Meistererzählungen - Herman Melville - E-Book

Meistererzählungen E-Book

Herman Melville.

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Beschreibung

Als man Herman Melville nach langer Vergessenheit um 1920 wiederentdeckte, wurde er auf einen Schlag zu einem der großen Autoren der Weltliteratur. Moby Dick mutet als frühe Vorwegnahme des postmodernen Romans an. Von seiner Erzählung Bartleby führt eine direkte Linie zu Kafka; die Erzählung gilt als eines von Melvilles wichtigsten Werken und als Vorläufer existenzialistischer und absurder Literatur. Dass seine Kurzprosa ebenso meisterhaft ist wie sein Hauptwerk Moby Dick, beweisen auch die Erzählungen Die Veranda, Benito Cereno, Der Blitzableitermann, Die Encantadas und Der Glockenturm.
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Herman Melville

Meistererzählungen

Aus dem Amerikanischen von Günther Steinig

Mit einem Nachwort von Hans-Rüdiger Schwab

Diogenes

Die Veranda

Die schönsten Blumen,

solange Sommer währt und ich hier lebe,

streu’ ich auf deine Gruft.

Shakespeare ‘Cymbeline‛, Akt IV, Szene 2

Als ich aufs Land übersiedelte, zog ich in ein altmodisches Bauernhaus ein, das keine Veranda hatte. Diesen Mangel bedauerte ich um so mehr, als ich ein Liebhaber von Veranden bin; denn irgendwie verbinden sie die Traulichkeit des Innen mit der Freiheit des Außen, und es macht Freude, das Thermometer dort abzulesen. Auch ist die ganze Umgegend so malerisch, daß zur Zeit der Beerenlese kein Knabe einen Hügel erklimmen oder ein Tal durchqueren kann, ohne in jedem Winkel auf eine Staffelei und einen sonnenverbrannten Maler zu stoßen. Ein richtiges Malerparadies. In den Kreis der Sterne schneidet der Kreis der Berge ein; wenigstens erscheint es vom Hause aus so. Steht man jedoch oben auf den Bergen, so kann man sie nicht mehr als Kreis sehen. Wenn der Platz nur fünfundzwanzig Meter entfernt gewählt worden wäre, hätte es dieses freundliche Panorama nie gegeben.

Das Haus ist alt. Vor siebzig Jahren wurde im Herzen der Herdsteinberge die Kaaba oder der Heilige Stein gebrochen, zu dem am Erntedanktag die Pilger zu strömen pflegten. Damals gebrauchten die Arbeiter bei den Ausschachtungen für die Grundmauern sowohl den Spaten als auch die Axt, weil sie gegen unterirdische Troglodyten kämpfen mußten, die zähen Wurzeln eines zähen Waldes nämlich, der einst da gestanden, wo sich jetzt eine verträumte Wiesenlehne hinzieht, die hinter meinem Mohnbeet sanft zu Tal gleitet. Von diesem verwachsenen Walde ragt als einziger lebender Rest, standhaft und einsam, eine Ulme.

Wer das Haus baute, tat besser daran, als er selbst wußte. Oder Orion ließ vielleicht in einer Sternennacht sein Damoklesschwert vom Himmelsgewölb herunterblitzen und befahl ihm: »Baue hier!« Denn wie könnte der Erbauer sonst geahnt haben, daß ihm, nach dem Schaffen der Lichtung, solche königliche Aussicht beschieden wäre? Kein Geringerer als der Greylock, umringt von seinen Hügeln, ist hier zu erschauen – wie Karl der Große unter seinen Paladinen.

Für jemand, der sich an einer schönen Aussicht weiden möchte und sich das Zeit und Muße kosten läßt, gleicht ein in solcher Umgebung gelegenes Haus, dem die Bequemlichkeit einer Veranda fehlt, einer Bildergalerie ohne Bänke; denn was wären die Marmorhallen dieser Kalkberge anderes als Bildergalerien, Monat für Monat mit neuen Bildern behangen, die stets verblassen, um sich stets in neue Bilder zu verwandeln? Zur Schönheit gehört Andacht; man kann sie nicht im Gehen genießen. Man braucht dazu Ruhe und Beständigkeit, heutzutage also einen Lehnstuhl. Denn wenn auch einst, da Anbetung im Schwange und Bequemlichkeit nicht im Schwange war, die Anbeter der Natur zweifellos stehend anzubeten pflegten, wie es auch die Verehrer einer höheren Macht in den Kathedralen jener Jahrhunderte taten, so haben wir doch in unserer Zeit des fehlenden Glaubens und der schwachen Knie die Veranda und den Kirchenstuhl.

Im ersten Jahr meines Aufenthaltes wählte ich mir, um der Krönung Karls des Großen in Muße beiwohnen zu können (man krönt ihn, wenn es das Wetter erlaubt, bei jedem Sonnenauf- und -untergang), am nahen Hügelsaum einen königlichen Rasensitz – ein grünes Ruhebett mit einer langen, moosgepolsterten Rückenlehne. Ihm zu Häupten sproßten, wunderbar genug, drei blaue Veilchenbüsche (als Wappen, denke ich mir) in einem silbernen Felde von wilden Erdbeeren, und als Thronhimmel hatte ich mir ein Geißblattspalier angelegt. Wahrlich eine majestätische Sitzgelegenheit! So majestätisch zwar, daß mich hier, wie die in ihrem Garten ruhende Majestät von Dänemark, ein heimtückischer Ohrenschmerz durchdrang. Aber wenn sich mitunter in der Westminster-Abtei feuchte Dünste sammeln, weil sie so alt ist – warum dann nicht in diesem Bergkloster, das noch älter ist?

Eine Veranda mußte ich haben.

Das Haus war groß – mein Kassenbestand klein. Also konnte ich mir eine das ganze Haus umgebende Rundblickveranda nicht leisten. Allerdings waren die Zimmerleute, die sich der Sache in zuvorkommendster Weise mit Zollstock und Winkelmaß annahmen, begierig, meine kühnsten Wünsche zu erfüllen – den Kostenpunkt hab’ ich vergessen.

So wollte mir meine wirtschaftliche Lage nur auf einer der vier Seiten gewähren, was ich mir wünschte. Aber auf welcher Seite?

Im Osten steht der lange Heerbann der Herdsteinberge, weithin gen Quito im Dunst versinkend; in jedem Herbst, an einem kühlen Morgen, schimmert dort von der höchsten Klippe ein weißes Flöckchen, das neugeborene Lamm, das früheste Vlies der Jahreszeit. Und im Weihnachtsdämmer sind die braunen Hochlande in rotgestreifte Decken und Mäntel eingehüllt: ein guter Anblick von deiner Veranda. Ein guter Anblick – aber im Norden steht Karl der Große: du kannst die Herdsteinberge nicht mit Karl dem Großen zusammen haben.

Also die Südseite. Da ragen Apfelbäume. Wie angenehm, an einem balsamischen Maimorgen dazusitzen und den Baumgarten mit seinen weißen Knospen wie im Brautschmuck prangen zu sehen, während er im Oktober dem grünen Hof eines Arsenals mit seinen Haufen rotbäckiger Munition gleicht. Sehr schön, ich gebe es zu – aber im Norden steht Karl der Große.

Sieh dir die Westseite an. Über eine Bergweide führt ein Weg in einen Ahornwald auf der Höhe. Wie lieblich, im erwachenden Lenz auf der Bergflanke, die sonst grau und öde daliegt, die ältesten Pfade an ihren Streifen vom frühesten Grün zu verfolgen. Lieblich allerdings, ich kann’s nicht leugnen – aber im Norden steht Karl der Große.

So trug es Karl der Große davon. Es war nicht lange nach 1848, und irgendwie besaßen damals die Könige auf der ganzen Welt die ausschlaggebende Stimme und stimmten für sich selber.

Kaum war der Grund umgebrochen, als die ganze Nachbarschaft – Nachbar Dives zumal – in lautes Gelächter ausbrach. Eine Veranda nach Norden! Eine Winterveranda! Will in Winternächten das Nordlicht beobachten, nehm’ ich an; hoffe, er hat sich einen guten Vorrat von Polarfahrermuffen und -handschuhen angelegt.

Also geschah’s im löwenhaften Monat März. Unvergessen sind die blauen Nasen der Zimmerleute und ihr Geschrei über die Einfalt des Spießers, der sich seine einzige Veranda an der Nordseite anbauen ließ. Aber der März währt nicht ewig; Geduld, es kommt auch ein August. Dann werfe ich, im kühlen Elysium meines nach Norden gelegenen Vogelbauers sitzend wie Lazarus in Abrahams Schoß, einen mitleidigen Blick zum armen alten Dives hinab, der im Fegefeuer seiner Südveranda schmachtet.

Aber selbst im Dezember hat diese Nordveranda nichts Abschreckendes, wenn sie auch noch so beißend kalt und zugig ist und der Nordwind den Schnee wie ein Müller zu feinstem Mehl beutelt; denn dann schreite ich wieder einmal bei der Umsegelung von Kap Horn mit gefrorenem Bart auf dem von Schloßen gepeitschten Schiffsdeck.

Auch im Sommer, wenn man hier wie ein Seekönig thront, wird man oft an das Meer erinnert. Lange Bodenwinde lassen das schiefe Korn wogen; Gräser kräuseln sich über die niedrige Veranda wie kleine Wellen auf den Strand; die Daunen des Löwenzahns fliegen wie Schaum umher; das Veilchenblau der Berge gleicht dem Veilchenblau der Dünung; ein stiller Augustnachmittag brütet über den Talwiesen wie eine Windstille über der Linie; auch sind Weite und Einförmigkeit so ozeanartig, daß der erste Blick, der auf ein fremdes Haus zwischen den Bäumen fällt, sage und schreibe ein unbekanntes Segel an barbarischer Küste zu erspähen meint.

Dabei muß ich nun an meine Binnenreise ins Elfenland denken. Eine wirkliche Reise: aber, nehmt alles in allem, so spannend, als ob sie erfunden wäre.

Von der Veranda hatte ich einen unbestimmten Gegenstand entdeckt, der sich allem Anschein nach heimlich in einer purpurrötlichen Brusttasche verbarg – hoch oben in einer trichterartigen Mulde oder einer Einsenkung zwischen den nordwestlichen Bergen. Ob er sich jedoch an einer Bergflanke oder auf einem Gipfel befand, ließ sich nicht ausmachen. Von günstigen Stellen gesehen, wird ein blauer Gipfel, der hinter den übrigen hervorlugt, über ihre Köpfe hinweg zu dir sprechen und dir ohne weiteres mitteilen, daß er, obgleich er (der blaue Gipfel) unter ihnen zu sein scheint, doch nicht zu ihnen gehöre (Gott bewahre!), und er würde dir einreden wollen, daß er sich – um die Wahrheit zu sagen, er hat ein gutes Recht dazu – für mehrere Ellen größer hält als sie. Dennoch drängen sich und folgen einander gewisse Bergketten, hie und da in doppelten Reihen wie Truppenkörper, mit ihren unregelmäßigen Formen und Höhen, so daß, von der Veranda gesehen, bei den meisten Wetterlagen ein näherer und niedrigerer Berg verblassend in einen ferneren und höheren übergeht. Daher scheint ein Gegenstand, der einsam auf dem Gipfel des ersteren steht, in die Flanke des letzteren eingebettet zu sein. Diese Berge spielen irgendwie miteinander Verstecken – und das alles vor deinen Augen.

Doch sei dies, wie es wolle – die fragliche Stelle lag jedenfalls so, daß sie nur unter gewissen zauberhaften Bedingungen von Licht und Schatten, und auch dann nur undeutlich, gesehen werden konnte.

Allerdings wußte ich ein Jahr oder länger überhaupt nicht, daß es eine solche Stelle gab, und vielleicht hätte ich es nie gewußt, wäre nicht jener magische Nachmittag im Herbst, spät im Herbst, gewesen – ein Nachmittag, wie für trunkene Dichter geschaffen. Die verfärbten Ahornwälder im weiten Talbecken unter mir hatten ihre ersten Scharlachtinten verloren und rauchten stumpf wie qualmende Städte, wenn die Flammen über ihrem Raub verglimmen. Das Gerücht wollte es, daß diese rauchige Beschaffenheit der Luft nicht völlig eine Wirkung des Nachsommers war – der für gewöhnlich nichts Kränkliches, sondern etwas Liebliches ist –, sondern größtenteils von fernen Wäldern in Vermont hergeweht wurde, die seit Wochen brannten. Kein Wunder, wenn der Himmel so düster war wie Hekates Kessel, wenn zwei Wanderer, die ein rotes Buchweizenstoppelfeld querten, dem schuldbeladenen Macbeth und dem ahnungsvollen Banquo glichen, und wenn die einsiedlerische Sonne, im Süden, wie es ihrem Stand entsprach, in einer Höhle verborgen, nicht viel mehr tat, als daß sie, mit dem Widerschein eines Strahlenbündels, das wie auf einem Simplonpaß durch das Gewölk schoß, unverwandt einen kleinen, runden, erdbeerroten Fleck auf die bleiche Wange der nordwestlichen Hügel malte. Ein Signal wie von einer Kerze. Eine strahlende Stelle, von Schatten umgeben.

Elfen, dachte ich; ein Hexenring, in dem Elfen tanzen.

 

Die Zeit verging; es war im nächsten Mai – nach einem sanften Regenschauer auf den Bergen, der, ganz für sich allein, durch neblige Fluten von Sonnenglanz fällt. Diese fernen Schauer, die, manchmal zu zweien, dreien und vieren, gleichzeitig an verschiedenen Stellen sichtbar werden, liebe ich von der Veranda zu beobachten und ziehe sie den Gewittern vor, die den alten Greylock vermummen wie den Berg Sinai, bis man den dunklen Moses zwischen stechenden Schierlingstannen hinaufklettern zu sehen meint. Nach diesem sanften Schauer also erschien ein Regenbogen, dessen Fuß genau an der Stelle ruhte, wo ich im Herbst das Zeichen erblickt hatte. Elfen, dachte ich und erinnerte mich daran, daß der Regenbogen die Blumen hervortreibt, und daß dein Glück, wenn du nur zu seinem Fuße gelangst, in Gestalt eines Sackes voll Gold gemacht ist. Der Fuß des Regenbogens, dachte ich – ich wollte, ich wäre dort. Und ich wünschte es mir um so mehr, als ich jetzt zum ersten Male etwas wie eine Schlucht oder Grotte an der Bergflanke zu bemerken glaubte. Zum mindesten glänzte es dort, was immer es war, durch den Regenbogen gesehen, wie die Silbermine von Potosi. Aber ein unpoetischer Nachbar sagte mir, es sei zweifellos nur eine verlassene alte Scheune, deren Breitseite eingestürzt war und die den Berghang zum Hintergrund hatte. Ich war zwar nie dort gewesen, wußte es aber besser.

Einige Tage später ließ heller Sonnenschein an der bewußten Stelle einen goldenen Funken aufflammen. Dieser Funke war so lebhaft, daß er nur aus Glas entspringen konnte. Das Gebäude – sofern es überhaupt ein Gebäude war – konnte wenigstens keine Scheune sein, schon gar nicht eine verlassene, in der seit zehn Jahren altes Heu faulte. Nein, wenn es von Menschen erbaut war, mußte es eine Hütte sein – vielleicht schon lange öde und baufällig, aber in diesem Lenz magisch herausgeputzt und glasiert.

An einem anderen Nachmittag bemerkte ich in derselben Richtung über schattendunklen Wipfeln gestaffelten Laubwerks einen breiteren Glanz wie von einem silbernen Schilde, der von einem geduckten Krieger in die Höhe gehalten wird. Dieser Glanz konnte, wie mich Erfahrung in diesen Dingen lehrte, nur von einem neu mit Schindeln belegten Dache stammen. Das überzeugte mich so ziemlich, daß die ferne Kate im Elfenland wieder bezogen worden war.

Tag für Tag spähte ich, von meiner Entdeckung gefangengenommen, sobald ich mir etwas Zeit von der Lektüre des ›Sommernachtstraums‹ und allem, was Titanien anging, absparen konnte, nach den Hügeln – jedoch vergebens. Entweder zogen Schattentruppen, langsam und feierlich wie eine kaiserliche Leibgarde, dahin, oder sie flohen, vom verfolgenden Lichte zerstreut, in breiter Front von Osten nach Westen, die alten Krieger Luzifers und Michaels wiederholend. Oder die Atmosphäre der Berge war, ungeachtet dieser scheinbaren Kämpfe am Himmel, aus anderen Gründen Elfengesichten abhold. Das machte mich traurig, zumal ich darauf für einige Zeit das Zimmer hüten mußte – und dieses Zimmer erlaubte keinen Blick auf die Hügel.

Schließlich sah ich an einem Septembermorgen, einigermaßen wieder wohlauf, auf der Veranda draußen, als unmittelbar hinter einer kleinen Schafherde eine Schar Bauernkinder auf dem Wege zur Nußernte vorbeilief und jauchzte: »Was für ein köstlicher Tag!« Freilich hätten ihn ihre Väter einen »Wetterbrüter« genannt. Ich war durch meine Krankheit so empfindlich geworden, daß ich es nicht ertragen konnte, ein von mir erworbenes chinesisches Schlinggewächs anzuschauen, das zu meinem Entzücken, an einem Pfahl der Veranda hinaufrankend, in sternartige Blüten ausgebrochen war, jetzt aber, wenn man nur die Blätter etwas beiseite schob, Millionen merkwürdiger nagender Würmer zeigte, die sich von diesen Blüten nährten, ihre liebliche Färbung angenommen und sie dadurch für immer häßlich gemacht hatten; zweifellos waren die Keime dieser Würmer schon in der Knolle gewesen, die ich so hoffnungsvoll gepflanzt hatte. So saß ich in der undankbaren Grämlichkeit meiner langwierigen Genesung da, als ich, plötzlich aufschauend, das goldene Bergfenster sah, blendend wie ein Delphin der Tiefsee. Elfen, dachte ich wieder; die Elfenkönigin an ihrem Elfenfenster, zumindest ein fröhliches Bergfräulein – ihr Anblick wird mir wohltun, wird meine Schwäche heilen. Nicht länger gezaudert! Jetzt will ich meinen Nachen zu Wasser bringen – freu dich, mein Herze, ahoi! – und absegeln ins Elfenland, zum Fuße des Regenbogens im Elfenland!

Wie und auf welcher Straße ich dahin gelangen sollte, wußt’ ich freilich nicht; auch konnte mich’s niemand lehren. Nicht einmal ein gewisser Edmund Spenser, der dort gewesen war, wie er mir schrieb, aber nichts weiter sagen konnte, als daß man, um ins Elfenland zu gelangen, hinreisen, aber fest im Glauben sein müsse. Ich nahm Kurs auf den Elfenberg und bestieg am ersten schönen Tage, sobald es meine Kräfte erlaubten, meinen Nachen – einen Nachen mit hohem Ledersattel –, band ihn los und fort segelt’ ich, ein freier Reisender auf einem Herbstblatt. Es war frühe Dämmerung, und wie ich gen Westen fuhr, säte ich den Morgen vor mir her.

Nach einem Ritt von ein paar Meilen gelangte ich in die Gegend der Hügel, konnte sie jedoch jetzt nicht sehen. Ich hatte den Weg nicht verloren; denn die Goldruten am Straßenrain zeigten mir wie Wegweiser zweifellos die Richtung zum goldenen Fenster an. Ihnen folgend, kam ich in eine öde und traurige Gegend, wo die grasigen Wege von schläfrigen Viehherden begangen waren, die der Tag weniger zu wecken als in ihrem Schlafwandel zu stören schien. Sie weideten nicht; denn Verwunschene essen nie. Das behauptet wenigstens Don Quijote, der weiseste aller Weisen, die je gelebt haben.

Ich ritt weiter und erreichte schließlich den Fuß des Elfenberges, sah aber noch keinen Hexenring. Eine Bergweide stieg vor mir an. Fünf vermodernde Stangen niederbrechend, die von so feuchtem Grün waren, daß sie aus einem versunkenen Wrack aufgefischt zu sein schienen, kam ein perückentragender alter Widder, langgesichtig und mit krummem Gehörn, schnuppernd heran. Dann wandte er sich ab und trollte längs einer Milchstraße von Silbergras, an blassen Sternhaufen kleiner Vergißmeinnicht vorbei, und hätte mich weiter auf seinem Sternenpfad geführt, wenn nicht güldene Scharen von Goldammern, zweifellos Lotsen zum goldenen Fenster, erschienen wären, die vor mir her von Busch zu Busch tiefen Wäldern entgegenflogen. Diese Wälder, an sich verlockend genug, dehnten sich hinter einem nicht minder verlockenden Gatter, das einen dunklen Weg versperrte, der freilich nach oben führte. Ich brach hindurch, als sich der Widder, zugunsten irgendeiner verlorenen Seele von mir ablassend, umdrehte und seiner vernünftigen Bahn folgte. Denn hier war für ihn verbotener Grund.

Eine Winterschneise, weithin mit einem Teppich von Wintergrün bedeckt. Am Rand kiesiger Wasser, die in der Einsamkeit um so lustiger blinkten, unter schwingenden Fichtenästen, die von keiner Jahreszeit geliebt wurden und doch in allen grünten, zog ich mit meinem Pferde dahin. Weiter, an einer alten Sägemühle vorbei, von Ranken gebunden und geknebelt, so daß sie ihre knarrende Stimme nicht mehr ertönen lassen konnte. Weiter, an einem Wildbach vorbei, der sich eine Gasse durch schneeweißen Marmor gebahnt, schimmernd in Frühlingsfarben, wo Stromschnellen an beiden Ufern hohle Kapellen aus dem Gestein gewaschen hatten. Weiter, wo Aronstäbe, ihrem biblischen Namen gemäß, nur der Wüste predigten. Weiter, wo ein mächtiger, grobkörniger Felsblock, in Farnkraut gebettet, ragte, den in verschollenen Zeiten Mensch um Mensch zu zerbrechen versucht hatte; aber für all ihre Mühe hatten sie nur ihre eisernen Keile verloren, die noch in ihren Löchern rosteten. Weiter, wo in grauer Vorzeit an den Stufen eines Wasserfalls schädelartige Töpfe durch einen ohn Unterlaß herumgewirbelten Feuerstein ausgehöhlt worden, der, andere abnutzend, selbst unabgenutzt blieb. Weiter, an wilden Gießbächen vorbei, die sich in heimliche Becken stürzten, in denen sie so lange kreisten, bis sie, besänftigt, still daraus abflossen. Weiter, über weniger zerklüfteten Grund und an einem kleinen Kreis vorbei, wo wirklich Elfen getanzt haben oder etwa Radreifen erhitzt worden sein mußten; denn alles war glattgewalzt. Und immer weiter, hinaus in einen abschüssigen Obstgarten, wo der jungfräuliche Halbmond von Osten auf mich herabsah.

Mein Pferd senkte den Kopf tiefer. Rote Äpfel rollten vor ihm über den Weg, Evas-Äpfel, von der Sorte »Such-nicht-weiter«. Es kostete einen, ich einen anderen: er schmeckte nach Erde. Noch immer nicht Elfenland, dachte ich und warf meinen Zügel nach einem knorrigen alten Baume, der einen Arm herauskrümmte, um ihn aufzufangen. Denn wo es jetzt weiterging, gab es keinen Pfad mehr, und ich mußte für mich allein und auf gut Glück gehen. Ich schritt durch Brombeerhecken, die mich zurückzuhalten suchten, obwohl ich doch nur nach fruchtlosen Berglorbeerbüschen strebte – über schlüpfrige Steilhänge zu kahlen Höhen, wo niemand wartete, mich willkommen zu heißen. Noch immer nicht Elfenland, dachte ich; doch hab’ ich den Morgen hier vor mir.

Einigermaßen fußwund und ermattet hatte ich das Ende meiner Fahrt noch immer nicht erreicht, fand aber bald einen rauhen Paß, der weiter nach oben führte. Ein Zickzackweg, halb von Heidelbeerbüschen übersponnen, wand sich zwischen Klippen hindurch. In ihren rissigen Wänden klaffte ein Spalt; dort zweigte ein schmaler Pfad ab, der, durch eine kurze Schlucht aufwärtsführend, in luftiger Höhe mündete. Hier senkte sich der Berggipfel, nach Norden teilweise von einem größeren Bruder geschützt, ein Stück sanft hernieder, ehe er dunkel abfiel. Und hier lief zwischen romantischen Felsen ein halb gebahnter Fußweg zu einer kleinen, niedrigen grauen Hütte hinauf, die mit einem spitzen Dach wie mit einer Nonnenhaube bedeckt war.

Das Dach war an einer Schrägseite vom Wetter dunkel verfärbt und nächst der Traufe mit samtartigem Grün bekleidet; zweifellos hatten hier Schneckenmönche moosige Klausen gefunden. Die andere Schrägseite war neu mit Schindeln belegt worden. Auf der Nordwand, die tür- und fensterlos war, glichen die rohen Schindeln den grünen Nordseiten flechtenbedeckter Kiefern oder kupferlosen Rümpfen japanischer Dschunken, die in einer Windstille lagen. Der ganze untere Teil war wie die benachbarten Felsen von Schattenreihen üppigsten Grases umsäumt; denn mit Herdsteinen hat es im Elfenland die Bewandtnis, daß der natürliche Fels, wiewohl ins Haus gestellt, bis zuletzt seinen befruchtenden Zauber behält wie auf offener Feldflur – notwendigerweise hier umgekehrt auf den Rasen am Hause wirkend. So sagt wenigstens Oberon, eine gewichtige Autorität auf dem Gebiet der Elfenweisheit. Lassen wir aber Oberon beiseite, so ist immerhin sicher, daß sogar in der Alltagswelt der Boden nahe an Bauernhäusern, wie nahe an Wiesenfelsen, stets, wenn auch ungedüngt, reicher ist als einige Meter weiter: eine solche sanfte, nährende Wärme wird dort ausgestrahlt.

Aber bei dieser Hütte hatten sich die Schattenstreifen am üppigsten an ihrer Vorderseite und um ihren Eingang entwickelt, wo sich die Grundschwelle und besonders die Schwelle der Tür tief eingesenkt hatten.

Weder ein Zaun noch eine Einfriedigung war zu erblicken. In der Nähe breiteten sich Farne, nichts als Farne; weiterhin Wälder, nichts als Wälder; jenseits Berge, nichts als Berge; und darüber Himmel, nichts als Himmel: himmlische Allmenden, auf denen der Bergmond weidet. Natur, nichts als Natur, das Haus und sogar ein kleiner Holzstoß aus Silberbirke eingeschlossen, zum Austrocknen locker aufgeschichtet, zwischen dessen silbernen Ruten sich wie durch das Gitter eines eingehegten Grabes Himbeerranken in allen Richtungen drängten, ihr Recht auf freie Bahn entschlossen verteidigend.

Der Fußpfad, so zierlich und schmal wie eine Schafspur, führte durch lange, niedergetretene Farnkräuter hindurch. Hier endlich ist Elfenland, dachte ich – hier wohnt Una mit ihrem Lamm. Wahrlich, eine winzige Klause – eine Art Palankin, auf den Gipfel gelegt wie auf eine Brücke zwischen zwei Welten, und doch zu keiner gehörig.

Es war eine schwüle Stunde. Ich trug einen leichten Hut aus gelbem Leinen und weiße Segeltuchbeinkleider, Überbleibsel von meinen Fahrten durch tropische Meere. Vom Farnkrautgestrüpp gehemmt, strauchelte ich leicht, und meine Knie färbten sich seegrün.

An der Schwelle oder vielmehr da, wo sich einmal eine solche befunden, blieb ich stehen und erblickte durch die offene Tür ein einsames Mädchen, das am einsamen Fenster nähte. Das Mädchen hatte blasse Wangen, und das Fenster war von Fliegen verunreinigt; Wespen summten um die ausgebesserten oberen Scheiben. Ich redete. Sie schrak leicht zusammen wie ein Mädchen aus Tahiti, das, für eine Opferhandlung verborgen, durch Palmen zum ersten Male Kapitän Cook erspähte. Nachdem sie ihre Fassung wiedererlangt, bat sie mich einzutreten, wischte mit ihrer Schürze einen Stuhl ab und setzte sich still wieder auf ihren eigenen. Dankend nahm ich den Stuhl; aber jetzt schwieg auch ich für eine Weile. Das ist also das Bergelfenhaus, und die Elfenkönigin sitzt an ihrem Elfenfenster.

Ich ging darauf zu. Unten, durch den tunnelartigen Hohlweg wie durch ein eingestelltes Fernrohr, sah ich die ferne, freundliche, azurblaue Welt. Ich erkannte sie kaum wieder, obwohl ich daher gekommen.

»Diese Aussicht muß Ihnen sehr gefallen«, sagte ich endlich.

»Ach, Herr«, antwortete sie, indem ihr Tränen in die Augen traten, »als ich zum ersten Male durch dies Fenster schaute, glaubt’ ich, ich könnt’ ihrer nie müde werden.«

»Und warum sind Sie ihrer jetzt müde?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie, und eine Träne fiel herab, »aber daran ist nicht die Aussicht, sondern Marianne selber schuld.«

Einige Monate vorher war ihr Bruder, der erst siebzehn Jahre zählte, nach langer Wanderung von der anderen Seite des Berges hierher gekommen, um Holz zu fällen und Kohle zu brennen, und sie, seine ältere Schwester, hatte ihn begleitet. Lange schon waren sie Waisen und jetzt die einzigen Bewohner des einzigen Hauses auf dem Berge. Kein Gast kam zu ihnen, kein Wanderer ging an ihrer Hütte vorüber. Der gefährliche Zickzackpfad wurde nur zu gewissen Jahreszeiten von den Kohlenwagen benutzt.

Der Bruder war den ganzen Tag, manchmal auch die ganze Nacht abwesend. Wenn er abends ermattet heimkehrte, vertauschte er bald seine Bank, der arme Junge, gegen sein Bett, wie ein Mensch, der müde zuletzt auch dieses gegen eine noch tiefere Ruhe vertauscht. Die Bank, das Bett und das Grab –

Schweigend stand ich am Elfenfenster, während mir diese Dinge erzählt wurden.

»Wissen Sie«, sagte sie schließlich, als ob sie sich von ihrer Geschichte losrisse, »wissen Sie, wer dort drüben wohnt? Ich bin noch nie in dem Lande da unten gewesen. Das Marmorhaus da hinten« – sie zeigte weit auf die Tallandschaft hinaus – »haben Sie’s noch nicht gefunden? An der langen Berglehne dort, mit dem Feld davor und den Wäldern dahinter; weißleuchtend gegen den blauen Himmel – das einzige Haus, das von hier zu sehen ist.«

Ich spähte und erkannte nach einer Weile zu meiner Überraschung – mehr nach der Lage als nach dem Aussehen oder der Beschreibung Mariannens – mein eigenes Heim, genauso schimmernd wie die Berghütte, von meiner Veranda gesehen. Die täuschenden Dünste ließen es weniger einem Bauernhaus als dem Wohnsitz des Zauberkönigs gleichen.

»Ich habe mich oft gefragt, wer dort wohnen mag, doch muß es ein Glücklicher sein. Erst heute morgen hab’ ich wieder daran gedacht.«

»Ein Glücklicher?« entgegnete ich erschreckend. »Und warum denken Sie das? Meinen Sie, ein Reicher wohne dort?«

»Ob reich oder nicht – das hab’ ich mir nie überlegt; aber es sieht so glücklich aus – ich kann nicht sagen wie, und es liegt so weit entfernt. Mitunter glaub’ ich, ich hätt’ es nur dorthin geträumt. Sie sollten es erst bei Sonnenuntergang sehen!«

»Gewiß wird der Sonnenuntergang es schön vergolden – aber wohl nicht mehr als der Sonnenaufgang diese Hütte.«

»Diese Hütte? Die Sonne meint es zwar gut; aber diese Hütte vergoldet sie nie. Warum sollte sie auch? Diese Hütte ist alt und verfällt; deshalb ist sie so bemoost. Am Morgen scheint die Sonne durch das alte Fenster hier herein, gewiß; es war zugenagelt, als wir kamen. Ich kann es einfach nicht sauberhalten – wieviel Mühe ich mich’s auch kosten lasse. Manchmal brennt die Sonne, und manchmal blendet sie mich beim Nähen und regt die Fliegen und Wespen auf – Fliegen und Wespen, wie man sie nur in alten Berghäusern kennt. Sehen Sie, dies ist mein Vorhang – die Schürze hier; ich versuche, es damit zu schließen. Sehen Sie, wie sie ausbleicht? Die Sonne – und dieses Haus vergolden? Das hat Marianne noch nie gesehen.«

»Weil Sie, wenn das Dach am schönsten vergoldet ist, hier drinnen sitzen.«

»Sprechen Sie von der heißesten und beschwerlichsten Stunde des Tages? Herr, dieses Dach vergoldet die Sonne nicht. Wie durchlöchert es war – der Bruder hat eine ganze Seite neu mit Schindeln gedeckt. Haben Sie es nicht gesehen? Die Nordseite, wo die Sonne höchstens streift, was der Regen durchnäßt hat. Die Sonne ist eine gute Sonne; aber zuerst verbrennt sie das Dach, und dann fault es. Ein altes Haus. Die Leute, die es bauten, sind nach Westen gegangen und schon lange tot, wie man sagt. Ein Berghaus. Im Winter könnte kein Fuchs darin hausen. Der Kamin war ganz mit Schnee gefüllt, wie ein hohler Baumstumpf.«

»Sie haben seltsame Phantasien, Marianne.«

»Sie geben ja nur die Dinge wieder.«

»Also hätte ich besser sagen sollen: ›Dies sind seltsame Dinge!‹?«

»Wie es Ihnen beliebt.« Mit diesen Worten nahm sie ihre Näharbeit wieder auf.

Etwas in ihren Worten oder in ihren stillen Gebärden ließ mich verstummen. Durch das Elfenfenster sah ich einen breiten Schatten herankriechen, als wäre er von einem riesigen, mit ausgebreiteten Schwingen lauernden Kondor geworfen, und ich bemerkte, wie er mit seinem tieferen, alles umschließenden Dunkel die kleineren Schatten von Felsen und Farnen in sich hineinsaugte.

»Sie betrachten die Wolke?« fragte Marianne.

»Nein, einen Schatten nur. Zweifellos den Schatten einer Wolke; aber sie selbst kann ich nicht sehen. Woher wissen Sie das übrigens? Ihre Augen ruhen doch auf Ihrer Arbeit.«

»Sie hat mir meine Arbeit verdunkelt. Da – jetzt ist die Wolke verschwunden, und Tray kommt zurück.«

»Wie?«

»Der Hund, der zottige Hund. Um Mittag schleicht er sich weg – von selbst, um seine Gestalt zu verändern; dann kommt er zurück und liegt eine Weile vor der Tür. Sehen Sie ihn denn nicht? Sein Kopf ist Ihnen zugewandt; aber als Sie kamen, blickte er vor sich nieder.«

»Ihre Augen ruhen doch immer auf Ihrer Arbeit. Wovon sprechen Sie also?«

»Er geht am Fenster vorbei.«

»Sie meinen den zottigen Schatten hier? Allerdings, wenn ich ihn jetzt ansehe, ähnelt er wirklich einem großen, schwarzen Neufundländer. Der siegreiche Schatten ist gegangen, und der besiegte kehrt zurück. Aber ich kann nicht sehen, welcher Gegenstand ihn wirft.«

»Da müssen Sie hinausgehen.«

»Wahrscheinlich einer der grasbedeckten Felsen.«

»Sehen Sie seinen Kopf, sein Gesicht?«

»Des Schattens? Sie reden, als ob Sie ihn sähen, und doch ruhen Ihre Augen die ganze Zeit auf der Arbeit.«

»Tray sieht Sie an«, sagte sie, immer noch ohne aufzublicken, »dies ist seine Stunde. Ich sehe ihn.«

»Haben Sie so lange an diesem Bergfenster gesessen, wo nur Wolken und Dünste vorüberziehen, daß für Sie die Schatten Dinge geworden sind, wenn Sie auch von ihnen sprechen wie von Gespenstern? Daß Sie durch vertraute Kenntnis, die wie ein zweites Gesicht wirkt, ohne nach ihnen zu schauen, genau sagen können, wo sie sind, obgleich sie wie auf Mäusefüßen huschen, kommen und gehen? Daß für Sie diese leblosen Schatten wie lebende Freunde sind, die, wenn auch unsichtbar, doch in Ihren Gedanken, sogar mit ihrem Aussehen, leben? Ist es so, Marianne?«

»Auf diese Art hab’ ich noch nie daran gedacht. Aber der freundlichste von allen, der meine Müdigkeit immer so gut zu lindern wußte, wenn er kühl auf den Farnen zitterte – er wurde mir genommen, um nie wiederzukehren wie Tray soeben: der Schatten einer Birke. Der Baum wurde vom Blitz getroffen, und mein Bruder hat ihn zerstückelt. Sie haben den Holzstoß vor der Tür gesehen, die begrabene Wurzel liegt darunter, aber der Schatten nicht. Der ist geflohen und wird nie zurückkehren, sich nie wieder irgendwo regen.«

Eine andere Wolke schlich vorbei, die wieder den Hund auslöschte und den ganzen Berg verdunkelte; dabei herrschte eine so tiefe Stille, daß die Taubheit sich selbst hätte vergessen oder glauben können, daß die lautlosen Schatten sprächen.

»Vögel, Marianne, Singvögel höre ich keine hier; ich höre überhaupt nichts. Knaben und Stare – kommen sie nie zur Beerenlese auf diesen Gipfel?«

»Vögel hör’ ich selten, Knaben nie. Die Beeren reifen zumeist und fallen ab – wenige, außer mir, werden’s gewahr.«

»Aber Goldammern haben mir wenigstens ein Stück des Weges gezeigt.«

»Und sind dann zurückgeflogen. Ich denke mir, sie tummeln sich an den Berghängen, wählen sich aber nicht den Gipfel zur Wohnung. Wenn man so einsam hier lebt, nichts weiß, nichts hört – höchstens das Rollen des Donners und das Fallen der Bäume – nie liest, selten spricht, aber immer wacht – zweifellos glauben Sie, daß dies mir meine seltsamen Gedanken eingibt (denn so nennen Sie sie): dieses Müde- und Wachsein in einem. Mein Bruder, der im Freien steht und schafft – ich wollt’, ich könnte Ruhe finden wie er; aber mein Tun ist meist langweilig Frauenwerk – sitzen, sitzen, ruhelos sitzen.«

»Gehen Sie nicht manchmal spazieren? Dies sind weite Wälder hier.«

»Und einsame Wälder. Einsam, weil sie so weit sind. Manchmal freilich, an Nachmittagen, geh’ ich ein Stückchen; aber bald komm’ ich wieder zurück. Besser ist’s, sich am Herd einsam zu fühlen als zwischen den Felsen. Diese Schatten hier kenne ich – die in den Wäldern sind mir fremd.«

»Aber in der Nacht?«

»Ist’s wie am Tage. Denken, denken – ein Rad läßt sich nicht aufhalten; nur der Wunsch nach Schlaf dreht es immerfort.«

»Ich habe gehört, daß man bei dieser überwachen Müdigkeit Gebete sprechen und dann den Kopf auf ein frisches Kissen legen soll –«

»Sehen Sie!«

Sie zeigte durchs Elfenfenster den Hang hinunter nach einem kleinen Garten in der Nähe – einem Blumentopf voll gehäufelter Erde, halb von schützenden Felsen eingefaßt; dort wanden sich, einige Fuß voneinander getrennt, zwei Hopfenranken, schwächlich und verkümmert, an zwei Stäben hinauf und wollten, oben angekommen, zueinander gelangen; aber die genarrten Schößlinge tasteten ein Weile in der leeren Luft, bis sie wieder dahin zurückkrochen, woher sie abgeschnellt waren.

»Sie haben es also mit dem Kissen versucht?«

»Ja.«

»Und auch mit den Gebeten?«

»Mit Gebeten und Kissen.«

»Gibt es denn kein anderes Mittel, keinen anderen Zauber?«

»Ach, wenn ich nur einmal nach jenem Hause gelangen und sehen könnte, wer das glückliche Wesen ist, das es bewohnt! Ein närrischer Gedanke – warum muß ich ihn nur denken? Vielleicht, weil ich hier so einsam lebe und gar nichts weiß?«

»Auch ich weiß nichts; deshalb kann ich Ihnen nicht antworten. Aber Ihretwegen, Marianne, wünscht’ ich mir, daß ich der Glückliche in dem glücklichen Hause wäre, das Sie zu sehen träumen. Denn dann könnten Sie ihn jetzt anblicken, und die Müdigkeit, von der Sie sprechen, verließe Sie vielleicht.«

Genug! Ich wende meinen Nachen nicht mehr zum Elfenlande, sondern bleibe auf meiner Veranda. Sie ist meine Königsloge, dieses Amphitheater hier mein San-Carlo-Theater. Ja, es ist eine zauberische Bühne, die Illusion vollkommen. Frau Wiesenlerche, meine Primadonna, gibt hier ihre große Gastrolle; und wenn ich ihre Sonnenaufgangsnote trinke, die wie die Memnonsäule vom goldenen Fenster zu tönen scheint – wie weit ist dann das müde Gesicht dahinter von mir entfernt!

Aber allabendlich, wenn der Vorhang fällt, kommt mit dem Dunkel die Wahrheit. Kein Licht schimmert vom Berge. Hin und her wandere ich auf meiner Veranda, verfolgt vom Antlitz Mariannens und mancher wahren Geschichte.

Bartleby

Ich bin schon ein älterer Mann. Die Art meiner beruflichen Tätigkeit hat mich in den letzten dreißig Jahren in ungewöhnlich enge Berührung mit einem Personenkreis gebracht, den man wohl interessant und einzigartig nennen kann und über den bis jetzt – soviel ich weiß – noch nichts geschrieben worden ist – nämlich die Gerichtsschreiber, überhaupt die beruflichen Schreiber. Ich kenne viele im Berufsleben und privat, und wenn ich wollte, könnte ich ein paar Geschichten erzählen, über die würden gutmütige Männer vielleicht lächeln, und gefühlvolle Seelen würden vielleicht darüber weinen. Aber ich verzichte auf alle Berichte über das Leben anderer Schreiber, um ein paar Abschnitte aus dem Leben Bartlebys zum besten zu geben; denn er war der sonderbarste Schreiber, den ich je gesehen und von dem ich je gehört habe. Bei anderen Gerichtsschreibern könnte ich das ganze Leben schildern, aber nicht bei Bartleby. Ich glaube, für eine lückenlose und befriedigende Biographie dieses Mannes gäbe es gar kein Material – ein unersetzlicher Verlust für die Literatur. Bartleby gehört zu jenen, über die nichts zu erkunden ist, wenn man es nicht aus Originalquellen bezieht, und diese sind in seinem Falle sehr unzulänglich. Ich weiß nichts weiter von Bartleby als das, was meine eigenen erstaunten Augen sahen, allerdings mit Ausnahme eines unklaren Berichts, der nachher noch angefügt werden soll.

Bevor ich den Schreiber so einführe, wie er zuerst bei mir auftrat, ist es wohl angebracht, daß ich etwas über mich selber sage, über meine Angestellten, meine Tätigkeit, meine Zimmer und meine Umgebung im allgemeinen, da solche Beschreibung für ein entsprechendes Verständnis des Hauptcharakters, der dargestellt werden soll, unerläßlich ist. So will ich vorausschicken: Ich bin ein Mann, der von Jugend auf von der tiefen Überzeugung erfüllt war, die leichteste Art zu leben sei die beste. Und wenn ich auch einem Beruf angehöre, der sprichwörtlich energisch und nervös ist, zuweilen bis zur Heftigkeit, habe ich daher doch nie geduldet, daß irgendeine Störung solcher Art in meinen Frieden einbreche. Ich bin einer jener Rechtsanwälte, die keinen Ehrgeiz haben, die niemals ein Urteil anfechten oder sonst irgendwie den Beifall des Publikums auf sich lenken, sondern in der kühlen Ruhe behaglicher Zurückgezogenheit gemächlich ihre Geschäfte erledigen – Schuldverschreibungen von reichen Leuten, Hypotheken und Eigentumsurkunden. Alle, die mich kennen, schätzen mich als außerordentlich zuverlässig. Der verstorbene John Jakob Astor, dessen Natur wenig zu schwärmerischer Begeisterung neigte, gab ohne weiteres zu, daß meine stärkste Seite Vorsicht sei und meine zweitstärkste Methode. Ich sage das nicht aus Selbstgefälligkeit, sondern ich erwähne nur die Tatsache, daß ich in meinem Beruf auch den verstorbenen John Jakob Astor zu meinen Klienten zählte. Ich will zugeben, daß ich den Namen gern wiederhole: er hat solch einen runden kugligen Ton und klingt ganz nach Gold. Ich will auch offen gestehen, daß ich gegen des verstorbenen John Jakob Astor gute Meinung nicht unempfindlich war.

Kurz vor der Zeit, zu der diese kleine Geschichte beginnt, waren meine Geschäfte außerordentlich angewachsen. Das gute, alte Amt eines Referenten im Kanzleigericht, das es heute im Staate New York nicht mehr gibt, war mir übertragen worden. Es war kein sehr mühsames Amt, aber es brachte erfreulich viel ein. Ich werde zwar selten heftig, und noch seltener gebe ich in bedenklicher Erregung Ungerechtigkeiten und Empörung Raum, aber hier muß man mir doch einmal gestatten, offen zu sein und erklären zu dürfen, daß ich die plötzliche unvermittelte Abschaffung des Postens eines Kanzleigerichtsreferenten durch die neue Konstitution für überstürzt halte, insofern nämlich, als ich auf einen lebenslänglichen Gewinn daraus gehofft hatte, und nun hatte ich ihn nur ein paar kurze Jahre hindurch. Doch dies nur nebenbei.

Meine Räume waren in der Wallstreet No.– in einem der oberen Stockwerke gelegen. Auf einer Seite sah man auf die weiße Wand – das Innere eines geräumigen Lichtschachtes, der sich durch das ganze Haus zog vom Dach bis zum Erdgeschoß.

Diesen Anblick konnte man kaum anders als langweilig nennen; denn es fehlte ihm ganz und gar, was die Maler »Leben« nennen. Dazu bildete die Aussicht vom anderen Ende meiner Zimmer wenn nicht mehr, doch zumindest einen Gegensatz. In dieser Richtung boten meine Fenster einen ungehinderten Blick auf eine hohe Ziegelmauer, schwarz von Alter und immerwährenden Schatten. Um die verborgenen Schönheiten dieser Mauer zu entdecken, brauchte man kein Fernglas; denn zum Glück für alle kurzsichtigen Betrachter war sie mir auf zehn Fuß vor mein Fenster gesetzt. Da meine Zimmer im zweiten Stock lagen und die Gebäude sehr hoch waren, erinnerte der Raum zwischen dieser Mauer und der meinen nicht wenig an eine große viereckige Zisterne.

In der Zeit unmittelbar vor dem Auftauchen Bartlebys beschäftigte ich zwei Leute als Schreiber und einen hoffnungsvollen Jüngling als Laufburschen. Der erste war Turkey – Truthahn, der zweite Nippers, das heißt Kneifer, und der dritte Ginger Nut, das bedeutet Ingwerkeks. Dies sind wohl Namen, wie man sie nicht so leicht im Adreßbuch findet, und sie waren auch wirklich Spitznamen, die meine drei Schreiber sich gegenseitig gegeben hatten, und sie glaubten, ihre ehrenwerten Personen und ihre Charaktere seien damit hinreichend bezeichnet. Truthahn war ein kleiner beleibter Engländer, ungefähr in meinem Alter – also etwa um die sechzig. Am Morgen war sein Gesicht, man möchte sagen, von zarter rötlicher Färbung, aber nach zwölf Uhr mittags – seiner Essenszeit – glühte es wie ein Kamin voller Weihnachtskohlen und glühte immerfort – aber gleichsam immer mehr abnehmend – bis ungefähr um sechs Uhr; danach sah ich nichts mehr von dem Eigentümer des Gesichts, das seinen Glutgipfel mit der Sonne erreichte und mit ihr unterzugehen schien, um am nächsten Tag mit gleicher Regelmäßigkeit und unverminderter Pracht sich zu erheben, seinen Höhepunkt zu überschreiten und abzusteigen. Im Laufe meines Lebens habe ich viel Sonderbares gesehen, und nicht das geringste darunter war die Tatsache, daß mit dem kritischen Moment, da Truthahn auf seinem roten glühenden Gesicht seine vollsten Strahlen entfaltete, dann auch die Tageszeit begann, in der ich seine geschäftlichen Fähigkeiten für den Rest der vierundzwanzig Stunden als ernstlich gestört betrachten mußte. Nicht, daß er dann ganz faul gewesen wäre oder sich vor der Arbeit gedrückt hätte – im Gegenteil. Die Schwierigkeit lag darin, daß er dann im allgemeinen dazu neigte, allzu energisch aufzutreten. Dann entfaltete er eine sonderbar erregte, ruhelose, flüchtige und unbesonnene Geschäftigkeit. Ständig tauchte er dann seinen Federhalter unvorsichtig ins Tintenfaß. Alle seine Kleckse auf meinen Dokumenten waren nach zwölf Uhr mittags entstanden. Ja, er war am Nachmittag nicht nur unüberlegt und leicht geneigt, Kleckse zu machen, sondern an manchen Tagen ging es so weit, daß er ziemlich herumlärmte. Auch flammte zu solchen Zeiten sein Gesicht in noch vermehrter Pracht, wie wenn Cannelkohle auf Anthrazit geschüttet wird. Er machte einen fürchterlichen Lärm mit seinem Stuhl; er verschüttete sein Sandfaß; wenn er seine Federn reparierte, spaltete er sie dabei alle in Stücke und schleuderte sie in plötzlicher Wut auf die Erde, stand auf, lehnte sich über seinen Tisch und schob dabei seine Papiere in einer unglaublichen Art auf dem Tisch herum, was bei einem älteren Mann sehr betrüblich anzusehen war. Doch in mancher Hinsicht war er mir sehr wertvoll, und die ganze Zeit vor zwölf Uhr mittags arbeitete er schnell und zuverlässig und erledigte vieles auf eine Art und Weise, die ihresgleichen sucht; aus diesen Gründen war ich trotzdem bereit, seine Schrullen zu übersehen, wenn ich ihm auch freilich gelegentlich Vorhaltungen machte. Ich tat dies jedoch sehr vorsichtig; denn war er auch am Morgen äußerst höflich, ja, denkbar sanftmütig und ergeben, so war es doch am Nachmittag leicht möglich, daß auf eine Herausforderung seine Zunge mit ihm durchging, ja, sogar, daß er unverschämt wurde. Da ich nun seine morgendlichen Dienste so würdigte und entschlossen war, sie mir nicht zu verscherzen, doch zugleich auch von seiner nervösen Art nach zwölf Uhr unangenehm berührt und nicht gewillt war, mit meinen Ermahnungen unziemliche Erwiderungen von seiner Seite herauszufordern, entschloß ich mich als friedliebender Mann, ihm an einem Sonnabendmittag (am Sonnabend war er immer besonders schlecht aufgelegt) sehr freundlich anzudeuten, daß es vielleicht, da er nun doch schon alt würde, besser sei, seine Arbeitszeit zu verkürzen; kurz, daß er nach zwölf Uhr nicht mehr ins Büro zu kommen brauche, sondern daß er nach dem Essen am besten nach Hause in seine Wohnung ginge und sich bis zum Tee ausruhen sollte. Aber nein – er bestand auf seinen Nachmittagsdienst. Sein Gesicht fing an, unerträglich zu glühen, als er mir mit Rednerallüren darlegte, daß seine Dienstleistungen, wenn sie des Morgens nützlich seien, am Nachmittag doch geradezu unentbehrlich wären. Dabei fuchtelte er am anderen Zimmerende mit dem Lineal herum.

»Mit Verlaub, Herr«, sagte Truthahn bei dieser Gelegenheit, »ich glaube doch, ich bin Ihre rechte Hand. Am Morgen ordne ich meine Kolonnen und stelle sie auf, am Nachmittag aber trete ich an ihre Spitze und greife den Feind an mit aller Tapferkeit – so«, und er hieb heftig mit dem Lineal.

»Aber die Kleckse, Truthahn«, gab ich zu bedenken.

»Das stimmt; aber mit Verlaub, Herr, sehen Sie dieses Haar! Ich werde alt – ein oder zwei Kleckse an einem hitzigen Nachmittag, Herr – das können Sie doch nicht im Ernst gegen graues Haar anführen. Alter ist der Ehren wert – wenn man auch mal eine Seite bekleckst. Mit Verlaub, Herr – wir werden beide alt!«

Diesem Appell an mein Solidaritätsgefühl konnte ich kaum widerstehen. Ich sah auf jeden Fall, daß er nicht gehen würde, und so entschloß ich mich, ihn bleiben zu lassen, aber trotzdem zuzusehen, daß er am Nachmittag immer nur mit meinen weniger wichtigen Papieren zu tun hatte.

Kneifer, der zweite im Bunde, war ein bärtiger, bleicher junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, der im großen ganzen den Eindruck eines Seeräubers machte. Ich sah ihn immer als Opfer zweier böser Mächte: seines Ehrgeizes und schlechter Verdauung. Der Ehrgeiz bekundete sich in einer gewissen Ungeduld bei seiner bloßen Schreibtätigkeit und unverantwortlichen Eingriffen in streng berufliche Angelegenheiten, etwa das Entfernen von Originaltexten für Rechtsurkunden. Anzeichen für schlechte Verdauung waren eine gelegentliche nervöse Verdrießlichkeit und eine Reizbarkeit, die ihn hörbar mit den Zähnen knirschen ließ, wenn ihm beim Abschreiben Fehler unterliefen, unnötiges Fluchen im Eifer der Arbeit, mehr gezischt als gesprochen, und besonders eine dauernde Unzufriedenheit mit der Höhe des Tisches, an dem er arbeitete. Obwohl dieser Tisch eine sehr sinnreiche Mechanik hatte, konnte Kneifer nie mit ihm zurechtkommen. Er legte Holzstücke unter, Klötze von der verschiedensten Größe, und Pappe, und endlich versuchte er es sogar mit einer ganz besonderen Vorrichtung – mit gefalteten Stücken von Löschpapier. Aber es half alles nichts. Wenn er, um es seinem Rücken leichter zu machen, die Tischplatte in einem spitzen Winkel fast bis ans Kinn brachte und darauf schrieb wie einer, der das steile Dach eines Holländerhauses als Schreibpult benutzt, behauptete er, das störe den Blutkreislauf in seinen Armen. Wenn er nun den Tisch bis zu seinem Rockbund herabließ und sich beim Schreiben drüberbückte, bekam er schreckliche Rückenschmerzen. Kurz, die Sache war die, daß Kneifer nicht wußte, was er wollte, oder wenn er überhaupt etwas wollte, dann wollte er seinen Schreibtisch ganz und gar los sein. Zu den Äußerungen seines krankhaften Ehrgeizes gehörte es, daß er mit Vorliebe Besuche von gewissen zweideutig aussehenden Personen in schäbigen Überziehern empfing, die er seine Klienten nannte. Es fiel mir tatsächlich auf, daß er nicht nur zuzeiten ein bedeutender Wahlpolitiker war, sondern sich gelegentlich ein wenig in den Gerichtshöfen betätigte und auf den Stufen des Stadtgefängnisses nicht unbekannt war. Indessen habe ich doch guten Grund anzunehmen, daß alle, die ihn in meinen Amtsräumen aufsuchten und mit großartiger Miene darauf bestanden, seine Klienten zu sein, nichts weiter waren als Gläubiger und daß die angebliche Eigentumsurkunde eine Rechnung war. Aber mit allen seinen Fehlern und bei allem Ärger, den er mir machte, war Kneifer wie sein Landsmann Truthahn doch sehr nützlich für mich; er schrieb eine saubere, schnelle Hand; und wenn er wollte, konnte er sich recht gesittet betragen. Überdies kleidete er sich immer vornehm, und so brachte er meine Amtsräume in guten Ruf, während ich bei Truthahn immer darauf sehen mußte, daß er mein Geschäft nicht in Mißkredit brachte. Seine Kleider sahen leicht ölig aus und rochen nach Speisehäusern. Im Sommer trug er seine Hosen ganz locker und wie Säcke. Seine Mäntel waren scheußlich, gar nicht zu reden von seinem Hut. Aber während der Hut mir gleichgültig war, da seine natürliche Höflichkeit und Ergebenheit ihn als einen Engländer in abhängiger Stellung veranlaßten, diesen sofort abzunehmen, wenn er ins Zimmer trat, war es doch anders bei seinem Mantel. Über seine Mäntel verhandelte ich mit ihm, aber ohne Erfolg. Wahrscheinlich kann eben ein Mann mit einem so niedrigen Einkommen solch ein leuchtendes Gesicht und einen prächtigen Mantel auf einmal nicht tragen. Wie Kneifer einmal bemerkte, gab Truthahn sein Geld hauptsächlich für rote Tinte aus. Eines Tages im Winter schenkte ich Truthahn einen sehr respektabel aussehenden Mantel von mir – einen gefütterten grauen Mantel, behaglich warm und mit einer Knopfreihe vom Hals bis zu den Knien. Ich dachte, Truthahn würde diese Gunst zu würdigen wissen und seine Hast und sein Lärmen des Nachmittags würden nachlassen. Aber nein! Ich glaube wirklich, es hatte einen schädlichen Einfluß auf ihn, sich in solch einen molligen Mantel einzuknöpfen, der übrigens einer Pferdedecke ähnelte – so wie man sagt, daß zuviel Hafer den Pferden nicht gut tut. Wahrhaftig – genauso wie es heißt, der Hafer sticht ein wagehalsiges, störrisches Pferd, so wurde Truthahn von seinem Mantel angestachelt. Er machte ihn unverschämt. Er war ein Mensch, auf den Besitz einen schlechten Einfluß ausübte.

Über Truthahns Genießergewohnheiten hegte ich freilich meine eigenen privaten Vermutungen, doch in Hinsicht auf Kneifer war ich voll und ganz überzeugt, daß er doch zumindest ein enthaltsamer junger Mann sei, was er auch in anderer Beziehung noch für Fehler haben mochte. Freilich schien die Natur selber sein Weinhändler zu sein und ihn bei seiner Geburt so gründlich mit einer reizbaren branntweinartigen Veranlagung belastet zu haben, daß alle nachfolgenden Zechereien überflüssig waren. Wenn ich bedenke, wie Kneifer sich zuweilen – mitten in der Stille meiner Amtsräume – ungeduldig von seinem Sitz erhob, sich über den Tisch beugte, seine Arme weit auseinanderbreitete, das ganze Pult ergriff, aufhob und mit einer qualvoll grimmigen Bewegung in den Boden rammte, als sei der Tisch ein Agent, der sich mit Absicht widerspenstig zeige, um ihn zu ärgern und ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen, sehe ich ganz klar, daß Kneifer Branntwein nicht nötig hatte.

Es war ein Glück für mich, daß auf Grund ihrer besonderen Ursache – der schlechten Verdauung – die Reizbarkeit und daraus folgende Nervosität von Kneifer sich hauptsächlich des Morgens bemerkbar machte, während er am Nachmittag verhältnismäßig umgänglich war, so daß ich mich, da Truthahns Anfälle gegen zwölf Uhr ihren Anfang nahmen, nie zur gleichen Zeit mit ihren Schrullen plagen mußte. Ihre Anfälle lösten einander ab wie Wachen. Wenn Kneifer seinen hatte, war Truthahn normal und umgekehrt. Dies war unter den gegebenen Umständen eine gute Einrichtung der Natur.

Ingwerkeks, der dritte im Bunde, war ein Bursche von etwa zwölf Jahren. Sein Vater war ein Kärrner, und es war sein Ehrgeiz, seinen Sohn beim Gericht zu sehen und nicht am Karren, bevor er starb. So schickte er ihn in mein Büro als Studenten der Rechte und Laufburschen und zum Reinemachen und Staubwischen für einen Dollar Wochenlohn. Er hatte ein kleines Pult für sich, aber er benützte es nicht oft. Die Schublade brachte bei einer Untersuchung eine Menge Nußschalen aller Art an den Tag. Und in der Tat lag die ganze edle Wissenschaft des Rechts für diesen aufgeweckten jungen Mann in einer Nußschale beschlossen. Nicht die niedrigste unter Ingwerkeksens Beschäftigungen und die, der er mit der größten Bereitwilligkeit nachging, war seine Pflicht, Truthahn und Kneifer mit Kuchen und Äpfeln zu versorgen. Da das Abschreiben von Rechtsdokumenten eine sprichwörtlich trockene, Durst erregende Tätigkeit ist, waren meine Schreiber genötigt, ihre Münder oft mit »Spitzenbergs« anzufeuchten, die man in den vielen Städten in der Nähe des Zoll- und Postamtes bekam. So schickten sie denn Ingwerkeks sehr oft nach diesen merkwürdigen Kuchen – klein, flach, rund und sehr würzig – und danach hatten sie ihn dann genannt. An einem ruhigen Morgen, als das Geschäft nur flau war, verschlang Truthahn Dutzende von diesen Kuchen, als wären sie nur Waffeln – sie werden freilich auch zu sechs oder acht Stück für einen Cent verkauft – und das Kratzen seiner Feder mischte sich mit dem Krachen der knusprigen Stückchen in seinem Mund. Eins jener vielen Mißgeschicke und überstürzten Hitzigkeiten, die Truthahn am Nachmittag unterliefen, war es, einen Ingwerkeks zwischen seinen Lippen anzufeuchten und ihn dann wie ein Siegel auf eine Hypothek zu klatschen. Ich hätte ihn fast deswegen entlassen. Aber er besänftigte mich mit einer orientalischen Verneigung, indem er sagte: »Mit Verlaub, Herr, wie großzügig von mir, Sie auf eigene Rechnung mit Schreibmaterial zu versorgen.«

Nun war meine eigentliche Tätigkeit, die eines Notars, Titelinhabers und Aufzeichners von Geheimdokumenten aller Art, beträchtlich erweitert durch das Amt des Referenten. Es gab viel Arbeit für die Schreiber. Ich mußte nun nicht nur meine Angestellten mitschleifen, sondern außer ihnen noch eine Hilfe haben.

Auf meine Annonce hin stand eines Morgens ein junger Mann unbeweglich auf der Schwelle meines Büros. Die Tür war geöffnet, denn es war Sommer. Ich sehe die Gestalt noch heute – blaß und sauber, dürftig, anständig und unendlich hilflos. Es war Bartleby.

Nach ein paar Worten über seine Tauglichkeit stellte ich ihn an und war froh, in meiner Schreiberformation einen Mann von so unvergleichlich ruhiger Erscheinung zu haben, von dem ich glaubte, er könne auf das flüchtige Temperament von Truthahn und das feurige von Kneifer nur wohltätig einwirken.