Mein Leben als Pinguin - Katarina Mazetti - E-Book

Mein Leben als Pinguin E-Book

Katarina Mazetti

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Beschreibung

Wilma aus Stockholm, Lehrerin und tapfere Optimistin mit Unterbiss, hat es nicht leicht im Leben. Deshalb erfüllt sie sich ihren großen Traum: eine Reise in die Antarktis, zu den Pinguinen. Doch am Flughafen in Paris geht wieder mal fast alles schief: Erst in letzter Minute stolpert sie buchstäblich ins Gate und Tomas direkt in die Arme. Der wurde vor kurzem von seiner Frau verlassen und vermisst seine Kinder. Traurig sucht er die Einsamkeit – doch da hat er nicht mit Wilma gerechnet. An Bord der MS Orlowskij entdecken sie, dass man zusammen weniger allein ist – denn stehen Pinguine nicht immer ganz eng beieinander im eisigen Wind am Ende der Welt? Entdecken Sie auch das Hörbuch zu diesem Titel!

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Katarina Mazetti

Mein Leben als

PINGUIN

Roman

Aus dem Schwedischen von Katrin Frey

Ullstein

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Mitt liv som pingvin bei Alfabeta Bokförlag, Stockholm.

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen,wie etwa Vervielfältigung,Verbreitung, Speicherung oderÜbertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

ISBN 978-3-550-92012-7

© 2008 by Katarina Mazetti © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

Vorwort

Alle Personen in diesem Buch entstammen dem Kompost aus Beobachtungen, Erinnerungen und Tagträumen, der sich im Laufe der Zeit im Hinterkopf der Autorin gebildet hat. Im Gegensatz zu den See-Elefanten, Albatrossen, Sturmvögeln, Schwertwalen und Pinguinen hat KEINE Person ein reales Vorbild. (Meine Reisegruppe von der Professor Multanovskij wird sich freuen, das zu hören.)

Man kann das Buch Wort für Wort oder quer lesen. Falls Sie Abschweifungen nicht mögen, konzentrieren Sie sich einfach auf den Hauptstrang: die Kapitel von Wilma, Tomas und Alba. Ansonsten besuchen Sie auch die Kabinen 502, 311 und 412 (diese kursiv gesetzten Kapitel machen etwa ein Zehntel des Buches aus).

Wir leben nebeneinanderher und haben nur wenig Einblick in die Privatsphäre unserer Mitmenschen. Das hat mich schon immer beschäftigt. Die Rolle des allwissenden Erzählers dagegen hat mir nie behagt. Daher betrachte ich die Geschichte aus dem Blickwinkel von mehreren Personen (fünfzig – so viele Passagiere sind an Bord – wären mir allerdings auch zu viele). Wenn es Ihnen zu unruhig wird, überspringen Sie einfach die kursiven Kapitel. Ich selbst überblättere immer Landschaftsbeschreibungen und Schlägereien.

Herzlichen Dank an Olle C. für Fakten, Formulierungen und Inspiration.

Hauptfiguren:

Alba, 72 Jahre.

Hat, wie der Albatros, viel von der Welt gesehen.

Tomas, 34 Jahre.

Finsterer Feldherr, dem soeben klar wird, dass die Kavallerie ihn im Stich lässt.

Wilma, 32 Jahre.

Burschikose Optimistin mit Unterbiss.

Stimmen in verschiedenen Kabinen:

Kabine 502, Jansson, Lennart und Jansson, Brittmarie

Brittmarie ist für alles offen, Lelle dagegen hat die Nase voll von neuen Ideen.

Kabine 311, Båvén, Ulla und Knutsson, Margareta

Zwei Damen 59+ auf der Suche nach je einem gut erhaltenen Witwer mit Bedarf nach Führung.

Kabine 412, Alvenberg, Mona und Alvenberg, Göran

Göran weiß, was er will. Mona weiß auch, was er will.

Weitere Nebenfiguren:

Schiffsarzt Sven, Carola Spanderman, die ein Händchen für einzigartige Werbekampagnen hat, der Ornithologe Pelle, ihr Bewunderer, die fiese große Schwester Linda Borkmeyer, 49, und ihre schüchterne kleine Schwester Lisa, 42, die Reiseleiter Bengt, Magnus und Mirja, Kapitän Grigorij, Barkeeper Bill von den Falklandinseln, einige allein stehende Herren mit Ferngläsern sowie unzählige Vögel, Fische, Wale, Delphine, Robben und circa eine Million verschiedenster Pinguine.

Charles de Gaulle Airport, Roissy, Paris, 28. Oktober

Wilma

So in etwa stelle ich mir die Hölle vor.

Ich drücke mir die Nase an einer Glaswand platt. Dahinter Gate 28, wo ich mich eigentlich befinden sollte. Seit einer Stunde! Verzweifelt klopfe ich an die Scheibe. So weit das Auge reicht, keine Tür. Dabei kann man in diesem seltsamen Gebäude weit gucken. Endlose Gänge, dass einem ganz schwindlig wird. Soll das etwa ein Raumschiff sein? Riesige Säle aus Glas und Stahl, der Mittelteil geformt wie eine Zigarre. Bestimmt kommt gleich Sigourney Weaver um die Ecke geflitzt. Ein Alien direkt hinter ihr.

Niemand reagiert auf mein Klopfen, nicht einmal die grimmigen Männer in Uniform, die ab und zu schwerbewaffnet an mir vorbeimarschieren. Sie sprechen Französisch. Im Gegensatz zu mir. Allerdings können sie nur Französisch. Wenn man sie auf Englisch anspricht, werden sie sauer. Sie legen drohend die Hand ans Halfter und jagen einen die endlosen Rolltreppen rauf. Oben warten andere Männer in Uniform und scheuchen einen wieder runter. Ich bin durch Kuppelhallen galoppiert, die von Rolltreppen in Glasröhren durchschnitten werden, ich bin in den falschen Bussen an ovalen Öffnungen vorbeigerauscht, die wie Legebatterien für Außerirdische aussehen, und ab und zu habe ich vor lauter Verzweiflung auf Schwedisch vor mich hingeschluchzt. Es gibt einige wenige Schilder, alle auf Französisch und jedes auf seine Art verwirrend. Auf einem steht »bagage«, darunter ein Pfeil nach rechts und einer nach links. Auf einem Schild! Ich habe wirklich etwas übrig für Franzosen, aber Charles de Gaulle bringt ihre schlechtesten Seiten zum Vorschein.

Ich muss seit Stunden herumirren. Irgendwie ist es von Anfang an nicht gut gelaufen. Das Taxi von dem Flughafen, wo mein Billigflieger ankam, hierher hat ein Vermögen gekostet. Dann wusste ich nicht, an welchem Ende von Charles de Gaulle ich anfangen sollte. Ich hätte gleich einen einheimischen Guide engagieren sollen. Oder einen Pfleger.

Eine Zeitlang hüpfte ich vor einem Infoschalter von einem Bein aufs andere. Es muss nach akuter Blasenentzündung ausgesehen haben. Die anderen zogen un gerührt an mir vorüber, wie an einer Verkehrsinsel im Berufsverkehr. Ich bin einfach nicht fähig, mich auf internationale Art anzustellen, immer stehen mindestens drei Personen vor mir. Hinter dem Schalter drei wunderschöne Französinnen. Eine unterhielt sich angeregt mit einem gutgebauten amerikanischen Backpacker. Sie müssen enge Freunde gewesen sein, vielleicht hatten sie eine Liebesaffäre, was weiß ich. Jedenfalls ließen sie sich in der halben Stunde, die ich dort verbrachte, nicht eine Sekunde aus den Augen und schoben zärtlich Papiere und Tickets hin und her. Die andere Schönheit verfasste offenbar ihre Memoiren. Sie kritzelte fieberhaft, hielt plötzlich inne, stierte träumerisch ins Leere und kaute auf ihrem Stift. Die dritte betätigte sich mit schriller Stimme als Rausschmeißerin und scheuchte die Leute wild gestikulierend zu den anderen Schaltern.

Ich begriff, dass mir diese drei Frauen niemals sagen würden, was ich zu tun hatte. Mein Flug aus Schweden war mit zweistündiger Verspätung angekommen und den Anschlussflug nach Santiago würde ich aller Wahrscheinlichkeit nach verpassen. Das Flugzeug musste ziemlich genau in dieser Sekunde zur Startbahn rollen. Mit meinem Gepäck an Bord! Das hatte ich nämlich noch aufgegeben, bevor ich zum falschen Terminal gehastet war. Auf Nimmerwiedersehen!

Das Ganze war eine Nummer zu groß für mich. In meinem normalen Leben kommt manchmal der Bummelzug zu spät, und dann muss ich zum Bus rennen. Hatte ich vergeblich all diese piependen Pforten durchquert, an denen strenge Sicherheitskräfte vorwurfsvoll auf meine Wasserflasche zeigten – keine Flüssigkeiten! – und triumphierend meine Pinzette aus dem Schminktäschchen fischten? Dachten die, ich wolle damit das Flugzeug kapern?

Ein schlechtes Gewissen hatte ich trotzdem. Darin bin ich ganz groß. Ich habe von klein auf trainiert und formuliere im Geiste schon ein Geständnis, wenn ich ein Verbotsschild sehe. Warum dieses ständige Schuldgefühl, woher kommt die Angst, ich könnte jeden Moment ertappt werden? Sind das die Gene?

Ich weiß noch genau, wann ich mich zum ersten Mal geschämt habe. Ich war fünf und saß auf einer Bank vor dem Krankenhaus, in dem gerade meine Mutter starb.

Man hatte mir gesagt, ich sei noch zu klein, um mit hineinzukommen, ich solle artig dort warten. Ein paar Stockwerke höher hing eine Tagesdecke über einem Balkongeländer. Ich guckte nach oben und überlegte, hinter welchem Fenster meine Mama war. Plötzlich erfasste der Wind die Tagesdecke und fegte sie mir vor die Füße. Ich bekam einen Riesenschreck. Man würde mit mir schimpfen, weil die Tagesdecke schmutzig geworden war! Jeder würde merken, dass es meine Schuld war, schließlich war sonst niemand hier unten …

Wie kam ich auf solche Gedanken? Vor lauter Angst rannte ich weg. Als man mich bibbernd an der Bushaltestelle fand, bekam ich dann richtigen Ärger, weil man mich hatte suchen müssen, obwohl Mama schwerkrank war und überhaupt! Ich schämte mich immer mehr. Ich weiß noch, dass ich während der Schimpftirade krampfhaft lächelte. Da schrie Tante Elisabeth: »Ich fass es nicht, dieses Kind grinst auch noch!« In diesem Moment entstand bei mir wohl der Eindruck, dass ich schuld am Tod meiner Mutter war.

Manchmal lächle ich heute noch Leute an, die mir Vorwürfe machen. Irgendwie will ich mich entschuldigen.

Sollte ich mich nun zu SAS durchfragen und mich heulend auf deren Schalter werfen, damit sie mir einen Rückflug spendierten? Sollte ich die Reise meines Lebens verpassen?

Eine totale Katastrophe. Ich hatte mir das alles ganz anders vorgestellt, als ich heute Morgen um fünf zitternd vor Aufregung in ein ungeheiztes Taxi stieg, das mich zu einem Zug transportierte, der mich zu einem Bus transportierte, der mich zu einem Flughafen transportierte, von dem sonst niemand aus meiner Reisegruppe abflog. Die anderen sollte ich erst in Paris treffen.

Ob es die Leute hinter der Glasscheibe sind? Einige tragen Rucksäcke mit schwedischen Flaggen. Ich nähere mich ihnen so weit wie möglich und hämmere wie wild an die Scheibe.

In diesem Augenblick entdecke ich eine Tür! Irgendjemand brüllt etwas Französisches, aber ich stelle mich taub, senke den Kopf wie ein Stier und galoppiere mit meinem albernen kleinen Rollkoffer Richtung 28 A. Ein Pinguin auf Rädern. Wenn man auf den Schnabel drückt, piept er. Meine Lehrerkollegen haben ihn mir für die Antarktisreise geschenkt. Sie hatten ihren Spaß, als ich das Ding auspackte, aber sie müssen damit ja auch keine Reisegruppe beeindrucken. Ich lächelte gequält, aber natürlich nahm ich den Vogel mit. So bin ich.

Nun sprintete ich zum Gate, wo soeben die letzten Passagiere in Richtung Bus verschwanden. Würde ich das Flugzeug tatsächlich noch erreichen? Ich hielt einer weiteren Dame hinter einem weiteren Schalter meinen Pass und meine Bordkarte vor die Nase und hörte plötzlich eine freundliche Stimme auf Schwedisch sagen: »Hej, Wilma! Schön, dich zu sehen! Dann sind wir jetzt vollzählig. Keine Sorge, der Flug nach Santiago hat Verspätung. Tief durchatmen, du zitterst ja am ganzen Leib!«

Die junge Frau mit dem Logo des Reiseveranstalters an der sportlichen Weste mit den vielen Taschen nahm mich am Ellbogen und lenkte mich in Richtung Ausgang. Ich war so in Fahrt, dass ich einfach weiterraste. Als ich einen Fuß in den Zubringerbus setzte, stolperte ich und flog buchstäblich auf die Nase. Der Pinguinschnabel piepste freundlich, als ich mich wieder aufrappeln wollte. Unzählige Gesichter starrten mich an.

Eins von ihnen löste sich aus der Menge und beugte sich zu mir herunter. Zwei lange Arme in einem Islandpullover hievten mich auf einen Sitz und warfen den Pinguin auf die Gepäckablage. Ich tat, als hätte ich den Bus ganz bewusst mit einem Hechtsprung betreten, und lächelte. Dann erblickte ich den Mann, der zu den Armen gehörte.

Er war groß und dunkelhaarig und hatte ein ausdrucksvolles finsteres Gesicht mit buschigen Augenbrauen und Hakennase. Wie ein Raubvogel, der noch nichts gegessen hat, oder wie ein Feldherr, dem soeben klar wird, dass die Kavallerie ihn im Stich lässt. Doch was kümmerte mich sein Aussehen, er hatte mir ohne Umschweife geholfen, und das würde ich ihm nie vergessen.

Das fängt ja gut an. Eigentlich wollte ich meine Gleichgewichtsstörungen so lange wie möglich verbergen. Hoffentlich denken die Leute, ich wäre betrunken …

Das Flugzeug war riesig, aber nicht voll besetzt. Gemeinsam durchpflügten der Feldherr und ich das Meer von Sitzen. Unsere Plätze lagen nah beieinander, dazwischen war alles frei. Nachdem er meinen Pinguin zum zweiten Mal auf eine Ablage bugsiert hatte, ließ er sich auf den Sitz neben mir fallen, reichte mir majestätisch seine Pranke und sagte: »Tomas!«, als wäre das der Name der Hand, die er mir zur Ansicht überließ. Wie soll ich es ausdrücken? Seine Einzelteile passten nicht richtig zusammen, irgendwie war er nicht bei sich, sondern in Gedanken ganz woanders. War er ein Mensch mit Tiefgang? Ein Dichter, ein zerstreuter Professor oder ein Selbstmordkandidat, der überm Atlantik den Absprung plante?

Beim Essen – der Fraß wurde in Plastiknäpfen serviert – unterhielten wir uns ein bisschen. Er sagte, er sei Journalist. Exjournalist, fügte er mit gerunzelter Stirn hinzu. Was soll das heißen, Ex? Hatte man ihn aus dem Journalistenverband geworfen?

Er fragte, ob ich Familie habe.

»Nee«, antwortete ich. »Meine Familie ist im Frühjahr verstorben. Das heißt, mein Vater ist gestorben, mehr Familie habe ich schon lange nicht mehr. Und du?«

»Ich auch nicht«, sagte er. »Ich bin Exvater.«

Das klang so grauenhaft, dass ich nicht nachzufragen wagte. Waren seine Frau und die Kinder verunglückt? Offenbar merkte er selbst, wie unklar er sich ausgedrückt hatte, denn er fügte mit dem Mund voller Hähnchenpampe hinzu: »Gemieden!« Wahrscheinlich meinte er geschieden.

Ich musste mir die Beine vertreten, weil mir vom langen Stillsitzen alles weh tat. Tomas wanderte genauso rastlos auf und ab. Die anderen Passagiere standen vorm Klo oder dösten.

Nachdem wir uns tapfer durch eine süßliche Liebeskomödie gekämpft hatten, klappte Tomas die Armlehnen hoch und breitete sich zum Schlafen über mehrere Sitze aus. Ich richtete mich kerzengerade auf.

»Vielleicht hat jemand die Plätze reserviert!« Ich fahre meistens Zug.

Er machte ein Auge auf und lächelte zum ersten Mal.

»Und der steigt mitten überm Atlantik zu?«

Flug von Paris nach Santiago, Chile zwischenlandung São Paulo, 28. – 29. Oktober

Tomas

Im ersten Moment hielt ich die Person, die mir im Flughafenbus vor die Füße fiel, für einen etwas zu lang geratenen Jugendlichen mit struppigen roten Haaren und einem albernen Rollkoffer in Pinguinform. Als ich jedoch die großen grauen und unglücklichen Augen und die zitternde Unterlippe sah, wurde mir klar, dass es sich um eine Frau handelte, und zwar um eine, die es überhaupt nicht leicht hatte. Instinktiv half ich ihr auf die Beine und setzte sie auf einen Sitz, als wäre sie eins meiner Kinder.

Werde ich von nun an öfter aus heiterem Himmel solche väterlichen Dinge tun? Werde ich meinen Mitreisenden die Schuhe zubinden oder ihnen Taschen tücher unter die Rotznasen halten und sagen: »Schnaub!«?

Ich vermisse die Kinder so. An meiner Seite klafft ein Loch. Einfach weg.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass die burschikose Frau die Erste aus meiner Reisegruppe war, die ich wirklich wahrnahm. Dabei begleiteten mich die meisten schon seit Stockholm. Außer ihr erinnerte ich mich nur an die Weißhaarige mit dem scharfen Blick, die so elegant, aber erstaunlich praktisch angezogen war. Ihr Lederrucksack schien viel herumgekommen zu sein. Sie blieb mir vor allem deshalb im Gedächtnis, weil sie auf den Marmorkacheln ungeniert Kästchenhüpfen spielte.

Die Sitze waren offenbar für kleine Südamerikaner gedacht. Meine langen Beine mit den knochigen skandinavischen Knien hatten in der Enge nichts zu lachen. Ich wanderte viel auf und ab und belauschte die Leute. Berufskrankheit. Die Schweden hatten sich in der Mitte des Flugzeugs zusammengerottet.

Eine zerzauste kleine Blondine kicherte einer farblosen Gestalt mit dünnem Haar ins Ohr. Dabei schmachtete sie dem glutäugigen Steward hinterher, der soeben die alkoholischen Getränke serviert hatte. »Hast du gesehen, wie lange mir dieser süße Steward in die Augen geguckt hat? Vielleicht mag er blonde Mädchen. Wie er wohl heißen mag …«

»Mädchen« war in diesem Fall eine arge Beschönigung. Sie musste zwischen vierzig und fünfzig sein.

»Dafür werden die bezahlt«, murmelte ihr Partner. »Männliche Stewardessen sollen übrigens oft schwul sein.« Die Zerzauste tätschelte ihm gedankenverloren die Wange, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Ich wanderte weiter. Zwei sorgfältig mit Henna gefärbte Damen reckten die Nasen über die Rückenlehnen und sondierten die Lage.

»Der große Grauhaarige da«, sagte die eine. »Der Hut mit den vielen Abzeichen! Ist bestimmt allein unterwegs! Der könnte was sein!«

»Hm, glaubst du nicht, dass der sich nur für Vögel interessiert?«, wendete die andere ein. »Das sind Vogelbroschen! Außerdem sieht er selbst aus wie ein Kiebitz.«

»Man darf nicht zu wählerisch sein!«

Der Kiebitz würde sich auf dieser Reise in Acht nehmen müssen.

Hinter ihnen sah ich eine Frau und einen Mann im Partnerlook. Sie hatte sich in ihrem hellblauen Fleecepulli halb aufgerichtet und verrenkte sich hierhin und dorthin, um sich mit den anderen Passagieren zu unterhalten. Hin und wieder warf sie unglückliche Blicke auf den männlichen Pullover an ihrer Seite, der ihr in alle Richtungen den Blick versperrte. Er schlief mit einer Zeitung auf dem Gesicht oder tat zumindest so.

Vor der Toilette standen die Leute Schlange. Die Weißhaarige starrte sehnsüchtig aus dem Fenster. Wir plauderten ein Weilchen, und sie erzählte mir, dass sie schon immer davon träumte, den Pilotenschein zu machen. »Irgendwann klappt es!«

Eindeutig senil. Sie musste an die siebzig sein.

Bevor die Kinder geboren wurden, waren Sanna und ich viel gereist. Mindestens einen Monat im Jahr waren wir unterwegs und unternahmen fast nie Gruppenreisen. Wir machten Trekking in Afrika – viel zu schlechte Shoppingmöglichkeiten, fand Sanna –, Wanderungen durch Nordschottland (dito) und mieteten ein Haus in Italien. Dort gefiel es ihr. Mit einer Tasche voller Schuhe fuhr sie nach Hause. Ich schrieb Reportagen über die Länder, die wir bereisten. Sobald ich Sanna auf einem Markt oder in einem Einkaufscenter abgesetzt hatte, zog ich mit meinem Tonbandgerät los. Abends redeten wir nicht über meine Entdeckungen, sondern über ihre … Aber das störte mich nicht. Ich fand sie niedlich.

Mit alldem war Schluss, als die Kinder kamen, zuerst Asta und dann Arvid. Nun musste ich den Ernährer spielen. Die Honorare von Freiberuflern erlauben keine monatelangen Auslandsreisen mit Familie. Es waren glückliche Jahre, aber ich war nicht oft in dem Reihenhaus, das wir uns mühsam zusammengespart hatten. Jedes Mal, wenn ich von einer längeren Recherche nach Hause kam, hatte Sanna ein Zimmer in einer anderen Farbe gestrichen, die Möbel umgestellt oder gleich neue gekauft. Wenn ich spätnachts ins Haus schlich, fand ich nur mit Mühe unser Bett. Meine Frau erkannte ich ebenfalls kaum wieder – meistens hatte sie ihre Frisur und ihren Stil vollkommen verändert.

Sanna … Meine kleine Waldfee mit den vielen Haarfarben. Strähnchen sagte sie dazu. Als wir uns Knall auf Fall ineinander verliebten und sofort heirateten, hatte sie einen äußerst peinlichen Beruf. Nageldesignerin. Sie klebte Perlen und Vögelchen auf die Fingernägel von anderen Leuten! Gott sei Dank hatte sie das selbst langsam satt und machte eine Umschulung zur Wohnberaterin. Es war immer urgemütlich, wenn ich von meinen Reisen zurückkam. Die Kinder kletterten auf mir herum und durchsuchten meine Taschen nach Geschenken, während Sanna mir stolz die neue Einrichtung zeigte. Dann gingen die Kinder und ich eine Runde auf den Spielplatz, Sanna bereitete ein fürstliches Mahl zu, und wenn die Kleinen schliefen …

Was sie wohl in diesem Augenblick treiben? An der amerikanischen Westküste müsste es sieben Stunden früher sein. Ob der Chauffeur die Kinder zur Schule bringt? Der Hulk hat schließlich genug Geld. Dann frühstücken er und Sanna in Ruhe und gönnen sich ein eheliches Schäferstündchen … am Pool … Scheiße, warum suhle ich mich immer in solchen Phantasien?

Zornig nahm ich drei Sitze in Beschlag und machte mich lang. Fräulein Rotschopf wurde knallrot. Sie hatte Angst, etwas Verbotenes zu tun. Wahrscheinlich ebenfalls eine Berufskrankheit, als Lehrerin muss sie schließlich für Zucht und Ordnung sorgen. Aber das hier war ein Airbus, und wir hatten eine Mittelreihe mit sechs freien Plätzen für uns alleine! Am Ende machte sie es sich ebenfalls gemütlich. Auch sie hatte lange schwedische Beine.

Wir streckten die Füße in entgegengesetzte Richtungen und setzten die Schlafmasken auf, die der Steward verteilt hatte. Als ich aufwachte, lagen unsere Köpfe Wange an Wange auf dem mittleren Sitz. Ich blieb einen Augenblick reglos liegen und dachte darüber nach, wie sehr ich die leichten Atemzüge eines schlafenden Menschen an meiner Seite vermisst hatte.

Flug von Paris nach Santiago de Chile Zwischenlandung São Paulo, 28. – 29. Oktober

Alba

Die beiden weiblichen Passagiere neben mir machen keinen vielversprechenden Eindruck. Ich habe an ihren Kofferanhängern gesehen, dass sie in derselben Reisegruppe sind wie ich. Die eine muss zehn Jahre älter sein und zwingt die Jüngere ständig, ihr alkoholische Getränke zu holen, die sie sich dann unverzüglich hinter die Binde kippt. Da sie dauernd über »Mutter« sprechen, nehme ich an, dass es sich um Schwestern handelt. Offenbar hat die Ältere die Jüngere zu der Reise eingeladen. Diesen Umstand erwähnt sie pausenlos. Die Älte re ist so aufgedonnert, dass sie von weitem jünger wirkt als ihre Schwester, aber der Schein trügt. Sie ist geliftet, verziert, blondiert und geföhnt. Die kleine Schwes ter dagegen sieht wie eine geschlauchte Pfadfinderin aus, ungeschminkt, aber mit Zöpfen. Als die Wirkung der Getränke einsetzte, wurde die Ältere immer lauter. Die Jüngere machte sie vergeblich darauf aufmerksam.

»Ich habe dich nicht eingeladen, damit du mich zurechtweist«, kläffte die Ältere.

Unangenehme Person, ich werde ihr aus dem Weg gehen. Von der Sorte gibt es auf jeder Reise ein paar.

Laut Passagierliste handelt es sich um Linda Borkmeyer und Lisa Johansson. Linda ist die Ältere.

Es wurde langsam spät, jedenfalls in unserer Zeitzone. Das Licht ging aus, das Kabinenpersonal verteilte auf Zehenspitzen Wolldecken und Schlafmasken, die Leute suchten sich die am wenigsten unbequemen Stellungen und knüllten sich Kissen unter den Kopf.

Auch ich musste gähnen. Ich zähle nie Schäfchen, sondern gehe in Zimmern und Häusern, Schiffskabinen, Ferienhäusern, Pensionen oder Wohnungen von Freunden und Liebhabern ein und aus, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt habe.

Ich machte die Augen zu. Welcher Ort war so neutral, dass ich trotz der zwickenden Stützstrümpfe einschlafen konnte?

Flughäfen! Auf ihnen kann man sich treiben lassen, bis man in den Schlaf sinkt.

Charles de Gaulle mit seiner bizarren Raumschiffarchitektur? Kein Favorit von mir, aber früher war es noch schlimmer. Inzwischen wird wenigstens vereinzelt versucht, die Reisenden in die richtige Richtung zu leiten.

In Stansted in England war ich 1964 zum ersten Mal. Damals war es eine kleine Baracke, die während des Krieges als Militärflugplatz gedient hatte; keine Sitzgelegenheiten, kein Getränkeautomat. Als ich letztes Jahr dort war – eine Riesenanlage! Hunderttausende von Passagieren werden dort durchgeschleust, Schalter, so weit das Auge reicht.

Manchmal wird mir schlagartig bewusst, wie lange ich schon lebe.

Der Flugplatz in Murmansk mit den grimmigen Grenzpolizisten. Das Gepäck wurde zu Füßen des Piloten in der Schnauze des Flugzeugs verstaut, wo nicht mehr Platz war als in einem gängigen Kofferraum. Dem Gleichgewicht zuliebe packte der Pilot mehrmals um … Ob wir wohl abgestürzt wären, wenn eine Reisetasche zu weit rechts gestanden hätte?

Thiruvananthapuram in Kerala. Bei meinem letzten Besuch gesellte sich zu jedem Reisenden eine zierliche Dame im Sari und begleitete ihn mit dem Notizblock in der Hand von einer Station zur anderen. Pass vorzeigen. Ticket vorzeigen. Gepäck einchecken. Durch eine Kontrolle, wieder ans Rollband, das Gepäck suchen, vorzeigen und sich einen Stempel abholen. Das Handgepäck öffnen, das zur Sicherheit mit rotem Klebeband umwickelt wird. Wieder den Pass zeigen. Portale durchqueren. Formulare ausfüllen und so weiter. Insgesamt waren es vierzehn Stationen, und die kleine Frau im Sari notierte sorgfältig die jeweilige Uhrzeit.

Peking: unzählige Taxfree-Shops mit großen Seidenflaggen, auf denen seltsame englische Sprüche standen, mehr schlecht als recht mit Hilfe eines Wörterbuchs übersetzt – was sollte zum Beispiel »All Commodities Send Their Regards« bedeuten? Alle Bequemlichkeiten lassen herzlich grüßen? Und überall tummelten sich winzige männliche und weibliche Beamte in hellblauen Uniformen …

Der riesige, aber übersichtliche Flughafen Schiphol in Amsterdam, der chaotische Kennedy Airport in New York. Im ersten Moment erscheint einem die Ankunftshalle klein, doch dann begreift man, dass es noch acht weitere Terminals gibt.

Auf dem Nyerere-Flughafen in Dar es Salaam war ich bestimmt seit zehn Jahren nicht. Die Hitze, die Gerüche.

Dubai International strotzt vor Luxus, Marmor und Gold. Männer in langen weißen Gewändern und komplett verschleierte Frauen in Schwarz ziehen sich in einen Gebetsraum zurück.

Die kurze gefährliche Landebahn in den Bergen auf Madeira …

Irgendwo da schlief ich ein und wachte erst wieder bei der Zwischenlandung in São Paulo auf. An diese Stadt habe ich weniger angenehme Erinnerungen. Ich war als Putzfrau auf einem Bananenschiff dorthin gekommen. Ich war erst achtzehn, sah aber viel älter aus. Ein finnischer Fälscher, den ich im Stockholmer Park Humlegården kennenlernte, korrigierte freundlich und professionell das Geburtsdatum in meinem Pass. Das musste sein, weil ich schon mit fünfzehn von zu Hause weggelaufen war, man damals aber erst mit einundzwanzig volljährig wurde.

Laut dem damaligen Pass müsste ich siebenundsiebzig sein, in meinem neuen steht mein tatsächliches Alter: zweiundsiebzig.

Doch wie alle Menschen, die schon lange leben, altere ich innerlich nicht mehr. Mein gefühltes Alter beträgt sechsunddreißig. Ich bin immer verwirrt und verärgert, wenn mich die Leute wie eine alte Frau behandeln. Dazu haben sie kein Recht!

Ein alter Bekannter von mir sitzt ebenfalls im Flugzeug, und es wird mir ein Vergnügen sein, unsere Bekanntschaft wiederaufleben zu lassen. In den Siebzigern hatten wir eine äußerst erfreuliche Affäre. Er arbeitete als Schiffsarzt auf der Hurtigruten, die die norwegische Küste hochfährt. Ich habe ihn als zärtlichen und fürsorglichen Liebhaber in Erinnerung. Wir verbrachten einige unvergessliche Nächte zwischen Verbandszeug und Sauerstoffschläuchen. Die Passagiere auf diesem Schiff waren von erstaunlich robuster Gesundheit …

Zu guter Letzt musterte er in Bergen ab und kehrte zu Frau und Kindern zurück, soweit ich weiß. Wir hatten uns darauf geeinigt, dass seine Familie mehr Anspruch auf ihn hatte. Ich weinte, aber ich wusste, dass er unglücklich geworden wäre, wenn er seine Familie im Stich gelassen hätte. Seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen. Wenn ich es mir genau überlege, muss ich damals sechsunddreißig Jahre alt gewesen sein. Er war acht Jahre jünger und bereits Vater. Er heißt Sven und ist vor kurzem in Frühpension gegangen, um seine letzten Arbeitsjahre auf See zu verbringen. Er wird unser Schiffsarzt sein. All das erzählte er mir, nachdem wir uns auf dem Flughafen Arlanda überrascht in die Arme gefallen waren.

Im Moment sehe ich einige Reihen vor mir seinen Hinterkopf. Seine Haare sind schneeweiß, und in der Mitte, wo einst ein störrischer rotblonder Wirbel hochstand, ist er vollkommen kahl. Sven …

Santiago de Chile, 30. Oktober

Wilma

Ich habe nie kapiert, warum manche Menschen einen anziehen und andere nicht.

Wieso ist mir der Feldherr jetzt schon so vertraut? Wir sind doch völlig verschieden, und keiner meiner Bekannten hat Ähnlichkeit mit ihm.

Ich selbst habe ein Temperament wie ein junger Hund. Ich hechle fröhlich und munter und will von allen gemocht, gelobt und gestreichelt werden. Jedenfalls hat mir das eine Klassenkameradin einmal im Suff auf einer Schulfete gesagt. Ich werfe mich sozusagen auf den Rücken, damit man mir den Bauch krault, also nicht im wörtlichen Sinne, das ist nicht so mein Ding – aber wenn mir jemand ein Stöckchen hinwirft, bringe ich es schwanzwedelnd zurück und will gleich Freundschaft schließen.

Tomas ist finster, verschlossen und schwer zu verstehen. Nein, verschlossen ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck, schließlich hat er über zwei Kontinente und ein Meer hinweg mit mir geredet, obwohl ich ihn doch gar nicht kenne. Aber immer wenn man ihm eine persönliche Frage stellt, stößt man gegen eine gläserne Wand und muss zurück auf Los oder besser gesagt Charles de Gaulle. Er steckt voller Wände, verwinkelter Sackgassen und Schilder, die in zwei verschiedene Richtungen zeigen.

Ein heißes Eisen sind zum Beispiel seine Kinder. Wir haben uns zusammen die Spielsachen in der Werbebroschüre der Fluggesellschaft angesehen. Eine Weile erzählte Tomas gutgelaunt von den vielen Dingen, die er seiner achtjährigen Tochter schon von seinen Reisen mitgebracht hat, doch plötzlich verfinsterte sich sein Gesicht. Er murmelte, er müsse ein bisschen schlafen, und wendete mir, soweit das in einem Flugzeug möglich ist, den Rücken zu.