Meine persönliche Halbzeitpause - Sebastian Friedlin - E-Book

Meine persönliche Halbzeitpause E-Book

Sebastian Friedlin

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Beschreibung

Viele feiern ihren 40. Geburtstag entweder ganz groß oder sie machen stattdessen eine große Reise. Die gleiche Frage stellte ich mir 2019 im Alter von 37 Jahren ebenfalls. Meine Familie wollte mir die Entscheidung nicht abnehmen. Daher entschloss ich mich, eine bislang nie in die Tat umgesetzte Reise anzutreten; nur mit viel mehr Lebenserfahrung und vielleicht nicht mehr ganz so viel Naivität wie in jungen Jahren. So fand ich in vier Wochen die grundlegenden Dinge wieder in einer Reise zu mir selbst.

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Viele feiern ihren 40. Geburtstag ganz groß oder machen eine große Reise. Die gleiche Frage stellte ich mir 2019 im Alter von 37 Jahren ebenfalls. Meine Familie wollte mir die Entscheidung nicht abnehmen. Daher entschloss ich mich, eine bislang nie in die Tat umgesetzte Reise anzutreten. Nur mit viel mehr Lebenserfahrung und vielleicht nicht mehr ganz so viel Naivität, wie in jungen Jahren.

Follow on Instagram: thekitchenofsebo

Dieses Buch widme ich meinen beiden meistgeliebten Menschen in meinem Leben.

Meiner Frau Jasmin und meiner Tochter Liah Malou.

Der größte Dank und meine tiefste persönliche Wertschätzung gilt meiner Tochter Liah, meiner Frau Jasmin, meinen Eltern, Schwiegereltern, Schwägerin, Freund:innen, Arbeitskolleg:innen und allen, die mich bei diesem Vorhaben in irgendeiner Form unterstützt haben. Die Erfahrungen und Erlebnisse, die ich auf dieser Reise machen durfte, sind mit Worten des Dankes nicht auszudrücken.

Sebastian Friedlin, Januar 2024

„Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen…“

Auszug aus dem gleichnamigen Lied.

Text: Matthias Claudius (1785) , zuerst im Voßischen Musenalmanach für 1786 Musik: sowohl von Beethoven als auch von Carl Friedrich Zelter (1793) vertont

Meine Route

Meine Reisedaten

02.07.

Abfahrt Hemslingen und Fahrt Bremen – Amsterdam

02.07. – 05.07.

Amsterdam

06.07.

Fahrt Amsterdam – Paris

06.07. – 09.07.

Paris

09.07. – 10.07.

Nachtfahrt Paris – Mailand

10.07. – 12.07.

Mailand

13.07.

Fahrt Mailand – Rom

13.07. – 16.07.

Rom

16.07. – 17.07.

Nachtfahrt Rom – Triest

17.07. – 19.07.

Triest

19.07.

Abendfahrt Triest –Ljubljana

19.07. – 21.07.

Ljubljana

22.07.

Fahrt Ljubljana – Wien

22.07. – 25.07.

Wien

25.07.

Fahrt Wien – Bratislava

25.07. – 26.07.

Bratislava

26.07. – 27.07.

Nachtfahrt Bratislava -

Hannover

27.07.

Fahrt Hannover – Schneverdingen und Ankunft Zuhause in Hemslingen

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Freitag, 01.07.2022

2. Samstag, 02.07.2022

3. Sonntag, 03.07.2022

4. Montag, 04.07.2022

5. Dienstag, 05.07.2022

6. Mittwoch, 06.07.2022

7. Donnerstag, 07.07.2022

8. Freitag, 08.07.2022

9. Samstag, 09.07.2022

10. Sonntag, 10.07.2022

11. Montag, 11.07.2022

12. Dienstag, 12.07.2022

13. Mittwoch, 13.07.2022

14. Donnerstag, 14.07.2022

15. Freitag, 15.07.2022

16. Samstag, 16.07.2022

17. Sonntag, 17.07.2022

18. Montag, 18.07.2022

19. Dienstag, 19.07.2022

20. Mittwoch, 20.07.2022

21. Donnerstag, 21.07.2022

22. Freitag, 22.07.2022

23. Samstag, 23.07.2022

24. Sonntag, 24.07.2022

25. Montag, 25.07.2022

26. Dienstag, 26.07.2022

27. Mittwoch, 27.07.2022

28. Donnerstag, 28.07.2022

Epilog

Prolog

Mein Name ist Sebastian Friedlin. Seit ich denken kann stehe ich mit beiden Beinen im Leben. Mittlerweile habe ich das Alter der zarten 40 erreicht und bin schon voller Vorfreude, Wehmut und auch ein wenig Skepsis, was ich hier mit dieser Reise so tue.

Man ist ja fest in seinem Beruf verankert, der mir übrigens trotz der vielen Arbeit und des Stresses sehr viel Spass macht. Außerdem ist man ja auch fester Bestandteil des Familien-Kosmos, wie ich ihn immer gerne nenne, und auch ehrenamtlich und hobbymäßig vollumfänglich tätig. Was also bewegt einen 40-jährigen Mann, wie mich, sich einmal auszuklinken? Wenn sich diese Frage so einfach beantworten ließe, würde ich mich sicher nicht mit diesem Buch beschäftigen, sondern meine Zeit anders nutzen. Vielleicht ist es, wie meine Frau sagt, die Midlifecrisis. Oder es ist einfach das Gefühl ein wenig überarbeitet zu sein, oder die Angst, nichts erlebt zu haben, oder einfach nur mal verrückt zu sein (wobei mich die Leute nicht anders kennen), oder, oder, oder…

Ich sitze nun also Mitte Juni zuhause im Wintergarten, trinke einen Kaffee, höre Musik und buche die erste Fahrt für die Reise. Gestern habe ich mir erst mal einen großen Rucksack gekauft für den ganzen Kram, den man ja immer mitschleppt. Ich glaube, der Rucksack hat gefühlt mehr Taschen als ich Socken besitze, aber vielleicht finde ich noch heraus, warum das so praktisch ist. Ich jedenfalls denke, dass dieses Gefummel an den Reißverschlüssen sicher noch nerven und mich bis Ende Juli von nun an begleiten wird. Vielleicht komme ich ja auch wieder und bin von dem Ding total begeistert. Das sollte sowieso der Fall sein, denn das Ding hat ein Vermögen verschlungen. Also kann es nur gut sein. Nun aber vom Rucksack zu meinem eigentlichen Vorhaben.

Irgendwann in 2019 stand ich vor der Frage, was am 40. Geburtstag passieren soll. Dies ist ja quasi der einzige runde Geburtstag im Leben eines Menschen, wo niemand böse ist, wenn man nicht feiert, sondern verreist, sich aber auch alle auf eine Party freuen, wenn denn nun eine stattfindet. Also was tun? Diese Frage stellte ich meiner Frau und meiner Tochter sonntags am Frühstückstisch. In den verschlafenen Gesichtern der beiden stellte ich fest, dass die beiden mit der Frage genauso überfordert waren, wie ich. Nachdem dann einige Zeit ins Land gegangen war, habe ich die gleiche Frage nochmal gestellt. Diesmal mit der Antwort, dass ich das doch selbst am Besten wissen müsste. Toll! Nun stand ich wieder vor meinem kleinen persönlichen Waterloo, denn der Tag an dem ich 40 wurde rückte unaufschiebbar näher. Eine gewisse Zeit später hatte ich die erste Idee. „Lauf doch den Jakobsweg“, sagte eine innere Stimme zu mir. Was mich an dieser Idee allerdings störte ist, dass zur Durchführung der Urlaub nicht reicht und ich es dann in zwei Etappen machen müsste. Eine Bekannte meinte, ich könne die zweite Hälfte dann ja zum 50. laufen. Aber das ist ja wie so oft im Leben, das macht man dann nie zu Ende. Und wer weiß schon, wie fit man im Rentenalter für sowas noch ist. Also musste was anderes her. Eine Wanderung und zwar von Zuhause aus in Richtung Süden. Das mache ich vier Wochen lang und schau mal, wie weit ich komme. Genau! Das ist es. „Kompass Süd“ wird diese Reise heißen. Voller Begeisterung erzählte ich von meinem Vorhaben. Die Meinungen gingen nicht weit auseinander. Sie reichten von „Sebo, das machst du eh nicht!“ bis zu „Du und wandern? Du nimmst doch für alles über 500m das Auto“. Vielleicht haben sie ja alle Recht, aber vielleicht ist es auch an der Zeit einfach mal was Anderes zu machen? Ich ziehe das jetzt durch. Basta!

Als ich damals nach Norddeutschland zog, konnte ich vieles mitnehmen. Nur meinen besten Freund Markus nicht. Manchmal fehlt er mir doch sehr, denn er ist im Gegensatz zu mir ein sehr ruhiger Typ, sportlich veranlagt und liebt das Wandern (er ist ja auch mal einfach so von München nach Venedig gewandert). Ich bin eher so der impulsive Typ, Couch-Potatoe und leidenschaftlicher Autofahrer. Was Markus und mich verbindet, ist ganz einfach erklärt: Eine jahrzehntelange Freundschaft, auf die ich sehr stolz bin. Und die größte Ehre für mich, dass Markus der Patenonkel meiner Tochter Liah ist.

Es war also mal wieder Donnerstagabend. Zeit für ein Telefonat mit Markus. Dort ist er immer auf dem Heimweg. Er fährt meist Sonntag Abend los, arbeitet irgendwo in Deutschland, um dann Donnerstag Abends wieder nach Hause zu fahren. Dann haben wir immer Zeit zu telefonieren. Ich wählte also seine Nummer und wurde, wie so immer, mit einem fröhlichen „Ich habe Wochenende“-Ruf begrüßt. Während ich ihm dann in gewohnter Manier entgegnete, dass, wenn es darum ginge, ich schon seit Mittwoch Mittag im Wochenende sein könnte, aber gerne karitativ für das Unternehmen arbeite. Kurz gelacht, Neuigkeiten ausgetauscht und dann kamen wir irgendwie auf das Thema „Kompass Süd“. Während des Telefonates stellte ich allerdings selbst fest, dass ich in den vier Wochen Wanderung nicht weit komme und vielleicht auch Gegenden sehe, die ich jetzt so nicht bewandern würde und auch möchte. Man will als „Wander-Touri“ ja schließlich auch was sehen. Das geheime Ziel hatte ich nämlich schon: Es irgendwie bis nach Italien schaffen. Markus und ich waren uns dann schnell darüber einig, dass so eine Wanderung vielleicht doch nichts für mich ist. „Toller Freund! Jetzt redet der mir das auch noch aus“ dachte ich mir so. Aber Markus wäre nicht er, wenn er nicht gleich eine andere Idee aus dem Hut zaubern würde, die auch zu mir passt. Und schon war die Idee geboren: Mit dem Flixbus durch Europa! Ich war begeistert!

Also bin ich frohen Mutes nach Hause gefahren und habe meiner Frau sofort von der Idee, die Markus und ich entwickelt hatten, erzählt. Diese wurde mit einem norddeutsch-nüchternen „Ahja!“ kommentiert. Vermutlich ist das ihre Antwort für: „Sebo! Das ist eine der schwachsinnigsten Ideen, die du je hattest, ich mag dir das jetzt aber nicht direkt sagen und haue dir das Brett jetzt nicht vor den Kopf“.

Da war ich also wieder mit meinen Super-Ideen alleine und stellte mir auch wieder ernsthaft die Frage, ob das alles so richtig und sinnig ist, was ich da jetzt mache.

Also holt man sich nun Rat beim weiteren Familienkreis, den Eltern. Das sind aber genau die Beiden, die damals, als ich mit meiner „work and travel“-Idee ankam auch meinten, ich solle doch lieber erst einmal einen vernünftigen Beruf lernen und dann kann ich immer noch reisen. Ersteres habe ich getan. Letzteres eigentlich auch. Ich habe es nach Malle, Fuerteventura, Italien, Dänemark, Kroatien, Bosnien und sogar nach Amerika geschafft, aber es war nie ein Urlaub, wo man sich mal treiben lassen konnte. Immer war irgendjemand dabei auf den man Rücksicht nehmen musste. Das war auch in Ordnung so, denn nun kommt der Urlaub, wo ich das eben nicht muss.

Mittlerweile sind auch meine beiden Damen zuhause der selben Ansicht wie ich, dass mir diese Reise unheimlich viel bringt und unterstützen mich in meinem Vorhaben. Vielleicht auch ein wenig aus Selbstschutz, um sich nicht ständig von mir anhören zu müssen, ich hätte es ihretwegen nicht getan. Ich weiß es nicht, finde es aber toll, dass die Beiden mich so unterstützen.

Und allen Kritikern zum Trotz, sitze ich nun, wie bereits erwähnt, im Wintergarten vor dem Tablet und checke sämtliche Flixbus-Verbindungen. Nach einigem Stöbern habe ich sie dann gefunden. Meine erste Fahrt. Es geht los! Definitiv! „Der Sebo macht das schon!“ Am 02.07.2022 und endet dann, wann ich es möchte, spätestens aber am 28.07.2022. Da es so flexibel wie möglich bleiben soll, buche ich nur die erste Fahrt. Wo ich schlafe weiß ich noch nicht, aber auch in Amsterdam wird es irgendwo eine Wand mit fünf Buchstaben darauf geben, die international gleich sind. Da steht „Hotel“ drauf. Und dort werde ich fragen, ob ich dort schlafen kann. Es wird schon klappen.

Start der Reise ist morgens um 06:10 Uhr in Bremen mit einer Mischung aus Skepsis, Zweifeln und Vorfreude und meinem wahrscheinlich viel zu schweren Rucksack.

1

Freitag, 01.07.2022

ca. 12 Stunden vor Abfahrt

Was für ein Stress. Heute erst auf der Arbeit gewesen, dann einkaufen und nun packen. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich mir das nicht aufgeladen. Aber nun von vorne. Der letzte Arbeitstag eines jeden ist immer nochmal stressig. Alles abarbeiten, Übergabe machen, jeden verabschieden und dann ab nach Hause. So war es auch bei mir heute. Erst noch einen Außentermin gehabt, dann im Büro alles auf Stand bringen und hoffen, dass es nicht zu spät wird. Ich habe heute vor Feierabend noch lange mit meinem Chef Frank gesprochen. Er hat mir einen schönen Urlaub gewünscht und mich für diesen Trip nochmal zusätzlich motiviert. Und ich kann mich jederzeit melden, wenn ich unterwegs Probleme bekomme oder habe. Mal sehen, ob ich das in Anspruch nehmen muss. Ich hoffe ja mal nicht. Falls doch, ist es ein sehr beruhigendes Gefühl, das zu wissen. Er meinte, dass er so einen Trip mit seinem Oldtimer machen würde. Auch eine „geile“ Idee. Sollten sich die Spritpreise jemals wieder in eine Richtung entwickeln, die sich auch Normalsterbliche leisten können, könnte ich mir das auch sehr gut vorstellen. Mit wem ich fahren würde, weiß ich nicht. Das große „aber“ an der ganzen Geschichte ist, dass ich mir sowas auch nicht leisten kann und auch nicht darf. Meine Frau hatte nämlich meine Idee, einen Opel Manta oder einen Ford Granada zu kaufen, mit ihren Argumenten genauso schnell verworfen, wie sie mir in den Sinn kam. Ich konnte seinerzeit alle Argumente, die gegen mich verwendet wurden, abschmettern. So zum Beispiel, dass das zu teuer ist, der zu viel Sprit verbraucht, die Umwelt belastet wird, zu wenig Sicherheit in dem Auto herrscht, kein Comfort, ich hätte keine Zeit mich darum zu kümmern und, und, und. Ich konnte dagegen halten, bis dann das Ass von ihr ausgespielt wurde. „Herr Friedlin (wenn sie das sagt, ist das immer kurz vor einer nicht atomaren Sprengung der Gefühlswelt), ich will keinen Autofriedhof zuhause“. Schlagfertig wie ich bin, konterte ich damals, dass ich das nicht machen würde, wohlweislich, dass sie damit aber sicher Recht hätte. Wahrscheinlich würde unser Grundstück in kürzester Zeit aussehen, wie das der Ludolf-Brüder. Fazit: Idee verworfen!

Ich fahre gerade den PC auf der Arbeit runter und bekomme dabei eine Sprachnachricht meines Kollegen Kevin. Er ist freitags nie da, weil er nebenbei noch ein Studium macht. Deshalb konnten wir uns auch nicht mehr voneinander verabschieden. Ich habe mich sehr über seine Worte gefreut, denn ich schätze ihn sehr. Wie eigentlich alle Kollegen in der Firma. Kevin ist ein sehr ruhiger Typ. Ihn sollte ich mir mal zum Vorbild nehmen und ein wenig ruhiger werden. Vielleicht bringt es ja die Reise mit sich. Er meinte in seiner Message, dass er mir viel Spass bei der Reise wünscht und ich gerne Bilder schicken kann. Er spricht da für viele, denn das haben mir Einige jetzt gesagt. Eigentlich wollte ich ein Social-distancing machen, aber ich stellte mir auf dem Heimweg die Frage, ob ich das wirklich möchte. Und genau deswegen, weil ich meinen Gedanken so nachgehangen habe, hätte ich doch fast vergessen, die letzten Besorgungen zu machen. Dazu hatte ich auch nicht wirklich Lust, aber schlussendlich müssen sie gemacht werden. Nun bin ich ja so ein Typ, der immer alles auf den letzten Drücker macht. So auch jetzt. „Wieder mal toll. Den Stress habe ich mir wieder selbst gemacht“ denke ich mir und biege in Sottrum auf den Parkplatz beim Edeka ein. Hier hat meine Frau mal gearbeitet. Vor 10 Jahren. So schnell vergeht die Zeit. Nix wie rein und die letzten Einkäufe erledigen. Rei in der Tube muss mit, Mundschutz, denn wir haben ja Corona. Corona! Genau das will ich bei meiner Fahrt auch ausblenden, denn man hat ja jetzt zwei Jahre lang nichts Anderes mehr gehört. Und ich will hier kein Buch darüber schreiben, sondern unbeschwert eine Reise genießen, sofern das überhaupt möglich ist. Wir werden sehen. Natürlich vergesse ich noch Zigaretten zu kaufen. Also just noch eben in den Dorfladen, in dem meine Frau arbeitet, um ihr auch prompt in die Arme zu laufen. Rei in der Tube hatte sie schon bereit gestellt. Sie denkt einfach an alles. Nach dem Kauf einer Schachtel „Reval“, kommen mir wieder zwei Dinge in den Sinn. Erstens, sind die Zigaretten im Ausland natürlich günstiger als in Deutschland, zweitens wollte ich sowieso mit dem Rauchen aufhören. Mal schauen, ob mir das gelingt.

Zuhause angekommen, werde ich schon von einem kranken Kind erwartet. Liah hat sich eine Erkältung zugezogen. Auch das noch. Und ich lasse meine Frau damit alleine. Jetzt muss ich mir jedoch selbst eingestehen, dass ich das immer getan habe all die Jahre. Bin ich ein Egoist? Sehe ich das Wesentliche nicht? Ich habe keine Ahnung. Wenn ich aber wieder nach Hause komme, werde ich mir künftig die Zeit für meine Familie nehmen, die wir brauchen. Das habe ich heute schon erkannt.

Dann noch eben den Geschirrspüler ausgeräumt, ein paar andere Dinge erledigt und nun richte ich alles so hin, wie ich es brauche. Kulturbeutel, Rei in der Tube, Klamotten und allen möglichen Kram. Das passt ja sicher alles in den riesigen Rucksack. Ernüchterung macht sich breit, als ich merke, dass es nicht so ist. Nur, was bleibt alles zuhause? Ich beschließe, die dicke Jacke zuhause zu lassen. Es ist ja Juli und wird sicher nicht so kalt. Und schon hat alles Platz und das Ding geht zu. Es wird jetzt aber auf der Reise wohl so kommen, dass ich mit einem viel zu schweren Rucksack, ohne dicke Jacke irgendwo am Nordpol lande, dann nach hinten umfalle und wie ein Käfer auf dem Rücken liege und nicht mehr auf die Beine komme. Jeder würde das mit einer dicken Jacke überleben. Aber ich habe diese zuhause liegen lassen und erfriere mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. „Die Voraussetzungen dafür habe ich ja selbst geschaffen“ geht es mir durch den Kopf und ich kämpfe mit dem abnehmbaren Deckelfach, das ich gerne als Handgepäck mit in den Bus nehmen möchte. Es gibt hier auch keine Alternative und auch keinen Kompromiss. Das Ding muss ab. Aber es geht nicht. Der Verkäufer ist bewundernswert. Hatte sich beim Kauf dieses Teils enorm Zeit genommen für meine Fragen und Sprüche. Jeder andere hätte mir den Rucksack um die Ohren gehauen, dann wäre diese Reise vorbei, bevor sie angefangen hat. Er jedoch brachte eine Geduld auf, wie ich sie noch nie erlebt habe. Und er wusste genau, was ich brauche. Und nimmt auch noch ruckzuck das Deckelfach ab, das man auch als Tagesrucksack dann nehmen kann. Ich war beeindruckt. So ein Teil brauche ich und habe es dann ja auch gekauft. Und warum geht das nicht? Hat er es kaputt gemacht und mir dann verkauft? Jetzt hat der Laden allerdings schon geschlossen und ich habe nicht mal mehr die Chance mich zu beschweren oder es mir zeigen zu lassen. Ich versuche es noch ein paar Mal, um dann ernüchtert aufzugeben. Wenn man mich allerdings kennt, weiß man, dass ich nicht so schnell aufgebe. Ich hole erst mal eine Schere, zur Not schneide ich die Bänder ab, dann hab ich das Ding ab. So wird es getan. Wobei, wenn ich das tue, ist das sündhaft teure Ding kaputt.

Also versuche ich wieder durch die mentale Hölle zu gehen und schon habe ich das Ding in der Hand. Die erste Frage, die ich mir daraufhin stelle ist, ob ich das Teil nun kaputt gemacht habe. Aber nach einer kurzen Kontrolle stelle ich fest, es ist nicht kaputt. Da habe ich ja mal wieder mehr Glück als Verstand gehabt. Nach einer weiteren Ewigkeit habe ich kapiert, wie man es wieder ran macht und auch wieder abnimmt. Ich bin ein cleveres Kerlchen. Dann ist auch mein Seelenfrieden wiederhergestellt und ich verstaue alles, um dann noch mit meiner Familie ein schnelles Abendbrot zu mir zu nehmen. Da das Kind ja kränklich ist und es die letzte Nacht zuhause ist, genehmigen wir Liah, dass sie bei uns im Bett schlafen kann. Die beiden sind schon eingeschlummert und ich hänge wieder mal meinen Gedanken nach. Mich beschleicht ein Gefühl der Zufriedenheit, meine beiden Liebsten neben mir zu haben und schlafe dann auch tief und fest ein.

2

Samstag, 02.07.2022

Reisetag: Bremen-Amsterdam

Um 3:30 Uhr klingelt der Wecker. Echt ätzend. Es ist mitten in der Nacht. Mein erster Gedanke: „Sebo, warum tust Du Dir das an?“ Weil ich es so wollte und mein Traum heute losgeht. Genau deswegen.

Also schält man sich als 40-jähriger aus dem Bett und sortiert erst mal alle Knochen. Danach geht es ins Bad. Details erspare ich mir, denn das sollte jeder selbst wissen, was man da morgens macht. Nur soviel, dass ich mir gerade die Frage stelle, warum ich gestern alles gepackt habe? Beziehungsweise den Kulturbeutel. Denn der ist ja schon im fertig gepackten Rucksack. Genau an der Stelle, wo das Schwerste hin soll. In der Mitte am Rücken. Dem Himmel sei Dank, hat das Teil so viele Öffnungen und Reißverschlüsse, dass man aus jeder Position in jeder Lebenslage an alles herankommt. Nun geht die Prozedur los. Nach einer halben Stunde bin ich fertig, trinke ein Glas lauwarmes Wasser und genieße meinen Aufwach-Tee. Es ist ein Darjeeling. Den liebe ich total. Lauwarmes Wasser regt den Kreislauf an, rede ich mir jedenfalls ein und fühle mich gut dabei. Das ist die Hauptsache.

Mit Schwarztee habe ich mal vor geraumer Zeit angefangen, da ich wegen einer Darmerkrankung mal eine Zeit lang keinen Kaffee mehr trinken durfte. Es hat sich dann so eingebürgert und nun trinke ich jeden Morgen einen Schwarztee. Irgendwann habe ich mich für Darjeeling entschieden. Und gerade ich als Kaffee-Junkie muss sagen, das ist eine echte Alternative. Um aber vollständig aufzuwachen, brauche ich meinen morgendlichen Café Crema. Andere kippen da Milch rein, ich nehme noch einen doppelten Ristretto obendrauf. Das schockt und macht mich wach für den Tag. Ich bringe nun, bis meine Familie fertig ist und mich nach Bremen fährt, den Rucksack ins Auto. Als ich den Kofferraumdeckel schließe, erinnere ich mich wieder kurz daran, dass ich die elektrische Heckklappe damals vergessen habe zu bestellen. Da denke ich irgendwie jedes Mal daran. Kaum den Gedanken zu Ende gedacht, schießen mir gefühlte tausend Gedanken durch den Kopf. Diese reichen von „habe ich an alles gedacht“ über „Sebo, was machst Du hier mit der Reise“ bis hin zu „genau das ist das, was Du immer schon mal machen wolltest“. Ich bin überwältigt, wie viele Gedanken man auf einmal haben kann. Ein bis zwei Stunden muss ich aber noch Ehemann und Vater sein, bevor ich das alles sortieren und einordnen kann. Ob ich ein guter Ehemann und Vater bin, müssen andere beurteilen. Ich hoffe es. Meine Familie kommt und die Reise geht los. Ich freue mich, dass mich die beiden nach Bremen fahren. Denn sie sind mir schon sehr wichtig.

Die Fahrt dauert heute so ca. 50 Minuten. Meine Frau meinte gestern: „Du fährst hin, dann habe ich noch Zeit aufzuwachen“. Okay. Mache ich. Wir sind alle drei keine Morgenmenschen und genießen es, am Wochenende auch mal auszuschlafen. Das hat unsere Tochter definitiv von meiner Frau und mir. Da sie ja aber noch ein wenig erkältet ist, ist sie sowieso nicht so gesprächig. Daher entwickelt sich die Autofahrt eher zu einem Monolog. Komischerweise, wie sonst üblich, nicht von mir. Nein, diesmal ist es meine Frau. Vielleicht redet sie schon für die nächsten Wochen vor, weil sie ja jetzt auf mich verzichten muss. Ich weiß es nicht. Morgens bin ich normalerweise auch nicht sonderlich gesprächig, aber durch die Tatsache, dass ich mein Morgenritual mit Wasser, Schwarztee, Kaffee und doppeltem Ristretto schon hatte, wäre ich durchaus in der Lage eine vernünftige Konversation zu führen. Aber irgendwie sehe ich mich gerade aufgrund meines Gefühlschaos nicht in der Lage eine vernünftiges Gespräch zustande zu bringen. Deshalb höre ich brav zu, was meine Frau alles bei ihrem Monolog von sich gibt. Er handelt von der Arbeit, von der Schule und allen möglichen weltpolitischen Dingen. Irgendwie kann ich sie jetzt verstehen, warum sie manchmal so genervt von mir ist. Man bekommt halt im Leben immer wieder den Spiegel vorgehalten.

Knappe 50 Minuten und 3.472 Wörter meiner Frau später erreichen wir den Breitenweg in Bremen. Nun heißt es Abschied nehmen. Ein Abschied auf Zeit. Normalerweise sind wir es gewohnt, da ich beruflich ab und an mal unterwegs bin. Heute ist es jedoch irgendwie etwas Anderes. Was genau, kann ich, zumindest noch nicht definieren und gedanklich greifen. Jedenfalls ist es sehr emotional. Ich schnalle mir meinen viel zu großen und viel zu schweren Rucksack um und meine Frau und ich umarmen uns innig. Mich überkommt das Gefühl, ich nehme sie viel zu selten in die Arme. Vielleicht, weil ich mir einrede, sie möchte das nicht. Ich werde sie genau das fragen, wenn ich wieder zurück bin. Dann kommt ein noch emotionalerer Moment. Ich umarme meine Tochter gebe ihr auch den Abschiedkuss und habe Tränen in den Augen. Ich werde sie definitiv vermissen. Alle beide. Wenn es nicht so wäre, müsste ich lügen und es wäre definitiv falsch. Die beiden sitzen im Auto und brausen davon. Wow! Was für eine Menge an Gefühlen und Eindrücken die letzten zwei Stunden auf mich herniedergingen, ist wahnsinnig. Normalerweise heißt es, dass jeder auf so einer Reise mindestens einmal in Tränen ausbricht. Ich stehe hier im Breitenweg in Bremen unter der Brücke und mache genau das. Nicht nur, weil mir die beiden fehlen, sondern weil ich das genau jetzt brauche. Nebenbei warte ich auf meinen Bus. Als ich meine Tränen dann getrocknet habe, beschleicht mich wieder ein neues Gefühl. Ich kann es noch nicht so richtig einordnen, würde es aber als eine Mischung aus Skepsis und Vorfreude beschreiben. Genauer kann ich das leider nicht. Aber es fühlt sich gut und richtig an. Nun brauche ich erst mal eine Zigarette. Ich wollte ja mit dem Rauchen aufhören, aber definitiv nicht jetzt. Ich genieße die Zigarette irgendwie anders als sonst. Danach denke ich erst mal an nichts. Mein Bus sollte mittlerweile auch schon angekommen sein, aber lässt auf sich warten. Mittlerweile sind auch weitere Fahrgäste angekommen und wir warten gemeinsam auf die Fahrt. Nach kurzem Smalltalk mit einigen, stelle ich fest, dass viele nach Groningen wollen. Eine Station auf der Tour nach Amsterdam. Es ist schön, mit fremden Menschen zu reden. Weitere 20 Minuten und 4 Zigaretten später kommt dann auch endlich der Bus. Der Fahrer organisiert die Anmeldung mit seinem Kollegen. Alles geht recht unkompliziert. Mein Gepäck nach Amsterdam muss auf die Fahrerseite gepackt werden. Also schmeiße ich den viel zu schweren Rucksack dort rein und es fällt gefühlt wieder eine Last ab. Mein Rucksack und eine weitere Tasche liegen auf der „Amsterdam“-Seite. Die anderen auf der „Groningen“-Seite. Ich steige ein und finde ziemlich vorne sogar noch einen Fensterplatz, weil andere schon eine Station vorher zugestiegen sind und die meisten davon belegen. Ich sitze auf der Beifahrerseite, also der „Groningen“-Seite. Zum Glück habe ich die letzten Jahre knappe 20 Kilo abgenommen, sonst hätte der Bus vielleicht Schräglage und würde umkippen.

Um 6:30 Uhr geht es dann los. Ich sitze im Flixbus und fahre von Bremen nach Amsterdam. Ein sehr emotionaler Moment für mich. Noch nie in meinem Leben bin ich für vier Wochen aus dem gesellschaftlichen Leben und der Arbeitswelt entflohen.

Meine Tochter hat mir zum 40. Geburtstag einen Schlüsselanhänger geschenkt. Es ist ein Schutzengel. Diesen trage ich bei mir. Ich habe ihn mir an die Hose befestigt, damit er die Reise mit mir verbringt. Ich denke darüber nach, wie dieser Schutzengel wohl heißen mag. Einige werden mich wahrscheinlich für verrückt erklären, aber ich gebe selbst meinen Autos Namen. Weil ich meist mehr Zeit mit ihnen verbringe, als mit meiner Familie. Das mag kurios sein, aber es ist so. Ich bin beruflich viel unterwegs und auch wenn man mit der Familie unterwegs ist, ist Samantha dabei. So heißt sie. Mein Auto. Ich habe damals den Skoda Octavia gesehen und mich sofort in das Auto verliebt, wenn man das so nennen kann. Und da das Auto so schön ist, kam mir der Name Samantha in den Sinn. Vielleicht auch, weil das Auto so gut aussieht, wie Samantha Fox in Besten Tagen. Aber auch bei ihr sieht man, ohne ihr zu Nahe treten zu wollen, dass irgendwann der Lack ab ist.

Nun aber wieder zum Wesentlichen. Ich sitze im Flixbus, habe Europa vor mir und denke darüber nach, was ich einer Metallfigur für einen Namen geben kann. Verrückt aber schön. Es ist für andere vielleicht eine Metallfigur, für mich aber ein Schutzengel, den meine Tochter für mich besorgt hat. Es steht drauf „Für Papi! Ich beschütze Dich!“ Ein Symbol dafür, dass sie wohl immer auf mich aufpassen wird. Und ein sehr beruhigendes Gefühl. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Liah mit ihren neun Jahren um einiges reifer ist als ich. Aber sie ist ja auch meine Tochter und die Story vom Kind im Manne kennt ja auch jeder. So wird es auch höchstwahrscheinlich bei uns sein. Mein Ein und Alles. Ich werde sie in dieser Zeit wohl sehr vermissen, aber ich weiß auch, dass sie mir zuhören wird, wenn ich ihr die Erlebnisse und Eindrücke erzähle und mich gespannt mit ihren großen, tollen Kulleraugen ansieht. Ich beneide den Jungen, der sie irgendwann mal heiratet. Sie ist ein tolles Mädchen. Facettenreich. Wenn sie so bleibt, wie sie ist, dann haben Jasmin und ich bei der Erziehung alles richtig gemacht. Wobei, niemand macht dabei alles richtig, weil es kein richtig oder falsch gibt. Sie wird ihren Weg gehen, wie ihn jeder von uns geht. Seinen eigenen Weg. Viele Menschen begleiten ihn. Manche länger, manche weniger lang. Aber der Weg ist der Eigene. Ob mein Weg bislang der Richtige war oder ist? Definitiv! Denn „I did it my way“. So wie es Frank Sinatra schon besungen hat.

Die Fahrt ist relativ ruhig und entspannt. Wir halten kurz in Oldenburg, Leer und fahren Richtung Groningen. Meistens schaue ich aus dem Fenster und höre Musik. Sebo’s Hitmix. Meine persönliche Playlist mit Musik, die mir gefällt. Es ist alles dabei, von Rock bis Pop alles aus den 50er-Jahren bis heute und auch alles was „Krach“ macht. AC/DC, LED Zepelin, ZZ Top, Queen usw. dürfen auf der Playlist meines Lebens nicht fehlen. Jasmin gefällt meine kleine Hitparade nicht, dafür aber Liah. Sie ist definitiv meine Tochter. Ob ihr „Sebo’s Hitmix“ wirklich gefällt weiß ich nicht, aber vielleicht sagt sie es auch nur, weil sie mich nicht kränken möchte. Ich schreibe ein paar WhatsApp-Nachrichten, beantworte die Facebook-Messenger-Nachrichten und widme mich dann meiner derzeit aktuellen Lieblingsbeschäftigung. Ich schaue aus dem Fenster und genieße die Landschaft. Das Wetter: Bombastischer Sonnenschein. Hätte ich diese Reise vor 20 Jahren gemacht, wäre ich wahrscheinlich vor Hitze im Bus eingegangen. Von etwaigen Gerüchen anderer Mitmenschen mal ganz abgesehen. Luxus, so zu reisen heutzutage. Aber auch technischer Fortschritt. Alles hat seine Zeit.

Heute morgen habe ich einen Hoodie angezogen, weil es doch ein wenig frisch war. Mittlerweile sind die Temperaturen so warm, dass ich diesen auch ausziehen kann. Ein netter junger Mann sitzt neben mir. Er fährt nach Groningen. Seinen Namen kenne ich nicht. Was er dort macht, weiß ich nicht, es geht mich auch nichts an. Ich habe noch ein wenig Zeit im Bus vor mir. Jedenfalls schäle ich mich so aus dem Hoodie, weil ich ihn nicht beim Schlafen stören möchte. Es ist eine artistische Einlage. Schließlich gelingt es mir, ohne dass ich ihn aufwecke. Da kommt mir der Blitzgedanke. Ich sehe so an mir herunter und was trage ich? Genau ich trage fast immer das Selbe, mein Fall-Guy-T-Shirt. Die älteren Menschen unter uns werden das Logo noch kennen. Es ist das Logo von Colt Seavers. Ich bin seit ich drei Jahre alt bin und „Ein Colt für alle Fälle“ im Vorabendprogramm lief, ein Fan von dieser Serie. Ich war damals in einem Alter, wo man mit Frauen noch nicht so viel anfangen konnte, aber meine erste große Liebe war Jody. Wie sie im Vorspann dieser Serie nur mit einem Handtuch bekleidet durch diese Saloon-Tür kam. Ich denke zur damaligen Zeit war nicht nur ich heimlich in sie verliebt.

Jedenfalls trage ich dieses coole T-Shirt und schaue dabei auf den Schutzengel. Sein Name wird Howie sein. Wie Howie Munson, Colt Seavers‘ Partner in der Serie. Er war ein wenig tollpatschig, aber doch sehr liebenswert. Es wäre sicher angebracht, wenn man ihn und mich vergleicht, den Schutzengel Colt zu nennen, dann wäre ich Howie. Würde sicher besser passen, aber wir belassen es dabei. Und da es ein Männerurlaub ist, nenne ich ihn Howie. Vielleicht ist auch er der Freund, den immer alle fragen. Dann hätten wir zumindest ein Gesicht dazu.

Gegen Mittag komme ich dann in Amsterdam an. Wird auch Zeit, denn vor lauter Busfahrt habe ich ein ziemliches Bedürfnis meine Notdurft zu verrichten. Ein paar Minuten später stehe ich erleichtert vor dem Bahnhof in Amsterdam-Sloterdjik und stecke mir erst mal eine Zigarette an. Nachdem ich mich gemütlich auf eine Bank gesetzt habe und in Amsterdam angekommen bin, rufe ich Allen an. Den habe ich auf Couchsurfing kennengelernt. Das ist eine Plattform, wo man fremden Leuten einen Schlafplatz anbietet und selbst auch welche anbieten kann, aber nicht muss. Allen ist Engländer und 45 Jahre alt. Ich verstehe ihn kaum, denn er hat wohl einen südenglischen Dialekt und mein Englisch ist halt auch in die Jahre gekommen. Hoffentlich wird das besser in den vier Wochen, sonst haben alle Kritiker Recht und ich gehe irgendwo in Europa verloren.

Jedenfalls ist er zu Hause, also kann ich direkt mit meinem viel zu schweren Rucksack dorthin.

Nach 20 Minuten stehe ich vor der Tür. Allen öffnet mir die Tür und lässt mich rein. Karine, seine Freundin, ist auch da. Wir begrüßen uns kurz, stellen uns vor und Allen zeigt mir mein Zimmer. Mein Freund Markus hatte Recht. Anspruchsvoll darf man echt nicht sein. Es ist doch alles sehr spartanisch eingerichtet und erinnert ein wenig an die erste eigene Bude. Man hatte nix und musste sich alles zusammen hamstern. Aber sauber ist es. Und wenn die beiden so glücklich sind, dann ist das für mich vollkommen in Ordnung. Ich möchte so allerdings nicht leben und sehne mich schon ein wenig nach unserem Haus, den Garten und alles. Hier spielt sich wohl das ganze Leben auf 60 Quadratmetern ab. Allen sieht aus, wie eine Mischung aus Danny DeVito und dem Weihnachtsmann. Klein, bauchig, Halbglatze und Vollbart. An beiden Armen hat er Tattoos. Manche sehen aus, als hätte er im Kindesalter mit einem Edding gespielt. „Hey, was geht ab?“ fragt er mich. Ich denke mir „schwarzer Edding schon mal nicht“ und grinse innerlich. Er fragt mich, was ich denn so alles machen will und ich entgegne ihm, dass ich einfach nur viele Eindrücke sammeln, die Städte auf meiner Reise authentisch sehen möchte und nicht aus dem Blickwinkel eines Touristen. Ihn freut es, denn er ist schon seit knappen zehn Jahren Couchsurfer und erklärt mir in seinem südenglischen Akzent, dass dies DIE Art zu reisen ist. Naja, wir werden sehen. Ich bin gespannt. Die beiden lassen mich erst mal in Ruhe ankommen und als ich dann soweit bin, mache ich auch schon Bekanntschaft mit „Sponk“. Das ist die Hauskatze. Sie ist schwarz-rot gescheckt und wunderschön.

Wir schließen auch schnell Freundschaft. Diese währt nicht lange, denn Allen scheint wohl sehr eifersüchtig auf sie zu sein und nimmt mich auf einen Spaziergang mit. Wahrscheinlich geht es ihm, wie mir manchmal. Einfach mal raus und frische Luft schnappen. Genauso wird es sein. Wir machen einen kurzen Spaziergang, wobei er spazieren gehen eher unter spazieren stehen versteht. Er zeigt mir behäbig das Viertel, in dem die beiden wohnen. Nicht schön, aber er ist stolz darauf, in Amsterdam zu leben. Mir tun langsam die Füße weh, denn ich stehe mehr, als dass ich gehe. Wenn ich noch langsamer gehen müsste, würde ich wohl umfallen, weil ich nicht so lange auf einem Bein stehen kann.

Er schiebt mich während unseres Spazierganges irgendwann durch eine Tür und wir stehen in einer Kaffee-Bar. Nein, kein Coffee-Shop, wie jetzt viele denken, sondern eine echte Kaffee-Bar. Dort holen wir uns einen Kaffee, den ich selbstverständlich übernehme und schlendern weiter zwischen Häuserschluchten und Kanälen entlang, bis wir irgendwann wieder vor der Haustür stehen.

Im vierten Stock angekommen, ist Karine weg. Keine Ahnung wo sie ist. Sie ist gefühlte 10-15 Jahre jünger als er, lange blonde Dreadlocks und sieht sehr alternativ aus. Ich denke, dass sie sicher, für Amsterdam üblich, ab und zu mal eine „lustige Zigarette“ raucht. Naja, muss sie ja wissen.

Allen macht einen Film an. Ich habe es nicht so mit Science-Fiction und Zombies, will aber keine Umstände machen. Da der Film auf Englisch ist, kann ich nur bedingt der Handlung folgen. Wahrscheinlich ist das für unseren Danny DeVito-Verschnitt ein Heimatfilm. Vom Dialekt her könnte er in Südengland gedreht worden sein. Vielleicht liegt es auch wirklich an meinem schlechten Englisch.

Nach dem Film machen wir eine zweite Runde, holen uns wieder einen Kaffee und mich beschleicht der Gedanke, dass er vielleicht gar keine Kaffeemaschine besitzt. Das werde ich in den nächsten Tagen sicher noch herausfinden. Allen ist sehr fürsorglich und sichtlich darum bemüht, dass ich mich wohl fühle. Ich schätze das sehr. Das Leben kann so einfach sein, denn dieser Mann ist einfach mit dem Leben und sich im Reinen. Karine raucht sich vermutlich die Welt schön und so können die beiden in Frieden und Einklang leben. Absolut das Gegenteil zu dem „Spießer-Leben“, was wir zu Hause führen. Es fühlt sich nicht schlecht an, hier ein Teil davon zu sein, nur anders. Vielleicht gewinne ich so auch einen neuen Blick auf die Dinge des Lebens.

Wir schlendern also wieder zwischen den Häuserschluchten und den Kanälen entlang, als er plötzlich in einen Jubelsturm ausbricht, als hätte die englische Fußballnationalmannschaft gerade die erste Weltmeisterschaft nach 1966 gewonnen. Ich frage ihn was los ist und er redet in seinem englisch auf mich ein. Ich verstehe nur Tickets. Er redet, bis wir zu Hause sind von nichts Anderem. Jedenfalls bekomme ich es heraus. Ich bin relativ schnell seinem südenglischen Dialekt mächtig und so erklärt er mir, dass ich heute Abend mit ihm in eine Bar gehe, denn dort spielt eine Band. Keine Ahnung, wie die heißt oder was das ist, aber ich bin zusammen mit ihm und ein paar Kumpels von ihm verabredet. „Das kann ja was werden“ denke ich mir. Denn Lust hab ich nicht unbedingt. Ich würde am liebsten ins Bett. Ich bin seit 3:30 Uhr auf den Beinen. Das wird genau die Zeit sein, wo er sonst am Wochenende immer ins Bett geht. Aber ich bleibe jetzt mal vorurteilsfrei. Zuhause lässt er mich ein kleines Nickerchen machen und während ich in meiner Aufwachphase bin, buche ich die nächste Fahrt und werde auch am Zielort wieder bei einem Couchsurfing-Host fündig. Irgendwie hat Allen Recht. Es ist DIE Art zu reisen. Oder würde man sonst in Amsterdam ein Konzert einer altausgedienten Rockerband besuchen? Wohl kaum. Ich gehe erst mal ausgiebig duschen. Das brauche ich jetzt auch.

Nach meiner Dusche sitzen wir wieder gemeinsam bei schönstem Wetter auf dem Sofa und warten auf seine Freunde. Mittlerweile bin ich ein Teil dieser Gemeinschaft und alle freuen sich drauf, „den Deutschen“, wie ich genannt werde, kennenzulernen. Es ist schön, dass auch andere Menschen Vorurteile haben. Oder sie halten einem einfach mal einen Spiegel vor. Al, denn so nennen ihn seine Freunde, hat wohl irgendwie Werbung für mich gemacht, wenn die alle so darauf brennen, mich zu treffen. Dass er mir das Al anbietet, könnte eine südenglischen Geste für das „Du“ sein. Aber wir hören jetzt mal auf mit den Vorurteilen und geben uns einfach dem hin, was passiert, außer es verstößt gegen ethnische, moralische, politische und weltliche Grundsätze.

Um Punkt 22:00 Uhr klingelt es an der Tür. Edwina kommt vorbei. Also keine reine Männerrunde. Edwina ist im Gegensatz zu Al 24 Jahre alt, zierlich, mittelgroß, lange Haare und trägt eine Brille. Was sie sehr gut kann, ist reden. Wie ein Wasserfall redet sie auf mich ein. Ich habe manchmal größte Mühe, ihr in der Konversation zu folgen.

Aber es funktioniert ganz gut. In unserem Gespräch stellen wir fest, dass sie für eine Werft in Bremen gearbeitet hat, für die wir Container liefern. Sie ist in der IT und eine ehemalige Arbeitskollegin von Allen, der auch in der IT arbeitet. Jetzt schließt sich mein Kreis. Genauso sieht es bei Allen zuhause aus. Wie bei einem IT-Menschen. So habe ich mir das immer vorgestellt, jetzt erlebe ich es live. Von