Meine Armeezeit in der DDR - Olaf Lorenz - E-Book

Meine Armeezeit in der DDR E-Book

Olaf Lorenz

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Beschreibung

„Kaum ein junger Mann wollte, aber fast alle jungen Männer mussten – zum Wehrdienst in die NVA. In die genannte Kategorie zählt auch der Autor dieses sehr persönlich erzählten Werkes, das man durchaus als Zeitdokument bezeichnen kann. Ohne den Ernst dieses prägenden Lebensabschnitts zu vernachlässigen, führen die meist humorvoll erzählten Erlebnisse vor Augen, wie er diese Zeit, in der eine große Zahl an Deppen seinen Weg kreuzten, erlebt hat. Dass sich während des Wehrdienstes aber auch echte Freundschaften bildeten, die bis heute Bestand haben, ist der wertvollste Effekt dieser zum größten Teil verplemperten Zeit.“

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Für meinen Vater,

der immer so herzhaft über meine Erlebnisse bei der Armee lachen konnte.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort vor dem Vorwort

Vorwort

I. Teil: Die Grundausbildung

Der Anfang vom Ende

Der Tag der Einberufung

Die ersten Eindrücke

Frühsport

Missverständnisse

Nachdenken

Dienstausweis

Erster Abgang

Stubendurchgang

Nähkunst

Appell

Spindkontrolle

Liegestütze

Oma’s Kuchen

Hase und Igel

Abzählen

Fasching

Wie Otten dafür sorgte, dass ich ihn nie mehr vergessen kann

Spanischer Brieffreund

In-sich-gerade-schräg-zum-Ziel

Der Handgranatenzielwurf

Der Gehäusedeckel

Besuche

Spazieren nach Vorschrift

Kopfwäsche

Die Vereidigung

Bergung eines Verletzten unter Vollschutz

Das Fieberthermometer

Nachtalarm − oder wie Wodan das Leben von zwei Genossen rettete

Abschlussmarsch mit Feldlager

Der Fußballgott

II. Teil: Die Zeit nach der Grundausbildung

Der Beginn neuer Schikanen

Der erste Urlaub

Das neue Kommando

Dienste als GUvD und UvD

Versautes – oder das Armee-Dekameron

Der Offizier vom Dienst

Die Mülltüte

Die Kammer des Grauens

Der Kopfschuss

Weitere Abgänge

Schneller als das Licht

Der Befehl der Jahreszeiten

Nicht wenig dumm

Die Hongkong Grippe

Die Badekappe

Die Waage

Wischerfolge und Rekorde

Go – Das älteste Brettspiel der Welt

Paul und Paulchen in Aktion

Die Radiusfraktur

Verhaftungen

Genosse Wams

PS-Einsätze

Liebe

Zimmertausch

Fahrerwechsel

Der A und U Spezialist

Der Friedenslauf

Die Taschenlampe

Inkognito in Prag

Wachablösung – oder wie der Bock zum Gärtner gemacht wurde

Wolfgang Amadè

Weitere wichtige Abläufe im Krankenhaus

Pickeltrinken

Der Fuchsbau

Der Anschnitt

Der letzte Ausgang

Das Ende vom Ende

Die Legende von Ahrensfelde

Nachwort

Danksagung

Vorwort vor dem Vorwort

Die Namen der in diesem ungewöhnlichen Werk erwähnten Vorgesetzten beziehungsweise der Berufssoldaten habe ich bewusst weggelassen. Diese Personen werden deshalb nur durch Angabe ihres Dienstgrades benannt und der entspricht zum Teil auch nicht immer der Wahrheit, um eventuelle Identifizierungen zu erschweren. Sollte sich doch jemand angesprochen fühlen und ist der Meinung, sich wiederzuerkennen, dann kann er getrost davon ausgehen, dass er nicht gemeint ist.

Die Namen meiner Leidensgenossen sind alle, bis auf die Namen der Kameraden, die in der heutigen BRD keine Karriere machen wollten und / oder ihre Zustimmung zur Verwendung ihres Namens gegeben haben, verstümmelt worden. Das heißt nicht, dass nur ein oder zwei Buchstaben ausgetauscht worden sind. Diese Namen, inklusive der Spitznamen, mit Ausnahme meines eigenen natürlich, sind alle erlogen und meiner Phantasie entsprungen.

Alle Erlebnisse, Orte und Zahlen entsprechen jedoch der Wahrheit oder zumindest dem, was mein Gedächtnis mir als solches vorgegaukelt hat.

Man kann die folgenden Seiten durchaus als Zeitdokument betrachten, dass einer komödiantischen Novelle entspricht.

Vorwort

Wenn es in der Weltliteratur die Rubrik „Bücher, die die Welt nicht braucht“ geben würde, dann wären dieses Buch und mein erstes Werk „Auf dem Weg zum Chimborazo“ ganz sicher in allen Bibliotheken zu finden. Da es diese Rubrik aber leider nicht gibt, werden meine Werke weiterhin nur bei Verwandten, Bekannten und Freunden (oder wem immer ich ein Buch aufdrängen konnte) in den Regalen verstauben oder als Hilfsmittel gegen wackelnde Tische dienen. Wahrscheinlich ist es aber das Schicksal eines Genies, dass seine Werke erst posthum die Anerkennung bekommen, die sie verdienen. Dann werden diese Bücher neben dem von Anfang an hohen ideellen Wert auch endlich einen hohen materiellen Wert haben. Und damit meine ich nicht die mageren 15,90 € für den Ersterwerb.

Schon lange geisterte in meinen Gedanken die Idee, meine Erlebnisse während der dreijährigen Dienstzeit literarisch zu verwerten. Es bedurfte einiger verbaler Motivationsschläge eines Leidensgenossen von damals, um endlich damit zu beginnen. Auch der Film „NVA“ von Leander Haussmann hat dazu beigetragen, dass nun endlich meine zum Glück noch wachen Erinnerungen per Tastatur in den PC kopiert wurden.

Wenn ich behaupte, dass ich drei Jahre in einer Spezialeinheit der Deutschen Demokratischen Republik gedient und an der unsichtbaren Front gekämpft habe, werden Nichteingeweihte wahrscheinlich vor Schaudern erstarren. Alle Eingeweihten hingegen werden ganz sicher Tränen lachend zusammenbrechen, denn die besagte Einheit war der Zentrale Medizinische Dienst, kurz ZMD, der zu den rückwärtigen Diensten zählte. Und die unsichtbare Front bestand aus Schmutz und Bakterien, die wir mit Hilfe von Schrubber, Wischlappen und Wofasept im Krankenhaus in Buch, nördlich von Berlin, bekämpften. Um unsere Spuren zu verwischen, nutzten wir noch die sogenannten Bohnerkeulen. Also war unser Dienst vollkommen unspektakulär, was auch zur Folge hatte, dass wir nie ein Bond-Girl an unserer Seite hatten. Schade.

Wie bereits erwähnt, hat mich auch der Film „NVA“ motiviert zu schreiben. Der Grund hierfür war die nahezu neunzigprozentige Übereinstimmung der Erlebnisse der Hauptfigur des Films mit dem, was ich in dieser Zeit erlebt habe. Nun, warum dann auch noch aufschreiben, könnte man fragen. Aber neunzig Prozent sind halt nicht einhundert Prozent und das eine ist Leander Haussmanns Film und das andere ist mein Buch mit meinen Erlebnissen.

Zu Beginn meiner Dienstzeit war ich gerade zarte achtzehn Jahre alt und wog kaum wahrzunehmende dreiundsechzig Kilogramm. Am Ende meiner Armeezeit sollte ich es auf stattliche achtzig Kilogramm gebracht haben. Körpergewicht versteht sich und ohne Orden und Auszeichnungen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich hatte meine Lehre als Heizungsinstallateur vorzeitig beendet, nachdem ich mich erfolgreich geweigert hatte, das Abitur zu machen. Dies sollte sich später aber auch nicht als Nachteil herausstellen.

In der Wendezeit, in der so einiges drunter und drüber ging, fragte auch keiner nach meinem Abitur, als ich das Studium zum Diplom-Ingenieur für Bauwesen aufnahm, das ich dann 1992 auch erfolgreich abschließen sollte.

Aber bis zu dieser Zeit sollte meine Aufgabe darin bestehen, die nächsten 1.096 Tage die imperialistischen Feinde meines noch real existierenden Vaterlandes abzuwehren. Ausgerechnet ich.

Dass in dieser Zeit so einiges geschehen ist, muss ich hier nicht besonders hervorheben. Eigentlich steht ja ein Großteil in meiner Stasi-Akte. Aber da diese nicht Jedem zugänglich ist, werde ich meine mental noch vorhandenen Erlebnisse mit den Vermerken in meiner Akte kreuzen und hier wiedergeben.

Berlin, Dezember 2013

O. Lorenz

I. Teil

Die Grundausbildung

Der Anfang vom Ende

Berlin, 01. Oktober 1985. Es ist ein grauer Tag. Kein Sonnenstrahl dringt durch die dichten, tief hängenden Wolken. Es regnet und der Wind weht kräftig. Ich habe zwar noch kein Auge aufgemacht, aber ich bin sicher, dass so ein Scheißwetter ist. Heute ist nämlich der Tag meiner Einberufung und da kann es nicht schön draußen sein.

Eigentlich war ich ausgemustert. Zumindest glaubte ich das bis zu jener unheilvollen Nacht. Trotz meiner körperlichen Gebrechen, die die Ausmusterung voll und ganz rechtfertigten, ließ mich nichts davon abhalten, mit meinen Kumpels deren Abschied vom normalen Leben zu feiern.

In jener bereits erwähnten Schicksalsnacht, nach einem dieser vielen Abschiede von meinen Kumpels, mitten in meiner „Sturm und Drang Zeit“, kam ich nach Hause und entdeckte einen Zettel. Ich hatte diesen aufgrund des einen Biers zuviel nicht gleich entziffern können. Erst dachte ich, dass sei eine Rechnung, die meine Mutter noch begleichen musste. Aber dann war es etwas, was ich begleichen musste. Ich hielt den Einberufungsbefehl in meinen Händen. Schlagartig war ich wieder nüchtern.

Nachdem ich so langsam realisiert hatte, was ich da in den Händen hielt, habe ich zunächst gekündigt. Anschließend zog ich durch die Kneipen Berlins, was ungefähr zwei Wochen in Anspruch nahm. Und immer wieder quälte mich dabei nur diese eine Frage: Warum drei Jahre?

In der Gegend, in der ich Fußball spielend und mit dem einen und anderen Blödsinn, den mein Kopf ausheckte, aufgewachsen bin, war es irgendwie normal, sich für drei Jahre zu verpflichten. Das dachte ich zumindest. Aber das absolut unschlagbare Argument war ein anderes.

Wollte man als männlicher Teil dieser Gesellschaft irgendwann einmal studieren, dann war es sehr sinnvoll, sich für diese Zeit von drei Jahren zu verpflichten, weil man dann sofort zur Armee konnte und nicht eventuell fünfundzwanzig oder gar sechsundzwanzig Jahre alt werden musste, bevor man eingezogen wird. Denn erst danach konnte man studieren und ich wollte kein alter Student werden. Ich wusste zwar nicht, was ich studieren sollte, aber dass ich nicht mein ganzes Leben lang arbeiten wollte, war mir schon frühzeitig klar.

Also ab zur Armee und zwar sofort, zumal ich ja immer noch dachte, dass ich ausgemustert bin. Somit war es ein leichtes, „Ja“ zu diesen drei Jahren zu sagen.

Zwei Tage nach meiner Immatrikulation im Jahre 1988 habe ich dann die volle Wahrheit erfahren. Neben mir war nur noch ein Kommilitone so blöd, sich für die doppelte Distanz der Wehrpflicht zu entscheiden. Alle anderen waren nur anderthalb Jahre bei der Armee und studierten nun trotzdem mit mir zusammen. Welch eine Ungerechtigkeit. Aber alles im Leben hat einen Sinn und der bestand darin, dass ich elf Freunde (es ist keine Fußballmannschaft gemeint) für das Leben finden sollte.

Der Tag der Einberufung

Heute war dann also Tag eins von insgesamt 1.096, in Worten eintausendsechsundneunzig, Tagen. Und es beruhigte mich keinesfalls, dass am Ende des heutigen Tages nur noch eintausendfünfundneunzig Tage abzuleisten waren.

Noch beunruhigender waren jedoch die Worte, die uns Rallis Oma vom Balkon nachrief: „Die armen Kinder. Die sind ja noch so jung!“ Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Da ich keine Antwort fand, bekam ich Angst und mir wurde schlecht. Dagegen gab es nur ein sicher helfendes Mittel – nämlich Bier.

Wir nahmen die letzte Kneipe in Berlin Schöneweide und versuchten uns zu kurieren. Doch irgendwie sollte uns diese Henkersmahlzeit diesmal nicht schmecken. Auch ein Schnaps half nichts. Mit dem flauen Gefühl im Magen, dass heute ein schöner Lebensabschnitt endet und ein grausiger beginnt, passierte ich das Kasernentor in Berlin Adlershof.

Hier wurde ich dann von meinen Schulkumpels Trulli und Ralli getrennt, das hatten wir uns so nicht gedacht.

Ich landete mit einem Verpflegungspaket auf einem Lkw, bei dem man sofort die Plane herunter ließ, und wurde deportiert. Ich weiß, ich ziehe nicht in den Krieg, wie Generationen vor mir. Ich weiß, wenn es nicht komplett schief geht, werde ich auch lebend wieder zurückkommen. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, mein altes Leben wird in keiner Weise mit dem vergleichbar sein, was jetzt auf mich zuzukommen droht.

Verbotener Weise lugte ich immer mal wieder durch einen Schlitz in der Plane, um zu sehen, wohin man uns brachte. Eine schier endlose Fahrt, obwohl sie nicht einmal eine Stunde gedauert haben kann.

Irgendwann waren wir raus aus Berlin und viele quälende Minuten später standen ich und die anderen Leidensgenossen vor dem Grab unserer Jugend – Ahrensfelde. Wie komme ich hier jemals wieder weg, war mein einziger Gedanke.

Mit dem Schrei „Genosse Lorenz“ wurde ich zwar aus meiner Lethargie gerissen, aber ich reagierte nicht darauf. Schließlich war ich ja nicht in der Partei. Da das Brüllen aber immer lauter wurde und ich es nicht mehr ignorieren konnte, wies ich höflich aber bestimmt darauf hin, dass ich nicht in der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschland) bin. Das half jedoch nichts, denn mir wurde ins Gesicht gebrüllt, dass hier alle Genossen wären.

Um nicht in die Partei eintreten zu müssen, hatte ich einige sogenannte Kadergespräche als Lehrling erfolgreich abwehren können. Schließlich sah ich es bei meiner Mutter, was eine Mitgliedschaft bedeutete.

Jeden Montag kam sie erst sehr spät von der Parteiversammlung nach Hause und musste jeden Monat einen gehörigen Batzen an Parteibeitrag bezahlen. Ich hatte zwar keine politischen Motive, um nicht in die Partei einzutreten, aber Freizeit weg und Geld weg, das war zuviel für mich. Nein danke, Genossen! Und nun wurde ich hier trotzdem mit „Genosse“ angeredet. Daran musste ich mich erst einmal gewöhnen, wie an so viele andere Unsinnigkeiten auch.

Die ersten Eindrücke

Es ist immer noch Tag eins. Als Genosse Lorenz wurde ich in irgendein Sechsmannzimmer gebrüllt. Dort sollte ich mein Bett beziehen. So etwas habe ich ja noch nie gemacht, das geht ja gleich gut los.

Als ich irgendwann dann endlich damit fertig war, dachte ich, dass ich mir eine Pause verdient habe. Doch bevor ich mich hinlegen konnte, brüllte man mich aus diesem Zimmer heraus in ein anderes. Ich wäre der falsche Lorenz, hieß es. Es gibt wohl noch einen Genossen Lorenz, der heute eingezogen worden ist, dachte ich. In meinem neuen Zimmer musste ich nun erneut mein Bett beziehen. Und da alle guten Dinge drei sind, war ich wieder nicht der richtige Lorenz. Es gibt also drei. Dafür kann ich doch nichts, brüllte ich zurück. Von nun an hatte ich für die nächsten sieben Wochen einen neuen Freund gefunden. Ich zog in Zimmer drei um.

Welch ein Schreck schoss mir durch die Glieder, als ich die Tür aufmachte. Einer dieser gefürchteten EKs saß mit Füßen auf dem Tisch und einem dicken Buch in der Hand im Zimmer. Diese EKs (Entlassungskandidaten) sind die dienstältesten Genossen und somit die, die als nächstes entlassen werden. Sie haben das Sagen. Sie bestimmen über das Wohl und Wehe der anderen Genossen. Wer in den Spind eingeschlossen wird oder wer über den Flur als Schildkröte geschossen wird und viele andere Spielchen. Soviel hatte ich im Vorfeld bereits recherchiert. Mir bleibt aber auch nichts erspart. Ich will wieder nach Hause.

Dieser EK sah mich, sprang von seinem Stuhl auf, kam auf mich zu und reichte mir mit einem breiten Lächeln seine Pranke hin und stellte sich als Reik Glas aus Babelsberg vor. Später sollte er nur noch Wodan genannt werden. Es stellte sich heraus, dass er heute ebenfalls erst eingezogen worden ist. Er war also gar kein Furcht einflößender EK, er sah halt nur so alt aus. Meine Freude sollte sich noch vergrößern, als er mir mitteilte, dass er vor lauter Langeweile schon zwei Betten bezogen hat und ich eins davon nehmen könnte.

Bis jetzt sind wir nur zu zweit. Es dauert halt eine Weile, bis die anderen vier Genossen aus der ganzen Republik eingesammelt und hier nach Ahrensfelde gebracht werden können. Sukzessive kamen bis in die späte Nacht hinein noch Karsten Plunsch aus Bitterfeld, der den Eindruck bei den älteren Genossen erweckt hatte, wir hätten illegaler Weise ein Weib mit. Er traf hier mit schulterlangem Haar ein. Auf meine Frage hin, warum er sich nicht die Haare vorher hat schneiden lassen, bevor er hier verstümmelt wird, hat er völlig überrascht geantwortet, dass er doch beim Friseur war. Schließlich waren seine Haare noch einen halben Meter länger, meinte er.

Udo Wolke aus Falkenstein im Vogtland, Johannes Säger aus Bad Langensalza und Ralf Heidmann aus Burgstädt vervollständigten dann unser Zimmer noch. Die ersten Sprachprobleme tauchten auf. Das Sächsisch war zwar nicht zu verstehen aber auch nicht unbekannt, das Thüringische „gelle“ erst recht nicht, aber der vogtländische Dialekt war für einen Preußen komplett nicht zu verstehen. Wodan verstand mich und ich verstand ihn, das reichte fürs Erste.

Jeder von uns hatte zwei Zettel mit seinem Namen bekommen. Einer musste ans Bett geklebt werden und der andere an den Schrank, der ab jetzt nur noch Spind heißen sollte. Irgendwann fiel einem von uns ein, dass es ja sehr unpraktisch ist, wenn sein Bett am Fenster steht und sein Spind an der Tür. Das sahen wir auch alle gleich ein. Da aber nun die Schilder schon überall festklebten, mussten wir erfinderisch sein. Wir begannen also unsere Doppelstockbetten auseinander zu bauen und unsere Schränke, ich meine Spinde, zu verschieben. Ein heilloses Durcheinander bahnte sich an. Wenn jetzt ein Vorgesetzter reinkommen würde, wäre es um uns geschehen. Wir überstanden aber unsere erste heikle Situation dieser noch sehr lange dauernden Armeezeit gut und hatten dabei sogar noch unseren Spaß. Das Eis war gebrochen, trotz oder wegen der Sprachprobleme.

Ja, was gibt es denn ansonsten noch zu berichten von diesem Anreisetag, wie man heute zu dem ersten Urlaubstag sagen würde. In dem kleinen Lautsprecher über unserer Tür lief das Lied von Status Quo „In the Army now“. Ich glaube nicht, dass es jemand mit Verstand extra für uns ausgewählt hat. Und was heute schon fast nicht mehr denkbar wäre, man konnte im Zimmer noch rauchen.

Wodan hatte von seinem Vater, der bei der DEFA in Babelsberg arbeitete, für den Notfall drei kleine Flaschen Underberg mitbekommen. Illegal eingeführter Schnaps und dann noch aus dem Westen.

Ich schlief über Wodan und nach einer Weile fragte er mich ob dies heute schon ein Notfall sei. Ich überlegte nicht lange und sagte ja und Wodan reichte mir eine der drei Flaschen nach oben.

Frühsport

Um sechs Uhr wurden wir geweckt. Innerhalb von Sekunden entstand ein Chaos in unserem Zimmer, denn jeder suchte seinen weinroten Trainingsanzug und die noch viel hässlicheren schwarzen Turnschuhe, um schleunigst auf dem Flur anzutreten. Alles in Begleitung vom ständigen Brüllen irgendwelcher Vorgesetzten. So langsam begriffen wir aber, das Brüllen war ein normaler Vorgang.

Gerüchten zufolge sollen wir jeden Morgen dreitausend Meter gelaufen sein. Daran kann ich mich nicht so recht erinnern, aber an die Liegestütze mit Fäusten, auf Fingerspitzen und der Handkante auf den Betonplatten oder dem mit kleinen Splitsteinen „geschmücktem“ Fußballfeld schon.

Waren am ersten Morgen noch alle ungefähr einhundert Rekruten zum Frühsport angetreten, so verringerte sich die Zahl von Tag zu Tag, was zum Ende der Grundausbildung hin ein sehr lustiges Bild abgab. Denn von den weinroten Trainingsanzügen, die auf dem Flur antreten sollten, fehlte mindestens jeder zweite. Der Frühsport war zum Ende der Grundausbildung nur noch für die Privilegierten.

Nach dem Frühsport erfolgte der Kampf um die braunen rechteckigen Waschbecken, denn Duschen gab es keine. Auch der Weg zum Frühstück musste im Laufschritt mit musikalischer Begleitung der Vorgesetzten zurückgelegt werden.

Missverständnisse

Wir waren der vierte und letzte Zug der Grundausbildung. Demzufolge waren wir auch immer die Letzten die zum Essen erschienen sind und somit auch die kürzeste Essenszeit hatten. Das führte später einmal zu einem kleinen Zielkonflikt.

Marsch zum Essenfassen. Gloony, der mit weiteren fünf Genossen in unserem Nachbarzimmer auch zu unserer Gruppe gehörte, kotzte schon vorm Eintritt in den Speisesaal in die Ecke. Kaum hatten wir unsere Suppe in der Hand, da hieß es bereits „Essen einstellen, alles auf“. Ich ignorierte diesen Befehl, schließlich war unser Zug der letzte, der Essen bekam und ich hatte mich mit meiner Suppe noch nicht einmal hingesetzt. Wenige Sekunden später wurde ich persönlich von einem Feldwebel angebrüllt. Ich fragte noch einmal nach, ob er es wirklich ernst meinte. Das Brüllen wurde daraufhin nur noch schlimmer und die Farbe seines Kopfes hatte inzwischen etwas Bedrohliches. Dabei dachte ich eher an seine Gesundheit als an meine. Aber auch meine Geduld war nun langsam am Ende. Ich nahm meinen Teller Suppe und verteilte sie auf seiner Uniform.

Der Sonntag, der eigentlich der Ruhe gelten sollte, war seit diesem kleinen Vorfall für mich nun zum Kloputzen reserviert worden.

Und das hatte es gleich beim ersten Mal in sich. Ich bekam vom diensthabenden Gruppenführer ein Toilettenbecken präsentiert, welches verstopft war. Na Klasse. Meinem Blick war nicht entgangen, dass zuviel Toilettenpapier den weiteren Abfluss des Wassers verhinderte und nicht, wie von mir befürchtet, ein riesiger stinkender Haufen Fäkalien. Trotzdem schaute ich diesen Idioten verdutzt an, als er von mir verlangte, den Rückstau mit der Hand zu beseitigen. Erstens war mein Arm, rein anatomisch, nicht in der Lage, der Siphonkrümmung eines Porzellanklobeckens unbeschadet vom Einstieg bis zur Mündung zu folgen. Und zweitens war das verdammt eklig. Zum Glück erinnerte ich mich daran, dass wir für den atomaren Ernstfall, schließlich herrschte damals noch der Kalte Krieg, Schutzkleidung bekommen hatten. Umgehend befahl ich mir Vollschutz. Dieser gummiähnliche Anzug mit den dazugehörigen armlangen Gummihandschuhen, mit denen ich den direkten Kontakt mit dem kontaminierten Becken vermeiden konnte, rettete mir vorübergehend das Leben.

Nachdenken

In den ersten Tagen hatten wir kaum Gelegenheit über unsere Situation nachzudenken. Zuviel Neues, Unerklärliches stürzte auf uns herein.

Wir wussten nicht einmal, wo wir genau waren. Ahrensfelde, das kannten nur die, die aus Berlin kamen vom Hören und Sagen. Mehr aber auch nicht. Und da ich der einzige Berliner war, bestand meine Aufgabe darin, denen, die nicht bei der Anfahrt aus der Plane gelugt hatten, zumindest den Ort unserer Pein mitzuteilen.

Eine Postadresse bekamen wir aber erst nach ungefähr einer Woche. Damals war das noch wichtig. Schließlich bestand die einzige Kommunikation mit der Außenwelt durch Briefe schreiben. Nun, wir konnten schreiben, bekamen aber keine Antwort, weil uns ja der Absender fehlte. Später gab es dann einen regen Briefverkehr und ich sollte es noch bereuen, dass ich so viel geschrieben hatte.

An das Morgen zu denken, fiel allen sehr schwer. Als Achtzehnjähriger sind drei Jahre eine verdammt lange Zeit, ein schier unvorstellbarer Zeitraum. Noch vor wenigen Tagen hatten wir maximal von Disko zu Disko gedacht. Die Vorstellung, für drei Jahre alles im Laufschritt und unter ständigem Anbrüllen zu erledigen, ließ mich kein Licht am Ende eines sehr sehr langen Tunnels erblicken. Keine Minute Ruhe.

Bis jetzt hatte ich gedacht, dass ich nicht mal eine Sekunde Ruhe in meinem Leben benötige, aber nun sah es anders aus. Mir war damals nicht klar, dass nach der Grundausbildung die Karten noch einmal neu gemischt werden. Das konnte für einen besser werden, aber noch schlechter war auch möglich.

Von unserem Zimmerfenster konnten wir, wenn es dunkel geworden war, in der Ferne die beleuchtete Spitze des Berliner Fernsehturms sehen. Das Zeichen der Freiheit für mich, wenn man als Ossi das damals überhaupt sagen konnte.

Ich aber wollte nicht in den Westen, ich wollte nur raus aus diesem Zimmer, raus aus dieser Kaserne.

Dienstausweis

Ja, was passierte noch in den ersten Tagen? Wir bekamen einen Dienstausweis, doch dazu benötigte man ein Passbild. Da das Foto ordentlich aussehen sollte, wurden wir mit Hemd, Schlips und einer zivilen Anzugsjacke fotografiert. Hose war egal, wie bei den Nachrichtensprechern im Fernsehen, weil nicht auf dem Bild.

Da keiner von uns so etwas mithatte, schließlich wurden wir einberufen und nicht zu einer Hochzeit eingeladen, gab es drei Anzugsjacken in verschiedenen Größen zur Auswahl. Die denken auch an alles.

Später sollten wir dann mit einem Klappausweis, der an einem Lederband hängend an der Hose oder sonst wo befestigt wurde, durch die drei Jahre spazieren. Jedes Mal, wenn wir ihn vorzeigen mussten, kamen wir uns vor wie beim Polizeiruf 110. Heute würden wir wohl eher Tatort sagen.

Erster Abgang

Die ersten Verluste mussten wir bereits nach zwei Tagen hinnehmen.

Unser Ralf aus Burgstädt hat uns verlassen, ein Abgang sozusagen. Allerdings lebt er noch, sogar bis heute. Es ging alles ganz kurz und schmerzhaft. Die Tür zu unserem Zimmer ging auf, ein zackiges „Achtung“ brüllten diesmal wir und Ralf bekam den Befehl seine Sachen zu packen.

Er hatte sich gerade ein klein wenig eingelebt und nun drohte schon wieder was Neues. Er musste zur U-Schule. Eine Maßnahme, um aus einem Soldaten in kürzester Zeit einen befehlsgewaltigen Unteroffizier zu machen. Wir beneideten ihn nicht. Erst viel später, als er nach vier Monaten wieder zurück kam und als Unteroffizier bereits täglich seinen Sechsuhrausgang bekam, wenn er sich kein Delikt zu schulden kommen lassen hatte. Was sich dann aber schnell relativierte. Ralf wurde ein Spezialist für Delikte.

Stubendurchgang

Als eine der ersten Maßnahmen mussten wir einen Stubenältesten, kurz Stuben-E genannt, bestimmen. Was lag da näher, als den wirklich am ältesten Aussehenden zu nehmen, nämlich Wodan. Er hatte das Zeug dazu. Er ist resolut in seinem Auftreten, kräftig gebaut und braucht den wenigsten Schlaf von uns.

Die Hauptaufgabe eines Stuben-E bestand nämlich darin, dass er, wenn ab zweiundzwanzig Uhr der große Stubendurchgang erfolgte, in Uniform den Vorgesetzten Meldung zu machen hatte, während die anderen bereits im Bett liegen konnten.

Wehe dem, irgendein Zimmergenosse hatte noch ein Vorkommnis. Das konnten dreckige Stiefel, die natürlich nicht wirklich dreckig waren, sondern auf Hochglanz geputzt worden sind, sein oder die ausgezogenen Sachen lagen nicht richtig auf dem Stuhl oder der Spind war nicht in Ordnung oder das Zimmer war nicht sauber oder es roch männlich herb oder, oder, oder.

Es spielte sich dann wie folgt ab. Der Vorgesetzte, irgendein Feldwebel oder im besten Fall mal ein Unterleutnant, zeigten mit einem Finger auf irgendetwas und schrieen: „Wem gehört das?“ Dann sprang man aus seinem Bett und rief: „Mir, Genosse Feldwebel.“ Oder wenn er auf einen Schrank zeigte: „Das ist der Schrank des Soldaten Lorenz.“ Wenn man sich aber nicht entscheiden konnte, wie unser Karsten Plunsch aus Bitterfeld, dann kann so etwas auch schief gehen.

Karsten überlegte die ganze Zeit, wenn der Finger auf seinen Spind zeigen sollte, was er dann sagt. Die Worte Schrank oder Spind gingen ihm dabei immer wieder durch den Kopf. Als der verhängnisvolle Finger dann tatsächlich auf seinen Spind zeigte, kam nur noch dieser Satz aus seinem Mund: „Das ist der Schrank des Soldaten Spind.“ Das war selbst für einen Vorgesetzten, der zweifelsohne schon viel erlebt haben musste, zuviel. Er beendete sofort den Stubendurchgang und verließ unser Zimmer und wir lachten uns kaputt.

Wenn der Stubendurchgang aber weiter geht, wird, nachdem der Besitzer einer Sache ausfindig gemacht worden ist, weiter gefragt. Was ist das? Dann nahm die betroffene Person Haltung an und schrie sofort ohne hinzugucken zurück: „Keim, Genosse Feldwebel.“

Danach musste der Deliktverursacher sein Vorkommnis beseitigen und der gute Wodan stand solange in seiner Uniform auf dem Flur und wartete darauf, dass er die Beseitigung des Vorkommnisses wieder melden konnte. Dieses Spielchen wurde dann mehrfach wiederholt. Meistens schliefen wir, zu Wodans Unmut, dann schon lange. Die wenigsten Delikte hatte natürlich unser Wodan, schließlich wurde er ja jeden Tag bestraft. Er musste nämlich am längsten aufbleiben.

Nähkunst

Am ersten freien Sonntag, der wie alle folgenden natürlich nicht wirklich zur freien Verfügung stand, mussten wir uns um unsere Uniformen kümmern. Was hatten wir da nicht alles. Felddienstuniformen für den Sommer und Winter, Stabsdienstuniform, Stiefelhosen, Wintermantel und vieles mehr.