach kaum bessern. Warum wundere ich mich? Es ist Montag, da kommt alles zusammen. Auch Pauls Kommentar könnte ich einfach unter »Wochenstart« abheften, aber irgendwie ärgert er mich mehr als mein defekter Wecker, die Badezimmertür, die Betriebsstörung der U-Bahn und die Azubi-Aufgabe zusammen.
Am Nachmittag klopfe ich an die Tür des Büros der Personalabteilung und warte darauf, dass mich eine hohe weibliche Stimme hineinbittet.
»Hallo, Frau Falk«, begrüße ich die Personalerin freundlich, als ich eintrete. Frau Falk schätze ich auf Anfang vierzig. Ihre blonden Haare hat sie zu einem Dutt gebunden, und ihr breites Lächeln entblößt ihre geraden weißen Zähne. Ich kenne sie bereits von meinem Bewerbungsgespräch und meinem ersten Arbeitstag in der Schreinerei.
»Schön, Sie zu sehen, Frau Mendl!« Sie lugt hinter den Papierbergen auf ihrem Schreibtisch hervor, winkt mich ins Büro und deutet auf den Besucherstuhl. »Kommen Sie nur herein, nehmen Sie Platz!«
»Danke.« Ich schließe die Tür hinter mir und setze mich ihr gegenüber. Nervös knete ich meine Finger. Ich arbeite hier erst seit etwas über einem Monat und will ganz sicher keine Forderungen stellen, vielmehr ist es eine Bitte.
»Wie geht es Ihnen? Haben Sie sich gut eingelebt?«
Gleich bei ihrer ersten Frage gerate ich ins Stocken, obwohl ich nicht weiß, warum. Meine Kollegen und mein Ausbilder sind freundlich, sie lassen mich bei allen Arbeiten zusehen. Dennoch fühle ich mich nicht vollkommen wohl, und ich kann nicht sagen, warum.
»Es gefällt mir sehr gut«, lüge ich sie deshalb an. »Die Praxis ist wesentlich spannender als die reine Theorie.« Bevor ich vor einem Monat in die praktische Schreinerlehre gestartet bin, musste ich zuerst das Berufsgrundschuljahr absolvieren – also ein Jahr nur Lernerei. Aber die Arbeit am Holz ist viel befriedigender als die theoretischen Berechnungen und die technischen Zeichnungen, ohne danach das Ergebnis in Händen halten zu können.
»Wie schön, das freut mich!« Ihr Lächeln ist echt. »Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«
Ich räuspere mich. »Ich weiß nicht, ob Sie sich daran erinnern, aber bei meinem Einstellungsgespräch habe ich Ihnen erzählt, dass ich mich sehr dafür interessiere, mich in ein paar Jahren als Bühnenbildnerin selbstständig zu machen. Dafür gibt es aber keine passgenaue Ausbildung oder ein Studium.« Sie nickt. »Vielmehr ist es ja wichtig, in den verschiedenen Bereichen des Theaters Erfahrungen zu sammeln. Durch die Ausbildung in der Schreinerei habe ich dort einen guten Einblick, aber ich wollte fragen, ob ich auch den Kolleginnen und Kollegen in anderen Bereichen ein bisschen über die Schultern schauen darf.« Ich halte den Atem an und kreuze die Finger. Hospitationen würden sich in meinem Lebenslauf sehr gut machen, und gleichzeitig würden sie mir helfen, ein Netzwerk aufzubauen. Alles Voraussetzungen, die mich meinem Traumberuf ein Stückchen näher bringen.
Zu meiner Erleichterung wird Frau Falks Lächeln nicht schmaler, sondern breiter. »Ihr Engagement ist wirklich sehr lobenswert. Das freut mich sehr!« Sie zieht zwischen zwei Aktenstapel einen Notizblock heraus. »Ich kann mich gerne erkundigen, wer Zeit hätte, Ihnen etwas zu zeigen. Dann würde ich den Kontakt herstellen. Aber bitte denken Sie daran, dass Sie natürlich nur hospitieren können, wenn Ihre Kollegen Sie in der Schreinerei entbehren können. Das müssten Sie dann selbst abklären.«
Ich nicke eifrig. »Selbstverständlich.«
Frau Falk notiert sich etwas, bevor sie mich wieder ansieht. »Dann verbleiben wir doch einfach so: Ich rufe Sie an, wenn ich etwas in Erfahrung gebracht habe.«
Ich erhebe mich von meinem Stuhl, und meine Glücksgefühle lassen mich größer werden. Gerade so kann ich ein Juchzen unterdrücken. »Vielen lieben Dank!«
Als ich durch den Flur zurück zur Treppe gehe, fällt mir ein großer Stein vom Herzen. Während meiner Schulzeit habe ich mich gefühlt, als würde ich mich nicht von der Stelle bewegen und jedes Jahr von vorne beginnen. Doch nun spüre ich deutlich, dass ich meine Zukunft selbst in der Hand habe und sich jede Bemühung und jedes Überwinden auszahlt.
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.Oder so ähnlich.
Als ich bei meinem besten Freund klingle, weiß ich, dass ich hier genau richtig bin. Mein schlechtes Gewissen hat mich zwei Nächte nicht schlafen lassen. Lächeln, statt etwas auszusprechen, und für andere da sein, statt sich mit den eigenen Problemen auseinanderzusetzen. Normalerweise klappt meine Strategie gut. Doch mein Studienabbruch ist das i-Tüpfelchen auf dem Wort Scheiße und der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich habe das Gefühl zu platzen, wenn ich nicht darüber spreche. Doch meine kleine Schwester ist eine Tratschtante. Wenn ich es ihr sage, weiß Mama innerhalb eines Tages davon.
Jonas öffnet schwungvoll die Tür. »Hey, das Ablenkungsmanöver ist da«, begrüßt er mich mit einem Grinsen.
Wir schlagen ein. »Ablenkung? Wieso das?«, frage ich und folge ihm in den kurzen Flur. Sofort fällt mir eine Veränderung auf. »Wow, du hast ja Bilder aufgehängt.« Ich lasse meinen Blick über die gerahmten Fotos schweifen. Die meisten zeigen ihn und seine Freundin Leni. Sie sind nun seit knapp vier Monaten ein Paar, und an das damalige Beziehungschaos erinnere ich mich noch lebhaft. »Wie geht es Leni? Ich hab sie seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen – und du erzählst auch so wenig über sie.«
Auch Jonas' Augen bleiben an den Fotos hängen. Eine Mischung aus Stolz und Sehnsucht schimmert in seinem Blick. »Die Kinoproduktion, für die Leni gerade arbeitet, dauert noch ein paar Wochen«, klärt er mich auf. »In der Zeit sehe ich sie meistens nur am Wochenende – fast wie in einer Fernbeziehung, obwohl wir beide in München wohnen. Deswegen hab ich auch gestern die Fotos aufgehängt.«
»Die Arbeit am Set gefällt ihr also immer noch?«
Jonas ist Schauspieler und hat Leni bei einer Serienproduktion kennengelernt. Damals wollte sie sich nur ausprobieren, aber offensichtlich hat sie ihre Bestimmung gefunden.
»Sie liebt es. Und ehrlich gesagt bin ich ziemlich froh darüber«, gibt er zu, stopft seine Hände in die Taschen seiner schwarzen Jogginghose und nickt zum Wohnzimmer. Er geht voraus, und ich folge ihm in den spärlich eingerichteten Raum. Jonas hat sich noch nie viel aus seiner Wohnung gemacht. »Wenn ich eine neue Rolle annehmen und das heißen würde, dass wir uns zwei oder drei Monate nicht sehen können, dann würde Leni es verstehen. Und andersrum ist es genauso.«
»Wie schaut's denn bei dir mit neuen Projekten aus?«, frage ich ihn vorsichtig. Jonas ist im Sommer aus der Streaming-Serie Reset ausgestiegen, um sich als Schauspieler weiterzuentwickeln. Doch seitdem ist es ruhig um ihn geworden.
»Hm«, macht er dumpf und lässt sich auf die Couch fallen. »Hab mir noch keinen neuen Manager gesucht.« Noch vor knapp vier Monaten war Jonas' Vater sein Manager, allerdings hat Jonas ihm nach einem heftigen Streit gekündigt. Zu Recht. Doch das ist eine andere Geschichte. Der Sommer meines besten Freundes war jedenfalls turbulent, und auch wenn er den Kontakt zu seinem Vater abgebrochen hat, so ist Leni zu seinem persönlichen Happy End geworden. Dieses Glück gönne ich ihm von ganzem Herzen.
»Aber wolltest du nicht ...«, fange ich an, werde aber von Jonas unterbrochen.
»Hör mal, Leni kaut das Thema mit mir schon oft genug durch«, stöhnt er und reibt sich die Stirn. »Mein Vater hatte eigene Vorstellungen von seinen Kompetenzen, und ja, ich weiß, dass nicht alle Managerinnen und Manager seine Arbeitsmoral teilen.«
Ich ziehe eine Augenbraue nach oben. »Und das weißt du wirklich?«
»Ja, weiß ich ... jedenfalls theoretisch.« Er klopft mit der rechten Hand auf den Platz neben sich. »Komm schon, lass uns zocken, oder lenk mich irgendwie anders ab.«
Diesmal ist es an mir zu seufzen. »Mit Ablenkung kann ich dienen, da verlass dich drauf.«
Jonas macht große Augen. »Hau raus.«
Ich streife meine Lederjacke ab, werfe sie über die Lehne und setze mich neben ihn. Die Unterarme auf meine Knie gestützt, starre ich den dunklen Fernsehbildschirm vor uns an. »Ich habe mein Studium geschmissen.«
Jonas richtet sich auf. »Kein Scheiß?«
Ich schüttle den Kopf. »Kein Scheiß.«
»Aber ...«, er klopft mir auf die Schulter, »... das ist doch super!«
Erleichterung durchströmt mich. Zwar habe ich seine Reaktion vorhergesehen, aber die Anspannung, die nun von mir abfällt, zeigt mir deutlich, dass ich mir nicht so sicher war, wie ich dachte. Ich werfe Jonas einen Blick zu und lächle schwach. »Mir war klar, dass du das sagen würdest.«
»Soll ich anders reagieren? Den vernünftigen Kumpel spielen?« Er grinst. »Sorry, das kann ich nicht. Nicht nach diesem Sommer.«
»Ach, Schmarrn, ich bin doch froh, dass du so reagierst.«
»Deine Mutter findet es wohl nicht so prickelnd«, vermutet Jonas.
Ich schnaube und winke ab. »Der hab ich es noch gar nicht erzählt.«
»Ah«, macht er wissend und lässt sich in die Lehne des Sofas sinken. »Jetzt kommen wir der Sache näher.«
Ich lasse mich ebenfalls nach hinten fallen, und wir sehen uns an. »Jep.«
»Das kriegen wir hin«, will Jonas mich aufmuntern. »Leni hat doch vor ein paar Monaten in einer ähnlichen Zwickmühle gesteckt.«
Ich lache auf. »Bitte, Jonas, sei mir nicht böse, aber ich glaube nicht, dass ich mir von ihrer damaligen Taktik was abschauen sollte.«
»Das nicht«, stimmt er mir zu. »Aber wir könnten aus ihren Fehlern lernen.«
»Nachdem ihr genug Zeit hattet, die Sache zu reflektieren, gehe ich schwer davon aus, dass du mit Tipps nur so um dich werfen kannst.«
Jonas fährt sich durchs Haar. »Na ja, Leni und ich hätten miteinander reden müssen.«
Ich schüttle entschieden den Kopf. »Ich werde Mama nichts davon erzählen. Keine Chance.«
Er legt den Arm über die Lehne und wendet sich mir zu. »Was hast du denn zu verlieren?«
»Nein.« Ich reibe mir die Schläfen. »Darum geht's nicht. Es geht nicht darum, wie ich mich fühle, weil ich meine Zukunft hingeschmissen habe. Es geht um sie. Mama hat genug um die Ohren, ich will sie nicht noch mit meinem Scheiß belasten.« Zwei Jobs und trotzdem gerade mal so viel Geld, dass es zum Überleben ausreicht. Zusätzlich ihr Versuch, alle familiären und finanziellen Probleme von ihren Kindern fernzuhalten. Da muss ich ihr nicht noch mehr Sorgen bereiten.
»Okay.« Jonas nickt ernst. »Echt, das verstehe ich. Aber was willst du stattdessen machen? Ihr wird doch auffallen, wenn du nur noch zu Hause rumhängst.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe, denn genau daran habe ich auch schon gedacht. »Ich dachte, ich könnte jobben und sie mit meinem Gehalt unterstützen.« Viel zu lange schon liege ich meiner Mutter auf der Tasche.
»Ja, warum nicht. Ist auf jeden Fall besser, als nichts zu tun.« Jonas verdreht die Augen. »Glaub mir, ich spreche da aus Erfahrung.«
»Hast du denn gar kein Management im Auge, das du dir vorstellen könntest?«, greife ich unser vorheriges Thema wieder auf.
»Mein Schauspielkollege, Niam, hat mir seine Managerin empfohlen«, sagt er widerstrebend. »Sie soll wohl echt gut sein und nicht ...«
»... so ein Arschloch, wie dein Vater?«, beende ich seinen Satz.
»So in etwa«, bestätigt mich Jonas und legt seinen Kopf auf der Lehne ab, sodass er zur Zimmerdecke blickt. »Aber zurück zu dir, du lenkst sehr gekonnt vom Thema ab. Wenn du deiner Mama Geld beisteuerst, wird sie sich doch auch wundern, wo das auf einmal herkommt, oder?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich sag ihr einfach, dass ich neben dem Studium jobbe. Sie ist die meiste Zeit selbst arbeiten und bekommt eh nicht mit, was ich den ganzen Tag so mache.«
Jonas setzt sich wieder auf. »Jobben ist also dein kurzfristiger Plan. Aber was machst du langfristig?«
Ich schnaube und reibe mir die Stirn. »Jedenfalls nicht BWL studieren oder so. Vermutlich würde ich das noch schneller abbrechen als das IT-Studium. Diese ganzen Fächer interessieren mich irgendwie gar nicht, eins langweiliger als das andere.«
»Ja, ist echt Geschmackssache«, überlegt Jonas. »Aber wenn du sowieso erst mal jobben gehst, hast du ja noch genügend Zeit, dir Gedanken zu machen.«
»Habe ich mir auch gedacht. Morgen früh such ich mir erst mal ein paar Stellenanzeigen raus.«
»Wenn du magst, könnte ich mich auch umhören«, schlägt Jonas vor.
Skeptisch ziehe ich die Augenbrauen zusammen. Mir fällt es schwer, Hilfe anzunehmen, weil ich gerne selbst für mein Handeln verantwortlich bin. »Ich weiß nicht«, murmle ich und schüttle langsam den Kopf.
»Hey«, sagt er so bestimmt, dass ich ihn wieder ansehe. »Du hast für mich im Sommer den totalen Seelsorger gespielt. Jetzt kümmern wir uns um dich. Es heißt ja gar nicht, dass ich auch was finde, ich höre mich einfach mal um.«
»Ja. Okay.« Ich schließe kurz die Augen, weil mich die Zustimmung viel Überwindung kostet. Gleichzeitig nehme ich mir vor, schneller einen Job zu finden, als Jonas seine Fühler ausstrecken kann.
Mein Freund nickt zufrieden. »Sehr gut, irgendwas finden wir schon.«
Plötzlich hören wir im Schloss der Wohnungstür einen Schlüssel knirschen, und eine Sekunde später eine keuchende Stimme. »Schatz?«
Jonas springt überrascht auf und läuft mit eiligen Schritten in den Flur. »Hey, Süße, mit dir habe ich heute gar nicht mehr gerechnet. Was sind das für Tüten?«
»Wir hatten heute früher Drehschluss, und ich bin noch bei diesem Einrichtungsladen vorbeigefahren. Du weißt schon, von dem ich dir erzählt hatte.« Leni taucht vollbepackt in der Wohnzimmertür auf. »Tobi!«, ruft sie freudig und stellt die prallgefüllten Einkaufstüten ab, als sie mich auf der Couch erblickt. »Schön, dich mal wieder zu sehen!«
Ich springe auf, laufe breit grinsend um die Couch und umarme sie zur Begrüßung. »Gleichfalls! Ich hab schon von der steilen Karriereleiter gehört, die du gerade erklimmst!«
Sie lacht und wird tomatenrot. »Ach, was erzählst du wieder für einen Schmarrn«, sagt sie an Jonas gewandt, der hinter ihr im Türrahmen auftaucht.
»So was hab ich gar nicht behauptet«, wehrt sich dieser augenrollend. »Tobi muss einfach immer eine Schippe drauflegen.«
Ich zucke grinsend die Schultern. »Na, ich habe nicht gesagt, dass du schon ganz oben bist. Aber die Karriereleiter, die auf dich wartet, ist steil.«
Leni lächelt. »Dazu würde ich auf jeden Fall nicht Nein sagen. Vorerst bleibe ich aber Setrunnerin.«
»Was hast du denn da nun in den Tüten?« Jonas beäugt misstrauisch ihre Mitbringsel.
»Kissen und Pflanzen!«, sagt Leni entzückt. »Aber wenn ich gewusst hätte, dass Tobi da ist, wäre ich morgen gekommen. Ich will euch nicht stören.«
Jonas zieht sie in eine Umarmung. »Ich freu mich, dass du da bist.« Er küsst sie auf die Stirn, auf die Wangen und auf die Nasenspitze. Leni kichert.
Ich verziehe mich ans Fenster und sehe nach draußen. Es ist schon fast vollkommen dunkel, und die Straßenlaternen werfen ihr gelbliches Licht auf die asphaltierte Straße. Es regnet, und die vorbeigehenden Fußgänger rutschen über die roten und braunen Blätter, die bereits von den ersten Bäumen fallen.
»Schau, sehen die nicht toll aus?« Als Leni zwei Grünpflanzen aus einer der Papiertüten zieht, weiß ich, dass die Luft wieder rein ist.
»Pflanzen ... toll«, Jonas ringt sich ein Lächeln ab. »Aber, Süße, du weißt doch, dass ich keinen grünen Daumen habe.«
»Ach, so ein Quatsch. Den hat keiner! Du vergisst nur immer, sie zu gießen, und dafür gibt's doch eine Erinnerungsfunktion auf dem Handy.« Leni sieht sich prüfend im Zimmer um. »Vielleicht stellen wir eine aufs Fensterbrett und die andere auf das Regal über dem Fernseher. Mit Pflanzen wirkt deine Wohnung nicht mehr so trostlos, du wirst sehen.«
Jonas wirft mir einen amüsierten Blick zu, und ich lache. Die beiden passen perfekt zusammen. Jonas braucht eine Macherin an seiner Seite, ein Mädchen, das kein Blatt vor den Mund nimmt. Und genau die hat er bekommen.
Ich spüre einen kleinen sehnsüchtigen Stich in meinem Herzen. Wenn ich die beiden so beobachte, erwische ich mich selbst dabei, wie ich mir vorstelle, wieder verliebt zu sein. Manchmal vermisse ich die innigen Momente, die Vertrautheit und das Gefühl, angekommen zu sein. Doch nach meiner letzten Beziehung habe ich beschlossen, mich fürs Erste vom Dating zurückzuziehen. Denn Beziehungen sind leider nicht nur Vertrautheit und innige Momente, sondern sie kosten auch Zeit und Kraft. Und davon habe ich gerade mal so viel, dass ich mich und meine Familie unter einen Hut bekomme.
Leni stellt die beiden Pflanzentöpfe fünfmal um, bevor sie zufrieden nickt. Danach zieht sie vier Kissen in jeweils unterschiedlichen Grüntönen hervor und drapiert sie auf der Couch. »Deine Lieblingsfarbe«, sagt sie an Jonas gewandt. Er lächelt.
»Ich glaub, ich pack's dann«, sage ich laut, weil die beiden sicher alleine sein wollen und nur zu höflich sind, um mich rauszuschmeißen.
Aber Leni reißt die Augen auf. »Was, du gehst schon? Wollen wir nicht zusammen essen?«
»Ja, Alter!«, ruft nun auch Jonas. »Ich dachte, wir kochen noch was. Ich hab extra eingekauft.«
»Na gut«, lasse ich mich breitschlagen. »Ihr habt euch damit zwar selbst um eure Zweisamkeit gebracht, aber mir soll's recht sein.«
Leni stellt sich auf die Zehenspitzen und drückt Jonas einen Kuss auf die Lippen. »Hunger schlägt Kuscheln, oder?«
Ich lache und übertöne damit meinen knurrenden Magen. Seit heute Mittag habe ich nichts mehr gegessen und kann daher Lenis Prioritätensetzung absolut nachvollziehen. Der restliche Abend ist lustig, und so fällt es mir leicht, meine drückenden Gedanken auf die Seite zu schieben. Heute genieße ich die Zeit mit meinen Freunden. Aber schon morgen werde ich mein Leben anpacken.
Nach der Arbeit ist vor der Arbeit
Am Montagnachmittag findet meine erste Schicht im Supermarkt statt. Dass ich neben meiner Ausbildung noch zusätzlich Geld verdienen möchte, war mir schnell klar, als ich endlich die Zusage für das Wohnheimzimmer in München erhalten habe. Der Mietpreis ließ mich nämlich kräftig schlucken! Natürlich unterstützen mich meine Eltern, dennoch will ich ihnen nicht vollständig auf der Tasche liegen. Außerdem erhoffe ich mir, einen Teil meines Gehaltes zurückzulegen, um mir ein kleines Sicherheitspolster für meine Selbstständigkeit anzusparen.
Der Supermarkt liegt praktischerweise fast gegenüber dem Theater am Gärtnerplatz, sodass ich keinen zusätzlichen Arbeitsweg auf mich nehmen muss. Mit klopfendem Herzen betrete ich die Filiale und sehe mich um. Die Schlangen an beiden Kassen sind lang, und während die Kunden ungeduldig mit den Zungen schnalzen oder mit dem Fuß tippen, ziehen die Kassierer mit geübten und schnellen Handgriffen die Waren über den Scanner. An der Flaschenrückgabe gleich neben dem Eingang hat sich ebenfalls ein kleiner Menschenauflauf gebildet, weil die Erste in der Reihe mit drei prallgefüllte Stofftaschen mit Glasflaschen klirrt.
Unschlüssig schiebe ich die Eingangsschranke zur Seite und betrete den Verkaufsbereich, während mein Blick prüfend durch den Laden wandert. Ich weiche einer Frau mit Einkaufswagen aus und gehe an Gemüse und Obst vorbei in den hinteren Teil.
Auf der Suche nach Mitarbeitenden, die ich ansprechen kann, biege ich um die nächste Ecke, und renne frontal in einen Jungen. Ich keuche erschrocken auf, als mein Kopf an sein Schlüsselbein prallt. Der Duft von Waschmittel steigt mir in die Nase.
»Oh, verdammt. Sorry«, sagt er und sieht durch dichte dunkle Wimpern zu mir herunter.
»N-Nichts passiert«, stottere ich und trete einen Schritt zurück. Himmel, sieht der gut aus! Seine kurzen dunklen Haare sind leicht zerzaust und die gleichmäßigen Gesichtszüge kantig. Seine breiten Schultern spannen sich an, als er die beiden gefüllten Stofftaschen in seinen Händen wie zur Erklärung ein kleines Stückchen in die Höhe hebt. »Ich muss weiter«, sagt er, und ein leichtes Grinsen umspielt seine Lippen.
Hitze schießt mir in die Wangen, als mir bewusst wird, dass ich ihn einfach mehrere Sekunden angestarrt habe. »Klar, bis dann«, sage ich schnell. Bis dann? Was rede ich denn da?
Er stutzt, aber dann wird sein Grinsen breiter. »Klar, bis dann!« Mit einem letzten amüsierten Blick schiebt er sich an mir vorbei und verschwindet hinter dem nächsten Regal.
Ich stöhne und drücke mir die Handballen an die Augen. Wie peinlich war das denn bitte?! Ich atme tief durch und lasse die Hände wieder sinken. So was passiert. Alles gut. Du bist hier, um zu arbeiten. Du suchst eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter. Los jetzt!
Bei der Dosenware werde ich fündig. Die Angestellte, die dort gerade die Regale einräumt, wirkt ansprechbar. Ich trete neben sie. »Entschuldigen Sie die Störung«, fange ich an. »Ich arbeite ab heute hier und weiß nicht, bei wem ich mich melden soll.«
Die Frau sieht sich um. Trotz vieler feiner Linien um Mund und Augen wirkt ihr Blick wachsam und irgendwie jung, obwohl ich sie auf ungefähr vierzig schätze. Ihre dunkelbraunen Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Bist du Alex?«
Ich bin überrascht, dass sie mich mit Vornamen anspricht. Gleichzeitig nimmt mir ihre offene Freundlichkeit etwas die Aufregung.
»Ja, genau die bin ich«, bestätige ich ihr und lächle vorsichtig.
»Bin ich froh, dass du da bist!« Sie stellt die beiden Doseneintöpfe ins Regal und hält mir ihre zierliche Hand entgegen. »Ich bin Marlene und momentan die Einzige, die sich um das Einräumen der Ware kümmert. Wir sind gerade leider sehr unterbesetzt.« Ich schüttle ihre Hand und sehe mich um.
»Ich unterstütze dich gerne, dafür bin ich da.«
Marlene führt mich zur Filialleiterin, die ich bereits im Zuge meiner Bewerbung kennengelernt habe. Ich bekomme ein rot-gelbes Poloshirt, das mich für die Kundschaft als Mitarbeiterin identifizieren wird, und nachdem ich es angezogen habe, geht's auch schon los.
Meine neue Kollegin und ich machen uns auf ins Lager und beginnen damit, die restliche Ware auf Paletten zu den entsprechenden Regalen zu fahren, um sie dann zügig einzuräumen. Ich spüre meine Arme schnell, als wir Dutzende Glasflaschen gefüllt mit verschiedenen Fruchtsäften, an ihren Platz bringen.
»Wohnst du in München?«, fragt mich Marlene, als wir einige Zeit ohne viele Worte nebeneinanderher gearbeitet haben.
Ich stelle mich auf Zehenspitzen, um eine Glasflasche in eines der oberen Regale zu verfrachten. »Ja, aber erst seit kurzem.«
»Ach, von wo seid ihr denn hergezogen?«
Ich winke ab. »Aus einem ganz kleinen Dorf, mit ungefähr hundert Einwohnenden. Das kennst du sicher nicht.« Zwei weitere Glasflaschen finden zu ihren Artgenossen. Meine Arme zittern bereits leicht. »Aber ich bin nicht mit meiner Familie hergezogen, sondern alleine.«
»Für die Ausbildung?«, mutmaßt Marlene.
Ich nicke. »Ein Jahr lang hatte ich jeden Tag eine Fahrtzeit von zwei Stunden. Das ist mir dauerhaft einfach zu viel geworden.«
Sie nimmt sich ebenfalls zwei Flaschen Orangensaft und stellt sie neben die meinen. »Ist ein großer Schritt, oder? In die erste eigene Wohnung zu ziehen? Bestimmt mussten deine Eltern ein kleines Tränchen verdrücken. Wenn meine Kinder irgendwann ausziehen, werde ich jedenfalls Sturzbäche heulen. Und dann bin ich wieder peinlich.«
Ich lache und fühle mich ertappt, denn sie hat den Finger genau in die Wunde gelegt. Auf der einen Seite habe ich der Freiheit und Unabhängigkeit entgegengefiebert, auf der anderen Seite wird mich heute ein stilles und dunkles Wohnheimzimmer empfangen, wenn ich nach Hause komme. Heute, morgen, übermorgen. »Es ist ... gewöhnungsbedürftig«, gebe ich widerstrebend zu.
Marlene sieht mich prüfend an, zwischen uns die Palette mit Orangen- und Multivitaminsaft. »Es wird besser, glaub mir. Als ich damals ausgezogen bin, bin ich jeden Abend zu meinen Eltern gefahren, um mit ihnen zu essen ... und weil ich die Stille nicht ertragen habe.« Überrascht sehe ich sie an. Kann sie Gedanken lesen? »Aber nach ein paar Wochen war die Stille nicht mehr drückend, sondern entspannend.«
Ich lächle zaghaft. Marlene schafft es innerhalb kürzester Zeit, mein Gefühlsleben zu analysieren und gleichzeitig mit ein paar Worten dafür zu sorgen, dass mir etwas leichter ums Herz wird. Natürlich sind auch Papa und Mama immer für mich da, wenn ich sie brauche. Doch ein Anruf ist nicht das Gleiche wie ein persönliches Gespräch und eine Umarmung.
Meine beste Freundin Sarah ist für ihre Verwaltungsausbildung nach Nürnberg gezogen, und damit ist sie noch weiter weg als meine Eltern. Natürlich, wir schreiben uns, schicken uns Sprachnachrichten und telefonieren, aber sie ist nicht hier. Zehn Jahre waren wir ein Herz und eine Seele, wussten alles voneinander ... und jetzt kenne ich noch nicht mal ihren Freund, obwohl sie schon seit sechs Monaten zusammen sind. Ein dicker Kloß gräbt sich in meinen Hals, und ich räuspere mich schnell.
Ich wechsle das Thema und rede vom Wetter und davon, dass ich lieber den Sommer mag als den Herbst. Marlene hat mir am ersten Tag bereits mehr Informationen entlockt, als ich jemals zuvor einem fremden Menschen so schnell gegeben habe. Sie strahlt diese Vertrautheit aus und sorgt mit ihrem warmen Lächeln dafür, dass ich vergesse, dass wir uns erst seit einem Tag kennen. Auch wenn mir das Gespräch guttut, muss ich aufpassen, dass ich nicht zu sehr in Plauderlaune gerate. Einmal ausgesprochen, lassen sich Aussagen nicht mehr zurücknehmen, und ich sollte mir lieber fünfmal überlegen, was ich über mein Seelenleben preisgebe. Vor allem bei der Arbeit.
»Doch, ich mag den Herbst ganz gerne«, erwidert Marlene und zuckt mit den Schultern. Ich hasse es, bei dreißig Grad zu arbeiten. Wenn die Einkaufenden hier ihre Bierkästen und ihr Grillfleisch kaufen, um danach Richtung Isar zu verschwinden, dann frage ich mich manchmal auch, was in meinem Leben schiefläuft.« Sie lacht herzlich, und ich stimme mit ein, denn ich fühle mich ertappt. Wenn ich in der Mittagspause das Glockenbachviertel entlangspaziere und ich die Leute im Café oder beim Shoppen beobachte, frage ich mich manchmal, wie das möglich ist. Die Innenstadt müsste doch zu den üblichen Bürozeiten wie leergefegt sein, oder wo bekommen diese Menschen sonst das Geld und die Freizeit für ihre Unternehmungen her? Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass sie Schicht- oder Wochenenddienst haben und ich mich glücklich schätzen kann, dass ich einen Beruf mit humanen Arbeitszeiten gewählt habe. Ich werde es vermutlich nie erfahren.
Die restliche Zeit arbeiten wir konzentriert vor uns her, lassen uns nur hin und wieder von der Kundschaft unterbrechen, die sich nach bestimmter Ware erkundigen.
Als ich am Abend auf mein Bett falle, bin ich mehr als nur geschafft. Ich hatte mir den Nebenjob leichter vorgestellt, aber im Nachhinein frage ich mich, wie ich auf diese absurde Idee kommen konnte. Ich hoffe, dass sich mein Körper schnell an die zusätzliche Belastung gewöhnen wird und ich nicht jedes Mal nach der Arbeit zermatscht und ohne Restenergie einschlafe.
Trotzdem bereue ich die Wahl meines Nebenjobs nicht, denn im Supermarkt wird kein Tag wie der andere sein, und ich werde nicht in eine langweilige Routine verfallen. Außerdem mag ich den Kontakt zu Menschen, auch wenn manche ungeduldig und fordernd auftreten, sind die meisten sehr nett und dankbar, wenn ich ihnen weiterhelfe. Und Marlene ist eine superliebe Person, und ich bin so froh, dass sie mir als Kollegin zur Seite stehen wird. Eine erfüllende Arbeit ist wichtig, nette Kolleginnen und Kollegen sind wichtiger – zumindest für mich. Auch, wenn ich meinen Traumjob als Bühnenbildnerin anpeile, würde dieser Traum doch einen Knacks bekommen, falls ich das Gefühl hätte, nicht mit Leuten, sondern gegen sie zu arbeiten.