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Melia ist ein Springer und das eigentlich schon seit ihrer Geburt. Ihre Aufgabe ist es, die Welten miteinander zu vereinen und mit ihren magischen Fähigkeiten dort zu helfen, wo ihre Bestimmung sie hinführt. Immer wiederkehrende beunruhigende Träume führen sie dieses Mal nach Bidu. Die lebensfrohe, bunte Welt von Bidu, wird von einem grausamen Schatten heimgesucht, der alles Leben, einschliesslich der Farben die mit ihm in Berührung kommen, auslöscht. Mit der Hilfe von Seo, einem Bidujungen, versucht Melia dem Schatten Einhalt zu gebieten. Doch seltsame Zwischenfälle durchkreuzen immer wieder ihre Pläne. Zufall, oder ist der Schatten nicht die einzige Gefahr? Und dann ist da noch dieser mysteriöse Fremde, den sie aus der Kammer der Finsternis zu befreien versuchen.
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Seitenzahl: 429
Veröffentlichungsjahr: 2023
Melia und der Schatten von Bidu
Teil 2
Green T.
© 2022 Green T.
ISBN Softcover: 978-3-347-65895-0
ISBN Hardcover: 978-3-347-65898-1
ISBN E-Book: 978-3-347-65904-9
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Die Biduwelt und der Junge
Ona der Albino
Der berüchtigte Trakt Nummer 3
Die Testergebnisse und was nun?
Die rettende Lösung greifbar nahe?
Ein fast perfekter Plan
Verrat
Der Fremde
Das Unheil nimmt seinen Lauf
Alles doch ganz anders
Das Geheimnis des zerknüllten Stück Papiers
Leben, Tod, Neuanfang
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Die Biduwelt und der Junge
Leben, Tod, Neuanfang
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Die Biduwelt und der Junge
Verwirrt starrte Melia in zwei wunderschöne bernsteinfarbene Augen. Komisch, dachte sie. Wie war das denn möglich, sie lag doch im Bett und träumte!
Vorsichtig hob sie ihre Hand und berührte das Gesicht, zu welchem die schönen Augen gehörten. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und richtete sich hastig auf. Das war kein Traum. Das Gesicht vor ihr, das zu ihrem Unmut einem äußerst hübschen Jungen gehörte, war echt. Bei ihrem hastigen Versuch sich aufzurichten, stieß sie natürlich mit dem Kopf des Jungen zusammen. Beide wichen zurück und rieben sich die schmerzende Stelle am Kopf. Nachdem der erste Schreck verflogen war, ärgerte sie sich stattdessen über den hübschen Jungen. Was machte dieser Typ eigentlich in ihrem Zimmer, dachte sie empört. Bevor sie ihrem Ärger aber Luft machen konnte, kam ihr dieser Kerl auch noch zuvor.
«Wieso hast du so geschrien? Du hast beinahe das ganze Haus aufgeschreckt», bluffte er sie an. Dabei verschränke er die Arme vor der Brust. Sein Gesichtsausdruck war nun nicht mehr besorgt wie noch einige Augenblicke zuvor, sondern verärgert.
Verdattert richtete sich Melia etwas auf und schaute ihn an. «Wieso denn geschrien? Ich bin doch nur aus einem Traum hochgeschreckt», rief sie entrüstet. «Und was machst du überhaupt in meinem Zimmer?»
«Du hast definitiv geschrien, oder wieso glaubst du, stehe ich halb nackt mitten in der Nacht in deinem Zimmer? Dein Geschrei war auch der Grund weshalb ich in DEIN Zimmer gerannt bin», dabei betonte er das DEIN besonders, was Melia aber nicht wirklich verstand. Herausfordernd zog der Junge eine Augenbraue hoch und blickte sie erwartungsvoll an.
Melias Blick wanderte von seinen Augen abwärts über seinen nackten Oberkörper, den langen, blau schimmernden Hosen die er trug, bis zu seinen nackten Füßen die darunter hervorschauten. Mehr Wärme stieg ihr ins Gesicht und sie war sich sicher, mittlerweile wie eine reife rote Tomate zu leuchten. Peinlich berührt, betrachtete sie eingehend ihre Hände.
«Es war nicht meine Absicht, irgendjemanden aufzuschrecken. Ich muss wohl schlecht geträumt haben.»
«Vielen Dank für diese aufschlussreiche Enthüllung, so viel habe ich auch schon mitbekommen. Was mich hingegen brennen interessieren würde, ist was du geträumt hast», kam die bissige Antwort.
Langsam kehrte die Erinnerung an das vor einigen Stunden Geschehene in ihr Gedächtnis zurück. Sie war in die Biduwelt gesprungen, hatte Seo, den Jungen mit den schönen Augen getroffen und war mit ihm in einer Stadt angekommen, die bei Nacht von einer seltsamen Kuppel umschlossen wurde. Seo hatte sie kreuz und quer durch die Stadt geführt, bis sie schließlich durch ein kleines Seitentor in ein herrschaftliches Gebäude gelangt waren. Vor einer Tür hatte er sie dann mit der knappen Äußerung, sie könne hier schlafen und er werde sie am Morgen abholen, stehen gelassen. Keine weiteren Erklärungen, nichts.
Mit Unbehagen, hatte Melia festgestellt, dass das herrliche Zimmer jemandem gehören musste. Es hingen wunderschöne Kleider im Schrank, Tücher und Seife lagen bereit und persönliche Gegenstände lagen auf einem kleinen Tisch neben dem Fenster. Sie fühlte sich als Eindringling und wagte kaum etwas anzufassen. Woher sollte sie denn wissen, dass sie sich nicht unerlaubt an diesem Ort aufhielten? Schließlich wusste sie nichts über Seo. Er hatte nur gesagt, dass sie zu seinem Onkel gehen würden. Aber dieser Palast konnte unmöglich das Haus seines Onkels sein… oder etwa doch? Jetzt verstand sie auch, weshalb Seo das Wort DEIN Zimmer so betont hatte. In Wahrheit war sie nämlich gar nicht in ihrem Zimmer. Sie war nachdem sie von diesem grässlichen Traum hochgeschreckt war, nur so verwirrt gewesen, dass sie fälschlicherweise angenommen hatte Zuhause in ihrem eigenen Bett zu liegen.
Was war dann geschehen? Ja, richtig, sie hatte sich auf das Sofa gelegt und war kurze Zeit später eingeschlafen. Sie träumte von sich, Seo und dem Schatten, aber sie konnte sich nicht mehr an die Einzelheiten erinnern. Irgendetwas unbehagliches war da gewesen, dass sie hat aufschrecken lassen, nur was? Sie versuchte sich krampfhaft an die Einzelheiten ihres Traumes zu erinnern, als sie neben sich ein Räuspern vernahm. Sie hatte Seo völlig vergessen, der sichtlich genervt auf sich Aufmerksam machte.
Verdutzt starrte Melia Seo an. Natürlich ärgerte es sie, dass er so unsensibel mit ihr sprach, aber für einen Moment war ihr Ärger in den Hintergrund getreten. Ihr war plötzlich klar geworden, dass sie sich zu ihrer Überraschung mit Seo unterhalten konnte, aber nicht wie gestern in Gedanken, sondern sie führten ein richtiges Gespräch, oder vielmehr stritten sie sich verbal. Melia war geradezu fasziniert von ihrer neuen Fähigkeit Seos Sprache zu beherrschen, dass sich ein Lächeln auf ihr finsteres Gesicht schlich. Ihr Lächeln schien Seo aber nur noch mehr zu irritieren. Mit finsterer Miene stand er da. Ihm war dieser neue Umstand wohl noch gar nicht aufgefallen, stellte Melia fest. Und auf die Antwort von jemandem warten zu müssen war anscheinend auch nicht etwas das ihm oft passierte. Ein Grund mehr, ihn noch einen Moment länger zappeln zu lassen fand Melia. Geschah im recht. Was musste er sie auch so anfahren? Schließlich hatte sie nicht mit Absicht geschrien. Leider wird er sich kaum mit einem Schulterzucken von ihr als Antwort abspeisen lassen. Da war nur diese Kleinigkeit, die sie ihm auf keinen Fall sagen wollte. Seo war ein Teil ihres Traums gewesen und es war ihr peinlich das zuzugeben. Sie hatte ihn erst vor ein paar Stunden kennengelernt und schon drang er in ihre Träume ein. Das passte ihr ganz und gar nicht. Sie würde diesen Teil einfach weglassen beschloss sie. Um die Antwort noch etwas aufzuschieben, ignorierte sie einfach seine Frage. Stattdessen beschloss sie, ihm eine Gegenfrage zu stellen.
«Ist dir aufgefallen, dass ich auf einmal deine Sprache spreche? Vor einigen Stunden mussten wir uns noch in Gedanken unterhalten. Kannst du dir das erklären?»
Für einen Augenblick verschwand der Ärger aus Seos Gesicht und er sah Melia überrascht an.
Seo zuckte mit den Schultern. «Keine Ahnung. Es ist mir ehrlich gesagt noch gar nicht aufgefallen.» Nachdenklich fuhr er sich mit der Hand durch seine Haare.
«Vielleicht eine weitere Gabe der Springer, dass sie befähigt sich dem Gastland innerhalb kürzester Zeit anzupassen? Was auch immer der Grund sein mag, es macht vieles bedeutend einfacher. Aber zurück zu meiner Frage, was hast du geträumt?» Wieder verfinsterte sich Seos Gesicht.
Widerwillig lenkte Melia ein. «Ich weiß noch, dass ich vom Schatten geträumt habe, aber an die Details kann ich mich leider nicht mehr erinnern, oder was den Schrei ausgelöst hat. Es tut mir wirklich leid, normalerweise habe ich keine Probleme, mich an meine Träume zu erinnern.» Mit schlechtem Gewissen verschwieg Melia den Teil ihres Traumes in dem Seo vorkam. Ziemlich sicher waren seine schönen Augen beim Erwachen auch der Grund gewesen, warum sie sich nicht mehr an den Inhalt ihres Traumes erinnern konnte. Seo hatte eine erschreckend ablenkende Wirkung auf sie. Etwas ungläubig sah Seo sie an, dann verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck noch mehr.
«Ich wusste, dass es mit einem Mädchen nur Ärger geben wird», schnaubte er. «Der Schatten bringt dich ja schon in einem Traum zum Schreien dabei hast du ihm noch nicht einmal leibhaftig gegenübergestanden!»
Bei dieser Äußerung kam ihr ihre erste Begegnung mit Seo wieder in den Sinn, als sie gerade in Bidu angekommen war. In Gedanken kehrte Melia zu diesem Zeitpunkt zurück und ließ ihre Begegnung mit Seo und ihr Gespräch nochmals im Kopf abspielen.
***
Melia öffnete die Augen. Kein Zweifel, es war ihr tatsächlich gelungen, in die Biduwelt zu springen. Der Schleier musste also schon aufgehoben worden sein. Rund um sie leuchteten die Pflanzen in den ausgefallensten Farben, dass es eine wahre Freude war. Diese bunte Welt erinnerte sie stark an ihre ersten Bilder, die sie als Kind für ihre Mutter gemalt hatte. Je bunter umso besser war ihre Devise dazumal gewesen. Ein Lächeln huschte ihr bei diesen Erinnerungen übers Gesicht, erstarb aber augenblicklich, als sich ein eigenartiges Summen in ihrem Körper ausbreitete. Hastig sah sie sich um. Zuerst war nichts Ungewöhnliches zu erkennen und obschon sie dieses Summen noch nie zuvor gespürt hatte, wusste sie, dass es sie auf die Anwesenheit einer anderen Person aufmerksam machte. Das Summen nahm zu und zeigte ihr an, dass diese Person näherkam.
Das Hallo in Melias Kopf war zuerst nur ein Flüstern, ließ aber sogleich ihr Herz schneller schlagen. Wärme stieg in ihre Wangen und ihre Handflächen begannen zu schwitzen.
Noch bevor sie sich umdrehte, wusste sie, wer da hinter ihr stand und auch was er war. Das Summen in ihrem Körper hatte ihr instinktiv die Anwesenheit eines weiteren Springers verraten. Nun sah sie den hübschen Jungen vor sich. Er sah genauso aus wie in ihrem Traum, nur, dass er gut einen Kopf größer war als sie selbst und auch nicht so schmächtig aussah, wie sie es erwartet hatte.
«Hallo», war alles was Melia herausbrachte.
Der Junge vor ihr lachte sie an, bevor sie wieder die Stimme in ihrem Kopf vernahm.
«Leider spreche ich deine Sprache nicht, du musst daher in Gedanken mit mir sprechen.»
Melias Wangen färbten sich noch röter als sie es eh schon waren. Natürlich, wie dumm von ihr. Das hatte sie völlig vergessen. Die Biduwelt war schließlich ziemlich weit von ihrer Welt entfernt. Sie konnte also nicht erwarten, dass jemand ihre Sprache beherrschte.
«Woher weißt du, dass das hier die Biduwelt ist», kam die Frage des verblüfften Jungen.
Mist, sie hatte vergessen, dass er ja ihre Gedanken lesen konnte, wenn sie sie nicht bewusst verschloss.
«Das ist eine etwas längere Geschichte, aber um mich kurz zu fassen: Ich hatte vor ein paar Wochen wieder einen meiner Träume, der sich in immer kürzeren Abständen wiederholte. Da ich aber nicht wusste, was der Traum mir sagen wollte, habe ich mich auf Anraten meiner Mutter, an einen Tarakona gewandt, der mir mehr über die Bedeutung meines Traumes sagen konnte. Unter anderem auch, dass es sich bei dem bunten Land welches ich gesehen habe, um die Biduwelt handelt und bei dir vermutlich um einen Springer.»
«Aha, du hast meine Nachricht also erhalten. Was aber ist ein Tarakona?»
Melia war etwas überrascht. Von was für einer Nachricht sprach er? Er wollte wohl nicht allen Ernstes behaupten, ihr diesen Traum geschickt zu haben, schließlich hatte sie diese intensiven Träume schon lange vor ihm gehabt. Sie ließ seine Äußerung fürs erste auf sich beruhen und beantwortete ihm stattdessen seine Frage.
«Die Tarakonas sind große, fliegende Geschöpfe und können sehr, sehr alt werden. Sie besitzen ein großes Wissen und manche von ihnen auch magische Kräfte. Wir nennen sie auch Drachen.»
«Ja, Drachen sagt mir schon eher etwas. Es gibt bei uns allerdings keine mehr von ihnen. Nur in Legenden ist von ihnen die Rede. Was deine Träume betrifft, so war das natürlich nicht meine Nachricht, aber du scheinst die Begabung zu haben durch deine Träume geleitet zu werden, weshalb meine Nachricht in deinen Träumen übermittelt wurde. Jeder Springer scheint da unterschiedlich veranlagt zu sein. Ich zum Beispiel höre Stimmen die mich führen. Klingt bizarr und ist es ehrlich gesagt auch, aber so ist es nun einmal. Man sucht sich das ja auch nicht aus.»
Betretenes Schweigen stellte sich ein. Keiner von beiden schien so genau zu wissen, was er sagen sollte. Dann hörte Melia wieder die Stimme des Jungen in ihrem Kopf.
«Ich wusste nicht, dass du ein Mädchen bist. Ehrlich gesagt wusste ich gar nicht, dass es weibliche Springer überhaupt gibt, sonst hätte ich dich nicht um Hilfe gebeten.»
Melia fühlte sich, als habe ihr gerade jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen. Da war sie nun eilend hierhergekommen, in der Annahme, dass ihre Hilfe dringend gebraucht wird und was musste sie da hören? Weil sie ein Mädchen war, war ihre Hilfe nicht willkommen? Wo lebte dieser Junge eigentlich. Ihre Wangen begannen zu glühen, diesmal aber nicht aus Verlegenheit, sondern aus Ärger. Ihr Blick verfinsterte sich.
«Was soll das denn bitteschön heißen», entgegnete Melia bissig.
«Nun, bei uns sind Männer für die gefährlichen Aufgaben zuständig, während sich die Frauen um den Haushalt und die Kinder kümmern. Bei Gefahr werden dann die Frauen und Mädchen sofort in Sicherheit gebracht, da sie nicht die Stärke der Männer besitzen und folglich keine große Hilfe in einer gefährlichen Situation wären. Im Gegenteil, sie würden eine zusätzliche Belastung darstellen.»
Seo sagte das mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass Melia vor Entrüstung der Mund offenstand, und sie kein Wort über ihre Lippen brachte. Als sie sich etwas gefangen hatte, stieg ihr Ärger sprunghaft an.“
«Dann hättest du deine Nachricht etwas genauer formulieren sollen, anstelle mich nur einfach mit deinen schönen Augen und dem hübschen Gesicht anzuschauen.»
Melia schlug sich mit der Hand an die Stirn. Wie konnte sie nur so ein Narr sein und diesem Flegel mit ihrer Äußerung auch noch zeigen, dass er ihr gefiel. Ein breites Grinsen zeigte sich auf dem Gesicht des Jungen und ließ weiße, ebenmäßige Zähne hervorblitzen. Mist dachte Melia, das ließ ihn nur noch besser aussehen. Sie war froh, ihre Gedanken rechtzeitig vor ihm verborgen zu haben. Ihr Ärger war aber deswegen nicht verflogen. Sie stellte sich kerzengerade vor ihm hin und blickte ihm fest in die Augen.
«Wenn du meine Hilfe nicht willst, weil ich ein Mädchen bin, dann sag es mir bitte jetzt, damit wir nicht kostbare Zeit verschwenden, die woanders dringender gebraucht wird. Dann kann ich mich nämlich gleich auf die Suche nach dieser anderen Person machen die mich auch durch meine Träume um Hilfe gebeten hat. Also was ist nun, brauchst du meine Hilfe oder nicht?» Sie verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf ihren Oberarm.
Anstelle auf ihre Frage zu antworten, ignorierte er sie einfach und stellte unverfroren eine Gegenfrage.
«Da war noch jemand? Wie sah dieser jemand denn aus?»
«Das weiß ich nicht, ich habe nur eine Stimme gehört, die nach mir gerufen hat, aber kein Gesicht gesehen. Irgendwie kam sie mir aber vertraut vor, konnte die Stimme aber niemandem zuordnen den ich kenne. Zudem muss diese Person an einem Ort sein, der durch irgendetwas abgeschirmt wird, denn ich habe die Worte fast nicht verstanden, man könnte sagen, die Verbindung war schlecht.»
«Ich halte es nicht für ratsam, dass du nach dieser Person suchst. Es könnte eine Falle sein. Vielleicht hat der Schatten Wege und Mittel gefunden, dich hierher zu locken.»
«Der Schatten? Dann stimmt die Legende also?»
«Du weißt von dem Schatten?»
«Sonora, ein Drache, hat mir davon erzählt. Ich wüsste aber nicht, was dich diese andere Person angeht, noch was dir das Recht geben sollte, mir zu sagen was ich zu tun oder zu lassen habe. Du bist außerdem meiner Frage ausgewichen. Willst du nun meine Hilfe, oder nicht?»
Man sah dem Jungen an, dass er innerlich mit sich kämpfte.
«Nun, du bist ja kein Bidumädchen und das Schicksal hat dich als Springer erwählt. In diesem Fall denke ich, ist es in Ordnung, wenn ich deine Hilfe annehme.»
«Das ist aber sehr großzügig von dir», antwortete Melia schnippisch.
Nun musste sie also die kommenden Tage oder Wochen mit diesem arroganten Kerl verbringen. Sie konnte sich wahrlich etwas Angenehmeres vorstellen. Aber im Grunde konnte es ihr ja egal sein ob er ihre Hilfe gerne in Anspruch nahm, oder nicht, schließlich ging es hier einzig und allein darum, ihrer Bestimmung zu folgen und nicht, ob jemand sie mochte. Aber aus einem unerklärlichen Grund ärgerte es Melia, dass der Junge geradezu enttäuscht wirkte, ein Mädchen vor sich zu haben, auf deren Hilfe er aber angewiesen war. Nun gut, je schneller sie sich ihrer Aufgabe stellte, umso schneller würden sich ihre gemeinsamen Wege wieder trennen. Sie atmete tief durch und wandte sich wieder dem Jungen zu.
«Vielleicht kannst du mir nun erklären, weshalb du meine Hilfe, oder sagen wir die Hilfe eines anderen Springers brauchst? Schließlich ist der Schleier bereits gefallen, wenn ich mich nicht täusche. Es wäre mir nämlich sonst nicht möglich gewesen hierher zu springen.“
«Du bist gesprungen, was heißt das?»
Noch bevor Melia antworten konnte, sprach er schon weiter.
«Ich glaube es ist besser, wenn wir erst einmal von hier verschwinden. Es ist für einen Springer nicht gut, zu lange an einem Ort zu verweilen und wir sind zu zweit. Das muss ja auffallen.»
Wie ungehobelt fand Melia. Zuerst fragt er sie etwas und dann ist er nicht einmal bereit ihr die Möglichkeit zur Antwort zu geben. Wieso stellt er dann überhaupt eine Frage, wenn ihm die Antwort egal war?
Melia hatte keine Gelegenheit sich lange darüber aufzuregen, denn sie wurde von Seo kurzerhand an die Hand genommen und von ihm hinter sich hergezogen.
So ein ungehobelter, selbstgefälliger, arroganter Mistkerl, empörte sich Melia aufs Neue. Normalerweise wurde sie gefragt, bevor man sie irgendwohin zerrte. Dazu kam, dass er sich nicht einmal vorgestellt hatte. Probleme zwischen ihr und dem Jungen waren ja schon jetzt vorprogrammiert. Sie fühlte sich regelrecht überrumpelt und in diesem Moment nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn sich einen neuen Plan zurechtzulegen, also ließ sie sich ohne allzu großen Widerstand von Seo mit zerren. Sie liefen eine ganze Weile in zügigem Tempo nebeneinander her, bis es Melia doch zu bunt wurde und sie einfach stehen blieb.
«Was ist los, wieso bleibst du stehen? Wir müssen noch vor Sonnenuntergang den Schutzkreis erreichen.»
Melia rührte sich nicht von der Stelle und verschränkte die Arme vor ihrer Brust.
«Da wo ich herkomme, zieht man nicht einfach jemanden hinter sich her, ohne zu erklären wohin es geht. Auch stellt man sich erst einmal vor. Ich heiße übrigens Melia und mit wem habe ich das Vergnügen?»
Der Junge musterte sie eingehend. Dabei hob er missbilligend eine Augenbraue. Ihm war anzusehen, dass ihm Melias Verhalten ganz und gar nicht passte. Vermutlich war er es nicht gewohnt, dass man sich seinen Anordnungen widersetzte, schon gar nicht ein Mädchen.
«Mein Name ist Seo und es ist wirklich wichtig, dass wir uns beeilen. Sobald wir unser Ziel erreicht haben, werde ich dir alle Fragen beantworten.»
Damit drehte er sich wieder um und lief weiter, in der festen Überzeugung, dass Melia sich mit dieser dürftigen Erklärung abspeisen ließ und ihm folgen würde.
«Und wieso springen wir dann nicht einfach zum Schutzkreis? Damit würden wir uns eine Menge Zeit sparen», rief Melia hinter ihm her.
«Ich habe keine Ahnung was du mit Springen meinst. Aber was immer es ist, ich bin sicher, dass der Schatten Mittel und Wege kennt, uns abzufangen.»
Seo war bei seiner Erklärung kein weiteres Mal stehen geblieben, sondern rief Melia über seine Schultern hinweg zu.
Ärgerlich hastete Melia hinter ihm her. Etwas außer Atem rief sie ihm zu:
«Wir könnten uns mit dem Springen eine Menge Zeit sparen und müssten auch nicht so durch die Gegend rennen. Das Springen funktioniert sehr einfach. Man stellt sich den Ort vor an dem man sein möchte, schließe die Augen und wenn man sie wieder öffnet, ist man am gewünschten Ort angekommen. So einfach ist das.»
Seo blieb abrupt stehen und drehte sich um. Mit dieser Reaktion hatte Melia allerdings nicht gerechnet, so dass sie direkt in seine Arme lief. Die Situation schien beiden peinlich zu sein, denn sowohl Melia als auch Seo beeilte sich, möglichst rasch Abstand zwischen sich und dem anderen zu bringen.
«Du willst doch wohl nicht im Ernst behaupten, dass du einfach so von einem Ort zu anderen wechseln kannst, oder springen wie du es nennst? Das braucht Jahre der Übung, bis ein Springer das zustande bringt, wenn überhaupt. Die meisten Springer nutzten meines Wissens die Wege der Springer, um die Welten zu wechseln.»
Melia war überrascht. Sie hatte immer geglaubt, dass jedem Springer, so wie ihr, diese Fähigkeit angeboren war und man es irgendwann durch Zufall herausfand. Darum hießen doch Springer auch Springer?
«Heißt das, du kannst es nicht», fragte Melia zögernd nach.
Man sah Seo an, dass er vor ihr nicht gerne zugab, dass er es nicht konnte. Ein Achselzucken und ein gemurmeltes Nein, war alles was er dazu sagte. Dann drehte er sich wieder um und marschierte weiter. Mit einem Seufzer setzte auch Melia sich wieder in Bewegung. Es hatte jetzt keinen Sinn darauf etwas zu erwidern. Die Äußerung von Seo über den Schatten hatte sie allerdings schon etwas nachdenklich werden lassen. Vielleicht war es ganz gut, wenn sie in diesem fremden Land nicht sprang. Zumindest nicht bevor sie mehr über dieses Land wusste.
Stunden später, als die Sonne bereits den Horizont erreicht hatte, und die Umgebung in zarte Farben tauchte, waren sie an ihrem Ziel angekommen. Vor ihnen lag eine Stadt, mit dicht aneinander gebauten Häusern. Rund um die Stadt war eine Art Mauer angelegt, die die Häuser wie einen Ring umgab. Das Sonderbare an dieser Mauer war, dass diese nicht aus gewöhnlichen Steinen bestand, sondern aus einer eigenartig pulsierenden Maße. Diese Maße leuchtete in den Farben des Regenbogens und sah bei genauerer Betrachtung wie eine Seifenblase aus. Auch gab es kein Stadttor, sondern nur eine Lücke zwischen diesem pulsierenden Etwas. Seo beschleunigte seine Schritte nochmals, so dass sie nun fast rannten. Melia konnte die Eile nicht verstehen, bis sie sah, dass sich die Lücke zu schließen begann und nur noch so breit war, um gerade noch so hindurch zu schlüpfen. Ohne Vorwarnung ergriff Seo wieder Melias Hand und zerrte sie durch die Öffnung. Sie hatten es gerade noch geschafft. Hinter ihnen schloss sich die Öffnung vollständig. Zur gleichen Zeit war auch der letzte Sonnenstrahl hinter den Bergen verschwunden. Mit Staunen sah Melia zu, wie die Mauer langsam in den Himmel wuchs, bis sie sich wie eine Kuppel über der Stadt schloss. Erst jetzt fiel Melia auf, dass Seo ihre Hand immer noch fest umschlossen hielt. Auch im schien dies soeben bewusst zu werden, denn augenblicklich ließ er ihre Hand los, als habe er sich gerade die Finger verbrannt.
«Das war äußerst knapp, aber wir haben es gerade noch geschafft. Für den Moment sind wir in Sicherheit. Komm, wir gehen zu meinem Onkel.»
Schon wieder sagte Seo etwas das sie nicht verstand, aber Melia war zu müde um nachzufragen. Sie wollte nur noch irgendwo hinfallen und die Augen schließen, also sagte sie nichts, sondern trottete Seo hinterher. Sie gingen durch mehrere, schmale Gassen, mal bogen sie Links ab, mal Rechts, bis Melia die Orientierung verloren hatte. Vor einer kleinen Holztür blieben sie schließlich stehen und Seo klopfte kurz an die Tür. Ein Scharren auf der anderen Seite war zu hören. Kurze Zeit später wurde die Tür entriegelt und mit einem Knarren geöffnet. Vor ihnen stand ein alter, gebeugter Mann der Seo anlächelte und sich dann zu Melias Überraschung, vor Seo verbeugte. Melia nickte er kurz zu, dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und schlurfte über den kleinen Innenhof davon. Jetzt war Melia komplett verwirrt. Was war denn das eben gewesen? Natürlich war Seo längst weitergelaufen, so dass sie ihn nicht danach fragen konnte. Vermutlich würde sie nicht einmal eine Antwort von ihm erhalten.
Weiter ging es über den Innenhof zu einer weiteren Tür, die aber nicht verriegelt war. Dahinter erstreckte sich ein großer Saal, der äußerst vornehm aussah. Nun fragte sich Melia ernsthaft, ob sie wirklich im Haus von Seos Onkel waren. Sie hatte sich ein kleines bescheidenes Haus vorgestellt, in dem sie die Nacht verbringen würden. Dies hier glich aber eher einem Palast. Vielleicht war es auch nur eine Abkürzung? Das war zugegebenermaßen etwas weit hergeholt aber was wusste sie schon über Seo, oder die Sitten und Bräuche in dieser Welt? Schließlich hatten sie hier auch eine etwas sonderbare Ansicht zur Rolle von Mann und Frau.
Nach wenigen Schritten gelangten sie zu einer großen Steintreppe, die in den oberen Stock führte. Seo ging ohne Zögern die Stufen hinauf. Sie musste sich eingestehen, dass er anscheinend nicht das erste Mal hier war. Melia hoffte nur, dass sie nicht auf dem Weg zum Dach waren, um doch wie befürchtet, eine Abkürzung zum Haus seines Onkels zu nehmen. Sie atmete erleichtert auf, als Seo vor einer der hinteren Türen stehen blieb und sich zu ihr umdrehte.
«Das hier ist dein Zimmer. Ich werde dich morgen früh abholen, sonst verläufst du dich hier noch. Gute Nacht und bis morgen dann.»
Damit machte Seo auf dem Absatz kehrt und lief die Treppe in den ersten Stock wieder hinunter. Zurück blieb eine verwirrte Melia. Sie wollte ihn noch fragen, wo er denn schlafen würde, aber da war er auch schon fort. Als sie die Tür zu dem Zimmer öffnete, erwartete sie nicht mehr als ein Bett zum Schlafen. Was sie aber vorfand, verschlug ihr die Sprache. Das Zimmer sah aus wie das einer Prinzessin. Es war in Pastelltönen gestrichen, hatte ein riesiges Himmelbett in dem spielend, drei Erwachsene Platz gefunden hätten. Auch war da ein kleiner Tisch mit Spiegel, ein großer Schrank mit aufwändigen Schnitzereien, ein Sofa mit edlen Kissen und wertvolle Gemälde hingen an den Wänden. Zögernd betrat Melia das Zimmer und sah sich um. Vor dem großen Schrank blieb sie stehen und öffnete vorsichtig eine Schranktür. Zu ihrem Schrecken war er nicht etwa leer, sondern voll mit edel schimmernden Gewändern. Sie war also in einem Zimmer einquartiert, dass jemand anderem gehörte. Dieser jemand konnte vielleicht jeden Augenblick durch die Tür treten und sie fragen, was sie denn hier zu suchen habe. Aber nein, beruhigte sie sich. Seo hat bestimmt gewusst was er tat. Trotzdem fühlte sie sich nicht wohl dabei. Er hätte ihr doch zumindest sagen können, dass das Zimmer jemandem gehörte und es ihnen freundlicherweise gestattet war, es für diese Nacht zu benutzen, so aber hatte sie keine Ahnung ob sie nicht etwas Verbotenes taten. Sie war aber zu müde um Seo zu suchen und ihn zur Rede zu stellen. Wer wusste schon wo er steckte? Vielleicht war er gar nicht mehr im Haus. Also würde sie versuchen das Beste aus der Situation zu machen und auf dem Sofa übernachten.
Auf der Suche nach dem Bad, fand sie einen weiteren Raum, der an das Schlafzimmer angrenzte. Es war nicht ganz so groß wie das erste, aber immer noch beeindruckend. Eine riesige Badewanne stand mitten im Raum. Auf der rechten Seite war eine ebenso große Dusche. Für Waschbecken und Toilette gab es einen separaten Raum und überall lagen, wie in einem edlen Hotel, Seifen und frische Handtücher bereit. Da sie sich wie ein Eindringling vorkam und sich vor den Vorwürfen eine Diebin zu sein schützen wollte, rührte sie nichts davon an, sondern packte ihre eigenen Sachen aus. Nachdem sie sich gewaschen und die Zähne geputzt hatte, zog sie ihre Wolldecke aus ihrem Beutel und legte sich auf das Sofa, das unter dem Fenster stand. Kurze Zeit später war sie auch schon eingeschlafen.
***
Nachdem sie das Geschehene der letzten Stunden nochmals in Erinnerung gerufen hatte, war auch Melias Geduld am Ende. Wütend packte sie ihre Sachen, schwang sich ihr Bündel über die Schulter und marschierte zielstrebig zur offenstehenden Tür. Vermutlich hatte Seo sie offengelassen, nachdem er ins Zimmer gestürmt war. Ohne Seo auch nur eines Blickes zu würdigen, verließ sie das Zimmer in Richtung Treppe, welche sie wenige Stunden zuvor hochgekommen war. Sie hatte keine Ahnung wohin sie gehen sollte, aber keinen Augenblick länger wollte sie hierbleiben. Bei der Treppe angekommen tat sie gerade den ersten Schritt die Stufen hinunter, als jemand sie am Oberarm zurückzog. Natürlich war dieser jemand niemand anderer als Seo.
«Was zum Teufel hast du vor», zischte er sie wütend an.
«Nach was sieht es denn deiner Meinung nach aus? Ich gehe.» Sie versuchte vergeblich, sich aus seinem Griff zu befreien.
Genervt rollte Melia die Augen. «Würdest du mich bitte loslassen? Du kannst mir nicht vorschreiben was ich zu tun oder zu lassen, noch wohin ich zu gehen habe.»
«Das kann ich sehr wohl, du bist mein Gast und ich habe die Verantwortung, dass es dir gut geht und dir nichts zustößt.»
«Dann behandle mich gefälligst wie einen Gast, oder versteht ihr in diesem Land darunter Gastfreundschaft, seinen Gast anzufahren, weil dieser es gewagt hat von einem Traum schreiend aufzuwachen, oder den Fehler hat ein Mädchen zu sein?»
Vorwurfsvoll sah Melia Seo an. Er schien wirklich ihre schlechtesten Seiten zum Vorschein zu bringen. Sie waren erst ein paar Stunden zusammen und schon zum zweiten Mal aneinandergeraten. Das war kein gutes Zeichen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Für einen Augenblick trat betretenes Schweigen ein, bevor Seo mit einem tiefen Seufzer zu sprechen begann.
«Du hast Recht, so behandelt man keinen Gast. Ich habe mir einfach Sorgen gemacht, als du so geschrien hast, aber das ist keine Entschuldigung für mein Verhalten. Es tut mir leid.»
Damit hatte Melia nicht gerechnet. Mit einem Schlag war ihr Ärger verflogen. Mit seiner aufrichtigen Entschuldigung hatte er Melia im wahrsten Sinne des Wortes den Wind aus den Segeln genommen. Ein versöhnliches Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. Wer bitte schön konnte da noch wütend sein? Mit großen verträumten Augen und offenem Mund starrte sie ihn an. Erst als sich Seos Lächeln zu einem breiten Grinsen verwandelte, wurde ihr augenblicklich bewusst, wie sie aussehen musste. Schnell schloss sie ihren Mund und schaute verlegen zu Boden.
«Entschuldigung angenommen», murmelte sie, den Blick immer noch interessiert zu Boden gerichtet, als wäre dort etwas unglaublich Faszinierendes zu sehen. Etwas verloren stand sie am Rand der Treppe und wusste nicht so recht was sie als nächstes tun oder wo sie hingehen sollte. Glücklicherweise nahm Seo ihr die Entscheidung ab.
«Denkst du, du kannst nach diesem Alptraum nochmals einschlafen?»
Melia zögerte mit ihrer Antwort. Das Einschlafen war vermutlich das kleinste Problem, denn müde war sie immer noch, aber sie war sich nicht sicher, ob dieser Traum wiederkam und sie erneut mit einem Schrei aufschrecken ließ. Noch ehe sie auf seine Frage antworten konnte, fügte er an: «Keine Angst, ich werde den Angestellten Bescheid geben, damit diese nicht wieder wie aufgeschreckte Hühner durch die Gänge eilen, solltest du nochmals schreien», dabei umspielte ein leichtes Lächeln seinen Mund. Melias Anspannung löste sich. Es war wirklich das Beste noch etwas Schlaf zu finden.
«Gut, dann denke ich, geht jeder von uns wieder ins Bett und versucht noch einige Stunden zu schlafen.»
Schweigend gingen sie den Flur entlang, zurück zu dem Zimmer aus dem Melia vor wenigen Minuten herausgestürmt war. Die Tür stand noch immer offen.
«Dann also gute Nacht und bis morgen.» Melia trat gerade über die Türschwelle, als sie sich nochmals zu im umdrehte.
«Wem gehört eigentlich dieses Zimmer? Ich hoffe, diese Person musste nicht wegen mir woanders schlafen?»
Seo war schon ein paar Schritte entfernt als er sich zu ihr umdrehte.
«Es gehörte meiner Schwester und nein, sie musste nicht deinetwegen umziehen. Du darfst auch gerne das Bett benutzen, anstatt auf dem unbequemen Sofa zu schlafen.»
Damit drehte er sich wieder um und ging mit eiligen Schritten den Flur entlang.
Nachdenklich blickte sie ihm nach. Seos Gesicht war bei seiner Antwort zu einer undurchdringlichen Maske erstarrt, nur seine Augen spiegelten seine Emotionen wider und was sie darin sah war Traurigkeit. Warum wohl? Langsam schloss sie die Tür, als sie mit einem Schlag hellwach war. Er hatte über seine Schwester in der Vergangenheit gesprochen. Warum nur? Schließlich waren doch noch all ihre Kleider und persönlichen Gegenstände da? Was war mit ihr geschehen? Melia, tadelte sich. Das sind wieder Spekulationen und Hirngespinste die du dir da zusammenreimst. Frag ihn, dann weißt du es. Damit legte sie sich wieder auf das Sofa, deckte sich zu und schloss die Augen, aber der Schlaf wollte sich nicht so einfach wieder einstellen. Zuviel ging ihr durch den Kopf. Sie versuchte sich an die Details ihres Traumes zu erinnern. Zu Anfang wollte es ihr nicht so recht gelingen, doch nachdem sie Seo und seine Augen aus ihren Gedanken gedrängt hatte, kehrte auch ihre Konzentration wieder zurück und langsam erinnerte sie sich wieder an diese Schwärze und was den Schrei ausgelöst hatte.
Lautlos glitt der schwarze Schatten über den Boden. Näher und näher kam er seinem ahnungslosen Opfer. Wie dumm sie doch alle waren. Alles und jeder. Ihnen geschah es recht, dass er sie einen nach dem anderen tötete. Sie führten ein nutzloses Leben und der Tod konnte nur eine Erlösung für sie sein, dachte er bei sich. Wie unfair das Leben doch war. Im Gegensatz zu ihm, der eine so großartige Zukunft vor sich gehabt hatte. Ausgerechnet ihm war dieses Schicksal widerfahren, als Schatten sein Dasein zu fristen und seinen ständigen Hunger nach dieser Kraft die in den Farben steckte, stillen zu müssen. Er war der Einzige, der eine wirkliche Daseinsberechtigung hatte. Bald schon würde er sich aus diesem Elend befreien können und die Stellung einnehmen, die ihm gebührte.
Er stand nun bereits dicht hinter seinem Opfer, als es sich erschrocken umdrehte, aber da war es schon zu spät. Blitzschnell hüllte er den kleinen Hasen in sein schwarzes Gewand und sog die Lebenskraft aus ihm heraus, bis es leblos und grau zu Boden glitt. Für einen kurzen Moment blitzte ein Farbstrahl in dem unförmigen Schatten auf, erlosch aber gleich darauf wieder und der Hunger kehrte zurück. Rastlos glitt er weiter, bereits wieder auf der Suche nach neuen Opfern, die seinen quälenden Hunger stillten, auch wenn nur für einen flüchtigen Moment. Bei der Erinnerung an diesen Teil ihres äußerst lebhaften Traumes zuckte Melia unwillkürlich zusammen, doch das war erst der Anfang ihres Traumes gewesen, denn nun wurde sie selbst und Seo gejagte des Schattens. Er schien sie überall aufzustöbern, fast so, als ob sie unbeabsichtigt irgendwelche Spuren hinterließen, denen der Schatten nur zu folgen brauchte. Nur was für eine Fährte hinterließen sie, denen der Schatten so einfach folgen konnte? Melia wollte es genauer wissen und formte zwei Gedankenkonstrukte. In eines stellte sie eine Kopie ihrer selbst und in das andere, eines von Seo. Kaum hatte sie diese zwei Gedanken ausgesandt, da heftete sich der Schatten auch schon an Seos Kopie. Sie schien der Schatten gar nicht zu beachten. Melia fand das äußerst seltsam. Was hatte Seo an sich, was sie nicht hatte, schließlich waren sie beide Springer. Leider erhielt sie auf diese Frage keine Antwort mehr, denn der Schatten bewegte sich unaufhaltsam auf Seo zu. Obwohl sie wusste, dass es nur ein Gedankenkonstrukt war und Seo nicht in Gefahr war, beunruhigte es sie, wie der Schatten ihm immer näherkam. Er war mittlerweile nur noch eine Handbreit von Seo entfernt, als er sich blitzschnell ausdehnte und Seo mit seiner dunklen Gestalt verschlang. Melia schrie auf. Das war ja entsetzlich. Sie wollte aufspringen, aber irgendetwas drückte sie hart zu Boden und rief ihren Namen.
Der Schatten und Seo verblassten und Melia schlug die Augen auf. Dicht vor ihrem Gesicht, blickten sie zwei bernsteinfarbenen Augen besorgt an.
Ona der Albino
Sonnenstrahlen weckten Melia am nächsten Morgen. Genüsslich streckte sie sich und drehte sich dabei zur Seite. Zu spät fiel ihr ein, dass sie auf einem Sofa geschlafen hatte und nicht in einem großen, bequemen Bett. Schwungvoll landete sie auf dem Fußboden. Stöhnend blieb sie einen Moment auf dem Boden liegen. Sie hatte sich nicht wehgetan, trotzdem war es nicht die Art und Weise, wie sie morgens noch halb verschlafen, aufstehen wollte. Langsam zog sie ihre Arme an den Oberkörper um sich vom Boden abzustoßen, als ein zerknittertes Stück Papier unter dem Sofa ihre Neugier weckte. Das Papier lag in einer Ecke, nahe an der Wand und war nur in Melias liegender Position zu sehen. Sie musste ihren Arm gehörig strecken um an dieses verflixte Stück Papier zu kommen. Mit den Fingerspitzen erwischte sie einen kleinen Zipfel und zog das Papierknäuel vorsichtig unter dem Sofa hervor. Es musste wohl schon länger dort gelegen haben, denn es war ziemlich staubig.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie zusammenfahren. Hastig packte sie ihren Fund in ihren Reisebeutel und ging zur Tür. Ohne nachzudenken, riss sie die Tür auf und da stand Seo, frisch angezogen und mit erhobener Hand, im Begriff ein weiteres Mal zu klopfen. Beide sahen sich verdutzt an. Hastig strich sie ihre wirren Locken aus dem Gesicht.
«Also ich… ähm, wollte dich abholen», stammelte Seo. Dabei wanderten seine Augen an Melia hinab.
«Aber ich sehe, du bist noch nicht ganz so weit. Sagen wir in einer halben Stunde am unteren Ende der Treppe?»
Ohne ein Wort zu sagen, nickte Melia und schloss die Tür. Schnell lief sie ins Badezimmer und betrachtete sich im großen Spiegel der mitten im Raum stand. Ihre Locken standen wirr in alle Richtungen, ihre Hose und das Oberteil waren zerknittert. Ein Hosenbein war länger als das andere und das T-Shirt war auf einer Seite nach Oben gerutscht und gab freie Sicht auf ihren Bauchnabel. Na toll, kein Wunder stand Seo verwirrt vor der Tür, wenn da ein zerknittertes, zerzaustes etwas die Tür öffnet. Sie versuche ihre Locken so gut wie möglich zu bändigen und ihre Kleider etwas glattzustreichen. Zwanzig Minuten später stand sie am unteren Ende der Treppe. Seo lehnte am Geländer und drehte sich zu ihr um als sie die Treppe herabkam. Sein Blick wanderte wieder an ihr hinunter, bevor er ihr in die Augen sah.
«Komm, wir essen zuerst etwas, bevor ich dich meinem Onkel vorstelle.» Beim Umdrehen fügte er beiläufig noch hinzu: «Es ist vermutlich klüger, wenn du dir etwas anderes anziehst?»
Melia, blieb verwirrt stehen. «Wieso, was stimmt mit meinen Kleidern nicht? Ich gebe zu, sie sind etwas zerknittert, aber sonst noch ganz in Ordnung.» Sie hatte extra noch an ihren Kleidern gerochen, bevor sie ihr Zimmer verlassen hatte, um sicherzustellen, dass sie nicht unangenehm roch. Betont langsam drehte sich Seo wieder zu ihr um.
«Die Falten sind nicht das Problem», begann er zögernd. «Du wirst mit diesen Sachen die du da anhast unangenehm auffallen. Gestern Abend hast du diese lange Jacke getragen und wir hatten es sehr eilig noch rechtzeitig in Tafal anzukommen, da habe ich nicht weiter darauf geachtet. Wenn ich dich jetzt aber so anschaue, dann sind deine Kleider für ein Mädchen doch sehr ungewöhnlich, geradezu schockierend muss ich sagen.»
Wieder blickte Melia an sich herab. Was bitte schön war denn an Jeans und T-Shirt auffällig, oder gar schockierend?
«Ich verstehe nicht. Was stimmt denn damit nicht?»
Seo wollte gerade auf ihre Frage antworten, als in diesem Augenblick eine Frau mit einem Stapel Bettwäsche um die Ecke bog und abrupt stehen blieb, einen Knicks vor Seo machte und Melia mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Sie sagte jedoch nichts, sondern senkte ihren Blick und lief hastig den Gang entlang.
«Ich würde sagen, du hast soeben deine Antwort bekommen.»
Melia konnte es nicht glauben. «In welchem Zeitalter lebt dir denn, dass Mädchen und Frauen keine Hosen und ein anliegendes T-Shirt tragen dürfen? Das ist doch einfach lächerlich. Langsam verstehe ich deine zurückgebliebene Einstellung zu Frauen.»
«Was heißt hier zurückgeblieben. Die Kleidung für Mann und Frau haben bei uns Tradition und was bitte schön ist ein T-Shirt?»
«Gut, ich bin einverstanden, andere Länder, andere Sitten und Traditionen, auch was die Kleidermode anbelangt. Aber es ist ja nicht nur die Kleidung. Ihr schreibt vor was ein Mädchen oder eine Frau darf, kann oder soll. In dieser Beziehung bin ich nach wie vor der Meinung, dass ihr zurückgeblieben seid. Aber ich bin Gast in diesem Land und natürlich möchte ich nicht unangenehm auffallen. Es ist nur so, ich hasse Röcke. Sie sind einfach unpraktisch. Kann ich als Kompromiss nicht eine dieser bunten Hosen tragen, so wie du?»
«Du bist wirklich unmöglich Melia. Musst du immer zu allem eine andere Meinung haben?»
«Wenn ich etwas für falsch, oder notwendig halte, ja. Also, kann ich nun eine Hose und ein Oberteil von dir haben, oder nicht?»
«Nein kannst du nicht. Die sind dir viel zu groß. Aber ich werde sehen, was sich machen lässt, aber nun komm, ich habe Hunger.»
Sie gingen einen langen Korridor entlang, bogen mehrmals links und rechts ab, bis sie schließlich nicht wie sie dachte in der Küche landeten, sondern in einem großen Saal, mit einem unendlich langen Tisch und einem riesigen Buffet. Melia stand der Mund offen. Da gab es einfach alles. Von Früchten über Käse zu Fleisch, bis hin zu Fisch. Alles lag da, frisch und fein säuberlich arrangiert - auf Silberplatten versteht sich.
«Das ist ja das reinste Festmahl! Wo sind wir hier und erwartet man noch mehr Gäste?»
«Wie ich schon sagte, wir sind im Haus meines Onkels und außer uns Zweien kommt niemand mehr zum Essen.» Mit diesen Worten setzte er sich an den großen langen Tisch.
«Wieso setzt du dich denn schon an den Tisch, du hast doch noch gar nichts vom Buffet genommen?»
Wie auf Kommando kamen mehrere gleich gekleidete Männer in den Saal. Alle verneigten sich vor Seo. Einer blieb mit einer Kanne in der Hand neben ihm stehen, während die anderen sich am Buffet verteilten.
«Setzt dich bitte hin Melia, damit wir anfangen können zu essen.»
Überrumpelt von dem Schauspiel, setzte sie sich ohne Widerspruch neben Seo. Als man ihnen Tee eingeschenkt und das Essen serviert hatte, entfernten sich die Bediensteten wieder. Melia blickte sich vorsichtig um, aber die Bediensteten hatten den Raum verlassen und sie und Seo waren wieder alleine. Sie wandte sich wieder Seo zu und flüsterte: «Was soll das Ganze und wer bist du? Eine Art Prinz oder so etwas?»
Seos Mundwinkel zuckten leicht und er lachte leise. «So etwas in der Art.»
Melia wartete auf weitere Erklärungen, aber es schien tatsächlich alles zu sein was Seo dazu zu sagen hatte. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.
«Das ist doch wohl jetzt nicht dein Ernst! Nachdem was ich hier die letzten Stunden erlebt habe, erwarte ich etwas mehr als nur fünf Worte. Also, ich höre?»
«Die Möglichkeit, dass ich ein Prinz sein könnte, scheint dich ja nicht im Geringsten zu beeindrucken oder einzuschüchtern.»
«Wieso sollte es das? In erster Linie bist du für mich ein Springer und das bin ich auch, wir sind also so zu sagen Berufskollegen.»
Spöttisch hob Seo eine Augenbraue. «Berufskollegen, wir?»
«Lenke nicht ab. Ich will wissen wer du bist und wieso wir in einem Palast übernachtet haben und sich jeder vor dir verneigt.»
Genervt presste Seo die Lippen zusammen, bevor er zu sprechen begann.
«Ich heiße Seotaso, Ares, Urano, Vestus, Wiano von Oris, Prinz von Tafal und seit kurzem Kronprinz von Bidu, da mein ältester Bruder dem Schatten zum Opfer gefallen ist, wie auch meine älteste Schwester. Mein Onkel ist der vierte in der Thronfolge und wir befinden uns in seinem Winterpalast in Tafal. Da sich herausstellte, dass du ein Mädchen bist, musste ich kurzfristig eine andere Schlafmöglichkeit für dich finden und habe dir darum das Zimmer meiner ältesten Schwester gegeben und ja, ich habe dich durch deine Träume gerufen, weil ich die Unterstützung eines weiteren Springers benötige, um den Schatten zu vernichten. Stattdessen habe ich ein stures, eigenwilliges, vorlautes Mädchen erwischt, mit dem ich nun alle Hände voll zu tun haben werde, um sie vor dem Schatten zu schützen.»
Betretenes Schweigen legte sich über sie. Melia wusste nicht so recht, ob sie Seo in diesem Moment trösten, oder ihm eine Ohrfeige verpassen sollte. Sie ballte ihre Hände erneut zu Fäusten und atmete tief durch. Mit einer so gefassten Stimme wie möglich begann sie zu sprechen.
«Ich kann nachvollziehen, wie schwer es für dich sein muss, Menschen zu verlieren, die dir nahestanden, noch dazu auf diese Art und Weise. Man fühlt sich machtlos und hat das Gefühl den Aufgaben des Lebens nicht mehr gewachsen zu sein. Ich kann auch deine Wut und deinen Unmut verstehen. Es gibt dir allerdings nicht das Recht, mich zu beleidigen, oder meine Fähigkeiten als Springer in Frage zu stellen, bevor ich sie überhaupt unter Beweis stellen konnte, Mädchen hin oder her.»
Es folgte eine weitere Pause und unangenehmes Schweigen. Seo saß immer noch mit düsterer Mine da und starrte ins Leere. Keiner von beiden hatte das Essen auf ihren Tellern angerührt. Dann auf einmal sprudelte es förmlich aus Seo heraus: «Ja, ich bin wütend, dass mein Bruder und meine Schwester unnötig sterben mussten und ich nun nach meinem Vater der nächste in der Thronfolge sein werde. Ich wollte immer nur ein Springer sein, nichts weiter und nun wird in einigen Jahren die Verantwortung eines ganzen Volkes auf meinen Schultern lasten. Ich werde meine Aufgaben als Springer so nicht mehr wahrnehmen können. Die Äußerung dir gegenüber waren nicht fair, aber ich habe immer noch meine Mühe damit, dass du ein Mädchen bist. Ich habe nichts gegen dich persönlich, bei uns haben Frauen einfach andere Aufgaben als sich Gefahren wie dem Schatten auszusetzen, aber das Schicksal hat aus welchen Gründen auch immer bestimmt, dass du ein Springer bist. Außerdem bin ich es nicht gewohnt, dass man mir widerspricht, oder auf Fragen eine Antwort haben will, auf die ich keine Antwort geben möchte. Das hat mich geärgert. Du bist anders als die Mädchen bei uns und das verwirrt mich. Entschuldige, dass ich meinen Frust an dir ausgelassen habe. Frieden?» Seo streckte Melia die Hand entgegen.
«Frieden», und damit legte sie ihre Hand in die seine und gab ihm einen festen Händedruck. Unvermittelt zuckte ein blauer Blitz aus ihrer beider Händen und formte sich zu einer Kugel. Instinktiv wollten beide ihre Hand zurückziehen, aber es ging nicht. Sie waren wie aneinander geschweißt. Die Kugel um ihre Hände begann sich auszudehnen und wurde immer größer. Beide starrten sich mit großen Augen an.
«Was ist das?»
«Ich habe nicht die leiseste Ahnung, aber es tut nicht weh, also kann es nicht wirklich etwas Schlimmes sein, oder?»
Melia zuckte nur mit den Achseln. Sie war sich da nicht so sicher. «Keine Ahnung. Erfrieren tut auch nicht weh, trotzdem bedeutet es den Tod.»
«Wie charmant», war alles was Seo zu Melias Äußerung sagte.
Die Kugel hatte bereits Melias ganzen Arm erfasst und bald würden sie beide vollständig von dieser Kugel eingehüllt sein. Ein Summen und vibrieren erfasste Melias ganzen Körper. Sie nahm fremde Bilder von Gesichtern und Orten war, verbunden mit Gefühlen und Gedanken. Es war, als ob sie sich einen Film ansah, mit dem Unterschied, alles auch deutlich zu spüren und zu empfinden. Ob es Seo auch so ging? Die Bilder begannen sich allmählich zu verändert. Sie kamen ihr seltsam vertraut vor und bald wusste sie auch weshalb. Manche Gesichter sahen Seo sehr ähnlich. In einem Bild zeigte sich ein Kleinkind mit breitem Grinsen und einer Zahnlücke, das Seo bis aufs Haar glich - ohne Zahnlücke natürlich. Sie musste lächeln. Das musste tatsächlich Seo sein. Er sah ja wirklich allerliebst aus und besaß schon damals diese bemerkenswerten Augen. Neben ihm standen, wie sie annahm, seine Geschwister und Eltern. Diese Bilder gehörten auf jeden Fall zu Glücklichen Momenten, aber es folgten auch traurige, ja sogar beängstigende Augenblicke im Leben von Seo. Kurze Zeit später ließ das Summen und vibrieren nach. Die Kugel begann sich wieder zu verkleinern, bis sie ganz verschwunden war. Melia und Seo zogen gleichzeitig ihre Hände zurück und diesmal lösten sie sich ohne jeden Widerstand.
«Ich glaube ich sah und spürte dein bisheriges Leben bis zur Gegenwart», flüsterte Melia.
«Und ich das Deine», war Seos knappe Antwort.
«Wieso ist das passiert? Hat es etwas damit zu tun, dass wir beide Springer sind?»