Meine Freundin Lotte - Anne Stern - E-Book
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Anne Stern

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Beschreibung

Spiegel-Bestsellerautorin Anne Stern erzählt von zwei außergewöhnlichen Künstlerinnen vor der wechselhaften Geschichte des 20. Jahrhunderts. Berlin, 1921: Lotte Laserstein will Malerin werden. Aber die Tore der Kunstakademie haben sich für Frauen gerade erst geöffnet. Und Lotte muss kämpfen – gegen die Ressentiments männlicher Lehrer und Kritiker und für ihre Leidenschaft, die Malerei. In der jungen Fotografin Traute findet sie eine Seelenverwandte, denn Traute ist mit ihrem Typus der Neuen Frau und ihrer Begeisterung für die Kunst das perfekte Modell für Lotte. Eine ganz besondere Beziehung entsteht. Bis die politische Situation in Deutschland für jüdische Künstlerinnen immer unerträglicher wird und Lotte schließlich fliehen muss. Kalmar, 1961: Es ist ein warmer Altweibersommer in Südschweden, den Lotte Laserstein und Traute Rose zusammen verbringen. Doch Vorwürfe und Missklang hängen zwischen ihnen, und schon bald brechen alte Wunden auf. Plötzlich können die beiden Frauen den drängenden Fragen nicht mehr entkommen. Sie müssen sich ihrer Vergangenheit stellen, in der es für sie einst um alles oder nichts ging – als Künstlerinnen und als Freundinnen. Ein ergreifender Roman über die Berliner Malerin Lotte Laserstein und ihr Lieblingsmodell Traute Rose - zwei außergewöhnliche Frauen im Ringen um ihre Träume, ihr Schaffen und ihre Freundschaft.

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Anne Stern

Meine Freundin Lotte

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Wofür lohnt es sich zu kämpfen, wenn nicht für die Kunst?

 

Berlin, 1921: Lotte Laserstein will Malerin werden. Aber die Tore der Kunstakademie haben sich gerade erst für Frauen geöffnet. Und Lotte muss kämpfen – gegen die Ressentiments männlicher Lehrer und Kritiker und für ihre Leidenschaft, die Malerei. In der jungen Fotografin Traute findet sie eine Seelenverwandte und das perfekte Modell. Eine ganz besondere Beziehung entsteht. Bis die politische Situation in Deutschland immer unerträglicher wird und Lotte schließlich fliehen muss.

Kalmar, 1961: Es ist ein warmer Altweibersommer in Südschweden, den Lotte und Traute hier zusammen verbringen. Doch Vorwürfe und Missklang hängen zwischen ihnen, und im fragilen Tanz umeinander brechen in der Einsamkeit der schwedischen Landschaft die persönlichen Wunden auf.

 

Ein Roman über die Berliner Malerin Lotte Laserstein und ihr Lieblingsmodell Traute Rose. Eine Geschichte über zwei starke Frauen und ihren Kampf um Kunst, persönliche Freiheit – und ihre Freundschaft.

Vita

Anne Stern wurde in Berlin geboren, wo sie auch heute mit ihrer Familie lebt. Sie ist promovierte Germanistin und arbeitete als Lehrerin und in der Lehrerbildung. Mit der historischen «Fräulein Gold»-Reihe landete sie einen Spiegel-Bestsellererfolg. Mit diesem Roman widmet sie sich der spannenden Geschichte der Berliner Malerin Lotte Laserstein und ihres Lieblingsmodells Traute Rose, die eine langjährige Freundschaft verband.

 

Die Presse über die «Fräulein Gold»-Reihe:

 

«Fesselnd und mit viel politischem Hintergrund und Berliner Lokalkolorit lässt uns Anne Stern Anteil nehmen an den Geschicken der Nachkriegszeit der zwanziger Jahre.» Saarländischer Rundfunk SR3

 

«Tolle Frau plus Krimi plus Zeitgeist der Zwanziger – das ergibt einen spannenden Mix.» Freundin

 

«Viel Kopfkino in einem überzeugenden Sittengemälde.» B5 Kulturnachrichten

Die Stare gehen auf die Reise.

Altweibersommer weht im Wind.

Das ist ein Abschied laut und leise.

Die Karussells drehn sich im Kreise.

Und was vorüber schien, beginnt.

 

Erich Kästner: Der September, 1955

1Traute

— Schweden, 1961 —

Der Blick über den Kalmarsund, auf das blaugraue Wasser, ist heute verhangen, und ich sehe die gegenüberliegende Insel Öland nicht, obwohl sie ganz nah sein muss. Dort hat Lotte ein kleines Ferienhaus, wo sie sonst, wenn Ernst und ich nicht da sind, den Sommer verbringt. Sie erzählt begeistert vom Trollskogen, dem Zauberwald mit knorrigen, seltsam geformten Bäumen, die in der Dämmerung wie Trolle aussähen. Von den endlosen Mooslandschaften und dem Heulen des Meeres. Die Zeit dort nennt sie Ferien. Doch für mich sieht es aus wie eine Flucht, und ich weigere mich, dort hinüberzufahren.

Am Morgen bin ich ohne die anderen über den Deich und zum Wasser hinuntergelaufen, habe Ernst und Lotte gesagt, dass ich zum Mittagessen zurück bin, denn manchmal spricht die Stille mehr zu mir als ihre Stimmen, manchmal will ich allein sein, den Kopf freibekommen. Und die Schönheit der Küste in Kalmar, diese Mischung aus Liebreiz und Schroffheit, erlaubt es mir, an nichts zu denken und nur ordentlich von der salzigen Luft einzuatmen, die so anders ist als die in Berlin.

Vierzig Jahre ist Berlin her, beinahe ein halbes Jahrhundert. Doch ich kann die Zeit abrufen, als äugte ich durch ein Schlüsselloch in eine längst vergangene Epoche: Lotte und ich an der Staffelei, damals, in den ersten Wochen nach unserer zufälligen Begegnung, als ich ihr Modell wurde. Im Winter 1924. Ich sehe es vor mir, wie wir arbeiten, an unseren ersten Porträts, hoch oben im Atelier in der Kunstschule am Steinplatz. Ich höre unsere Stimmen wie auf einem alten Tonband, etwas leiernd, blechern, aber voller Wärme. Ohne diesen Argwohn, der heute in unseren Gesprächen liegt.

«Halt still, sitz endlich still, alter Dussel!» Lotte lacht.

«Von wegen Dussel, mein Fuß ist eingeschlafen. Sitz du mal so hier in der Eiskälte, nackt, stundenlang.»

«Gut, ich hole dir die Wärmflasche. Aber danach weiter im Text.»

«Sklaventreiberin.»

«Na hör mal, es geht hier um Kunst, ist das nichts? Du, Traute, liebes Hundekind, nur noch ein Stündchen, ich verspreche es. Das wird gut, glaub mir. Richtig gut!»

Sie hatte recht, es wurde gut. Und ich hätte noch lange dort auf dem Schemel gesessen für sie. Eine Ewigkeit.

Lotte sagt, ich werde auf meine alten Tage sentimental. «Du bist so schrecklich empfindlich geworden», behauptete sie heute früh, weil ich zurückzuckte und meine Krallen ausfuhr, als sie den alten Kosenamen benutzte, der mir damals freundlich erschien und heute zuwider ist. Hundchen, wirklich, wer will denn so genannt werden? Nach all den Jahren? Doch sie gab vor, es nicht zu verstehen, mit dieser gerunzelten Stirn über scheinbar arglosem Blick.

«Man hat ja Angst, normal mit dir zu sprechen», sagte sie auf meine Zurückweisung hin, «wenn du bei jeder Kleinigkeit gleich zu Staub zerfällst.»

Dieser dumme Streit, ein kurzer Moment nur von Uneinigkeit, und doch ließ er mich mit eingezogenem Kopf in Lottes Haus umherwandern. Noch immer sitzt er mir tief in den Knochen. Hundchen. Der Name, immer wieder dieser alberne Name. Die Sache verfolgt uns also auch hier in Schweden, seit Lotte ihn wieder ausgegraben hat wie ein fast vergessenes Kriegsbeil. Muss sie mich unbedingt wieder so rufen, plötzlich, nach all der Zeit? Dazu in einem Ton, der mir auf einmal so vorkommt, als rufe wirklich eine Herrin ihren Hund zur Räson. Hunderte, Tausende Male habe ich es als junge Frau hingenommen – gleichgültig, gerührt, spöttisch –, doch heute Morgen, nach dem ersten Schreck, erschien mir das Wort wie eine Degradierung, so, als wollte sie mir zeigen, wo mein Platz sei. Als wüsste ich das nicht! Als wüsste ich nicht, dass mein Anteil klein war, dass Lotte die Künstlerin war und ich das Modell. Aber warum muss sie mir das immer wieder beweisen? Warum kann ich nicht, wie es sich eingebürgert hat, Traute sein, von mir aus auch Gertrud, obwohl mich so wirklich keiner mehr nennt. Bin ich kein Mensch, sondern ein Ding?

Es stimmt schon, dass ich empfindlich bin, dass mir ihre Worte nahegehen und nicht an mir abprallen wie die Wellen, die hier unten gegen die Kaimauern schlagen und sich wieder zurückziehen, als sei nichts gewesen. Vielleicht sehe ich die Spuren der Gischt nicht, die das Wasser am Stein hinterlässt, aber ich weiß doch, dass es den Felsen von unten aushöhlt, Millimeter für Millimeter, unbeirrt. Dasselbe haben die Jahre ohne Lotte mit mir gemacht, die Jahre des Krieges, die Zeit, als ich in Tirol verkrochen saß mit Ernst. Wie zwei Hasen im Loch hockten wir da und warteten auf das Ende. Wir hatten keine Zeile von Lotte, wussten nicht einmal, ob sie lebte. Und dann, härter noch, die Monate nach dem Krieg. Das lange Schweigen, bis Ernst endlich im April 1946 an Lotte schrieb und wir alles erfuhren über ihr neues Leben in Schweden.

Wir nahmen unsere Freundschaft wieder auf. Nach einigem Holpern allerdings, denn als sie mich in ihrem ersten Brief an Ernst Gertrud nannte, war es ein Schock, ein richtiger Schlag. Doch dann erwärmten wir uns wieder, knüpften erneut ein Freundschaftsband, als sei das selbstverständlich.

Aber dieser Sommer hier in Kalmar ist verhext, jedes Wort, das wir sagen, schmeckt schal. Mir ist, als hätte ich meinen Geschmackssinn verloren oder mir auf die Zunge gebissen, sodass sie ganz taub ist. Ich habe so meine Ahnung, womit die Veränderung zusammenhängt, aber ganz kann ich sie nicht greifen, kann das Problem nicht recht am Zipfel packen.

Lotte wirkt wie immer, kühl und praktisch, aber ich kenne sie. Ich kenne sie wie sonst kein Mensch auf der Welt, das kann ich trotz allem behaupten. Die feinen Falten um den Mund, das nächtliche Wandern durchs Haus, die eindimensionalen, banalen Bilder, die sie jetzt malt, verraten sie. Auch an Lottes felsigen Kanten hat das Wasser genagt.

Es ist seltsam, sich vorzustellen, dass wir heute alle eine andere Heimat haben als Berlin. Bremerhaven ist ein guter Ort für Ernst und mich. Nicht eigentlich schön, doch Ernst tut die Luft dort wohl. Und für mich ist er so gut wie jeder andere auch, ich habe mit der Zeit verlernt, mein Herz an Dinge zu hängen, an Orte. Das ist etwas für die Jungen, die noch glauben, dass irgendetwas Bestand hat.

Und Kalmar soll nun also Lottes neues Zuhause sein? Ein reizendes Fleckchen, wie gemalt, aber nicht von Lotte. Von Liebermann vielleicht, niemand kann Landschaften malen wie Max Liebermann. Lottes dagegen sind immer zu akkurat, jedenfalls heute. Früher hat sie Aquarelle von märkischen Feldern gemacht: die Sonne, wenn sie auf die knorrigen Stämme der Alleen fiel, geduckte Katen am Waldrand, dass man vor Freude weinen wollte. Heute scheint es, als ahme sie eine Fotografie nach, die Türme von Stockholm gestochen scharf. Oder sie gleitet ins Gegenteil ab, malt Schiffe am Kai, den Strand oder eine schwedische Landstraße so matt und verschwommen, eingehüllt in matschiges Grau, als versuche sie, das Gesehene unsichtbar zu machen. Als traue sie ihrem eigenen Blick nicht mehr.

So oder so ist das Ergebnis leider nicht gut, auch wenn Lotte behauptet, ihr gefalle es, Pastelle zu malen. Aber das ist lachhaft. Ich male gelegentlich Pastelle, was ich Lotte natürlich nicht erzähle. Wozu auch? Es ist beinahe peinlich, denke ich, das gealterte Modell, das von der Kunst nicht lassen kann und nun selbst malen will. In Deutschland tut es mir gut, mit Farben herumzuspielen, zu experimentieren – allein der vertraute Geruch, das Gefühl, wieder an einer Staffelei zu stehen … Hier in Schweden aber, in Lottes Gegenwart, würde ich erstarren, wenn ich versuchte, unter ihrem strengen Blick zu malen. So war es nie zwischen uns. Lotte malte, nicht ich. Ein paar meiner Pastelle sind heute vielleicht nett anzusehen, es ist eine gefällige Technik, eine, mit der man nicht viel falsch machen kann. Gerade richtig für eine Hausfrau, die ihre Tage füllen möchte. Aber doch nichts für eine Lotte Laserstein!

Einige von ihren jetzigen Bildern sind dennoch hübsch, besonders die vom Sund, wenn das Morgenlicht darüber liegt und die Farben sanft ineinanderfließen. Früher wäre Lotte bei dem Wort hübsch zusammengefahren, hätte das Blatt zerknüllt und von vorn begonnen.

Ich besitze Fotografien von den Bildern, die wir damals in Berlin gemacht haben, und in den Knochen fühle ich noch die vielen Stunden, in denen ich Lotte Modell saß. Ich saß, stand, lag – alles. Sie war die langsamste Malerin der Welt und ich das ausdauerndste Modell aller Zeiten. Das war meine Qualität. Das und meine Schönheit, behauptete jedenfalls Lotte immer. Sie schöpfte Kunst aus dem Nichts, sie sah das Bild, bevor es entstand. Eine grandiose Beobachterin, hartnäckig bis aufs Blut, die ihre Augen nicht von mir nahm, während sie malte. Ich dagegen bin keine Künstlerin, meine Pastelle und Fotografien sind nicht der Rede wert, auch wenn Ernst behauptet, sie seien gut. Zugegeben, in einigen Fotos, die ich von Lotte gemacht habe, sehe auch ich diesen Funken, der aus Abbildung Kunst macht. Auf sie bin ich stolz. Doch eigentlich war ich immer nur Modell, war ich Material, und ich meine, mich zu erinnern, dass ich das gern war. Dass es damals mehr als genug war. Doch wer weiß schon, was er vor Jahren einmal gefühlt hat?

Heute werde ich von unserer Geschichte erdrückt, kann Lottes Blick von oben auf mich herab nicht mehr dulden. Aber was habe ich ihr schon entgegenzusetzen? Diese Knipserei, die paar Bildchen, die ich neuerdings selbst male, das ist alles nichts. Wenn ich heute etwas bin, dann eine Sammlerin. Ich sammle Gedanken, Erinnerungen, Fetzen, wie Schmetterlingsflügel in einer geheimen Botanisiertrommel des Geistes.

Was hat Lotte hier in Schweden bloß noch zu suchen? Wie konnte es so weit mit ihr kommen, dass sie nur noch diese billige Brotkunst macht und nicht ihre wahre Kunst? Unsere Kunst. Ihr Können war das Elixier, das uns wachhielt, das uns verzauberte. Doch wenn ich davon anfangen will, sehe ich ihren Blick, der zu sagen scheint: Sei still!

Und doch ist sie mir nah, manchmal fast so wie früher, aber das Schweigen, das in letzter Zeit so oft zwischen uns steht, ängstigt mich. Es gab in der Vergangenheit Dinge, über die wir nicht gesprochen haben, Gefühle, die wir verbannt haben, als schämten wir uns für sie. Auch Lotte weiß das, weiß, dass ich recht habe. Aber heute sind sie verkrustet von all den Jahren, von all dem Staub, der darauf fiel.

Manchmal hole ich Luft, will schon ansetzen, denke, dass ich ihren Panzer durchbrechen kann. Ich sehe Lotte an, will beginnen. Doch ihre Blicke sind heute noch schärfer als damals. Und dann verlässt mich meine Courage, und ich stapfe lieber weiter den fast leeren Strand entlang, sehe der fremden Dogge nach, die über den Sand dahinfliegt und ins spritzende Wasser stürmt, horche auf die Möwenstimmen, die von anderen, weit entfernten Küsten erzählen.

Es bleibt mir nichts übrig, als im Stillen mit ihr zu sprechen, alles dem Wind zu erzählen. Und so rede ich mit mir selbst wie eine verrückte Alte, über die wir, meine Freundin Lotte und ich, früher gelächelt hätten. Und warte.

2Lotte

Traute, dieses gute alte Hundchen! Wie ein schmollendes Kind benimmt sie sich, und ich weiß nicht, womit ich ihr auf die Füße getreten bin. Dabei ist sie so leicht zu lesen. So oft habe ich sie gemalt, dass ich ihre große Zehe aus dem Gedächtnis zeichnen könnte, die Adern und Sehnen ihres Körpers kenne wie Flüsse auf einer Landkarte. Kann es wirklich sein, dass es nur wegen dieses albernen Namens ist, den ich ihr gegeben habe? Damals in Berlin, ohne nachzudenken, und den sie nun, da er mir wieder einfiel, plötzlich unpassend findet? Anders ist es nicht zu erklären, weshalb sie beim Klang des alten Kosenamens aufbrauste wie ein Kobold. Und nun ist sie böse auf mich, das dumme Kind, als hätte ich sie verraten.

Überhaupt spricht Traute, seit sie in diesem Sommer zu mir nach Kalmar gekommen ist, mit Ernst und viel zu vielen Koffern im Schlepptau, auf einmal nur noch von Berlin, von unserer Zeit damals. Ob ich sie vergessen hätte, fragt sie mich stirnrunzelnd, unsere Jahre, und denkt, ich hörte den Vorwurf nicht. Sie will mich damit hinterm Ofen hervorlocken wie eine alte Katze, denkt wohl, ich würde zu plappern anfangen, wenn sie mich nur ein wenig austrickst und provoziert. Sie hielt sich schon immer für besonders einfühlsam und geschickt, doch leider ist sie der alte Dussel von damals.

Unsere Jahre! Natürlich erinnere ich mich. Aber es tut mir nicht gut, und das ist es, was sie nicht verstehen will. Ich mag nicht in diesen alten Geschichten herumstochern und womöglich schmerzhafte Erinnerungen aufscheuchen. Am liebsten wäre es mir, wir könnten den ganzen Kram zu den Akten legen und einfach nur den Sommer genießen, bis sie und Ernst wieder abfahren und mich in Ruhe lassen. Dabei sehe ich die Bilder von damals genau vor mir, was seltsam ist, denn später gibt es ganze Jahre, die wie verschluckt sind. Da ist nichts mehr. Die Erinnerung ist wie ein Lebewesen, sie hat ihre eigenen Gesetze, und wir müssen ihr blind vertrauen. Manches koloriert sie auf liebevollste Weise, malt uns die vergangenen Tage und Stunden in leuchtenden Farben aus, und dann riechen und schmecken wir die Dinge, als seien wir in einer Zeitkapsel zurückgereist. Anderes löscht die Erinnerung so gründlich aus, wie es selbst der beste Radiergummi nicht vermag, und so sehr wir danach das Papier gegen das Licht halten und unsere Finger über die Einkerbungen gleiten lassen wie über Blindenschrift, wir finden sie doch nicht wieder.

Selbst wenn Traute es vielleicht gerne sähe, dass wir uns in unschuldiger Eintracht an den Ofen setzten und an gemeinsamen Erinnerungen wärmten, so habe ich doch keine Kraft dazu. All die Jahre nach dem Krieg, in denen wir uns getroffen haben, war es auch nicht nötig, sentimental zu werden. Warum jetzt? So ein bisschen Wut, so eine kleine Empfindlichkeit wegen eines Namens, der ihr – wer weiß warum – missfällt, und schon meint sie, wir sollten unsere Gefühle von damals sezieren? Endlich alles aussprechen?

Das war noch nie meine Art, das weiß sie ganz genau. Es ist eine ganz und gar ungesunde Angewohnheit, explosive Stoffe hervorzuzerren, Gefühle, die längst verjährt sind und über die zu sprechen sich nicht lohnt. Können wir sie nicht in uns begraben?

Wann fingen sie überhaupt an, diese angeblich so glorreichen Berliner Zeiten, von denen Traute dauernd redet? Eigentlich schon an der Schule für Gebrauchskunst, lange bevor ich sie kannte. Und das würde ihr kaum schmecken, dass alles begann, als wir noch gar nichts voneinander ahnten. Damals schien mir alles hoffnungslos, und doch saß unter dieser Hoffnungslosigkeit ein Pochen und drängte nach außen, wie bei einem Kokon, in dem sich der Schmetterling bereit macht, die Kruste aufzubrechen und in die Welt hinauszufliegen.

Ich erinnere mich an Vergissmeinnicht, unzählige Vergissmeinnicht. Zarte, fünfblättrige Blüten in Violett, leuchtend gelbe Dolden sowie große, dickhäutige Blätter, leicht behaart, die drohten, die Blüten auf dem Packpapier zu zerdrücken. Das Violett wurde vom gezackten Grün geschluckt wie von einem gefräßigen Maul.

Es war warm im Zeichensaal. Eine Wärme, die von zu vielen jungen Menschen herrührte, die sich langweilten oder abmühten, oder beides gleichzeitig. In Streifen fiel die Oktobersonne zum Fenster herein und ließ das Holz der Arbeitstische und die abgestoßenen Dielen leuchten. Man hörte nichts als das emsige Stricheln der Pinsel und das trockene Rascheln von Papier. Ab und an auch den Seufzer eines Schülers. Es waren vor allem junge Herren, mit der Zungenspitze im Mundwinkel, die zeichneten. An den großen Tischen saßen nur wenige Mädchen in weißen Kitteln. Bei Billy neben mir sprang stilisiertes Gamswild über das Papier, die Tiere hoben die Köpfe und schienen zu röhren. Weiter hinten auf dem Blatt von Wieland Schmidt, dreiundzwanzig, letztes Ausbildungsjahr, verfrühte Geheimratsecken, perlten Tautropfen von einer Mohnblume.

«Fräulein, das ist durchaus entzückend!», sagte plötzlich eine Stimme hinter mir, und ich fuhr zusammen. Adolf Kropp, unser Dozent und der Gründer der Schule für Gebrauchskunst, beugte sich vor. Ob er wirklich meine Zeichnung meinte, die mickrigen Vergissmeinnicht im Blätterdickicht? Unfassbar, wie schnell man sich an dieser Schule zufriedengab! Aber natürlich ging es auch nur um Entwürfe für ein Porzellanservice, für Teterower Töpferwaren, und nicht um echte Kunst.

«Danke, Herr Professor Kropp», sagte ich höflich, obwohl jeder an der Schule wusste, dass er kein Professor war. «Allerdings ist entzückend nicht mein Ziel, müssen Sie wissen.»

Ich hatte schon oft bemerkt, dass es ihn nervös machte, wenn man ihn zu lange und direkt ansah, und ich erlaubte mir manchmal diesen armseligen Spaß. Ich bin leider eine boshafte Person.

Kropp ging weiter, die Hände hinter dem Rücken verschränkt in der Manier alternder Herren. «Beachtliche Leistung für eine junge Frau ohne Vorbildung», fügte er hinzu, ohne mir noch einen Blick zu schenken.

Sein gönnerhafter Ton machte mich wütend. Doch ich schloss gerade noch rechtzeitig den Mund und hielt die unverschämte Bemerkung zurück, die wie ein frecher Spatz herausfliegen wollte. Allzu oft hatte ich schon die Erfahrung gemacht, dass eine flinke Zunge an dieser Institution nicht gebilligt wurde.

Billy beugte sich herüber, ihr blonder Zopf baumelte hübsch übers Ohr.

«Lottchen, wie machst du das nur? Immer die Lieblingsschülerin!»

«Es hilft, wenn man keine Rehe malt, die größere Ohren haben als Toni», gab ich zurück und deutete auf ihr Blatt. Keine zehn Gehminuten von der Schule entfernt lag der Zoo, in dem wir die Elefantendame Toni oft mit Erdnüssen fütterten.

Billy lachte auf. Sie gab ihrer Zeichnung einen angewiderten Stoß, dass sie über den Tisch flatterte.

«Drecksviecher! Du hast recht!» Entschlossen sah sie mich an. «Kaffee?»

«Die Plörre?»

«Nicht hier! Im Café … Wir schwänzen den restlichen Nachmittag.»

Ich legte erleichtert den Pinsel weg. «Gott sei Dank, Billy. Wenn ich noch ein Vergissmeinnicht zeichnen muss, verliere ich den Verstand. Ich kann einfach keine Blumen malen.»

«Du?»

Langgezogen hallte ihre ungläubige Frage durch den Zeichensaal. Kropp drehte sich erstaunt um und betrachtete uns, die impertinenten jungen Frauen, mit hochgezogenen Brauen, überlegte vielleicht sogar kurz, ob er uns zur Ordnung rufen sollte, wartete dann aber zu lange – und der Augenblick verstrich. Nun wäre die Ermahnung sonderbar in der Stille hängengeblieben.

Billy murmelte: «Du kannst alles malen, wenn du nur willst.»

«Dann liegt da der Hase im Pfeffer», flüsterte ich. «Ich will nicht.»

Es gab viele Menschen, die sagten, ich sei dickköpfig. Und ich lasse mir tatsächlich nicht gern vorgeben, was ich zu tun habe. Aber Rebellion ist das Privileg der Jugend, im Alter ist sie albern, ja traurig.

Billy ließ sich von meinem Sturkopf nicht so leicht ins Bockshorn jagen. Ich sehe sie noch vor mir, eine fröhliche Kameradin, blond und zart, doch mit einem festen Kern. Wir saßen bald zwei Jahre nebeneinander und zeichneten in törichter Einfalt Porzellanmuster und Tapetenentwürfe. Mit der Zeit waren wir so etwas wie Freundinnen geworden, die sich die Pausen miteinander vertrieben. Die gemeinsam erduldete Langeweile an der Zeichenschule schmiedete uns zu Gefährtinnen zusammen.

Das Scharren der Stühle zeigte an, dass es auf eine Kaffeepause zuging. Kropp deutete hier noch einmal auf ein Blatt und gab einen Rat, murmelte dort mit wichtiger Miene einen Tadel angesichts eines schlampig ausgeführten Musters, dann entließ er uns in die Pause. Ich trat zum Waschbecken und wusch die Pinsel aus. Dunkelviolett wurde zu Blasslila, in zarten Schlieren flossen die ungemalten Vergissmeinnicht in den gurgelnden Ausguss, bis das Wasser klar war.

Billy trat neben mich. Ihre Hände waren rotbraun gefleckt wie das Fell der großohrigen Rehe, sie scheuerte die Finger unter dem kalten Wasserstrahl mit einer Bürste. Über ihre Wange, dort, wo sie zuvor mit unbedachter Geste einen Finger hingelegt hatte, lief ein tannengrüner Striemen und ließ ihre Augen noch tiefer leuchten. Die Herbstsonne draußen vor den Fenstern tanzte und flirrte in den goldenen Strähnen ihres Zopfes.

Berlin im Herbst, welche Wonne.

«Dich sollte ich malen», sagte ich leise, doch Billy hatte es gehört.

«Bist deppert?» Bisher hatte der Einfluss des Berlinerischen nichts gegen ihren weichen Dialekt aus Bayern ausrichten können. Er gefiel mir. «Gehst du jetzt unter die Porträtmaler? Lass das nicht den Kropp hören, der denkt sonst, du hältst dich für was Besseres.»

«Und wenn das so wäre?», fragte ich und rieb Billy mit einem nassen Lappen das Grün aus dem Gesicht. Ich hatte keineswegs vor, auf ewig und drei Tage Tapetenmuster zu zeichnen, ehrgeizig, wie ich war.

«Hochmut kommt vor dem Fall, Fräulein!», sagte Billy, und ihre Nachahmung des Institutsleiters war ausgezeichnet. «Was denkst du denn, willst von Luft und Liebe leben? Für unsereins gibt es nicht mehr als das hier.»

«Du Dussel, wir Frauen können auch studieren», erwiderte ich und fuhr mir mit den nassen Händen durch die kurzen Haare, strich sie nach hinten, sodass sie eng am Kopf anlagen. Es gab mir immer ein Gefühl von Sicherheit, von Ordnung, wenn mein Gesicht frei war. «Seit bald zwei Jahren sogar an der Akademie. Wir können Künstlerinnen sein wie die Männer.»

«Selber Dussel!» Billy sah beleidigt aus. «Auf dem Papier mag das stimmen, Lottchen. Aber niemand will uns dort in den heiligen Hallen wirklich, das weißt du genau. Und was würde dein Vater sagen, wenn er dich reden hörte? Seine Tochter, die Malerin? Meiner würde lachen, bis er umfiele, und mir dann den Hosenboden versohlen. Es war schon schwer genug, ihn zu überreden, dass ich nicht ins Lehrerinnenseminar muss.»

«Mein Vater ist tot», sagte ich. Er starb an einem Herzleiden, als ich gerade drei war, ich erinnerte mich kaum an ihn. Die Trauer über seinen Tod war mehr ein Echo der Gefühle meiner Mutter, ich selbst nur der Resonanzkörper. «Aber meine Mutter ist modern», fügte ich schnell hinzu, bevor Billy ihr Bedauern daherstammeln konnte, «sie will, dass Käte und ich genau das lernen, was wir wollen. Und dass ich Malerin werden will, das weiß sie, seit wir Kinder sind. Ihre eigene Schwester selbst, Tante Else, hat mich im Zeichnen unterrichtet, damals in Danzig.»

«Dann stammst du also aus einer Künstlerfamilie», sagte Billy und guckte neidisch aus der Wäsche. «Ja geh, das ist dann was anderes.»

Ich musste lachen. Tante Else war keine Künstlerin, sie war eine malende Frau, was ganz und gar nicht dasselbe ist. Sie lebte in der Provinz, unterrichtete an ihrer eigenen, privaten Malschule und zeigte, wie es ging, als Frau für sich selbst zu sorgen, und zwar durchs Kunstmachen.

Meine Schwester Käte hat einmal die Theorie aufgestellt, dass uns als Kinder durch den frühen Verlust des Vaters eine wichtige Beziehung, nämlich die zum öffentlichen Leben, abhandengekommen sei, und vielleicht ist da etwas dran. Die Mütter binden uns an Herz und Heim, so Käte – sie drückt sich manchmal schrecklich geschwollen aus –, doch die Väter öffnen uns die Türen zur Welt, zum Streben nach Geltung. Käte mag glauben, dass uns Schwestern das fehlt, aber ich gebe zu, dass ich durchaus Ehrgeiz besitze. Die Sehnsucht nach öffentlichem Leben hingegen, die spüre ich nicht, heute nicht und auch damals nicht. Dabei war der Vergnügungsalltag in Berlin allgegenwärtig, man konnte sich ihm kaum entziehen. Alle liefen in die Tanzdielen, ins Romanische Café, ins Moka Efti, tranken Absinth und warteten auf das Entdecktwerden oder die große Inspiration. Ich feierte selten mit, aber das lag an mir, ich hatte es nicht so mit dem Tanzen und Trinken.

Wir liefen zum Garderobenständer, zogen die Arbeitskittel aus, die wir über den Kleidern trugen, und nahmen unsere Mäntel vom Haken.

«Ich warte nur noch auf die Antwort von der Akademie», sagte ich atemlos, «dann bin ich hier weg. Endgültig weg von diesen Blümchen und Rauten und Vögeln und dem ganzen Gedöns.»

«Gedöns?»

Diesmal erschrak ich wirklich, als ich Kropps Stimme vernahm. Ich konnte seine Empörung heranziehen sehen, als ich aufblickte.

Himmel! Das männliche Geschlecht könnte viel umgänglicher sein, wenn es nur nicht so eitel wäre! Deshalb mag ich Trautes Ernst so gern, er ist auf seine leise, weiche Art nicht so männlich, mehr … geschlechtslos. Das darf er aber nie hören!

«Verzeihung, Professor Kropp», murmelte ich. «Aber Sie werden es mir nicht übelnehmen, dass ich Pläne schmiede. Für die Zeit nach Ihrer Institution.»

«Das Fräulein hat also hochfliegende Ideen», sagte er. Seine Stimme klang höhnisch, ich vernahm den Sarkasmus darin. Das Wohlwollen von vorhin war verschwunden. «Was sollten das schon groß für Pläne sein, wenn nicht eine Anstellung als Graphikerin für Werbeplakate und Teppichmuster? Das Kunstgewerbe ist ein guter Platz für eine junge Frau, glauben Sie mir. Ich habe Erfahrung und kann Sie vermitteln, Sie werden schon sehen.»

Ich ahnte, dass es zum Streit kommen würde – und dass dieser Streit eine Entscheidung herbeiführen würde.

«Mit Verlaub», sagte ich, «es sind durchaus andere Pläne. Ich werde an der Akademie studieren. Malerei. Und dann bin ich diese Gebrauchskunst hier los, die Rosenblätter, Nagetiere und das ganze Obst.»

«Lottchen!», zischte Billy, doch ich war nicht zu bremsen. Wieder ging mein Dickkopf mit mir durch, es war reiner Übermut, der mich trieb.

«Ich werde Künstlerin, Herr Kropp», sagte ich und wartete auf den Sturm.

Er schnaubte, und seine Gesichtsfarbe, zuvor leicht gerötet, schillerte nun violett. Ich erinnere mich an sein Schwitzen, seine Wut.

«Ein kleines Mädel wie Sie eine Künstlerin? Was sind das für Flausen? Hören Sie auf mich, ehe Sie enttäuscht werden. Sie schaffen es nicht. Sie können nicht genug, haben nicht das Zeug dazu. Sie sind eine ganz leidliche Graphikerin, aber doch keine Malerin!»

«Das werden wir ja sehen», erwiderte ich. «Was man kann oder nicht kann, weiß man wohl erst, wenn man es versucht hat.»

Rasch ging ich an dem sprachlosen Mann vorbei. Billy folgte mir. Sie holte mich auf dem Korridor ein. Knallende Stiefelabsätze auf Linoleum und Wutqualm, der aus den Ohren stieg.

«Musste das sein?», fragte sie und versuchte, mit mir Schritt zu halten. «Da kannst du nie wieder zurück, verstehst du das nicht?»

«Nein, du verstehst nicht», blaffte ich, scharf wie ein gespitzter Bleistift, zu scharf. «Ich will nicht zurück. Und jetzt komm, ich verhungere.»

Ich stieß die schwere Tür auf und trat hinaus ins Sonnenlicht dieses verspäteten Altweibersommers, der die Stadt wie in einer letzten Umarmung gefangen hielt. Wie ein Liebhaber, der weiß, dass er gehen muss, aber sich noch nicht losreißen kann und seiner Liebsten einen letzten Kuss stiehlt.

Der weite Himmel strahlte tiefblau wie Billys Augen. Das bunte Herbstlaub leuchtete und flirrte in der Sonne, Rot wechselte zu leuchtendem Orange, die Linden hatten sich in ein hellgelbes Kleid gehüllt. Und all das bunte Laub segelte auf dem sanften Wind dahin, der durch die Straßen strich, tanzte, bäumte sich auf und ergab sich schließlich, fiel zu den anderen Blättern, die sich dort zu raschelnden Haufen zurechtgelegt hatten. Es war taumelnde Lebensfreude und Verfall in einem. Berlin stand in Flammen.

3Traute

Einen üppigen Mittagstisch zu decken, dessen Decke in der Brise flattert, während ein alter Apfelbaum zittrige Schatten auf die Porzellantassen malt, ist wohl die schönste Art, einen Urlaubsnachmittag am Meer zu beginnen, wie auf einer Postkarte. Ich muss Lotte recht geben, dass ein eigener Garten den Menschen erst richtig aufblühen lässt. Dieses unvergleichliche Gefühl, wenn sich die Grashalme zwischen die nackten Zehen schmiegen und man im Nachthemd auf der Wiese umhergehen kann! Im Baum singt ein Vogel, eine Goldammer vielleicht oder eine Singdrossel, von der es hier in Småland so viele gibt, und ich stelle jede einzelne Tasse mit der gold-blauen Bemalung auf ihren Platz, als legte ich ein schwieriges Puzzle.

Dann sehe ich den Brief. Zwei Seiten sind es, eng beschrieben und mit einem Kaffeebecher beschwert, das Papier raschelt im Wind. Lotte muss ihn hier draußen vergessen haben. Es ist Kätes Schrift, sie unterschreibt ihre Briefe an die Schwester stets mit der alten Grußformel aus Kindertagen, dein Kanin, und zeichnet ein kleines Häschen daneben. Und ich weiß nicht, weshalb ich ihn nehme, mich unter den Apfelbaum setze und so tue, als sei es mein selbstverständliches Recht, ihn zu lesen. Als sei alles, was Käte an Lotte schreibt, auch für mich bestimmt. Dabei weiß ich, dass es unrecht ist, ihr Geschriebenes zu lesen, das ist mir bewusst. Doch meine Augen, meine Hände machen sich selbständig. Was hoffe, was fürchte ich, auf den Seiten zu finden? Der Brief enthält nichts, was kompromittierend wäre, dennoch geht mein Blick ständig zwischen dem hellen Papier und den Fenstern des Hauses hin und her, als erwarte ich, dass Lotte jeden Moment herauskommt und mich ausschimpft. Doch sie ist gar nicht da, sie unternimmt oft nach dem Mittag einen Spaziergang, ach was, einen Marsch von einer Stunde oder länger, als müsste sie sich und ihren Körper erst einmal mit Gewalt in Bewegung setzen, bevor sie sich einen Kaffee und etwas Süßes gönnt.

Käte. Ich habe sie nicht allzu oft getroffen damals in Berlin, unsere Lebenslinien kreuzten sich nur selten, aber ich meine doch, sie zu kennen, weil Lotte viel von ihr gesprochen hat. Nach dem Krieg lebte sie ein paar Jahre bei Lotte in Stockholm, da trafen Ernst und ich sie zweimal bei unseren Besuchen. Sie ist das glatte Gegenteil ihrer Schwester, hellhaarig, zart, wie ein Stück Schilf. Anders als Lotte, der ich diese Entschlusskraft gewünscht hätte, kehrte sie vor einiger Zeit zurück nach Berlin, zog wieder in die alte Wohnung im Immenweg, wo die Familie in den Kriegsjahren wohnte. Sie nahm sogar ihre Beziehung zu Olly wieder auf, ihrer langjährigen Freundin Rose Ollendorf. Eine Liebe zwischen zwei Frauen, offen gelebt. Das war in unserer Jugend in bestimmten Kreisen vielleicht selbstverständlich, im Nachkriegsdeutschland aber ist es eine ungewöhnliche Lebensweise. Sie erfordert Mut, denke ich. Mut, den ich niemals gehabt hätte.

Lotte erzählte mir, dass Olly kürzlich gestorben sei, Brustkrebs, und dass Käte bis zum Schluss bei ihr am Krankenbett ausgeharrt habe. Wie weh muss es Käte getan haben, ihre Freundin nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht haben, zu verlieren? Doch sie durfte bei ihr sein. Davon zu hören, stimmt mich nachdenklich, denn wer wird meine Hand halten, wenn es so weit ist? Ernst? Wenn ich ihn ansehe, scheint es mir unwahrscheinlich, dass er mich überlebt, er wirkt oft älter, als er ist. Doch vielleicht gilt das für mich ebenso. Wir sehen das Alter in den Zügen unserer Nächsten und erschrecken darüber, aber nur selten erkennen wir, dass es auch uns längst befallen hat wie eine ansteckende Krankheit. Das Leben ist gefährlich, und am Ende stirbt man daran – wer hat das noch gleich gesagt?

Ich lese also Kätes Brief, mit einem flauen Gefühl im Magen – vor Neugier und Schuldgefühl, das vielleicht auch noch eine Nachwehe des morgendlichen Streits ist. Käte ist in einem Sanatorium in Bad Harzburg und laut Lotte sehr krank. Wäre ich melodramatisch, würde ich sagen, krank an gebrochenem Herzen. Nicht nur wegen Olly, sondern wegen allem, was hinter ihr liegt und was Lotte durch ihre Flucht nach Schweden erspart geblieben ist. Kein Wunder, denke ich, Käte hat Schreckliches erlebt. Lotte ist dem Krieg entronnen, aber kein Tag vergeht, an dem ich nicht ein Stechen in der Brust habe, wenn ich mir vorstelle, sie wäre nicht entkommen, sondern in Berlin geblieben. Hätte sie sich mit Käte verstecken können? Hätte sie auch überlebt wie durch ein Wunder? Doch zu welchem Preis? Ich habe von ihnen gehört, von anderen U-Booten, untergetauchten Juden, die in Berlin versteckt blieben, die jahrelang in einem Kleiderschrank vegetierten, unter Dielenbrettern, in Schuppen … Immer in Todesangst! Immer die eisige Furcht vor dem Entdecktwerden.

Was macht das mit einem Menschen, frage ich mich, wie kann man danach weiterleben? Das ruft doch eine Lebensangst hervor, die man niemals mehr abschütteln kann.

Und so geht es wohl auch Lottes Schwester. Ich erschrecke, als ich sehe, wie zittrig ihre Schrift ist, wie unstet die Worte auf dem Papier übereinanderfallen, und noch mehr erschrecke ich, als ich lese, wie sie ihren Zustand beschreibt. Depressionen, Einsamkeit, Schlaflosigkeit. Viel zu viele Pillen und Zigaretten, Baldriantee, der nicht hilft, Kuren, die sie nur noch müder machen. Insgesamt eine niederdrückende Situation. Und zwischen den Zeilen stets der Vorwurf, dass Lotte ihr nicht oft genug schreibe, und die Angst, zurückgelassen zu werden. Oh, wie gut ich das Gefühl kenne!

Eine Stelle im Brief geht mir sehr ans Herz. Käte schreibt, dass sie die Stärke der Schwester, Affchens Stärke, wie Käte Lotte stets nennt, sehr beneide, und dass sie selbst aus einem anderen, weicheren Holz geschnitzt sei. Sie habe die große Schwester immer bewundert für ihre Unbeugsamkeit. Sie selbst sei nicht aus dem Stoff gemacht, der einen widerstandsfähig gegenüber dem Leben mache. Nervlich sei sie seit früher Kinderzeit nicht gesund. Und doch, schreibt sie dann weiter, wisse auch Lotte, wie es sei, wenn man Angst im Herzen spüre. Das war dir ja lange so, Affchen.

Als ich diese Worte lese, geben sie mir einen Stich, und ich sehe wieder nervös zum Haus hinüber. Mit diesen Zeilen dringe ich doch ein in etwas sehr Privates, spüre ich, das ich nicht lesen sollte. Doch mehr noch als das schlechte Gewissen pikst mich das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Von welcher Angst schreibt Käte da, wann soll Lotte so gefühlt haben? Als sie jung war, damals, in den ersten Berliner Jahren? Zu unseren Zeiten? Nein, nie habe ich Lotte damals ängstlich gesehen, immer nur wütend, das ja, stur, grollend, starrsinnig. Dann auch wieder fröhlich, leidenschaftlich, ausgelassen, voller Leichtsinn. Aber meine Lotte mit Angst im Herzen? Das kann nur nach dem Ende unserer Berliner Zeiten gewesen sein, in Schweden, als wir getrennt waren. Nach der Katastrophe. Und noch mehr Beunruhigendes schreibt Käte im nächsten Absatz, etwas von einem Freund, den Lotte verloren habe, verbunden mit der Frage, wie sie mit dem Verlust zurechtkomme. Ein mir unbekannter Name fällt, Hugo. Hier schreibt Käte auf Schwedisch weiter, das ich nicht lesen kann, aber din Hugo, das verstehe auch ich.

Wie kann es sein, dass ich von diesem Mann noch nie etwas gehört habe? Wieso hat Lotte nichts von ihm erzählt, wieso begegneten wir uns nicht bei vergangenen Besuchen in Schweden? Und was ist mit dem Verlust gemeint, ist er gestorben oder nur wieder aus Lottes Leben verschwunden, ohne darin große Spuren zu hinterlassen?

Es hat mich immer gewundert, dieses lebenslange Alleinsein von Lotte, ihre Weigerung, sich einen Gefährten zu suchen. So wie ja auch ich mir einen gesucht habe, bereits sehr früh, denn was hilft es, wie ein Eremit zu leben? An Angeboten dürfte es Lotte nicht gemangelt haben, mag sie auch zuweilen schwierig sein, so fasziniert sie doch die Menschen mit ihrer Bärenkraft, ihren dunklen Feueraugen, ihrem Willen. Trotzdem blieb sie allein. Und nun lese ich hier plötzlich, dass sie vielleicht doch nicht immer allein war, dass sie liebte?

Du hattest einen Freund, der dir viel bedeutete, schreibt Käte auf Deutsch. Warum schmerzt mich diese Zeile so? Lotte kann ja tun, was sie will, und ihre Zeit verbringen, mit wem sie möchte. Nur, dass sie es mir vorenthält, flößt mir Unbehagen ein, ja Misstrauen. Plötzlich ist es, als sei ich gar nicht da, als müsste ich mich lautstark bemerkbar machen, unbequem sein, damit Lotte mich überhaupt wahrnimmt. Ich fühle mich wie ein Geist aus der Vergangenheit, der hier unversehens in Lottes Gegenwart hineingeschneit ist, am Tisch unter dem Apfelbaum sitzt und unentdeckt versucht, ihren Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Während sie längst in ihrem neuen Leben, mit festen Schritten, über den felsigen Boden am Meer geht und später mit gutem Appetit ein Wurstbrot isst. Und ich nähre mich nur von den vergangenen Tagen, von flatternden Erinnerungen und längst verschwundenen Dingen. Von Geisternahrung.

4Lotte

Traute ist schon wieder unten am Strand. Auf dem Gartentisch liegt der Brief von Käte, die Seiten scheinen mir in Unordnung. Vielleicht hat sie ihn gelesen und bildet sich nun etwas ein? Das wäre typisch Traute, immer so sensibel, so leicht anzufassen. Sie hat sich den komischen Tick angewöhnt, tagsüber manchmal zu verschwinden, mit einer geheimnisvoll klappernden Tasche, ohne sich zu verabschieden, als schleiche sie sich aus dem Haus, damit ich sie suchen komme. Den Gefallen tue ich ihr aber nicht, mir ist alles Theatralische zuwider. Stattdessen lese ich ihre kleinen Zettel, die sie auf der Bank liegen lässt, mit kurzen Botschaften. Bin am Meer oder Einkaufen, bald zurück. Eine seltsame Art, ihren Urlaub zu verbringen, so pflichtbewusst.

Ich zerknülle das Papier in der Hand, koche mir noch einen Kaffee und stelle auch Ernst eine Tasse hin, der in irgendeinem Buch vergraben ist, obwohl er wieder wegen seines Blutdrucks jammert. Dann begrüße ich die kleine Katze, die oft an meine Tür kommt und um eine Schale mit Sahne bettelt. Ich vertreibe mir mit ihr die Zeit, muss aber schon eine Wolljacke anziehen, weil die Tage bereits kühler werden.

Je länger ich an diesen Tag mit Billy im Herbst 1921 denke, desto klarer wird mir, welch ungeheure Wendung er brachte. Nicht unbedingt nur wegen der Ereignisse, die am Ende des Tages auf mich warteten, und auch nicht wegen des vorangegangenen albernen Streits mit Kropp. Sondern vor allem, weil ich damals, als ich mit Billy durch Charlottenburg lief, zum ersten Mal den Gedanken hatte, dass ich wirklich eine Künstlerin sein könnte. Ich hatte schon oft davon geträumt, doch bisher war das der Spleen eines Kindes gewesen. Und irgendetwas rastete damals in meinem Inneren ein und machte aus meinem Sehnen eine Notwendigkeit.

Die Nestorstraße, in der die grässliche Schule für Gebrauchskunst untergebracht war, lag um die Mittagszeit ruhig da. Überhaupt spürte man hier draußen nicht allzu viel von dem hektischen Puls der Metropole, Halensee war ein verschlafenes Nest am Stadtrand. Immerhin lockte am Ende der Straße der Kurfürstendamm, den Vorwitzige bereits den Broadway von Berlin nannten, eine breite Straße, die immer mehr Kaffeehäuser und Theater säumten, immer ausladendere Schaufenster, in denen sich Ware aller Art rekelte und spreizte. Die Gegend hieß halb spöttisch, halb anerkennend City West. Auf der anderen Seite aber war die Straße, in die Billy und ich nun auf Höhe des Lehniner Platzes einbogen, noch behäbig und still, nur ein einsamer Leierkasten orgelte einen Schlager durch die Herbstluft. Ich erinnere mich nicht mehr daran, welches Lied er spielte, nur, dass die Melodie mich melancholisch machte. Weiter östlich leuchtete der elegante Olivaer Platz mit seinen Prachtbauten, winkte Charlottenburg die Passanten wie ein großspuriger Onkel heran. Doch selbst auf unserer Seite, in Halensee, zog, wie man hörte, die Boheme ein und verlieh dem Boulevard einen zarten Schimmer von Ruhm.

Auch hier brummten bereits einige Automobile wie emsige Bienen vorüber, darin altes Geld und neureiche junge Herren, deren Handschuhe ein wenig zu sehr glänzten. Künstler zog es ebenfalls hierher, denn kreative Geister, Musiker, Schriftsteller und solche, die es werden wollen, suchen stets die Nähe des Geldes und kauflustiger Mäzene. Ein Industriegebiet der Intelligenz entstand, so schrieb es Wolffs Tageblatt. Und diese Intelligenz brauchte Orte, an denen sie sich treffen und einen Mokka oder Likör trinken konnte, die Zeitungen zum Vorwand aufgeschlagen, damit man über den Rand äugen und die Feinheit des Manteltuchs, den Umfang der Zigarren und die Fesseln der Dame am Nebentisch vergleichen konnte.

Wir ließen unseren Blick über die Fensterauslage des kleinen Cafés mit der gestreiften Markise wandern. Sandkuchen, Pralinen, Herrentorte. Nichts Exotisches, das gewiss nicht, aber genug für zwei hungrige Mädchen. Conditorei rief uns das Schild über dem Eingang zu. Ein Glöckchen bimmelte, und schon standen wir in einem einfachen Raum mit schmucklosen Tischen und Holzstühlen, doch der Duft nach Bohnenkaffee war einladend genug. Die meisten Tische waren besetzt, zumeist von Herren in Sportanzügen oder mit Weste und knielangen Hosen, die lasen und rauchten und starrten.

«Dort drüben», herrschte das Fräulein uns an und deutete auf einen kleinen Tisch – augenrollend angesichts der Zumutung, sich um zwei junge Frauen ohne Herrenbegleitung kümmern zu müssen, die am Ende wenig Trinkgeld geben würden.

Billy und ich tauschten einen Blick. Vor dem Krieg hätte man uns womöglich gar nicht hereingelassen. Noch immer gab es Etablissements, die separate Damensalons offerierten, damit die Herren nicht in ihrem Tun oder ihrer Suche nach Entspannung vom weiblichen Geschlecht gestört würden. Doch die Zeiten änderten sich. Es musste sich alles ändern, dachte ich grimmig.

«Olle Ziege», zischte ich Billy hinter dem gestreiften Rücken des Fräuleins zu.

Meine Mitschülerin kräuselte entzückt ihre Mundwinkel und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Wie gern ich ihr imponierte! Erneut dachte ich, dass sie ein wunderbares Modell abgeben würde. Und dass ich einmal wirklich eine Frau aus Fleisch und Blut brauchen würde, die ich so malen konnte, wie es mir in den Kram passte. Die zu mir gehörte.

«Mach dir nichts draus, Lottchen», sagte Billy und streckte aufseufzend die Beine in den braunen Strümpfen von sich. «Wir Frauen dürfen wählen, und wir dürfen Kaffee trinken, wo es uns beliebt.»

«Ich mache mir gar nichts draus. Wie du weißt, denke ich, dass Frauen sogar viel mehr dürfen als das», gab ich zurück und setzte mich auf den Platz ihr gegenüber. «Nur du scheinst das nicht zu glauben.»

Billy gab mir einen strengen Stups. «Denk doch mal nach! Wie viele weibliche Künstler kennst du?»

«Ein paar», sagte ich und fühlte mich dennoch plötzlich zerknirscht und dumm. Blätterte ich nicht tagtäglich die Kataloge der Galerien durch? Besuchte ich nicht jeden Sonntag die Ausstellungen der Stadt? Und doch fiel mir tatsächlich kein einziger Name einer Frau ein! Was bedeutete das, etwa, dass Billy am Ende recht hatte?

«Sag, wen?»

«Gabriele Münter», antwortete ich schnell und sah sie herausfordernd an. «Und Hannah Höch.»

«Hannah Höch ist nur berühmt wegen Hausmann.» Billy grinste. «Und Gabriele Münter wegen Kandinsky.»

Es stimmte. In unserer hübschen Weimarer Republik war einiges neu, aber auch vieles beim Alten geblieben. Und weibliche Selbständigkeit – das vertrug sich nicht mit dem großen Ego der Männer. Das tut es vermutlich nie.

«Willst du damit sagen, dass ich eine Berühmtheit heiraten sollte, wenn ich selbst Malerin werden will?»

«Es wäre kein Fehler», sagte Billy, und ich sah, dass sie es halb ernst zu meinen schien. Verdrießlich riss ich mir die Kappe vom Kopf und strich mir die kurzen dunklen Haare aus dem Gesicht, die mich in der Stirn kitzelten.

«Darauf kannst du lange warten», sagte ich. «Ich werde niemals heiraten. Es zerstört nur die Kreativität, wenn man sich an einen Menschen bindet und nicht an die Kunst selbst. Ich widme mein Leben der Malerei, anders funktioniert es nicht.» Ich wusste, ich redete hochtrabend, wie ein Kind, daher.

«Die Kunst selbst gibt dir aber kein Haushaltsgeld», sagte Billy und beugte sich über den Tisch. «Sie bezahlt nicht deinen Kaffee.» Dann richtete sie sich wieder auf, schnipste in Richtung des sauertöpfisch dreinblickenden Fräuleins, das pflichtschuldig angetrampelt kam, und bestellte zwei Mokka und zwei Stück Kuchen.

«Vielleicht doch, eines Tages», sagte ich nachdenklich, ich wollte mich nicht geschlagen geben. Dann fiel mir ein Name ein. «Käthe Kollwitz!» Triumphierend sah ich Billy an.

«Was ist mit ihr?», fragte sie abwesend. Erstaunlich flink kehrte die Kellnerin zurück. Billy versenkte ihre Gabel in den Kuchen und leckte sich die Krümel aus den Mundwinkeln.

«Sie ist eine berühmte Künstlerin, sogar Professorin an der Akademie hier in Berlin! Was sagst du nun?»

«Ausnahmen bestätigen die Regel», erwiderte Billy. «Das sage ich. Du willst dich doch nicht mit der Kollwitz vergleichen, Lottchen, oder? Denn dann muss ich dir sagen, dass der alte Kropp recht hat, du bist entweder größenwahnsinnig oder narrisch.»

«Ach, sei still», sagte ich und stopfte mir den Kuchen in den Mund, ohne ihn zu schmecken.

Eine Weile saßen wir schweigend da, bis der junge Herr am Nebentisch geräuschvoll die gelesene Zeitung zusammenfaltete, sein Glas austrank und in seinen Knickerbocker zu uns trat.

«Darf ich die Damen zu einem Likör einladen?»

«Nicht nötig», sagte ich, aber Billy strahlte und erklärte: «Sehr gern, danke recht schön, der Herr.»

Ich hätte am liebsten unter dem Tisch nach ihr getreten. Die Knickerbocker schienen Billys kokettes Herumgefummel an den blonden Zöpfen richtig zu interpretieren, sie setzten sich. Dann winkte der Mann dem gestreiften Fräulein und gab seine Bestellung auf.

«Darf ich mich vorstellen?» Er nannte seinen Namen, deutete sogar eine Verbeugung an. Durch die kleine Neigung des Kopfes fiel ihm sein kurz geschnittenes Haar vorne modisch ins Gesicht. Die enge Jacke trug er offen, es sah flott aus und vertiefte meinen Unwillen, denn ich hegte bereits damals einen Argwohn gegenüber gutaussehenden Männern. Wie konnten sie so sicher sein, dass ihnen die Welt gehörte?

«Und mit wem habe ich die Ehre?»

«Sibylle Hahn», sagte Billy, reichte ihm huldvoll die Hand und warf mir einen scharfen Blick aus den Augenwinkeln zu, als habe sie Angst, ich würde ihr die Tour vermasseln. «Und das ist meine Freundin Lotte Laserstein.»

«Wie überaus angenehm.» Der Mann blickte zwischen uns beiden hin und her. «Verzeihung, ich wollte nicht stören. Aber ich konnte nicht widerstehen, Ihre Bekanntschaft zu machen.»

Sein Lächeln, das sah ich genau, galt nur Billy. Fragend schaute er sie an.

«Sie beide sind bestimmt Sekretärinnen, so hübsch, wie Sie sind? Oder Telefonfräuleins? Haben Sie den Nachmittag frei?»

Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, doch wieder traf mich Billys warnender Blick, und ich schloss schnell die Lippen. Stattdessen antwortete sie mit zuckersüßem Augenaufschlag.

«Aber ja. Telefonistinnen, nicht wahr, Lottchen? Wir placken uns halbtot den ganzen Tag, aber denken Sie sich nur, was für interessante Gespräche wir mitanhören dürfen! Sie wählen im Haupttelegraphenamt nur die Klügsten aus.» Sie strich sich wie nebenbei die Strümpfe glatt.

«Oh», sagte der Mann und riss die Augen auf. «Wie aufregend!»

Er rutschte mitsamt seinem Stuhl eine Winzigkeit zu Billy hinüber und von mir fort. Obwohl er mich nicht interessierte, tat es weh, wie Zahnschmerz, wenn man zu schnell kalte Limonade trinkt.

Das Fräulein brachte drei kleine Gläser, gefüllt mit einer goldenen Flüssigkeit, und der Knickerbocker-Mann erhob seines und prostete uns zu. Billy trank einen großen Schluck und musste husten, es sah niedlich aus und gab ihm einen Grund, ihr über den Rücken zu streichen. Ich wusste, dass nun ein wohlbekannter Tanz folgen würde, eine Art Reigen, in dem sich die beiden Flirtenden umkreisen würden, berauschend für die Teilnehmer, aber qualvoll und peinlich für das dritte Rad am Wagen, für mich. Ich selbst schien keinerlei Talent für dieses Ritual zu haben, und als witterten das die Männer, wurde ich auch nur selten dazu ermutigt.

So trank ich rasch das Glas aus, schließlich war es gratis, griff nach meiner Kappe und stülpte sie mir über.

«Ach, du musst schon gehen?», fragte Billy ohne Bedauern, und der Mann legte sein Gesicht in die freundlichen Falten einer geheuchelten Betrübnis und wandte sich genauso rasch wieder ab. Er vergaß mich sofort.

«Meine Mutter erwartet mich», sagte ich, ohne dass mir noch jemand Beachtung schenkte, und es stimmte sogar. Mama würde sich freuen, mich früher zu Hause zu sehen als erwartet, die Tage wurden ihr manchmal lang ohne mich und Käte, auch wenn sie nie etwas sagte.

«Dann sehe ich dich morgen?», fragte Billy und guckte mich doch noch einmal an, eine kindliche Bitte um Verzeihung im Blick.

Ich nickte und vernahm wieder das Glöckchen der Conditorei. Draußen atmete ich tief durch. Der Himmel war noch immer strahlend blau, und die Sonne legte sich warm auf meine Wangen. Doch etwas stach mich im Magen, ein plötzlicher Nebel fiel über die bunten, kreiselnden Blätter.

Verdrossen stapfte ich durch das raschelnde Laub bis zum Kurfürstendamm und dann in Richtung Untergrundbahn am Bahnhof Zoologischer Garten. Weshalb genoss ich eine neue Bekanntschaft im Café nicht so wie Billy? Wieso blieb ich immer allein? Auch wenn ich stets behauptete, dass die Kunst alles sei, woran ich dachte, so schien es mir doch auf einmal seltsam leer und still um mich herum. Hatte Billy recht? War ich närrisch? Größenwahnsinnig? Oder beides?

Bei der Station sah ich mich in einer der spiegelnden Schaufensterscheiben auf dem Boulevard. Eine große Person mit leicht gerundetem Rücken, in weiten Hosen und mit der ewigen Kappe, unter der ich, das wusste ich genau, wie ein Mann aussah. Mit langen Schritten, zwei Stufen auf einmal nehmend, stieg ich von der großen Halle in den Schacht zur Bahn hinab. Immer hastig, immer schnell, als treibe mich jemand vor sich her, selbst wenn der Nachmittag leer vor mir lag.

Eine altbekannte Rastlosigkeit überfiel mich, doch ich zwang mich, erneut tief einzuatmen. Bis mir der Geruch von Maschinenöl von den Schienen der Untergrundbahn in die Nase drang. Die Bahn kam und öffnete zischend ihre Türen, ich stieg ein und stellte mich ans Fenster. Der Waggon war voller männlicher Hut-Träger, ein wahres Hüte-Meer, dazwischen erschöpfte Frauen in Arbeitskitteln und junge Damen, die aus ihren Büros nach Hause fuhren. Ich lehnte die Stirn an die Scheibe und starrte auf die orange leuchtenden Grubenlampen, die im Dunklen vorüberrasten. Ich dachte an Billy und den Moment, als ich ihr die Farbe von der weichen Wange gewischt hatte. Und mit einem Mal fühlte ich mich noch mutloser. Sollte Kropp am Ende recht behalten? Sollte ich zu einer Existenz als Kunstgewerblerin verdammt sein, die für irgendeinen Boss langweilige Tapetenmuster zeichnete bis ans Ende meines Lebens? War ich talentlos und ein Hans Guckindieluft obendrein? Und doch spürte ich, wie vielleicht alle jungen Leute, tief in mir drin diese Sehnsucht, dass mein eigenes Leben ein ganz besonderes werden sollte. Dass ich nicht untergehen wollte in dem grauen Einerlei, das auf die meisten Leute wartet.

Ich musste einmal umsteigen. Als ich am Innsbrucker Platz die Treppen von der S-Bahn herunterkam, stand die Sonne schon ein wenig schräg. Ein kühlerer Wind hatte sich erhoben und trieb die Herbstblätter schneller durch die Straße. Auch mich drängte er vor sich her, fuhr mir unter den Mantel, ließ mich durch die Hauptstraße eilen und schließlich rechts in die Stierstraße abbiegen. Dort stand das Mietshaus, in dem wir lebten. Meine Großmutter Ida, meine Mutter Meta und wir, ihre Töchter. Käte muss damals gerade ihr Abitur an der Chamisso-Schule abgelegt haben, wo auch ich, noch im Krieg, meine Hochschulreife erlangt hatte. Sie wollte Germanistik studieren, vielleicht später Lehrerin werden. Käte hatte weniger Flausen im Kopf als ich, doch auch sie hütete ihre Geheimnisse.

Wieder nahm ich zwei Stufen auf einmal, sperrte die Tür auf und trat in den kleinen Flur.

«Mulli?», rief ich ins Dämmerlicht.

Mutter hatte, um Strom zu sparen, wie immer noch kein Licht angedreht, obwohl die Nachmittage bereits kürzer wurden. Jetzt kam sie aus der Küche, das dichte krause Haar sorgsam aufgesteckt, den Kneifer wie meistens ein wenig schief auf der Nase.

«Lottchen», sagte sie erstaunt, «du bist schon zu Hause?»

«Unterricht war heute früher aus.»

«Umso besser. Du kannst mir beim Erbsenpulen helfen. Wenn Käte nachher kommt, gibt es Erbsensuppe mit Pinkel.»

Ich folgte ihr in die Küche, wo es wie immer warm war und behaglich roch, nach Kernseife und geschmolzener Butter. Ein paar feuchte Handtücher trockneten auf dem Bollerofen, ansonsten heizten wir die Wohnung nicht, solange das Wetter noch so mild war. Unsere Räumlichkeiten waren eng, doch es störte uns selten. Wir lebten schon lange hier zusammen, Mama war die unangefochtene Chefin, Käte und ich tagsüber kaum zu Hause, und so traten wir uns nicht auf die Füße. Omi hatte ein eigenes kleines Zimmer und saß die meiste Zeit im Lehnstuhl und arbeitete, wenn das Licht es zuließ, an einer Tischdecke oder strickte Socken. Manchmal ging sie unserer Mutter in der Küche zur Hand.

«Deine Großmutter schläft, du kannst ihr später guten Tag sagen», erklärte Mama. Dann betrachtete sie mich kritisch. «Siehst aus, als wäre dir was über die Leber gekrochen.»

Sie stellte eine große Schüssel Erbsenschoten auf den Küchentisch. «Was ist los?»

«Nichts weiter», sagte ich, denn ich hatte keine Lust, Mama von meiner diffusen Traurigkeit zu erzählen, diesem Gefühl, zurückgeblieben zu sein, obwohl ich gar nicht recht wusste, wohin der Zug fuhr, den ich verpasst hatte und von dem ich nur noch eine ferne Dampfwolke sah. «Das Übliche. Ich langweile mich tot an der Schule. Alles, was wir lernen, ist dieses graphische Zeug.»

«Papperlapapp. Handwerk ist immer gut.» Sie setzte sich und begann, mit fliegenden Fingern zu pulen.

«Aber es ist kein Leben in meinen Zeichnungen», sagte ich leise. Ich schämte mich, als sei meine Ausbildung im Kunstgewerbe ein Zeichen von Minderwertigkeit. Was hatten diese vermaledeiten Vergissmeinnicht mit mir zu tun? Wen würde es interessieren, dass ich sie gezeichnet hatte, wenn jemand irgendwann aus einem Kaffeepott trinken würde, der davon übersät wäre?

«Alles ist so albern», sagte ich schließlich. «Eine sinnlose Kinderei.»

«Na, na», sagte Mama, und aus irgendeinem Grund schaffte sie es, nur mit ihrer warmen Stimme und diesen wenigen Lauten, meine Moral zu heben. So war es immer mit ihr, es war nicht das, was sie sagte, sondern wie.

Jetzt schob sie sich den Kneifer wieder hoch und beugte sich tiefer über die Schüssel. Sie schnaufte leise und beruhigend, und ich betrachtete die sich hebenden und senkenden Schultern in der blütenweißen Bluse und meinte, die Wärme zu spüren, die von ihrem breiten Rücken ausging. Ich setzte mich dicht neben sie und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Wange. Mama tätschelte mir abwesend den Scheitel und fuhr mit der Arbeit fort, und ich half ihr schweigend.

«Hast du noch einmal eine Vorlesung besucht?», nahm sie das Gespräch kurze Zeit später wieder auf.

Ich schüttelte den Kopf. «Ich hab dir ja gesagt, ich gehe da nicht mehr hin. Es ist Zeitverschwendung.»

Das war es wirklich! Ich erinnere mich genau an den riesigen Hörsaal an der Friedrich-Wilhelms-Universität, an die gebeugten Schöpfe, das Kratzen der Federhalter. Die knarrende Stimme des Professors, der anhaltend und ohne jemals den Blick ins Auditorium zu richten, über den Pinselduktus und den pastösen Farbauftrag der alten Meister dozierte, nicht ohne Exkurse in die hintersten Winkel der Religionsgeschichte zu geben. Ich bin bei seinen Vorlesungen, wie ich gestehen muss, mehrmals eingeschlafen, einmal fiel ich tatsächlich mit dem Kopf auf den Tisch und musste unter den Tadeln des Professors den Saal verlassen. Nein, das Studium der Kunstgeschichte brachte mich nicht weiter. Nichts anderes brachte mich weiter, als mit dem Pinsel vor einer Leinwand zu stehen und zu versuchen, das, was ich sah, in Farbe zu bannen, in welchem Pinselduktus auch immer.

«Aber zu Herrn König gehst du morgen doch wieder, oder?», fragte Mama. Die Erbsen türmten sich bereits zu einem kleinen Berg in dem Emailletopf, der neben ihr stand.

Ich riss mich zusammen und nahm das Pulen wieder auf, nachdem ich minutenlang starr dagesessen und meinen Grübeleien nachgehangen hatte. Zu Leo von König ging ich gern, die wöchentlichen Privatstunden bei ihm waren wenigstens keine Verschwendung.

«Ja, er ist ein guter Lehrer. Bei ihm lerne ich unbedingt etwas.»

«Woran arbeitest du gerade?»

Eine Welle der Zärtlichkeit für Mama durchflutete mich, doch ich hütete mich, es sie merken zu lassen. Sie schien wirklich überzeugt davon, dass die Malerei ihrer Tochter Arbeit war, eine ernstzunehmende Tätigkeit. «An einem Porträt … nach einer Fotografie von Omi», sagte ich und beobachtete ängstlich die Reaktion.

Mama sah erstaunt auf.

«Gut», sagte sie und nickte bekräftigend. «Du hast Talent mit Porträts. Ich glaube fast, es liegt dir am allermeisten.»

«Meinst du?» Ich spürte, wie ein idiotisches Lächeln in mein Gesicht kroch. Selbst wenn ich manchmal noch nicht richtig an mich glaubte – Mama tat es ganz offensichtlich. Sie war extra für die Ausbildung ihrer Töchter mit uns von Danzig ins fremde Berlin gezogen. Für meine Mädchen nur das Allerbeste.

«Natürlich», erklärte Mama. «Du liebst die Menschen, auch wenn du vor ihnen Angst hast. Du kommst ihnen nahe.» Sie überlegte kurz. «Wenn das Porträt von Omi gelingt und sie einverstanden ist, hängen wir es hier auf. In der Stube, was meinst du?»

Die Erbsen waren alle gepult. Mama stand auf und stellte den Topf auf den Herd, entzündete das Gas. Die Wohnungstür ging, Käte kam herein, das schmale Gesicht vom Wind gerötet, die kurzen Haare, heller als meine, hübsch zerzaust.

«Affchen», sagte sie und hielt mir einen schmalen Umschlag hin, «hast du den Brief nicht gesehen?»

«Das habe ich völlig vergessen!», rief Mama. «Du hast Post, Lotte!»

Ich griff nach dem Kuvert und öffnete es. Nachdem ich den Absender auf dem Schreiben gesehen hatte, begann mein Herz schneller zu klopfen, es tat fast weh. Ich überflog die Zeilen, und mir wurde leicht, so leicht! Nie werde ich vergessen, wie sich das anfühlte. Alles fügte sich plötzlich, die ganze Misere mit den öden Vergissmeinnicht, diesem dussligen Herrn Kropp und der treulosen Tomate namens Billy. Alles war plötzlich warm und gut und schön.

«Gute Nachrichten?», fragte Mama.

«Denkt euch nur, ich bin angenommen», rief ich und las den Brief zur Sicherheit noch einmal.

«Angenommen?», fragte Käte. «Wo?»

«An der Akademie!» Ich hielt ihr den Brief hin. «Ich werde studieren, richtig studieren, in der Klasse von Erich Wolfsfeld.» Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. «Meine Mappe hat ihnen gefallen, und sie lassen mich rein, ich darf den Probekursus anfangen. Ich glaube es nicht!» Das stimmte allerdings nicht ganz, denn insgeheim hatte ich doch damit gerechnet. Es gab ja keine andere Möglichkeit.

Käte fiel mir um den Hals. «Lottchen», jubelte sie, «was für ein Erfolg!»

Auch Mama sah mich anerkennend an. «Das muss ich gleich Tante Else nach Danzig schreiben. Wie die sich freuen wird.»

Gemeinsam lasen wir noch einmal den Brief, drehten und wendeten jedes Wort.

«Probekursus», fragte Mama, «was heißt das denn?»

«Vier Wochen arbeite ich im Atelier von Wolfsfeld», erklärte ich, und meine Aufregung stieg, «dann folgt eine Aufnahmeprüfung. Und wenn ich die bestehe, steige ich auf in die richtige Tagesklasse, dann bin ich wirklich und wahrhaftig Kunststudentin.»

Wir sahen uns an und lasen die Begeisterung in den Gesichtern der jeweils anderen. Dann schlug Mama sich die Hand vor den Mund und drehte sich zum Topf um, aus dem es zu qualmen begonnen hatte.

«Raus mit euch», rief sie und scheuchte uns aus der Küche. «Kunststudium oder nicht, heute soll es noch Erbensuppe geben, sonst will ich Hase heißen.»

So war Mama, immer patent, immer auf dem Sprung. Bereit, ihrer Überzeugung gerecht zu werden, sie könne jederzeit das Leben ihrer Kinder verbessern – und sei es nur durch Erbsensuppe. Bis heute nennt Käte sie Mulli in ihren Briefen an mich. Warm war sie und weich, aber nicht schwach, sondern ausgestattet mit dem eisernen Willen einer Frau aus Ostpreußen.

Ich dachte, sie zu kennen, wie das alle Kinder von ihren Müttern glauben. Wir Schwestern machten uns als junge Mädchen selten Gedanken darüber, wie es in ihrem Inneren aussah, wie ihr Leben beschaffen war. Man tauschte sich früher nicht über das Innere aus, nicht über seelische Zustände, es schickte sich nicht. Wovon unsere Mulli wohl träumte? Und Omi? Oder Tante Else?