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Autor Gerhard Laue - ein Zeitzeuge erzählt, 214 Seite mit 88 Fotos und Abbildungen.
Das E-Book Meine Jugend in Erfurt unter Hitler 1933–1945 wird angeboten von Verlag Rockstuhl und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Todesurteil, Widerstand, Alltag, Jugend, Erfurt, Gestapo, NSDAP
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Seitenzahl: 304
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Gerhard Laue
MEINE JUGEND IN ERFURT UNTER HITLER
1933-1945
Ein Zeitzeuge erzählt
Eine Jugend in bewegter Zeit
Aktiver Widerstand
In den Fängen der Gestapo
Schicksale jüdischer Freunde
Todesurteile und Euthanasie im engsten Umfeld
Sehr viel von dem, was ich in den letzten Jahren im Familienkreis
über meine Kindheit im "Dritten Reich" erzählt habe,
hat meine Tochter SUSANNE LAUE schriftlich festgehalten
und gesammelt.
Herausgekommen ist dieses Buch,
welches ohne dieses Engagement nicht möglich gewesen wäre.
Umschlaggestaltung: Harald Rockstuhl
Titelbild: Auf dem Platz in Erfurt hinter der Gutenbergschule 1943.
Foto: Sammlung Gerhard Laue
1. Auflage 2016
ISBN 978-3-95966-214-7
Repro und Satz: Werner Knobloch
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
Jeder Nachdruck, auch auszugsweise, bedarf der besonderen Genehmigung!
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhaber: Harald Rockstuhl
Mitglied des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V.
Lange Brüdergasse 12 in D-99947 Bad Langensalza/Thüringen
Telefon: 03603/81 22 46 Telefax: 03603/81 22 47
www.verlag-rockstuhl.de
Dieses Buch
widme ich
in
Dankbarkeit und Verehrung
meinen Eltern
Paul und Margarete Laue
Sehr hilfreich war das enge, freundschaftliche Zusammenwirken mit
Herrn Rüdiger Bender
Martin Niemöller-Stiftung e.V.
Förderkreis Erinnerungsort
Topf & Söhne e.V.
Prof.Dr.Christiane Kuller
Neuere Zeitgeschichte
Universität Erfurt
PD Dr.Annegret Schüle
Erinnerungsort Topf & Söhne
Die Ofenbauer von Auschwitz
Dr.Jochen Voit
Stiftung Ettersberg
Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße
und
meinem langjährigen Freund
Werner Knobloch
Offsetdruck-Meister
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Mitwirkende Autoren
I ERSTE BERÜHRUNGEN SCHON IN FRÜHER KINDHEIT
Auf ein Wort
1933 - Hitler kommt an die Macht
18. Juni 1933-Hitler in Erfurt
Hitler besucht Erfurt
Unsere Hakenkreuzfahne
Die „Alte-Fritz-Schule“
Klassenkamerad Günter Stein und der große Hunger
Hugo
Der KdF-Wagen, aus dem nach dem Krieg der Volkswagen wurde
II MEINE JAHRE ALS PIMPF IM JUNGVOLK
Ich werde Pimpf im Jungvolk
Die Pimpfenprobe
Die Rassenlehre
Familienprobleme
Der 9. November 1938
Die Bücherverbrennung
Die Fehde
Die Führerbüste
Zeltfahrten
Sportabzeichen und Siegernadeln
Die Kartoffelferien
Hitler-Jungen stören den Fronleichnamszug
Mein Wechsel zum Fähnlein 7
Gauleiter Sauckel
Wehrertüchtigungslager
Mein Opa, der ewige Rebell
Der Reichsjugendführer in Erfurt
1938 - Aus Deutschland wird Großdeutschland
75 Jahre später - Ursachenforschung
III SCHICKSALE JÜDISCHER FREUNDE
1933–1945 - Jüdische Freunde
1933 - Erfurt hatte eines der ersten Konzentrationslager
Erste Jüdische Freunde schon im Vorschulalter
Die Schuhfabrik Hess
„Das ist n u r ein Konzentrationslager“
Gute und echte Freundschaften
„Das werden wir noch einmal bitter büßen müssen!“
Der „Jude Mayer“
Leopold Wolf, der jüdische Onkel
Richard Besser, der jüdische Freund meiner Großeltern
„Der alte Cohen“
Fritz Lessmann wird zum Tode verurteilt
Günter Schwarze wird zum Tode verurteilt
Tante Frieda - ein Opfer der Euthanasie
IV DIE HANDELSSCHULE - BEGINN DES UMDENKENS
Vorwort
Begeisterung - Nachdenken - Kritik - Ablehnung Die Stationen des Wandels
Meine vergeblichen Absetzversuche
Die Handelsschule
Ferienjobs
Horst Kohl
Das Relief
Die „Achse Berlin - Rom“
1943 - Feindsender - Erste Zweifel
V DER ERFURTER JUGENDWIDERSTAND
Meine Nähe zum Widerstand
Meine Verhaftung - Das Verhör bei der Gestapo
Die Suspendierung
Der bewegende Abschied - Die späte Rückkehr
Melanies Hochzeit - Der verdammte Krieg -
Herr Schulz - Der stille Held
VI GERICHTSVERHANDLUNG - DOKUMENTE - URTEILE
Die Gerichtsverhandlung
Die Dokumente aus dem Stadtarchiv
Die Urteile des Oberlandesgerichts Kassel
VII DIE PROTAGONISTEN ERZÄHLEN
Meine Gespräche mit Karl Metzner und Gerd Bergmann
Alles hat am Bodensee begonnen
Die Gründung der Gruppe - Die Aktivitäten - Das Ende
Die Gerichtsverhandlung - Gedanken und Gefühle der Protagonisten
VIII DIE GENERATION DER FLAKHELFER
Meine Flakhelfer-Generation
Klassentreffen der Mittelschule III
IX DER DOKUMENTATIONSFILM „NIEDER MIT HITLER“
Ein großer Zeitsprung
Planung und Vorbereitung
Die Dreharbeiten
Die Uraufführung
Presse-Echo
X EIN BLICK VORAUS - EIN BLICK ZURÜCK
Einige Worte zum Schluss
Grußworte
Der Autor Gerhard Laue
Unsere Hla lebt weiter fort
Dank an
Es kann sich niemand die Zeit aussuchen, in welche er hineingeboren wird. Mein Schicksal war es, dass es bei mir die Ära des Nationalsozialismus gewesen ist. Als Hitler am 30. Januar 1933 an die Macht kam, war ich gerade mal 4½ Jahre alt. Natürlich habe ich damals noch nicht begriffen, was für eine Bedeutung dieser Vorgang hat. Aber, ich bin groß geworden in dieser Zeit und habe bis zum Kriegsende – und damit auch dem Ende dieser Ära – nichts Anderes gekannt.
Natürlich haben diese 12 Jahre mich und meine Altersgenossen geprägt. Wie könnte das auch anders sein! Bei all dem Erlebten – positiv wie auch negativ – war es das große Maß an Erfahrung, welches wir aus dieser Zeit mitgenommen haben.
Nach 1945 hat sich die Welt verändert. Wir haben den Krieg verloren. Mit allen seinen schrecklichen Folgen. Die Sieger verloren nur wenig später ihr riesiges Kolonialreich. Das waren riesige Umwälzungen, die es in diesem Ausmaß vorher und auch danach nicht wieder gegeben hat.
Es war eine Zeit, die scheinbar nur der richtig erklären kann, der sie selbst erlebt hat. Dieser frenetische Jubel! Diese wie hypnotisiert wirkenden Massen! Es war der reine Wahnsinn! Sogar mir als Zeugen aus dieser Zeit fällt es schwer, nachzuvollziehen und zu begreifen, was damals in der Mehrheit der Bevölkerung vor sich gegangen ist.
Mit diesem Buch will ich versuchen, den Leser in die für uns alle unbegreiflichen Jahre von 1933-1945 hineinzuführen.
Wenn es mir gelingt, etwas mehr Verständnis für das aufzubringen, was die eigenen Groß- und Urgroßeltern damals veranlasst hat, sich so zu verhalten, wie sie es in ihrer Mehrheit getan haben, dann hat das Buch seinen Zweck erfüllt. Die Zeiten sind wahrlich nicht gut gewesen, als ich am 14. Juni 1928 in der Erfurter Moritzwallstraße das Licht der Welt erblickte.
Es war die Zeit der Weimarer Republik. Gefühlt gab es alle acht Wochen eine neue Regierung!
Der verlorene erste Weltkrieg, der vor zehn Jahren zu Ende gegangen war und die große Inflation von 1923, hatten tiefe Spuren hinterlassen. Wie Millionen Andere auch, hatten meine Großeltern und die vielen Verwandten ihr ganzes Barvermögen verloren. Alle mussten sie wieder bei Null anfangen. Und das unter erschwerten Bedingungen. Die Arbeitslosigkeit war mit sieben Millionen – bei 66 Millionen Einwohnern – riesengroß. Und wer Arbeit hatte, der hat meist nicht viel verdient. Das Geld reichte für Viele für die Miete und für einen sparsamen Lebensunterhalt.
Das wurde auch unter Hitler nicht anders. Da floss das meiste Geld in die Prestige-Projekte der neuen Machthaber. Der private Sektor wurde vernachlässigt. Auch vor dem Krieg herrschte schon Mangel an vielen Gütern des täglichen Bedarfs. Die Butter war rationiert. Die Wohnungsnot war groß. Als es begann besser zu werden, kam der Krieg. Da wurde alles noch schlimmer.
Sie haben damals eng zusammengehalten. Und sie haben sich damals gegenseitig geholfen – die Alten!
Trotzdem kann ich auf eine behütete Kindheit zurückblicken, wofür ich meinen Eltern und Großeltern vom Herzen dankbar bin.
Als Hitler am 30. Januar die Macht in Deutschland übernommen hat, war ich, wie bereits erwähnt, 4½ Jahre alt. Begriffen habe ich noch nichts. Aber an einige Vorgänge kann ich mich doch noch erinnern.
Das war vor allem der nächtliche Lärm unten auf der Straße. Ich konnte nicht schlafen – auch wenn ich mich noch so tief unter der Bettdecke verkrochen habe.
Wir wohnten damals im Norden der Stadt, einem reinen Arbeiterviertel. Da hatten sich kurz zuvor noch die Nazis und die Kommunisten erbitterte Straßenschlachten geliefert.
Jetzt feierten die Sieger, voran die Schlägerkolonnen der SA, ausgiebig und lautstark ihren Sieg. Mit Pauken, Trompeten und klingendem Spiel zogen sie durch unsere nächtliche Straße. Laut grölend haben sie ihre brachialen Lieder gesungen. Lange Fackelzüge erhellten die Nacht.
Diese Horrornächte sind mir bis heute im Gedächtnis geblieben.
Schon nach wenigen Tagen der Hitlerregierung hat es niemand mehr gewagt, sich über den Lärm zu beschweren.
Auch in unserem Haus gab es einige begeisterte Hitler – Anhänger. Ich weiß noch, wie mich damals ein Nachbar zur Seite genommen hat. Mit wichtigem Gesicht hat er mir gesagt: „Wenn du jetzt jemandem begegnest, der eine Uniform anhat, dann musst du ihn grüßen. Das geht so: „Du musst den rechten Arm nach vorn strecken und dabei laut „Heil Hitler“ rufen.“
Er machte mir das vor und ich hatte kapiert.
Männer in Uniform hatte ich schon gesehen. Das waren die zwei Polizisten, die den ganzen Tag mit geschultertem Gewehr die Stollbergstraße auf und ab gegangen sind.
An denen wollte ich jetzt das ausprobieren, was ich gerade gelernt hatte. Meinen Spielkameraden hatte ich vorher den neuen Gruß beigebracht.
So vorbereitet zogen wir Dreikäsehochs – ich war mit 4½ der Älteste – voll Tatendrang in die Stollbergstraße. Das war direkt um die Ecke.
Auch wir gingen nun die Straße auf und ab. Genau wie die Polizisten. Aber in die Gegenrichtung. Bei jeder Begegnung grüßten wir die Polizisten ganz stramm mit dem neuen Gruß. Es hat Spaß gemacht. Ganz offensichtlich auch den Polizisten. Die haben mitgemacht und immer freundlich zurück gegrüßt.
Wir wurden mutiger und grüßten bei jeder Begegnung lauter und zackiger. Schnell ausgesprochen wurde aus dem „Heil Hitler“ bald ein „Heitler“.
Meine kleine Schwester, gerade 3 Jahre alt geworden, war auch mit dabei. Sie hat uns „Großen“ alles nachgemacht. Nur nicht ganz so stramm. Sie hatte ihr Spielzeug, einen kleinen Handfeger, mitgebracht. Und so ergab es sich, dass sie einmal mit erhobenem Handfeger gegrüßt hat. Darauf haben ihr die freundlichen Polizisten gesagt, dass man den Führer nicht mit einem Besen grüßen darf. Ganz brav hat sie das dann auch nicht mehr getan.
Weil es uns so gefallen hat, haben wir das Spielchen mit großer Ausdauer sehr lange fortgesetzt. Wir hatten unsere Freude. Und die Polizisten bestimmt auch.
Ich habe erst 60 Jahre später erfahren, warum die Polizisten damals in der Stollbergstraße patrouilliert sind. Das geschah während eines Klassentreffens kurz nach der Wende.
Da erfuhr ich erstmals, dass in der Feldstraße – nur 100m von unserer damaligen Wohnung entfernt – in einem Hinterhoffabrikgebäude ein provisorisches Konzentrationslager errichtet worden war. Es soll das erste überhaupt gewesen sein.
Vermutlich sollten die Polizisten Präsenz zeigen, um eventuell aufkommenden Unruhen im Umfeld dieses KZs vorzubeugen.
Wenige Monate nach seiner Machtübernahme besuchte Hitler Erfurt.
Es war sein erster und einziger Aufenthalt hier. 100000 Menschen sollen ihm begeistert zugejubelt haben.
In der Folge galten seine Besuche nur noch der Gauhauptstadt Weimar.
Seine Residenz hatte er im Hotel „Elephant“.
Nur wenige Monate nach seiner Machtübernahme weilte Hitler für zwei Tage in Erfurt.
Es sollte sein erster und einziger Besuch in unserer Stadt gewesen sein.
An diesem 17. Juni 1933 war er nach Erfurt gekommen, um am großen „Thüringer Gautreffen“ der SA teilzunehmen. Angekommen war er mit seiner Sondermaschine auf dem Flughafen Erfurt – Nord. Dieser erste Erfurter Flughafen ist schon lange Geschichte. Das damals große Areal, welches sich vom Roten Berg in Richtung Bahnhof Erfurt – Nord hinzog, ist nach dem Krieg bebaut worden.
Auf dem langen Weg zum Rathaus, wo er vom Nazi – Oberbürgermeister Pichier empfangen wurde, sollen die Menschen dicht gedrängt gestanden und ihrem Führer zugejubelt haben. Bei seiner Rede auf dem Friedrich – Wilhelm–Platz waren es 100000, die das Gleiche getan haben.
Zählt man die jubelnden Massen zusammen – die auf den Straßen, und die auf dem heutigen Domplatz – dann muss doch eine stattliche Summe zusammengekommen sein.
Es war eine Begeisterung, die heute keiner mehr begreifen und noch weniger verstehen kann.
Die Nazis haben ihren Sieg ausgiebig gefeiert. Sie führten auch neue Gedenktage ein. Sie sollten an die Erfolge und auch an die Toten aus der sogenannten „Kampfzeit“ erinnern. An solchen Tagen – wie auch am 1. Mai, am Heldengedenktag und natürlich auch an Hitlers Geburtstag – wurde die allgemeine Beflaggung angeordnet.
Jede Familie musste eine Hakenkreuzfahne kaufen und sie an jedem dieser Flaggentage aus dem Fenster hängen. Der jeweilige Blockwart der Partei achtete peinlich genau darauf, ob auch jede Familie dieser Pflicht nachgekommen war.
Diese Fahne wurde bald zum echten Kultobjekt. Konnte man doch mit einer großen Fahne, dazu aus wertvollem Material, auch nach außen hin so schön seine Verehrung für den Führer zeigen.
Zu meinem großen Leidwesen hat mein Vater nichts von Wettbewerben dieser Art gehalten. Das ging vollkommen an ihm vorbei.
Hitler hin, Hitler her. Ihm ist es grundsätzlich gegen den Strich gegangen, dass er da zu etwas gezwungen wurde, was er freiwillig nie getan hätte.
Er ließ sich nun mal nicht gern vorschreiben, was er zu tun und was er zu lassen hatte. In solchen Fällen konnte er auch schon mal ganz schön stur sein, mein lieber Papa!
Also kaufte er eine Hakenkreuzfahne, weil er das musste. Und so hatte sie auch ausgesehen. Allein in dieser Fahne lag schon eine gehörige Portion Protest.
Es war eine kleine Fahne. Sie war weder schön, noch war sie aus wertvollem Material. Schon beim ersten Regen waren die Farben ineinander gelaufen. Der weiße Innenkreis mit dem schwarzen Hakenkreuz hatte das Rot der Fahne angenommen. So konnte bei mir keinerlei Freude aufkommen, wenn mal wieder eine Beflaggung angesagt war. Da stand ich unten auf der Straße und habe all die schönen großen Fahnen in der Nachbarschaft bewundert. Aber wenn ich dann nach oben geschaut habe – in den dritten Stock, wo wir gewohnt haben – und wenn ich dann Papas mickriges, kleines Fähnchen erblickt habe, da habe ich mich aufrichtig geschämt.
Unser Fähnlein bot ein Bild des Jammers.
Das sehen die Nachbarn doch auch, habe ich mir gedacht. Auch meinem Vater wird das nicht entgangen sein. Aber ihn hat das kalt gelassen. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass er das sogar genossen hat. Er hatte wohl seinen Spaß daran, wenn er ab und an mal so richtig gegen den Strom schwimmen konnte.
Er wusste, dass er nichts Unrechtes getan hatte. Über die Größe der Fahne hat es auch in der Hitler – Diktatur kein Gesetz gegeben.
Irgendwann hab ich mir ein Herz genommen und meinen Vater auf unsere mickrige Fahne angesprochen. Ich habe ihn gefragt, ob er nicht – bitte, bitte – eine schönere Fahne kaufen könne. Er gab sich darauf kurz angebunden: „Für eine größere Fahne gebe ich kein Geld aus.“
Der Ton, mit dem er das sagte, ließ keine weiteren Fragen zu. Das habe ich gewusst.
Feldstraße Nr.11
Im 3. Stock rechts haben wir von 1932 bis 1941 gewohnt.
Nur 7 Häuser weiter – in der Feldstraße Nr.18 – haben die Erfurter Nazis im Jahre 1933 das erste Konzentrationslager errichtet.
Albrechtstraße Nr.28
1941-1957
Die 5 Fenster im ersten Stock rechts gehörten zu unserer Wohnung. Im Erkerzimmer über dem Hauseingang hatte ich mein Reich.
Klara-Zetkin-Straße Nr.108
Im Frühjahr 1957 bezog unsere Familie den 2. Stock im eigenen Haus.
Ostern 1934 wurde ich eingeschult. Als Juni – Geborener war ich erst fünf Jahre alt.
Ich war der Jüngste in der Klasse. Und wie es in diesem Alter üblich ist, gehörte ich damit auch zu den Kleinsten. Ich bekam die obligatorische Zuckertüte und fühlte mich an diesem Tag als Mittelpunkt der zahlreich erschienenen Verwandtschaft.
Meine neue Schule war die „Alte-Fritz-Schule“ in der gleichnamigen Straße. Zu DDR–Zeiten hieß sie wohl „Hans-Sailer-Schule“.
Auf dem Schulgelände stand noch ein weiteres großes Gebäude. In dem waren unten die Turnhalle und darüber die große Aula untergebracht.
In dieser Aula wurde die Einschulung in der damals üblichen Art gefeiert. Mehrere Hakenkreuzfahnen und noch mehr SA-Uniformen! Die Uniformträger waren einige junge Lehrer und einige Väter.
An einer Seitenwand stand in großen goldenen Lettern auf roten Grund der Satz: „Deutsch die Saar – immerdar.“
Auch unser neuer Klassenlehrer, Herr Albrecht, hat mit sichtbarem Stolz die braune SA-Uniform getragen. Er hat uns im Unterricht viel über unseren verehrten Führer Adolf Hitler erzählt.
Er ist aber nicht so fanatisch gewesen wie Herr Jentzsch, den wir im dritten Schuljahr gehabt haben. Der konnte richtig euphorisch werden, wenn er von unserem Führer gesprochen hat. Der konnte so begeistert reden, dass man das Gefühl haben konnte, er sei überall dabei gewesen.
So war es auch mit dem spanischen Bürgerkrieg, der in diesem Jahr 1936 gewütet hat. Der faschistische General Franco hatte einen Aufstand gegen die kommunistisch dominierte Volksregierung organisiert.
Auch das Ausland hat sich eingemischt. Hitler half seinem Faschistenfreund Franco mit der Entsendung der „Legion Condor“. Auf der Gegenseite stand eine internationale Brigade mit Teilnehmern aus verschiedenen Ländern. Viele Prominente waren darunter. Unter ihnen auch Ernest Hemingway. Der hatte darüber seinen Roman „Wem die Stunde schlägt“ geschrieben. Der Roman ist auch verfilmt worden.
Diese „Legion Condor“ hatte es Lehrer Jentzsch angetan. Er bejubelte alle Siege. (Die sie auch wirklich errungen hat) Die „Legion Condor“ hat auch wesentlich zum Sieg Francos beigetragen.
Jentzsch hat besonders von unserer Luftwaffe geschwärmt. Die habe so große Bomben, dass sie ganze Städte zerstören kann. Er skizzierte an die Tafel, wie einfach unsere Flugzeuge eine bis dahin uneinnehmbare Festung sturmreif gebombt haben.
Jentzsch hat uns das Gefühl vermittelt, dass Hitler der Allergrößte ist und dass unsere Armeen unbesiegbar seien.
Schon in der Volksschule hat die Politik einen großen Raum eingenommen. Es hat kaum ein Fach gegeben, in dem man nicht politische Themen behandeln konnte. Vor allem die jüngeren Lehrer haben es verstanden, ihre grenzenlose Begeisterung für Hitler an uns 6-10jährige weiterzugeben.
Zehn Jahre später – 1944 – habe ich diese alte Aula noch einmal wiedergesehen. Es war eine Pflichtveranstaltung. Da haben nämlich die von uns allen gefürchteten Werbeabende der Waffen-SS stattgefunden. Mit allen Wassern gewaschene SS-Offiziere haben versucht, uns dazu zu zwingen, eine Freiwilligenmeldung zu unterschreiben.
Ich habe schon erzählt, dass bei der Einschulungsfeier in der großen Aula, einige in SA-Uniform erschienen waren. Träger waren junge Lehrer und junge Väter.
Hitler war für uns Kinder zu diesem Zeitpunkt schon eine Selbstverständlichkeit. Und unsere vornehmlich jungen Lehrer haben in der Folge alles getan, um diese Selbstverständlichkeit in unseren Köpfen noch weiter zu verfestigen.
Aber bei all dem frenetischen Jubel, der dem Führer überall entgegengebracht wurde, darf man auch die Schattenseiten nicht vergessen.
Hitler war zwar gekommen, um alles besser zu machen. Aber nicht alle Versprechungen konnte er einhalten. Denn die Not – vor allem unter den Arbeitern in unserem Viertel – die war noch da.
Jetzt flossen ungeheure Mittel in die auf Hochtouren laufende Rüstungsindustrie, in den Bau des mehrere hundert Kilometer langen Westwalls und in den Bau der neuen Autobahn. Letzteres, obwohl nur wenige Autos auf den Straßen zu sehen waren. Das alles waren Investitionen, die wirtschaftlich betrachtet, keine Gegenwerte geschaffen haben – die förmlich verpufft sind. Dringend benötigte Wohnungen z.B., konnten nicht gebaut werden, weil das Geld dafür fehlte.
Die Kaufkraft war niedrig, weil diejenigen, die Arbeit hatten, sehr wenig verdient haben. Der große Jubel hat vieles verdeckt. Aber den Arbeitern ging es noch genauso schlecht, wie zu Zeiten der Weimarer Republik.
Besonders kinderreiche Familien waren davon betroffen. Je größer eine Familie gewesen ist, um so ärmer war sie.
Ich hatte Klassenkameraden, die sind in die Schule gekommen, ohne vorher etwas gegessen zu haben. Oft hatten sie auch keine Pausenbrote dabei. Das waren bittere Zustände, die wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können. Das war auch unseren Lehrern nicht verborgen geblieben. Und die haben in Eigeninitiative etwas unternommen, um diesen Kindern zu helfen. Eltern, die es sich leisten konnten, wurden gebeten, ein Frühstückspaket mehr mitzugeben. Auf diese Weise sind auch herrliche kleine Patenschaften entstanden.
Einer, der zu den Begünstigten gehörte, war Günter Stein. Er kam aus einer der kinderreichen Familien, die uns gegenüber in den städtischen Häusern gewohnt haben. Stein gehörte nicht zum engeren Kreis meiner Freunde. Aber wenn ihn der Hunger besonders geplagt hat, da hat er geklingelt, um mich abzuholen. Wichtiger war ihm allerdings das gemeinsame Frühstück mit mir. Er wusste, dass ihn meine Mutter nicht abweisen würde. Es ist vorgekommen, dass ich gerade erst aufgestanden war, als der arme Kerl schon bei uns auf der Matte gestanden hat.
Obwohl ein Jeder seine Probleme gehabt hat, gab es doch eine wohltuende Solidarität unter der Bevölkerung. Sie kam von selbst und war nicht von oben verordnet.
Ich kann nicht sagen, ob das überall so gewesen ist, möchte es aber fest annehmen.
Damals gab es für mich ja nur die kleine Welt eines Sechsjährigen, der im Arbeiterviertel Erfurt-Nord gelebt hat.
1930 – Als zweijähriger im Garten der Großeltern
Fritz Laue
Mein Patenonkel, Gönner und Förderer
Sommer 1935
Urlaub mit KdF
(Kraft durch Freude)
in Füssen/Allgäu
Ich war sieben Jahre alt.
Papas Kommentar zum Foto: „In luftiger Höh auf dem Adolf-Hitler-Pass.“
Wir wohnten im Privatquartier. Mich haben die Berge, Seen und Schlösser nicht so interessiert, wie das Brötchen mit Bienenhonig, dass es jeden Morgen zum Frühstück gab. Das war für mich ein Hochgenuss, den ich bis dahin nicht kannte.
1935
Als siebenjähriger Schüler mit dem Schulranzen auf dem Rücken. Ich war stolz auf den Scheitel, den ich jetzt tragen durfte.
Das „Pony“ war mir zu babyhaft.
Die Geschichte um das Kaninchen Hugo hat nichts mit Politik zu tun. Aber sie ist Teil meiner frühen Kindheit. Und ich meine, sie verdient es, erzählt zu werden.
Oma und Opa sind auf dem Lande groß geworden. Die Oma in Dienstedt und der Opa in Witzleben.
Diese bäuerliche Herkunft haben sie auch nach vielen Jahren des Stadtlebens nicht verleugnen können.
Tiere gehören zum Haushalt. Dieser Meinung sind sie treu geblieben.
Kastor, hieß der bullige Boxer, mit dem ich schon in frühester Kindheit eine enge Freundschaft geschlossen habe. Kastor hat mich behütet und bewacht. Er hat mich Dreikäsehoch ganz allein und ganz sicher um den Häuserblock geführt, obwohl die Großeltern in gebührendem Abstand gefolgt sind. Aber, ich habe das nicht bemerkt.
Opa hatte auch Kaninchen. Im Garten hinter dem Haus stand ein Kaninchenstall in beachtlicher Größe. Es waren weit mehr, als er für den Eigenbedarf gebraucht hätte. Für Opa bedeuteten die Kaninchen ein gutes Zusatzgeschäft. Überhaupt hatte er immer ein Gespür für lukrative Nebeneinnahmen.
Als Zigaretten auf dem schwarzen Markt zu Höchstpreisen gehandelt wurden, hat Opa seinen Vorgarten in eine kleine Tabakplantage umgewandelt. Er hat es auch verstanden, den Tabak bis zur Gebrauchsfertigkeit zu bearbeiten. Sogar der stark rauchende Opa Laue ist sein Kunde gewesen, obwohl der von Bauern eigentlich nicht viel gehalten hat.
Die Wohnung der Großeltern ist so groß gewesen, dass sie übers Verkehrsamt zwei Zimmer an Durchreisende vermietet haben. Die Oma hat sich noch ein paar Mark dazuverdient, wenn sie die Gäste an den täglichen Mahlzeiten teilhaben ließ.
Opa war darüber hinaus – wie alle Bauernsöhne aus kinderreichen Familien – ein Multitalent in allen handwerklichen Belangen.
Als mal wieder Kaninchennachwuchs kam, hat Opa mir einen Winzling geschenkt. Ich war stolz und glücklich mit meinem neuen Besitz. Und Opa hat sich gefreut, wenn er mich dabei beobachtet hat. Gemeinsam haben wir nach einem passenden Namen gesucht. Schließlich haben wir uns auf „Hugo“ geeinigt. Wie wir ausgerechnet auf diesen Namen gekommen sind, das kann ich heute nicht mehr sagen.
Von nun an war Hugo mein liebster Spielgefährte, wenn ich bei den Großeltern gewesen bin. Beim Füttern hat Hugo immer eine Zusatzration bekommen. Als Vierjähriger habe ich mich mit ihm unterhalten und ich war überzeugt, dass er mich immer gut verstanden hat.
Eigentlich haben ja alle Kaninchen gleich ausgesehen. Trotzdem habe ich Hugo immer aus allen heraus erkannt. So wurde Hugo größer und größer. Für Kaninchen ist das kein gutes Omen. Damals habe ich das noch nicht gewusst. Daran, dass meinem Hugo einmal etwas Schlimmes widerfahren könne, habe ich nie gedacht. Wo ich ihn doch so gut gefüttert und betreut habe!
Wie immer, wenn ein Karnickel geschlachtet worden war, sind wir zum Festessen von den Großeltern eingeladen worden. Wir saßen schon am Tisch, als mir plötzlich ein schlimmer Gedanke durch den Kopf schoss. So schnell ich konnte, raste ich raus zum Kaninchenstall.
Hugo war nicht mehr da!
„Ist das mein Hugo?“, habe ich gefragt, als die dampfende Pfanne auf den Tisch kam.
Es folgte betretenes Schweigen. Außer mir hatte das jeder gewusst. Sicher hatten alle in diesem Moment ein schlechtes Gewissen. Allen voran der Opa. Die Oma versuchte die Situation zu retten: „Vielleicht hast du den Hugo gerade übersehen. Die sehen doch alle gleich aus.“ Das konnte nicht sein. Meinen Hugo hätte ich erkannt, dessen war ich mir sicher.
Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Der liebe gute Opa! Der mir den Hugo geschenkt hatte. Der so oft dabei gewesen ist, wenn ich mit ihm gespielt hatte. Der hatte ihn jetzt getötet! Ein furchtbarer Gedanke! Und jetzt sollte er auch noch aufgegessen werden! Das war zu viel für mein kindliches Gemüt. Ich habe geweint. Nein, essen wollte ich heute überhaupt nichts. Sicher war dem Opa in diesem Moment auch der Appetit vergangen. Aber ich war von ihm enttäuscht. Wie nur hat er so etwas tun können!
Wieder wollte die Oma vermitteln: „Dann iss doch wenigstens Kloß mit Soße.“ Nein, die Soße, in welcher der arme Hugo jetzt gelegen hat, die wollte ich auch nicht essen. Alles war für mich so furchtbar.
Die Oma hat mir auf die Schnelle etwas Anderes gemacht. Ich glaube, es war Grießbrei.
Zum Opa hatte ich für einige Zeit ein gestörtes Verhältnis. Sicher hat ihn das sogar noch mehr geschmerzt.
Aber allzu lange hat dieser Zustand nicht angehalten.
KdF war die Abkürzung für „Kraft durch Freude“. So wurde im Dritten Reich die große staatliche Ferienorganisation genannt. Sie stand unter dem Dach der „Deutschen Arbeiterfront“, die wiederum die Nachfolgerin der zerschlagenen Gewerkschaften gewesen ist.
Mit KdF sollte der arbeitenden Bevölkerung ein bezahlbarer Urlaub ermöglicht werden. Urlaub galt damals weitgehend noch als Luxus. Nicht sehr viele konnten ihn sich leisten.
Auch meine Eltern haben von diesem neuen Angebot Gebrauch gemacht. 1935 waren wir in Füssen/Allgäu, 1936 in Wyk auf Föhr. Für die jeweils 8 Tage mussten pro Person 35 Mark bezahlt werden. Das war weniger, als der durchschnittliche Wochenverdienst eines Arbeiters.
Im Jahr 1938 haben meine Eltern mit der „Wilhelm-Gustloff“ an einer großen Norwegen-Rundfahrt teilgenommen.
Mit der Füssen-Reise verbinden mich noch sehr gute Erinnerungen. Wir waren privat untergebracht, wie das bei den meisten KdF-Reisen üblich gewesen ist.
Weit mehr als die schöne Berglandschaft hat mich das Honigbrötchen interessiert, welches es jeden Morgen zum Frühstück gegeben hat. Bisher habe ich nur Mutters köstliche, selbst eingemachte Marmelade gekannt. Die war auch prima. Aber dieses Honigbrötchen jetzt, das war für mich das Höchste. Und das ist auch heute noch das Erste, was mir einfällt, wenn ich das Wort Füssen höre.
Der absolute Horror war für mich Siebenjährigen eine Ruderpartie auf einem der zahlreichen Seen in dieser Gegend. Mein Vater hatte sich vorher lange mit dem Bootsvermieter unterhalten. Und da hatte ich einige Gesprächsfetzen aufgefangen, die gar nicht gut bei mir angekommen sind.
Als damals noch Nichtschwimmer wusste ich jetzt, dass dieser See 95m tief ist und, dass in einem See ganz in der Nähe sogar einmal ein König ertrunken ist. Dieses Wissen hat mich die ganze Stunde auf dem See nicht losgelassen. Ich war erst wieder richtig froh, als diese Bootsfahrt zu Ende gewesen ist.
Die Hin- und Rückfahrt geschah in einem Nachtzug. Mein ideenreicher Vater hatte für mich gut vorgesorgt. Damit es mir während der Nacht an Nichts fehlen sollte, hatte er eine Hängematte im Gepäck. Die hat er quer durchs Abteil – vom Fenster zur Tür – gespannt. Frei über den Köpfen der Anderen schwebend, habe ich einigermaßen gut schlafen können.
Die inzwischen populäre Bezeichnung „KdF“ sollte auch der Name für ein, sich in der Entwicklung befindendes, neues Auto werden. So, wie die KdF-Reisen, so sollte auch dieses Auto für Jedermann erschwinglich werden. Das war der Grundgedanke.
Mit den Konstruktionsarbeiten wurde der damals schon bekannte Professor Porsche beauftragt. Der bekam dafür weitreichende Vollmachten. Kosten sollten dabei keine Rolle spielen. Alles hat unter größter Geheimhaltung stattgefunden. Das war üblich in einem totalitären System, wie es das Dritte Reich gewesen ist.
Diesem gewaltigen Projekt wurde ein so hoher Stellenwert beigemessen, dass es allein Hitler vorbehalten sein sollte, es als Erster vor dem deutschen Volk zu verkünden.
An diesem Tag im Jahre 1937 kann ich mich noch gut erinnern. Auch an die begeisterten Reaktionen, die diesem Ereignis folgten. Ich hielt mich an diesem Tag bei den Großeltern auf. Auch sie besaßen inzwischen den Volksempfänger. Auch der Volksempfänger war ein Prestigeprojekt, welches man für sagenhafte 35 Mark kaufen konnte.
Ich hörte, wie das Programm durch eine Fanfare unterbrochen wurde. Jeder hat dieses Signal gekannt. Darauf folgte immer eine „Sondermeldung“. Die begann mit dem üblichen: „Achtung, Achtung!“. Das waren die Worte, die damals jeder Bekanntmachung vorangestellt wurden.
„Unser Führer und Reichskanzler Adolf Hitler wird in Kürze eine wichtige Rede an das deutsche Volk halten“.
Daraufhin wurde das Programm geändert. Wir hörten jetzt nur noch Marschmusik, welche in regelmäßigen Abständen unterbrochen wurde, um die Ankündigung der Führerrede zu wiederholen.
Jeder hat gewusst, dass es noch geraume Zeit dauern würde, bis Hitler mit seiner Rede beginnt.
Es begann die bekannte Zeremonie und das Getöse, welches jeder Rede vorangegangen war.
Wer zufällig sein Radio einstellte und die Marschmusik hörte, der wusste, dass bald etwas besonderes geschehen wird. Der blieb dann meist gespannt vor dem Radio sitzen.
Die Nachricht von der bevorstehenden Führerrede sollte bis in den letzten Winkel des Reiches dringen. Das hat bei den damaligen Kommunikationsmöglichkeiten gedauert! Manchmal mehrere Stunden. Hitler ist erst dann aufgetreten, wenn als einigermaßen gesichert schien, dass so gut wie jeder Volksgenosse irgendwo vor einem Radio gesessen hat. So ist es auch am Ende tatsächlich gewesen. Wenn Hitler gesprochen hat, waren alle Straßen wie leer gefegt. Hitler befand sich in den Jahren 1937/1938 auf dem Höhepunkt seiner Macht. Auch die strengsten Kritiker mussten einräumen, dass er freie Wahlen nach heutigem Standard nicht hätte zu scheuen brauchen. Ihm wäre die absolute Mehrheit sicher gewesen.
Je länger es gedauert hat, um so mehr wuchs die Spannung. Hitlers bald bevorstehender Auftritt steigerte sich zu einem Riesenspektakel. Unter tosendem Beifall wurde mehrmals verkündet, dass der Führer bald erscheinen werde.
Immer wieder haben die Beifallsstürme eine Eigendynamik entwickelt. Die Sprechchöre mussten nicht eingeübt werden. Es waren immer die gleichen. Jeder hat sie gekannt. So wurde in Erwartung Hitlers mehrmals gebrüllt: „Wir wollen unseren Führer sehen!“ Jede Silbe wurde einzeln betont.
Weiter ging es mit dem mehrmaligen „Ein Volk – ein Reich – ein Führer“ und einem nicht enden wollenden „Sieg Heil – Sieg Heil!“ Je länger man auf den Führer warten musste, um so öfter hat sich das Ganze wiederholt.
Als dann endlich die ersten Takte des „Badenweiler Marsches“erklangen, wusste jeder, jetzt ist es so weit! Der „Badenweiler“ ist nämlich Hitlers Lieblingsmarsch gewesen. Deshalb ist er auch heute weitgehend unbekannt. Er war allein ihm vorbehalten. Er durfte nur bei persönlichen Auftritten Hitlers gespielt werden. Noch lauter wurde gejubelt, als der große Matador endlich auf der Bildfläche erschien. Die lang anhaltenden Ovationen hat Hitler sichtlich genossen. So hat es wieder einige Zeit gedauert, bis er dann endlich mit seiner Rede beginnen konnte.
Er verkündete mit einigem Stolz, dass es gelungen sei, ein neues Auto zu entwickeln, welches einmalig auf dieser Welt sei. In seiner Klasse gäbe es nichts besseres – vor allem – nichts preiswerteres.
Das Wunderauto sollte 999,- Mark kosten. Das war ein Hammer. Vergleichbare Autos von Opel oder Ford haben das Doppelte, meist sogar das Dreifache gekostet.
Jedem Volksgenossen sollte es möglich gemacht werden, dieses Auto zu kaufen. Hitler präsentierte ein sensationelles Finanzierungsprogramm. Mit einer Mindestrate von 2,50 Mark konnte jeder die Anwartschaft auf die spätere Lieferung eines Autos erwerben. Mit der Ratenzahlung konnte sofort begonnen werden. Das vergaß er nicht hinzuzufügen. Die Massen kamen aus dem Jubeln nicht heraus.
Als Standort für die Fabrikation wurde Fallersleben bestimmt. Fallersleben lag in einem bis dahin strukturschwachen Gebiet in Niedersachsen. Eine Stadt mit dem Namen Wolfsburg hat es 1937 noch nicht gegeben. Heute ist Fallersleben ein Stadtteil von Wolfsburg.
In der Bevölkerung lösten diese Neuigkeiten eine Riesenbegeisterung aus. Nicht selten hörte ich den oft angewendeten Spruch: „Wie das der Führer wieder hingekriegt hat!“ Allein ihm wurde der Erfolg gutgeschrieben.
Aus heutiger Sicht klingt das alles sehr unwahrscheinlich. Vielleicht sogar stark übertrieben. Ich fasse es ja selbst nicht mehr. Aber, es ist wirklich so gewesen. Ich habe das alles selbst erlebt.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch so mancher Hitler-Kritiker von dieser riesigen Begeisterungswelle mitgerissen worden ist. Jedenfalls war es nicht leicht, sich dieser Massenhysterie zu entziehen.
Wir 10-jährigen Pimpfe hatten damit ohnehin keine Probleme.
In der Folge wurden Kaufverträge in Massen abgeschlossen. In Fallersleben sprudelten die Kassen!
Auch bei Oma und Opa hatte die Führerrede ihre Wirkung nicht verfehlt. Der Opa machte sich schon Gedanken über die Höhe der Rate, die er sich leisten konnte. Denn solch ein Auto wollte er unbedingt haben.
Viele Jahre schon hatte er in seiner Autolackiererei mit Autos zu tun gehabt. Einen Führerschein hatte er schon, weil er auch schon einmal ein Auto besessen hatte. Es war ein uralter „Brennabor“, der nach kurzer Zeit seinen Geist aufgegeben hatte.
An die gemeinsamen Autotouren, so um 1932/1933, kann ich mich noch gut erinnern.
Die Oma beschäftigte sich derweil mit Gedanken, die in eine ganz andere Richtung gingen. Sie hat gewusst, dass ein Auto schon immer Guidos sehnlichster Wunsch gewesen ist. Sie wollte aber nichts dafür bezahlen.
„Guido“, sagte sie mit wichtigem Gesicht, „ich werde dir dieses Auto besorgen. Darauf kannst du dich verlassen!“
Mir stockte der Atem. Wie wollte die Oma das anstellen? Dabei hat sie so getan, als ob sie das Auto schon so gut wie sicher hatte. Aber, überzeugt von sich ist die resolute Oma schon immer gewesen.
Die schriftstellerisch begabte Oma hatte sich vorgenommen, ein Gedicht zu schreiben. Darin wollte sie das Auto und natürlich auch den Führer loben. Sie hat schon gewusst, worauf es ankommt. Für ein Auto wäre sie bereit gewesen, so etwas zu tun. „Das Gedicht wird so ausfallen, dass bestimmt ein Auto dabei herausspringen wird.“ Davon war sie fest überzeugt.
Der Opa hat sich das angehört. Und einmal mehr bewunderte er seine einfallsreiche Anna. Sie war immer für Überraschungen gut. Und, dass sie das schaffen würde, das hielt der Opa durchaus für möglich. Kürzlich hatte sie noch anlässlich eines Heimatfestes in Dienstedt mit großem Erfolg selbstverfasste Gedichte – Erinnerungen aus der Kindheit – in Mundart vorgetragen.
Jedenfalls war der Opa gerührt. Er bekam feuchte Augen. Das war beim Opa immer so. Er ist ein reiner Gefühlsmensch gewesen, der seine Empfindungen nie verbergen konnte.
Er reagierte so, ganz gleich, ob es eine freudige oder eine traurige Nachricht gewesen ist, die er gerade erhalten hatte.
Mit leichter Hand hat die Oma das Gedicht geschrieben. Sie hat es sofort abgeschickt.
Sie hat gewusst, worauf es dabei angekommen ist. Ein klein wenig von der „Bauernschläue“, die man denen, die vom Land in die Stadt gezogen waren, nachgesagt hatte, die hatte sie sich wohl erhalten.
Wie die Großeltern wirklich gedacht haben, das haben sie in ihrer selbstlosen und hilfsbereiten Art mehr als einmal bewiesen. Als sie im Jahre 1943 den guten alten jüdischen Freund Richard Besser bei sich aufgenommen haben, da haben sie nicht lange überlegen müssen. Das ist für sie eine Selbstverständlichkeit gewesen. Weil er Jude gewesen ist, hat der Buchdruckermeister Besser bei der „Thüringer Allgemeinen“ seine Arbeit verloren. Niemand hat es daraufhin gewagt, ihn einzustellen. Besser war so gut wie mittellos. Er hatte sich nicht mehr getraut, in seine eigene Wohnung zu gehen.
Die Großeltern haben gewusst, wie gefährlich das gewesen ist, was sie getan haben. Sie fühlten sich verpflichtet, es trotzdem zu tun.
Richard Besser ist im Jahre 1944 von einem seiner täglichen Spaziergänge nicht zurückgekommen.
Erst Jahrzehnte später habe ich zufällig erfahren, dass er in den Gaskammern von Auschwitz ein schreckliches Ende gefunden hat.
Diese Hilfe für den jüdischen Freund, die ist echt gewesen! Das ist ein Riesenunterschied.
Das Thema KdF-Wagen, wurde bald von den aktuellen Ereignissen überrollt. 1939 begann der 2. Weltkrieg. Alle bis dahin produzierten Autos waren direkt von der Wehrmacht übernommen worden. Bald wurde auch jedem kritischen Volksgenossen klar, dass der Bau des Volkswagens, wie er jetzt genannt wurde, ein Teil der Kriegsvorbereitungen Hitlers gewesen ist.
In den eisigen Wintern in Russland hat der Wagen unschätzbare Dienste geleistet. Der Volkswagen – luftgekühlt – lief noch, als alle wassergekühlten Autos eingefroren und nicht einsatzbereit gewesen waren.
Kein einziges Auto ist zum sagenhaften Preis von 999,- Mark an einen der fleißigen Ratensparer ausgeliefert worden.
Vermutlich hat auch der außerordentlich niedrige Preis zu den vielen Märchen gehört, die uns damals aufgetischt worden sind.
Nach dem Krieg war das von Millionen Bürgern angesparte Geld futsch!
Auch Omas heroisches Gedicht war erfolglos. Aber wenigstens haben die Großeltern keinen Pfennig eingebüßt.