Mein Vater, der Mörder - Leo P. Ard - E-Book

Mein Vater, der Mörder E-Book

Leo P. Ard

4,8

  • Herausgeber: GRAFIT
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

In einem Hospiz stirbt ein alter Mann. Wie sich bald herausstellt, erlag er aber nicht seiner Krankheit, sondern wurde mit einem Kissen erstickt. Doch warum wird ein Todgeweihter ermordet? Erst ein Stapel Briefe aus der Vergangenheit bringt Hauptkommissarin Sonja Kruse bei ihren Ermittlungen einen Schritt voran. Zur gleichen Zeit lüftet Frank Berger ein jahrelang gehütetes Geheimnis: Sein Vater war als junger Mann bei der Fremdenlegion und hat in Vietnam eine Tochter gezeugt. Frank ist schockiert und stellt seinen Vater zur Rede. Als dieser schweigt, beschließt Frank kurzerhand, sich selbst auf die Suche nach seiner Halbschwester und der großen Liebe seines Vaters zu machen. Doch in Saigon wird er bereits erwartet, ein dort ansässiger Deutscher hat den unmissverständlichen Auftrag erhalten: Frank Berger darf sein Ziel nicht erreichen!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 310

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Copyright

© 2010 by GRAFIT Verlag GmbH Chemnitzer Str. 31, 44139 Dortmund Internet: http://www.grafit.de E-Mail: [email protected] Alle Rechte vorbehalten. eISBN 978-3-89425-817-7

Der Autor

Leo P. Ard, 1953 als Jürgen Pomorin in Bochum geboren, lebt als Drehbuchautor (Balko, Ein starkes Team, Der Staatsanwalt, Tatort) in Bochum und auf Mallorca. Das Drehbuch zu dem ARD-Krimi Polizeiruf 110 – Totes Gleis, das Pomorin gemeinsam mit Michael Illner verfasste, wurde mit dem Adolf-Grimme-Preis in Gold ausgezeichnet.

Mit Reinhard Junge schrieb er Das Ekel von Datteln und weitere Pegasus-Krimis. 2006 erschien der Anti-Fleisch-Krimi Der letzte Bissen, 2009 folgte − erneut mit Reinhard Junge − Mordsschnellweg, Kriminalstorys aus dem Ruhrgebiet.

Zitate

Der Weg nach Haus ist schwer. Für einen Legionär. Und viele sehen die Heimat, die Heimat niemals mehr.

Freddy QuinnDer Legionär war 1958 mehrere Wochen der Nummer-eins-Hit

Denn es steckt mit dir unter einer Haut. Und du weißt, es will raus ans Licht. Die Käfigtür geht langsam auf und da zeigt es sich: Das zweite Gesicht!

Ein Biest lebt in deinem Haus. Du schließt es ein, es bricht aus. Es kommt durch jede Tür. Es wohnt bei dir und bei mir.

Peter Fox Das Zweite Gesicht aus dem Album Stadtaffe (2008)

1

Matthias Birchel hatte sich seinen Abgang anders vorgestellt. Würdevoller. In den Armen eines treuen Kameraden, durch eine Gewehrkugel, beim Sturm auf eine feindliche Stellung. Alles wäre besser als das hier. Er lag in einem kleinen Zimmer in einem Sterbehospiz an der A 40, wo man trotz bunt bemalter Lärmschutzmauern sein eigenes Wort nicht mehr verstand.

Die Ärzte gaben ihm noch eine Woche, jeder Tag zusätzlich sei ein Geschenk. Scheißgeschenk! Das Atmen fiel ihm schwer, seine Lungen waren kaputt. Manchmal bekam er keine Luft und drohte zu ersticken. Ersticken war ein grausamer Tod − er wusste das. Mehr als einmal hatte er seine Hände um den Hals eines Menschen gelegt und zugedrückt, bis die Augen aus den Höhlen quollen und der Speichel des Opfers auf seine Hände tropfte.

In den Träumen der letzten Nächte waren sie alle wieder aufgetaucht, die Menschen, denen er Leid zugefügt hatte. Er wollte sie um Verzeihung bitten, aber sie hatten nur gelacht und ihm ein Verrotten in der Hölle gewünscht.

Er war kein schlechter Mensch – nein, er hatte in seinem Leben auch Gutes getan, was sein Freund Günther durchaus bezeugen konnte.

Die Hälfte seiner Ersparnisse würde der Berger Stiftung für traumatisierte Kinder aus Afghanistan zugutekommen. Das müsste positiv ins Gewicht fallen, wenn abgerechnet wird.

Günther Berger hatte ihn aus dem Bielefelder Krankenhaus herschaffen lassen und ihm den Platz in diesem Hospiz besorgt. Günther besuchte ihn jeden Tag, las ihm aus der Zeitung vor und plauderte mit ihm über alte Zeiten − ein echter Kamerad.

Die Krankenschwester Lena Misek, die aus der Nähe von Warschau stammte, wo ihr Mann und ihre zwei Kinder noch immer lebten, betrat das Zimmer und erfreute Birchel mit ihrem Dialekt und ihrem Lachen. »Ich habe gleich Feierabend. Brauchen Sie noch etwas?«

»Was machen Sie heute Abend, Lena?«

»Ich gehe ins Kino. Ein Film mit Brad Pitt. Ich liebe Brad Pitt.«

»Weiß das Ihr Mann?«

Lenas Lachen war ansteckend, aber schon bald schnappte Birchel nach Luft.

Mit kräftigen und geübten Handgriffen half ihm Lena, sich aufzusetzen, und hielt ihm eine Atemmaske hin.

Birchel winkte ab und atmete schwer. »Es geht schon.«

»Es ist traurig, dass Sie nicht mehr lachen können. Lachen ist gesund für die Seele.«

Matthias Birchel nickte. »Würden Sie mir ein weißes Hemd anziehen? Ich bekomme gleich Besuch.«

Lena sah ihn fragend an.

»Damenbesuch!«

Lena lächelte und öffnete den Spind. In dem kleinen Schrank befand sich alles, was Birchel noch besaß, nicht mehr, als man für eine einwöchige Reise ohne Rückfahrkarte benötigte.

Sie nahm ein weißes Hemd vom Bügel und half Birchel aus seiner Schlafanzugjacke. »Eine Freundin?«

»Die Schwester eines Freundes.«

»Sieht sie gut aus?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe sie noch nie gesehen.«

Lena zog ihm das weiße Hemd an und knöpfte es zu. »Wie nett, dass sie Sie besuchen kommt.«

»Ich muss ihr etwas über ihren Bruder erzählen.«

Lena griff unaufgefordert zu einem Kamm und versuchte, Ordnung in Birchels schütteres Haar zu bringen.

»Es ist eine traurige Geschichte. Aber sie hat ein Recht, sie zu erfahren.«

Lena tätschelte seine Hand. Birchel genoss die Berührung.

»Ich muss jetzt gehen. Morgen erzählen Sie mir davon.«

Birchel nickte. »Schönen Abend, Lena.«

Lena winkte ihm zu und ging.

Birchel schaute auf die Uhr. Es blieb ihm noch eine Stunde, seine Gedanken zu ordnen und sich auf das Gespräch vorzubereiten.

Vor ein paar Tagen hatte er den Entschluss gefasst, sie anzurufen. Diesem Entschluss war eine schlaflose Nacht vorausgegangen mit dem Ergebnis, dass er reinen Tisch machen musste. Er durfte sein Wissen nicht mit ins Grab nehmen. Eine letzte gute Tat.

Während er sich überlegte, wie und was er ihr sagen wollte, überkam ihn eine bleierne Müdigkeit. Er kämpfte gegen den Schlaf an und verlor.

2

Heute würde er sich nicht mit ihm streiten! Frank Berger hatte sich vorgenommen, jede Auseinandersetzung mit seinem Vater an dessen Geburtstag zu vermeiden.

Er würde eine Stunde Small Talk machen und sich dann verziehen. Sein Vater würde seinen Abgang bedauern, insgeheim aber froh sein, mit seinen Golffreunden allein zu sein.

Die Villa seines Vaters am Löwenzahnweg war hell erleuchtet. Die Wohlstandskarossen, mit denen die Straße vor dem Haus zugeparkt war, gehörten vermutlich den Gästen seines Vaters. Frank fand erst in der nächsten Querstraße Platz für seinen betagten Volvo. Er nahm sein Geschenk, die Lebenserinnerungen von Winston Churchill, vom Beifahrersitz. Sein Vater liebte Biografien berühmter Zeitzeugen.

Da in der Einfahrt zur Garage der Transporter eines Caterers stand, schien es sich mal wieder um eine größere Veranstaltung zu handeln.

Der Geburtstagsbesuch im letzten Jahr mit Anja hatte in einer Beziehungskrise geendet. Sein Vater hatte nicht ein einziges Wort an Anja gerichtet und ihre Versuche einer freundlichen Konversation durch demonstratives Desinteresse zunichtegemacht. Schon bei der ersten Begegnung hatte Günther Berger nicht verheimlicht, dass er Anja nicht leiden konnte. Als Frank ihn Wochen später nach dem Grund fragte, antwortete sein Vater, dass sich Anja respektlos benommen habe. Ihr Fauxpas war, nach der Begrüßung unaufgefordert Platz genommen zu haben. Leider im Lieblingssessel seines Vaters.

Nach der Feier hatte Anja Frank vorgeworfen, ihre Demütigung widerspruchslos geduldet zu haben und dass er erst das Feld geräumt hatte, als sie bereits im Mantel an der Tür stand.

Zwei weitere Begegnungen in einem italienischen Restaurant waren nicht harmonischer verlaufen, sodass Anja entschied, das nächste Wiedersehen mit Franks Vater auf dessen Beerdigung zu verschieben.

Günther Berger öffnete die Tür. Er war ein stattlicher Mann, dem man sein Alter nicht ansah. Selbst sein volles Haar hatte er über die Jahre gerettet. Er trug einen Anzug mit brauner Krawatte, die gut zu seiner Augenfarbe passte. Und er schien sich aufrichtig zu freuen, seinen Sohn zu sehen. »Junge, schön, dass du gekommen bist.« Er spendierte einen kräftigen Händedruck und legte kurz seine linke Hand auf Franks Schulter. Doch dann verdunkelte sich die Miene des Alten. »Lederjacke? Trägt man so etwas noch, wenn man über vierzig ist?«

»Ich komme gerade aus dem Studio und hatte keine Zeit, mich umzuziehen.« Verdammt, dachte Frank. Warum muss ich mich immerzu für alles entschuldigen?

In der Diele warf er einen kurzen Blick in den Spiegel. Die blauen Augen, die ihn anschauten, hatte er von seiner Mutter geerbt. Die fein geschnittene Nase und die braunen, leicht gelockten Haare waren Erbmasse seines Vaters. Frank trug eine Jeans und ein weißes Hemd; die eng geschnittene schwarze Lederjacke betonte seinen muskulösen Körper. Er hatte nicht umsonst viele Stunden in der Muckibude trainiert. Alles in allem war er mit seinem Aussehen zufrieden.

Als er jedoch die Lokalprominenz ausmachte, die Anzug und Krawatte trug, fühlte sich Frank wider Willen in seinem Outfit unbehaglich. Der Stadtdirektor war da, der Vorsitzende des Golfclubs, der Bankdirektor von der Hausbank seines Vaters, Rotarier und andere, die in Bochum Rang, Namen oder Geld hatten.

Da die Gäste damit beschäftigt waren, Canapés in sich hineinzuschaufeln und wichtige Gespräche zu führen, nahm keiner Notiz von ihm – trotz seiner unpassenden Kleidung. Nur die schwarzhaarige Bedienung, die mit einem Schnittchenteller ihre Bahnen zog, warf ihm einen neugierigen Blick zu.

Als Frank sich ein Sektglas angeln wollte, stieß er mit einem Mann zusammen, dessen Sakko augenscheinlich eine Nummer zu klein war. Entweder hatte er seinen Anzug zu heiß gewaschen oder er trug ihn nur zu seltenen Anlässen. Und der letzte musste zwanzig Jahre her gewesen sein. Der Mann – Frank schätzte ihn auf über sechzig − knipste ein Lächeln an, als er Frank erkannte. »Ach, der Junior. Wie läuft es denn so beim Radio?«

Frank grübelte angestrengt, aber er hatte keine Ahnung, wer da vor ihm stand. Sein Gegenüber erahnte seine Qualen.

»Kunold. Stefan Kunold. Ich war lange Jahre Betriebsratsvorsitzender in der Firma Ihres Vaters.«

»Tut mir leid, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe.«

»Wir werden alle nicht jünger.«

Die beiden nahmen Sektgläser von einem silbernen Tablett und stellten sich etwas abseits des Getümmels.

»Und? Sind Sie immer noch dabei?«, erkundigte sich Frank.

»Letztes Jahr ausgeschieden. Vorruhestand. Und ich bin ganz froh. Ist nicht mehr so wie früher, als Ihr Vater noch das Sagen hatte.«

Frank grinste. »Ich glaube mich zu erinnern, dass Sie früher anders über ihn gesprochen haben.«

Der Gewerkschafter kippte den Sekt herunter wie Wasser. »Ihr Vater war ein harter Hund. Aber er hielt immer sein Wort. Was seine Nachfolger gemacht haben, ist eine Schande.«

Frank nickte. Er wusste, was mit der Maschinenfabrik passiert war. Vor fünf Jahren hatte sein Vater die Firma verkauft. Sie geriet unter die Kontrolle einer Fondsgesellschaft, die die Firma ›gesundschrumpfen‹ ließ − schon das Wort war ein Hohn. Ein Teil der Produktion wurde ins Ausland und der profitable Kern an einen internationalen Konzern verkauft, der damit einen Marktrivalen aus dem Rennen werfen konnte. In ihrer Blütezeit hatte die Firma hundertachtzig Beschäftigte, heute fertigten noch knapp vierzig Mitarbeiter Maschinen für die Autoindustrie.

Kunold schnappte sich ein neues Glas. »Sie hätten die Firma übernehmen sollen! Sie hätten Ihrem Vater und der Belegschaft einen großen Dienst erwiesen.«

Franks Stimmung sank auf den Nullpunkt. »Herr Kunold. Können wir über was anderes reden?«

Der Sakkoträger murmelte eine Entschuldigung. Eine Zeit lang schwiegen beide und musterten die illustre Runde.

Frank schaute zu seinem Vater, der neben dem Stadtdirektor stand und mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr tippte.

Frank verstand die Geste. »Ich glaube, der offizielle Teil beginnt.«

Tatsächlich ließ der Stadtdirektor sein Sektglas klirren und trat demonstrativ in die Mitte des Raums. Die Gespräche verstummten.

»Lieber Günther Berger, zunächst einmal alles Gute zu Ihrem Geburtstag. Wir danken Ihnen, dass wir diesen Festtag mit Ihnen zusammen feiern dürfen, und versichern, dass wir alles austrinken und die Platten leer putzen werden.«

Vereinzeltes Schmunzeln.

»Wir alle wissen, dass Sie nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann sind, sondern auch ein sehr engagierter, hilfsbereiter und großzügiger Bürger. Was Ihre Stiftung für vom Krieg traumatisierte Kinder aus Afghanistan bewirkt hat, kann man kaum in Worte fassen. Wir Bochumer sind stolz auf Sie.«

Der Applaus war laut und ehrlich. Frank fixierte seinen Vater. Der war gerührt.

Der Stadtdirektor räusperte sich. »Ich komme jetzt zum Kern meiner kleinen Rede. Und damit verrate ich Ihnen, warum Günther Berger diesen Tag nicht nur mit Leuten feiert, die mindestens Handicap acht haben, sondern mit uns allen.« Er machte eine Kunstpause und genoss diesen Moment, in dem alle Augen auf ihn gerichtet waren. »Ich darf Ihnen mitteilen, dass Günther Berger auf Vorschlag des Rates der Stadt in wenigen Wochen aus der Hand des Ministerpräsidenten von NRW …«, wieder machte er eine effektvolle kurze Pause, »… das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommt.«

Es gab Hochrufe und donnernden Applaus, selbst Frank war ergriffen. Günther Berger trat neben den Stadtdirektor und setzte ein Siegerlächeln auf.

Als er hüstelte, kehrte wieder Ruhe ein.

»Herr Stadtdirektor. Ich danke Ihnen für die freundlichen Worte. Ich danke allen Anwesenden, die mit Geld- und Sachspenden meine Stiftung unterstützen. Einige von Ihnen haben Krieg nie erfahren, weil sie noch zu jung sind. Andere – und zu denen gehöre ich – haben den Krieg als Kinder erlebt. Ich war zehn Jahre alt, als er zu Ende war. Damals kannte man das Wort noch nicht, aber ich war es sicherlich – traumatisiert!«

Das Telefon klingelte. Frank ging in die Diele und nahm das Gespräch an. Als er zurück ins Wohnzimmer kam, hatte sein Vater seine kleine Ansprache beendet und respektvollen Applaus geerntet.

Bevor Günther Berger von Gratulanten in Beschlag genommen werden konnte, zog Frank ihn zur Seite. »Glückwunsch!«

»Wer hat da eben angerufen?«

»Jemand aus einem Hospiz in Wattenscheid.«

»Was wollte er?«

»Dich dringend sprechen. Er ist noch dran.«

Mit schnellen Schritten durchquerte Günther Berger den Wohnraum und wich potenziellen Gratulanten aus.

Frank schaute sich um, ob er irgendwo die nette Bedienung ausmachen konnte. Sie stand auf der Terrasse, von der man einen unverbauten Blick auf die Burg Blankenstein hatte, und rauchte. Gerade als er Kurs auf sie nehmen wollte, kehrte sein Vater aus der Diele zurück. Das Siegerlächeln war einer Trauermiene gewichen.

»Was ist passiert?«

»Matthias Birchel ist gestorben!«

»Wer ist Matthias Birchel?«

»Er war mein bester Freund.«

»Tut mir leid!«

Günther Berger nickte. »Tust du mir einen Gefallen, mein Sohn?«

»Klar!«

»Schmeiß das Pack raus. Ich will jetzt allein sein.« Günther Berger drehte sich um und ging die Treppe hoch.

Frank ließ seinen Blick über die fröhlich feiernde Runde schweifen. Dann holte er tief Luft und klatschte in die Hände.

3

Wattenscheid, 15.04.1952

Seit zehn Minuten stand Günther Berger in einem Gebüsch in der Nähe des Eingangs der Zeche Holland und beobachtete den Schichtwechsel. Er hatte Frühschicht und war als einer der Ersten aus der Waschkaue verschwunden. Sein Interesse galt dem Kiosk gegenüber dem Werkstor, an dem ein paar Kumpel noch ein schnelles Bier für den Heimweg tranken oder sich mit Lebensmitteln eindeckten, weil zu Hause keine Frau auf sie wartete.

Vor einem Jahr war Berger aus Quedlinburg in den Pott gekommen. Im Bergbau wurden dringend Leute gesucht und zu Hause gab es keine Arbeit für ihn. Die Stadt war immer noch überfüllt von Flüchtlingen aus dem Osten, die bereit waren, für einen Hungerlohn alles zu machen. Bergers Vater war im Krieg gefallen, seine Mutter hatte zwei Zimmer ihrer Wohnung untervermietet, um sich und ihn über die Runden zu bringen. Es war kein Zustand für einen Siebzehnjährigen, mit seiner Mutter in einem Bett zu schlafen.

Irgendwann erreichte auch ihn die Anwerbungskampagne, die einen sicheren Arbeitsplatz und guten Lohn versprach. Günther packte sein Bündel, brachte den tränenreichen Abschied von seiner Mutter hinter sich und startete in ein neues Leben.

Nach einer Gesundheitsüberprüfung hatte er einen Arbeitsvertrag bekommen und einen Platz im Lehrlingswohnheim. Dort musste er sich das Zimmer zwar mit drei anderen teilen, aber der Schichtbetrieb führte dazu, dass sie ohnehin nie alle zur gleichen Zeit anwesend waren. Außer an Sonntagen, da wurde es dann eng.

Mittlerweile hatte er sich mit einem guten Dutzend Kumpel aus dem Wohnheim angefreundet und sie feierten die Feste, wie sie kamen. Morgen, am Sonntag, war wieder solch ein Fest angesagt. Sein Fest − er wurde achtzehn. Sie würden saufen bis zum Umfallen, auf seine Kosten. Günther Berger hatte nur ein Problem: Er war pleite. Er verdiente zwar nicht schlecht, aber trotzdem reichte die Kohle meistens nur bis zum nächsten Lohn. Die 200 DM, die er gespart hatte, waren für einen neuen Ofen draufgegangen, den seine Mutter dringend brauchte. Ohne den Ofen hätte sie die Mieter verloren und allein von der Witwenrente konnte sie nicht leben. Also hatte er ihr vorige Woche das Geld geschickt.

Gestern Nacht war ihm die rettende Idee gekommen, wie er seine Geburtstagsfeier auch ohne Geld in ein eindrucksvolles Saufgelage verwandeln konnte. Slobinski, der Betreiber des Kiosks, schloss nach Schichtwechsel seinen Laden und gönnte sich eine Stunde Mittagspause. Günther wusste, dass Slobinski den Schlüssel in der Rinne des Blechdachs versteckte.

Der Betrieb vor dem Werkstor hatte merklich nachgelassen und Slobinski begann, die Gläser mit den sauren Gurken, den Soleiern und Süßigkeiten vom Tresen zu nehmen. Fünf Minuten später schloss er die Fensterläden und radelte in die nahe gelegene Zechensiedlung, wo seine Frau mit dem Mittagessen auf ihn wartete.

Günther versicherte sich, dass niemand mehr auf der Straße war, und trat aus dem Gebüsch.

Der Schlüssel lag tatsächlich an seinem Platz. Günther schloss die Tür auf, machte Licht und drang in das Innere des Kiosks vor. Die Kasse ließ er selbstverständlich unangetastet, er war ja kein Dieb. Er nahm den kleinen Rucksack von der Schulter und parkte ihn neben dem Spirituosenregal. Er schob den Eierlikör zur Seite und griff nach Steinhäger und Asbach Uralt. Hauptsache Prozente. Wahrscheinlich würde es Slobinski nicht einmal auffallen, dass sein Schnapsbestand dezimiert war. Kein großer Verlust für den Budenbesitzer, aber ein großer Gewinn für Günther und seine durstigen Freunde.

Im Rücksack klirrte es, als er die sechste Flasche hineinlegte. Mehr Platz war nicht. Es würde ein rauschendes Fest geben.

»Was ist hier denn los?« Slobinskis donnernde Stimme ließ Günther zusammenfahren. Der Budenbesitzer stand in der Tür.

Günther rutschte das Herz in die Hose.

»Was machst du hier? Ich kenne dich doch.« Slobinskis Blick fiel auf Günthers Rucksack. »Du willst mich beklauen?«

Günther rührte sich nicht von der Stelle. Er stand einfach da und starrte den Kioskbesitzer an. In seinem Gehirn war gähnende Leere. Keine Ausrede. Keine Idee. Kein Plan.

»Glaub mal nicht, dass du abhauen kannst, Bürschchen. Ich war mal Boxer. Wir gehen jetzt rüber zum Werkstor und rufen die Polizei«, sagte der Budenbesitzer und drehte sich um.

Als wäre sie von fremden Kräften gelenkt, schloss sich Günthers Hand um eine Flasche Eierlikör. Er machte einen Schritt auf Slobinski zu und schlug ihm die Flasche auf den Kopf. Es gab ein dumpfes Geräusch und Slobinski fiel um.

Günther stieg hastig über ihn hinweg und ließ die Tür hinter sich zufallen.

Er kam erst wieder richtig zu sich, als er auf seinem Bett im Wohnheim saß und Matthias Birchel das Zimmer betrat. Günther hatte keine Ahnung, wie lange er ins Leere gestarrt hatte.

Matthias war zwei Jahre älter als Günther und ein paar Zentimeter größer. Sein Gesicht war länglich und markant geschnitten und ließ keinen Zweifel aufkommen, dass sein Besitzer selbst auf sich aufpassen konnte. Er trug einen Bürstenhaarschnitt, beeindruckende Muskelpakete und hatte Hände wie Schaufeln. Matthias stammte aus einem kleinen Dorf in Bayern. Seine Eltern hatten einen Hof mit Kühen und Schweinen und schon früh musste der Junge mit anpacken.

Vor einem Jahr war Matthias zu der Erkenntnis gekommen, dass er sein restliches Leben nicht auf dem Land fristen wollte. Er hinterließ einen Abschiedsbrief und das geplünderte Sparschwein seiner Eltern.

Der Bayer war unter Tage geachtet, weil er für zwei arbeitete. Im Lehrlingsheim wurde er gefürchtet und bewundert. Gefürchtet, weil er schnell aus der Haut fuhr, keiner Schlägerei aus dem Weg ging und ordentlich zulangen konnte. Bewundert, weil er offenbar die meisten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht hatte und alle an seinen Erfahrungen teilhaben ließ. Während sich die sexuellen Aktivitäten der meisten Heimbewohner darin erschöpften, am arbeitsfreien Sonntag in der Wattenscheider Innenstadt herumzulungern, den Mädels auf Busen und Po zu starren und ihnen nachzupfeifen, machte Birchel kein Geheimnis daraus, dass er regelmäßig in den Puff in der Gußstahlstraße nach Bochum ging.

»Hast du schon gehört?«, fragte Matthias mit bayrischem Dialekt und packte seine Sachen in den Spind. »Jemand hat den Slobinski überfallen, den vom Kiosk. Sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht.«

»Ist er tot?«

»Keine Ahnung.« Matthias sah Berger besorgt an. »Ist was mit dir? Du bist käseweiß.«

»Das war ich!«

»Was warst du?«

»Das mit Slobinski, das war ich!«

Matthias legte seine Stirn in Falten und setzte sich neben ihn. »Erzähl!«

Günther wusste, dass er Matthias vertrauen konnte, er war sein bester Freund. Stockend berichtete er.

Danach war Schweigen.

Matthias stand auf, öffnete Günthers Spind und warf erst den abgewetzten Koffer, dann Günthers Wäsche auf das Bett.

»Was soll das?«

Matthias stemmte seine Arme in die Hüften. »Du musst abhauen. Wenn Slobinski noch lebt und dich erkannt hat, ist bald die Polizei hier. Und dann wanderst du in den Knast.«

Günther schaute ihn fragend an. »Und wo soll ich hin? In Quedlinburg kriegen sie mich auch.«

»Ich habe da eine Idee.«

Zu Günthers Überraschung fing Matthias damit an, seine eigenen Sachen zu packen. »Ich komme mit. Ich habe hier schon lange die Schnauze voll. Willst du so enden wie die Kumpel in Mengede?«

Nach einer Schlagwetterexplosion auf der Zeche Adolf von Hansemann in Dortmund-Mengede waren Ende Juni fünf Bergleute ums Leben gekommen und fünfundzwanzig verletzt worden.

»Wir haben was Besseres verdient. Und ich denke schon länger darüber nach, von hier abzuhauen.«

»Was hast du vor?«

»Wir nehmen den nächsten Zug nach Landau.«

Günther sah seinen Freund irritiert an. »Landau? Nie gehört.«

»Das liegt an der französischen Grenze.«

Günther verstand immer noch nicht. »Was sollen wir in Landau?«

»In Landau ist ein Büro der Fremdenlegion.«

Günther fiel die Kinnlade herunter. »Fremdenlegion?!«

»Fällt dir was Besseres ein?«

Günther dachte einen Moment nach, dann packte er seinen Koffer.

4

Sonja Kruse saß an ihrem Schreibtisch im Bochumer Polizeipräsidium und starrte in Gedanken versunken auf den Förderturm, der das Bergbaumuseum zierte. Es war Dienstag, der Feierabend nahte. Sie zog den Kalender zu sich heran. Für die nächsten Abende gab es keinen Eintrag, für das Wochenende stand Sauerland auf dem Freizeitprogramm.

Die Hauptkommissarin hatte sich vorgenommen, ihre Eltern zu besuchen, die vor Jahren aus Bochum ins Sauerland gezogen waren, um dort ihren Lebensabend in einem Bungalow mit Garten, ein paar Hühnern und Kaninchen zu verbringen. Aber der Gedanke an die bevorstehenden Stunden mit den Eltern stimmte Sonja nicht froh. Alle Familiengeschichten waren erzählt. Viel Neues und Aufregendes erlebten ihre Eltern in dem Zweihundert-Seelen-Kaff nicht und so gehörte schon der dritte Platz im Züchterwettbewerb, den ihr Vater mit Rammler Bodo errungen hatte, zu den außergewöhnlichen Ereignissen, die ihren Vater zu einem einstündigen Monolog hinrissen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!