Memes - Formen und Folgen eines Internetphänomens - Joanna Nowotny - kostenlos E-Book

Memes - Formen und Folgen eines Internetphänomens E-Book

Joanna Nowotny

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Beschreibung

Memes dienen nicht nur der popkulturellen Unterhaltung oder der Kunst, sie werden auch in der Politik, in lokalen und internationalen Wahlkämpfen oder auf Demonstrationen verwendet. In ihrer typischsten Form sind sie Text-Bild-Gefüge, die sich digital mit viraler Geschwindigkeit verbreiten und transformieren. Joanna Nowotny und Julian Reidy nehmen sich dieses Internetphänomens aus kulturwissenschaftlicher Perspektive an. Sie betreten Neuland, indem sie einzelne Memes kasuistisch analysieren und ihre Erkenntnisse systematisieren, um diese digitale Kommunikationsform definitorisch neu zu bestimmen - in stetem Bezug zu anderen digitalen Phänomenen wie dem trolling.

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Für Christoph Kammer, meinen meme-Seelenverwandten, mit dem ich das Lachen und Leben teile.J.N.

Für Alma, in Vorfreude auf gemeinsame Entdeckungsfahrten durch Text und Bild.J.R.

Joanna Nowotny (Dr. sc. ETH), geb. 1988, arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern. Sie promovierte an der ETH Zürich mit einer Arbeit zur jüdischen Kierkegaard-Rezeption und kann auf einen Forschungsaufenthalt an der University of Chicago zurückblicken. Sie ist eine profilierte Comicforscherin und publiziert als freie Mitarbeiterin in der Berner Tageszeitung Der Bund.

Julian Reidy (PD Dr. phil.), geb. 1986, ist Lehrbeauftragter an der Universität Genf. Nach seiner Promotion an der Universität Bern und postdoktoralen Forschungsund Lehrtätigkeit an den Universitäten Bern und Genf sowie am Thomas-Mann- Archiv der ETH Zürich habilitierte er 2017 an der Universität Bern mit einer Arbeit zu Raumsemantiken in Thomas Manns Erzählwerk.

Joanna Nowotny, Julian Reidy

Memes – Formen und Folgen eines Internetphänomens

Die Open-Access-Ausgabe wird publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.

Gefördert von

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb. de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Joanna Nowotny, Julian Reidy

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Korrektorat: Anette Nagel

Print-ISBN 978-3-8376-6124-8

PDF-ISBN 978-3-8394-6124-2

EPUB-ISBN 978-3-7328-6124-8

https://doi.org/10.14361/9783839461242

Buchreihen-ISSN: 2702-8852

Buchreihen-eISSN: 2702-8860

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

1.Einleitung »Der Multimediarausch findet nicht statt«

1.1Digitalität und Realität: memes als Paradigma der Kultur der Digitalität

1.2Kontexte, Desiderate, Blindstellen: Anliegen und Struktur dieses Buchs

2.Referenzialität Lokale meme-Kultur global vernetzt

2.1Fallstudie: Wenn Plattformen sich lieben und bekriegen

2.2Mutation und Replikation: Memesis

2.3Ästhetik: Memes und die visuelle(n) Kultur(en)

3.Humor Von Pandememes und Wortwitzen, Humortheorien und Subversion

3.1Methodischer Einschub: Einige notgedrungen lückenhafte Bemerkungen zu Strategien der meme-Analyse

3.2Memes und die Humortheorie: Inkongruitäten und Witzzyklen

3.2.1Wortwitze: ›local spices‹ und ›foreign origin‹

3.2.2Der memetische Streich

3.3Frauen, Männer und alle anderen: Internethumor, sex und gender. Befreiung und Subversion oder Keimzelle des Patriarchats? Forschungen zu Sexismus und Feminismus im Internet

3.3.1Von der Intransparenz der Plattformen: Meta-memes und algorithmischer Humor

3.3.2Meta-memes und nicht-menschliche Autorschaft

3.3.3Subversion und Queering

3.3.4Kunst trifft Meme trifft Aktivismus

4.Politik Das ›politische‹ meme zwischen Aktivismus und Sabotage, Aktivität und Passivität, ›links‹ und ›rechts‹

4.1Punch a nazi: Patriotismus, Nationalismus und die linken Kräfte

4.2Interferenzen: Comics und memes als politische Narrative

4.3Ironische Subversion – memes als ›terrorist media‹

4.4Vom Stehpinkler zum Nazi: Pepe the frog

4.5Systematisierung: Eine Typologie politischer memes

5.Intermezzo: Memes und der (politische) Mainstream Kriegsverbrecher und Nobelpreisträger

5.1Die Kultur in der Digitalität: Mainstream und Deutungsmacht im kognitiven Kapitalismus

5.2Die Macht der memes: Narration, Folklore und Hegemonie

6.Kanonisierung Know your meme I: Die Memesis und der Kanonbegriff

6.1Know your meme II: trolling als basale memetische Praktik

6.2Fallstudie: Der trollende Professor

6.3Fallstudie und Synthese: Die dichtende Worddatei. Memetische Autorschaft als kreativitätspsychologische Strategie

7.Fazit

Bibliographie

Abbildungsverzeichnis

1.Einleitung»Der Multimediarausch findet nicht statt«1

1996 war die Welt noch in Ordnung. In einem Artikel mit dem Titel »Mythos Netz« fasste das Nachrichtenmagazin Der Spiegel die optimistischen Szenarien, naiven Hoffnungen und raunenden Befürchtungen zusammen, die sich an die nunmehr in den (bundesdeutschen) Mainstream eindringende »weltweite Datenverbindung Internet«2 knüpften – um zu resümieren, dass trotzdem alles irgendwie beim Alten bleiben werde, denn nur eine nerdige Minderheit habe doch überhaupt Lust, sich »auf den elektronischen Straßen« zu »tummeln«.3 Wollen sich Nutzer*innen wirklich individuelle Newsfeeds und Unterhaltungsprogramme aus einem »Online-Angebot« zusammenstellen, also beispielsweise den Spiegel »am Schirm lesen«?4 Rolf S. Müller, der Autor des Artikels, zeigt sich skeptisch. Er verweist dabei auf Autoritäten wie den »Freizeitforscher Horst W. Opaschowski«, der »Multimedia« für einen kurzlebigen Trend hält und darauf setzt, dass sich »Verbraucher« weiterhin vor dem Fernseher »passiv berieseln«5 lassen möchten. Zu Wort kommt auch ein »Josef Schäfer, Bereichsleiter für Multimedia beim Essener RWE-Konzern«, der »Multimedia« zwar als »interessante[n] Markt« betrachtet, aber nicht glaubt, dass »der Kunde« [sic!] auch bereit sei, »Geld dafür zu zahlen«.6

Dass das »Online-Angebot« dereinst nicht nur zu einem Wirtschaftsfaktor, sondern überhaupt zur medialen, ökonomischen, ja epistemischen Dominante im Leben der meisten Menschen werden könnte, gehört in diesem journalistischen Zeitzeugnis nicht zum Horizont des Vorstellbaren. Hier wird noch nicht antizipiert, was heute längst als »Disintermediation« Tatsache ist: So nennt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen den Bedeutungsverlust der »Gatekeeper alten Typs, […] [der] Wächter am Tor zur öffentlichen Welt in Gestalt von Journalistinnen und Journalisten«.7 Ebenso unvorstellbar ist für den Spiegel damalsder begleitende Prozess der »Hyperintermediation«, also das Aufkommen neuartiger »Medien- und Netzwerkeffekte[] und neue[r] intransparent agierende[r] Gatekeeper[], die als weitgehend unsichtbare Instanzen der Vorfilterung, der Auswahl und Gewichtung sowie der potenziell epidemischen Verbreitung wirken«.8 Das Ineinandergreifen dieser beiden Tendenzen – der Machtverlust »klassische[r] Gatekeeper« und die Entstehung algorithmischer Informationsprismen – formt jedoch in den Zwanzigerjahren des 21. Jahrhunderts unsere Realität. Wir alle »agier[en]« nunmehr weitgehend »befreit von der Vorabkontrolle durch« Journalist*innen, »aber geprägt von den intransparenten Gatekeepern der digitalen Zeit« als Rezipient*innen und Produzent*innen von Bild, Text und Klang »in einem global vernetzten, hochsensiblen Kommunikationsuniversum«.9

Wenn sich noch vor einem Vierteljahrhundert der Bedeutungsverlust der Gatekeeper*innen der Vorstellungskraft eines ebensolchen entzog, so hängt das wohl nicht zuletzt mit einer kuriosen Setzung zusammen, die auch in aktuellen Debatten über das Internet und die Digitalkultur noch zuweilen hervorgekramt wird. Müller postuliert nämlich in seinem Spiegel-Artikel eine »unüberbrückbare Kluft zwischen Leben und der mechanischen Simulation von Prozessen«,10 also zwischen einer nicht näher definierten ›Realität‹ und einer angeblich immer nur mimetischen, künstlichen, simulativen und insofern nachgeordneten und vernachlässigbaren ›Digitalität‹. Diese behauptete »Kluft« rettet am Ende des Artikels die Deutungshoheit der mit der Beschreibung und Gestaltung des »Leben[s]« befassten Journalist*innen, und nur naive »Computergläubige[]« könnten auf die Idee kommen, besagte »Kluft« zu »negier[en]«.11

Nun mag man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte positiv oder negativ deuten, man mag das »demokratisierende[] Potential des Webs«12 feiern oder bestreiten13 – sicher ist in jedem Fall, dass es keine »Kluft« zwischen »Leben« und Digitalkultur mehr gibt, wenn es sie denn jemals gab. Wir leben längst in einer ›Kultur der Digitalität‹.14 Im digitalen Raum entstehen neue Handlungsräume, Weltbezüge und Deutungsmuster, geprägt von distinkten ästhetischen Verfahren, darunter insbesondere Referenzialität, Gemeinschaftlichkeit und schematisierend vorstrukturierende ›Algorithmizität‹:15

Referentialität […] [bezeichnet die] Nutzung bestehenden kulturellen Materials für die eigene Produktion […]. Im Kontext einer nicht zu überblickenden Masse von instabilen und bedeutungsoffenen Bezugspunkten werden Auswählen und Zusammenführen zu basalen Akten der Bedeutungsproduktion und Selbstkonstitution. Gemeinschaftlichkeit ist die zweite Eigenschaft, die diese Prozesse kennzeichnet. Nur über einen kollektiv getragenen Referenzrahmen können Bedeutungen stabilisiert, Handlungsoptionen generiert und Ressourcen zugänglich gemacht werden. Dabei entstehen gemeinschaftliche Formationen, die selbstbezogene Welten hervorbringen […]. Die dritte Eigenschaft der neuen kulturellen Landschaft ist ihre Algorithmizität, das heißt, sie ist geprägt durch automatisierte Entscheidungsverfahren, die den Informationsüberfluss reduzieren und formen, so dass sich aus den von Maschinen produzierten Datenmengen Informationen gewinnen lassen, die der menschlichen Wahrnehmung zugänglich sind und zu Grundlagen des singulären und gemeinschaftlichen Handelns werden können.16

Wenn in der so gearteten Kultur der Digitalität jede*r »zum Sender geworden« ist und »barrierefrei öffentlich machen« kann, »was ihn« oder sie »bewegt«,17 dann verschwinden auch alle »Schonräume der Intransparenz, Sphären der Unschärfe und Unbefangenheit, weil permanent beobachtet, gefilmt oder fotografiert wird, weil alle senden und posten […]«.18

Um das »Schwinden«19 dieser »Schonräume« oder eben die bald witzige, bald befreiende, bald aber auch bedrohliche, aufreibende und destruktive Überbrückung der einst Gewissheit spendenden »Kluft« zwischen ›Internet‹ und ›real life‹ geht es in diesem Buch. Und zwar befassen sich die folgenden Ausführungen mit sogenannten memes beziehungsweise – zu Deutsch – Memen, also mit meist humoristisch angelegten Bild-, Ton-, Text- oder Videobeiträgen (oder auch Kombinationen all dieser Elemente), die sich im Netz in Windeseile, das heißt ›viral‹, verbreiten und im Zuge dieses Verbreitungsprozesses vielfältige Modifikationen erfahren. In diesem Zusammenhang muss vom definitiven Ende des Medienzeitalters einer ›passiven Berieselung‹ gesprochen werden. Am Beispiel dieses Phänomens will das vorliegende Buch die von Felix Stalder ausgerufene Kultur der Digitalität genauer kartographieren – und ihren Bildern, Motiven, Narrativen sowie Rezeptionseffekten mit dem Rüstzeug der Kulturwissenschaften auf den Grund gehen.

1.1Digitalität und Realität: memes als Paradigma der Kultur der Digitalität

Das ›Digitale‹ interessiert uns also weniger als medientechnologisches denn als kulturelles Phänomen, eingedenk Hannes Bajohrs Feststellung, dass digitale Technologien nur »das materiale Substrat eines neuen Wirklichkeitsbegriffes« bilden: An der Kultur der Digitalität ist für uns nicht so sehr das »technische[] Fundament«20 von Belang (wobei von der perfiden Funktionsweise von Algorithmen und den handfesten ökonomischen Interessen hinter den bekanntesten Online-Plattformen immer wieder die Rede sein wird). Einschlägig für die Kultur der Digitalität sind unserer Ansicht nach vielmehr genau jene Phänomene, welche die vermeintliche »Kluft« zwischen dem »Leben« und seiner digitalen Simulation und Reproduktion überbrücken, also Phänomene, die das für unsere Gegenwart so charakteristische referenziell, gemeinschaftlich und algorithmisch grundierte »Wirklichkeitsverständnis selbst zeig[en], anstatt es nur zu sagen«21 (Näheres zum hier vertretenen Kulturbegriff in Kapitel 5.1).

Das leisten memes wie kaum eine andere Manifestation dieser von Bajohr beschriebenen ›epistemischen‹ Digitalität. Díaz definiert sie ausführlich:

An internet meme is a unit of information (idea, concept or belief), which replicates by passing on via Internet (e-mail, chat, forum, social networks etc.) in the shape of a hyper-link, video, image, or phrase. It can be passed on as an exact copy or can change and evolve. The mutation on the replication can be by meaning, keeping the structure of the meme or vice versa. The mutation occurs by chance, addition or parody, and its form is not relevant. An IM depends both on a carrier and a social context where the transporter acts as a filter and decides what can be passed on. It spreads horizontally as a virus at a fast and accelerating speed. It can be interactive(as a game), and some people relate them with creativity. Its mobility, storage, and reach are web-based (Hard disks, cell phones, servers, cloud etc.). They can be manufactured (as in the case of the viral marketing) or emerge (as an offline event taken online). Its goal is to be known well enough to replicate within a group.22

Wenn solche meme-Definitionen etwas umständlich anmuten, so hat das nicht zuletzt etymologische Gründe. Den Begriff des meme gibt es nämlich schon eine Weile; er wurde für seine Verwendung im digitalkulturellen Kontext gleichsam entlehnt: Das meme ist ein von Richard Dawkins (in The Selfish Gene, 1976)geprägter Neologismus. Bei Dawkins erfüllt das meme im sozialen oder kulturellen Bereich die Funktion, die dem Gen in der Biologie zukommt: Es bezeichnet einen Bewusstseinsinhalt, der durch Kommunikation weitergegeben wird, sich vervielfältigt und somit ›vererbbar‹, damit auch Gegenstand einer soziokulturellen Evolution wird. Um seine Wortschöpfung zu begründen, verweist Dawkins auf das aristotelische Konzept der mimesis beziehungsweise, in seiner Auslegung des Begriffs, der »imitation«,23 also der Weiterverbreitung eines Inhalts mittels Nachahmung (oder, einfacher und wahrscheinlich genauer: ›Darstellung‹). Auch Dawkins vermerkte schon, wie stark die Selbstbezogenheit solcher memes ist, was den Rezeptionsprozess verkompliziert. Er postulierte zudem die Möglichkeit einer Verbindung einzelner memes zu meme-complexes, zu Clustern von sich gegenseitig bedingenden und nur in der Zusammenschau verständlichen memes24 (von solchen Clustern wird im Folgenden mehrfach die Rede sein).

Die Semantik des meme-Begriffs entwickelte sich nach dem Siegeszug des Internets freilich in Richtungen, die Dawkins nicht vorhersehen konnte. Durch den Hebeleffekt digitaler Technologien entstanden bestimmte Handlungs- und Interaktionsmöglichkeiten, die zuvor so nicht oder nicht in einem derart hohen Grad existierten. Die »specific affordances« oder Affordanzen (»what an object allows a person to do with it«25), die der meme-Produktion immer auch zugrunde liegen, sind Modularität, Modifizierbarkeit, Archivierbarkeit und Zugänglichkeit beziehungsweise Erreichbarkeit. Unter »modularity« verstehen Whitney Phillips und Ryan M. Milner »the ability to manipulate, rearrange, and/or substitute digitized parts of a larger whole«, ohne dass dieses »whole« dabei ganz unkenntlich würde. »Modifiability« ist »the ability […] to repurpose and reappropriate aspects of an existing project toward some new end«, »archivability« bezeichnet das lange Gedächtnis des Internets, »accessibility« damit zusammenhängend die Verfügbarkeit digitaler Inhalte für viele Menschen über lange Zeit.26

Diese Möglichkeiten, die der digitale Raum in besonderem Maß bietet, spielen eine zentrale Rolle für die Entwicklung und die Funktion von Internet-memes. Denn dieseoperieren nicht simpel nach dem Prinzip der imitatio oder eben der ›mimetischen‹ Nachahmung. Memes sind keine stabilen ›Embleme‹, auch wenn sie tatsächlich oft an diese multimediale Kunstform erinnern, da auch sie meistens eine Kombination eines Bildelements (pictura) mit einem Motto oder Titel (inscriptio) beziehungsweise erklärenden Textbausteinen (subscriptio) aufweisen. Die Appellstruktur von memes beinhaltet vielmehr immer, wie aus Díaz’ eingangs zitierter Definition ersichtlich wurde, ein kreatives Potenzial zur Umgestaltung: ein Moment eben nicht nur der Mimesis, sondern einer Memesis, um den Neologismus vorwegzunehmen, von dem (und von dessen adjektivischem Derivat ›memetisch‹) in Kapitel 2.2 noch genauer die Rede sein wird. Mit anderen Worten: Obwohl memes zuhauf kopiert werden, sind sie qua ›modularity‹ und ›modifiability‹ mehr als bloß die Produkte von Nachahmungs-, Verdoppelungs- und Wiederholungsprozessen, und sie wollen auch mehr sein. Memes sind immer auch darauf ausgerichtet, die Bereitschaft und Fähigkeit zu wecken, ein Rezeptionsangebot produktiv in einen user generated content umzuformen und umzudeuten; formale Gestalt und semantischer Gehalt sind in diesem Replikationsvorgang untrennbar miteinander verschränkt und von gleicher Relevanz.

Am Ausgangspunkt memetischer Replikationsketten kann dabei auch kulturelles Material stehen, das für sich allein genommen keine meme-Qualitäten hat, aber sozusagen auf memetische Ausbeutbarkeit angelegt ist. Giampaolo Bianconi prägte für solche Kalibrierungen der Appellstruktur schon vor einigen Jahren den Begriff der ›GIFability‹: Damit bezeichnet er eine produktionsästhetische Antizipation der rezeptionsseitigen Singularisierung einzelner besonders einprägsamer Filmszenen in Form von GIFs, also kurzen animierten Bildsequenzen, die als ›reaction images‹ und memes virale Verbreitung finden.27 Als Beispiel für solche bewusst erzeugte GIFability oder eben ›memeability‹ könnte man hier etwa die Videobotschaft des Schauspielers und früheren kalifornischen Gouverneurs Arnold Schwarzenegger nennen, in der er nach der gewaltsamen Erstürmung des Kapitols in Washington D. C. durch Trump-Anhänger*innen am 6. Januar 2021 (historisch sehr problematische) Parallelen zu den Novemberpogromen von 1938 zog. In einer so dramatischen wie grotesken Szene, an der also auch visuell interpungierten ›Peripetie‹ des Videos, zückte Schwarzenegger die Schwertrequisite aus dem Film Conan the Barbarian, um die Stärke der US-amerikanischen Demokratie mit dem vielfach vergüteten Stahl der Waffe zu assoziieren. Solche Pointierungen lassen in ihrer bewusst erzeugten Inkongruenzkomik – hier: der mit pathetischem Ernst vorgetragene Vergleich einer demokratischen Tradition mit einer trashigen Requisite – auf eine Sensibilität für die memetische Replikationsfähigkeit digital kursierender Bilder schließen: Das Video, das denn auch tatsächlich ›viral‹ ging, scheint geradezu seine eigene memetische Auswertung provozieren zu wollen (zu einer solchen ist es allerdings trotz unbestreitbarer ›GIFability‹ bisher nicht gekommen; Recherchen fördern nur wenige Arnold-mit-Schwert-memes zutage).

Abb. 1: Pathos und Übertreibung als ›replikationsfördernde‹ Inszenierungsstrategien

In jedem Fall handelt es sich also bei memes um multi-modale, das heißt in unterschiedlichen Medien, »modes of communication« und stilistischen Registern manifeste »[R]eappropriation[en]«28 und Revisionen bestehenden Materials. Der Begriff meme ist insofern gewissermaßen die Abkürzung für ›mimetisch kopierbarer Forminhalt mit memetischer, also zu modifizierender Replikation anregender Funktion‹ – und bezieht sich keineswegs gezwungenermaßen nur auf digitale mediale Träger. So gibt es memetische Fotos, Texte, Segmente, Sequenzen, Gesten, Tänze, Skulpturen und anderes mehr; viele solche mediale Konfigurationen werden hier zur Sprache kommen.

Angesichts der Vielfalt und damit der intrinsischen Instabilität von memes ist die Forderung nach einer »einheitliche[n] Definition des Phänomens«,29 die aus den Reihen der Sprachwissenschaftler*innen laut wurde, wahrscheinlich falsch gestellt. ›Einheitlichkeit‹ ist im Umgang mit einem semantisch und semiotisch derart heterogenen »Phänomen[]« eine Chimäre. Den online zirkulierenden Informationsfragmenten muss terminologisch und konzeptuell vielmehr mit Offenheit und Kreativität begegnet werden – eingedenk der Tatsache, dass Linearität, Stabilität und Vorhersagbarkeit nicht mehr zu haben sind, sondern jede rezeptive und produktive Beschäftigung mit diesen Fragmenten neue, dynamische und unerwartete »Experimentierreihen«30 in Gang setzt. Der schon nur deshalb gebotene Verzicht auf ›Einheitlichkeit‹ wird durch den Gewinn neuer und unerwarteter Perspektiven belohnt.

Solche Perspektiven bietet beispielsweise Peter Glasers treffende Formulierung von der »digitale[n] Substanz«: Auch wenn man die im digitalen Raum-Zeit-Gefüge verfügbaren Informationen weder berühren noch riechen oder schmecken kann, sind sie doch im Kern Materialien, vielseitig einsetzbare Bausteine von Weltbildern und künstlerischen Produkten, die sich gerade qua Instabilität und Mannigfaltigkeit allen homogenisierenden Klassifikationsversuchen entziehen:

Diese digitale Substanz hat eine grundlegend neue Offenheit und Leichtigkeit. Digitale Dinge lassen sich ungleich leichter finden und bewegen als zuvor, weltweit versenden, empfangen, verändern, kopieren, mit anderen teilen, neu zusammenfügen, remixen. Musik, Texte, Bilder, Filme, enzyklopädisches Wissen, aber auch die Software selbst befinden sich in der digitalen Sphäre in einem Zustand latenter Zerlegung. Die althergebrachten, gebündelten Darreichungsformen vulgo Moleküle werden aufgeknackt wie in einer Raffinerie oder zerfallen von allein wieder in ihre Grundbestandteile. Auf den ersten Blick findet ein gewaltiger zerstörerischer Prozess statt. […] Doch der digitale Auflösungsprozess endet nicht im Weltuntergang; die Zerlegungsprodukte, die der Eintritt in die digitale Sphäre erzeugt, lassen sich vielmehr auf überraschend reichhaltige Weise auch rekombinieren und wieder zu neuen Produktmolekülen zusammenstecken.31

Dieser volatile Prozess des ›Zerfalls‹ ›digitaler Substanz‹ und der darauf jeweils folgenden Rekombination soll mit dem Konzept der Memesis beschrieben und analysiert werden. Wir verabschieden uns also von der Illusion definitorischer Uniformität und suchen weiter gefasste und dennoch präzise Kriterien, Konzepte und Kategorien, die dem Facettenreichtum der ›digitalen Substanzen‹ gerecht werden. In diesem Sinne schlagen wir hier nicht eine geschlossene, systematische Theorie der Kultur der Digitalität oder der memes an sich vor, sondern praktizieren in Bezug auf einige spezifische Phänomene das, was Andreas Reckwitz als »kritische Analytik der Gegenwart und ihrer Genese« bezeichnet: Wir versuchen, statt »normative[r] Theorie« eine »Sensibilität für die Konfigurationen des Sozialen und ihre Geschichtlichkeit zu entwickeln, dafür, wie sie zu Strukturen der Herrschaft und der Hegemonie gerinnen, die den Teilnehmern möglicherweise nur schemenhaft bewusst sind.«32

1.2Kontexte, Desiderate, Blindstellen: Anliegen und Struktur dieses Buchs

Obwohl memes Entitäten sind, die Ausdrucksformen für Gemeinschaften aller Art bereitstellen – für Subkulturen, für Fans bestimmter Hobbys oder Künstler*innen, für Satiriker*innen, ja für ganze Generationen –, sind siebis heute relativ wenig erforscht. Limor Shifman legte zwar vor einigen Jahren eine wichtige Monographie zum Thema vor, Meme. Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter (2013). Diese bietet grundlegende Erkenntnisse, auf denen wir aufbauen können. Doch ihre Analyse atmet teilweise noch den optimistischen Geist der Nullerjahre, in denen die neuen digitalen Ausdrucksformen vor allem als Mittel ›linker‹ oder ›progressiver‹, im weitesten Sinne demokratiefördernder Anliegen und Politik(en) begriffen wurden.33 Die problematischen oder sogar destruktiven Aspekte memetischer Kommunikation konnten so kaum in den Blick geraten. In gewisser Hinsicht ist Shifmans Monographie sowohl wegen dieser Stoßrichtungals auch wegen der enorm rasanten Evolution der Gattung meme schon jetzt nicht mehr aktuell. Dasselbe Schicksal blüht natürlich dem vorliegenden Buch – das ist die einzige sichere Vorhersage, welche die Verfasser*innen treffen können. Dennoch erheben die hier versammelten Analysen den Anspruch auf Beispielhaftigkeit,34 da sie Aspekte überhellen, die in der Kultur der Digitalität in je und je anderer Form immer wieder vorkommen. Anstatt eine willkürliche Auswahl an memes zu analysieren,35 konzentrieren wir uns auf populäre Beispiele, die aus dem einen oder anderen Grund – wie im Einzelfall zu zeigen – interessante Einblicke in die Struktur und Verbreitung von memes erlauben und durch die sich grundlegende Eigenschaften der Kultur der Digitalität illustrieren lassen. So geht es denn auch weniger um den genauen Status des einzelnen meme. Ein meme, das heute aktuell und relevant wirkt, mag schon in wenigen Monaten veraltet, ja vergessen sein. Stattdessen werden die einschlägigen Poetologien und Rezeptionskulturen untersucht, wie sie sich in immer neuen memes immer wieder Geltung verschaffen. Unser Ansatz ist somit verwandt mit dem Nowaks, der in Internet meme as meaningful discourse im Anschluss an Stuart Halls Encoding and Decoding in the Television Discourse eine doppelte Herangehensweise an kulturelle Artefakte überhaupt und memes im Besonderen vorschlägt: zwischen dem »micro-approach of deep investigation of how particular media texts’ ideologies are negotiated and reproduced (within frameworks of knowledge)« und einem »macro-approach of focusing on systemic, structural factors (relations of production and technical infrastructure) that discursively contextualize mass media communication«.36

Hier soll also, kurzum, das Desiderat einer monographischen Abhandlung erfüllt werden, die memes erstens als eine Gattung formalästhetisch konzise und stringent beschreibbarer kultureller Artefakte begreift; eine Gattung, die sich zweitens differenzästhetisch von anderen Gattungen unterscheidet respektive sich im Wechselspiel mit anderen kulturellen Traditionslinien erst ausbildet und die drittens neuartige rezeptionsästhetische Fragestellungen und Problemfelder eröffnet, also neue Fragen zu Kategorien wie ›Autorschaft‹, ›Publikum‹ und ›Produzent*innen‹ aufwirft. Zu beachten ist dabei stets die vermeintliche Selbstverständlichkeit, dass Meme ästhetische Produkte sind, die durch (üblicherweise)anonyme und kollektive Autorschaft entstehen.37 Sie unterlaufen damit traditionelle Vorstellungen von Autorschaft sowie jede Form von Genieästhetik – nicht zuletzt das mag mit ein Grund dafür sein, dass über eine lange Zeit hinweg ohnehin nicht von einer (ästhetischen) ›Gattung‹ meme gesprochen wurde und man memes erst seit Kurzem als ›Texte‹ begreift, die einer vertieften Analyse würdig sind. Die ästhetische Eigenwertigkeit und Vielseitigkeit dieser medialen Artefakte geriet kaum in den Blick, auch zu einer Zeit, als verschiedene neue oder auch nicht mehr so neue Medien wie der Film, das Fernsehen oder der Comic schon längst die Aufmerksamkeit diverser kulturwissenschaftlicher Disziplinen auf sich gezogen hatten.

Unser Buch gliedert sich in fünf Hauptteile. Das zweite, also das auf diese Einleitung folgende Kapitel dreht sich um ein gemäß Stalder fundamentales Charakteristikum der Kultur der Digitalität, das in memes exemplifiziert wird: die Referenzialität. Auf der Grundlage detaillierter Fallstudien, die über memes verhandelte Gruppenidentitäten sowie die ›postmoderne‹ Ästhetik von memes in ihr Zentrum stellen, sollen memetische Verweisstrukturen ein schärferes Profil erhalten. Wir zeigen auf, dass und inwiefern memes als referenzielle ästhetische Artefakte zu begreifen sind, und spüren verschiedenen meme-Kulturen nach, die sich auf diversen Plattformen ausgeprägt haben – nicht unähnlich der Ausprägung verschiedener künstlerischer Stile in bestimmten ›Schulen‹. Das Kapitel ist somit von grundlegender Wichtigkeit, da es einerseits konkrete Digitalplattformen und ihre Funktionsweisen untersucht, die immer wieder zur Sprache kommen werden, andererseits mit der Referenzialität das formale Kriterium von memes überhaupt ergründet.

Im dritten Kapitel steht ein weiteres formalästhetisches Merkmal von memes im Zentrum – der Humor. Unter Berufung auf klassische Theorien des Witzes sollen memes greifbar werden als humoristische, teilweise gar dadaistische Formationen, die durch Gelächter Gemeinschaften schaffen und Grenzen ziehen – und die Dinge leisten können, die der ›offline‹-Humor nicht zu leisten vermag. Memetischer Humor nimmt also ganz eigene und originelle Formen an, die sich durch ein hohes Maß an Selbstreflexivität auszeichnen können. Die letzten Unterkapitel des Humor-Teils widmen sich anhand von memes, die Geschlechterrollen und -identitäten zum Thema haben, der Frage nach der Reproduktion respektive Subversion von Machtstrukturen. Können memes kritisches, gesellschaftsveränderndes Potenzial entfalten? Oder stehen sie in einem Verhältnis der Komplizenschaft mit dem, was ohnehin schon Geltung hat?

Das vierte Kapitel vertieft die Auseinandersetzung mit diesem Komplex: Diskutiert wird hier das sogenannte politische meme, das in den letzten Jahren virulent wurde und für ideologisch ganz unterschiedlich gefärbte Praktiken anschlussfähig ist. Memes können politische Sprengkraft entwickeln, da sie als kulturelle Praktiken schon immer »tied to ideological practices« sind, wie Nowak schreibt.38 Ein besonderes Augenmerk gilt hier dem Stilmittel der Ironie; wir schließen an die Überlegungen im Humor-Kapitel an, fragen aber nach der Bedeutung und Instrumentalisierung von ›ironischen‹ Gesten im Feld des Politischen.

Memes dringen teilweise in den sogenannten Mainstream ein: Diese Beobachtung soll in einem als Scharnierstelle konzipierten fünften Kapitel präzisiert und problematisiert werden, bevor dann im sechsten und letzten Kapitel Untersuchungen zu Prozessen der Normalisierung und sogar Kanonisierung von memes angestellt werden. Dieses letzte Kapitel bereichert die Versuchsanordnung um memetische künstlerische Konfigurationen, die nicht im ›digitalen‹ Bereich verbleiben – und zeigt so noch einmal, dass die Kultur der Digitalität mit Bajohr als »Wirklichkeitsbegriff[]« zu denken ist, der weit über die Sphäre des Internets hinausreicht und künstlerische Praktiken heute grundlegend prägt. In unseren Analysen gehen wir also von konkreten Internet-memes über zu einem breiteren Verständnis einer memetischen Produktion(sästhetik), die in allen möglichen medialen Kontexten wirksam wird. So changiert unser Erkenntnisinteresse zwischen Bestandsaufnahmen, Reflexionen zur ästhetischen Spezifität von memes (für deren terminologische Erfassung wir in Kapitel 2.2 das Konzept der Memesis einführen werden) und Fallstudien zu Manifestationen dieser Memesis in Form von transmedialen, ›digitalen‹ wie ›analogen‹ kulturellen Verfahren.

In allen Kapiteln wird die Ebene der Geschichtlichkeit mitgedacht. Der Geschichte von memes nimmt sich hier kein eigenes, abgeschlossenes Kapitel an, da ein solches Unterfangen eine Kontinuität und Linearität unterstellen würde, die der Gattung zuwiderläuft – zumal überhaupt erst eine ›Archäologie des digitalen Wissens‹ im weiteren Sinne versucht werden müsste. Memes haben zwar eine Geschichte insofern, als bestimmte memes und meme-Formen zu bestimmten Zeiten Konjunktur haben, was in diesem Buch auch reflektiert werden soll (Formate wie LOLcats, Advice Animals oder Rage Comics aktivieren in jeweils unterschiedlicher Weise memetische Wirkungspotenziale).39 Sie haben auch eine Vorgeschichte in den »memetic logics«40 diverser humoristischer und folkloristischer Ausdruckstraditionen, die dem Siegeszug des Internets vorangingen.41 Doch die meme-Geschichte und -Vorgeschichte lässt sich nicht losgelöst von anderen Aspekten sinnvoll erzählen. Diachronie und Synchronie müssen hier eng verschränkt bleiben, und Geschichtlichkeit heißt immer auch, dass wir in unserem Buch bestimmte zeitgebundene digitale Formen dokumentieren möchten, die sonst trotz breiter Wirkung vergessen gehen könnten.

Für das Schwanken dieses Buchs zwischen der Mikro-Ebene konkreter meme-Analyse und der Makro-Ebene abstrakter, auch historiographischer Reflexion und Thesenbildung ist die Überlegung Pörksens grundlegend, dass »die Wirkungen einer nervösen, hoch reaktionsbereiten Medienmacht gar nicht« erkannt werden können, »wenn man einfach nur die Ereignisgeschichte referiert und sich am gerade Aktuellen orientiert, also allein die gerade diskutierten Inhalte betrachtet«.42 Der Blick auf die konkreten Inhalte, etwa auf einzelne auffällige memes, die wir als Fallbeispiele herausgreifen, muss durch den distanzierten Blick auf die »Effekte digitaler, vernetzter Medien« ergänzt werden – in der Hoffnung, dass wir in dieser Flughöhe zu einem Modell memetischer Phänomene gelangen, das die »Empörungskybernetik« und die »Dauerirritation«43 unseres hyperstimulierten Zeitalters zu verstehen hilft.44 Wir möchten einen Diskussionsbeitrag leisten zum laufenden Prozess einer gesamtgesellschaftlichen Ausbildung und Aushandlung digitaler Kompetenzen der Kommunikation und Weltaneignung.

1Zit. nach einem Interview vom 17.06.1997: https://www.heise.de/tp/features/Der-Medienrausch-findet-nicht-statt-3411040.html (27.11.2020).

2https://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-8889468.html (27.11.2020).

3Ebd.

4Ebd.

5Ebd.

6Ebd.

7Pörksen 2018: S. 64; Hervorhebung im Original.

8Ebd.; Hervorhebung im Original.

9https://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-8889468.html (27.11.2020).

10Ebd.

11Ebd.

12Stier 2017: S. 20.

13Einen diachronisch angelegten Überblick über die wechselnden Konjunkturen von Internetoptimismus und Digitalitätsskepsis bietet Stier 2017: S. 13-23, mit einer aufschlussreichen Visualisierung der Debattenzyklen auf S. 16.

14Vgl. Stalder 2016.

15Siehe zu diesen drei ästhetischen Hauptmerkmalen der ›Kultur der Digitalität‹ ebd.: S. 13f.

16Ebd.: S. 13.

17Pörksen 2018: S. 63.

18Ebd.: S. 94.

19Ebd.

20Bajohr 2016: S. 13f.

21Ebd.: S. 14; Hervorhebungen im Original.

22Díaz 2013, S. 97; Hervorhebungen im Original.

23Dawkins 1989: S. 192.

24Siehe ebd.: S. 197ff.

25Milner und Phillips 2017: S. 45.

26Ebd. Siehe auch ebd.: S. 31.

27Siehe Bianconi 2012.

28Milner und Phillips 2017: S. 31.

29Dürscheid und Frick 2016: S. 69.

30Porombka 2018: S. 139.

31Glaser 2015: o. S.

32Reckwitz 2017: S. 23; Hervorhebungen im Original.

33Siehe hierzu abermals Stier 2017: S. 13-23.

34Beispielhaftigkeit allerdings nur für einen im weitesten Sinne ›westlichen‹ kulturellen Kontext: Das vorliegende Buch kann aufgrund des gegebenen Wissenshorizonts der Verfasser*innen nicht konsequent transkulturell argumentieren.

35Aufgrund der Omnipräsenz und der dauernden Veränderung des Internets ist es praktisch unmöglich, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende randomisierte Stichproben durchzuführen (vgl. dazu Weare/Lin 2000). Aus denselben Gründen wird hier auch auf quantitative Analysen verzichtet, also beispielsweise auf statistische Erhebungen zu den ›beliebtesten‹ memes (wobei wir solchen Analysen, wie sie z.B. Shifman durchgeführt hat – vgl. Shifman und Lemish 2010: S. 877-879 für die Details der Methode, sowie dies. 2011 – natürlich in keiner Weise ihre Berechtigung absprechen wollen, wenn die Forschungsfrage ein solches Vorgehen sinnvoll erscheinen lässt). Stattdessen unternehmen wir im vorliegenden Buch qualitative Analysen von einzelnen memes mit besonderem Augenmerk auf den (formalästhetischen, differenzästhetischen, wirkungsästhetischen) Prozessen, die an ihrer Entstehung, Variierung und Verbreitung beteiligt sind.

36Nowak 2016: S. 80.

37Vgl. u.a. Goerzen 2017; vgl. zur Frage der Autorschaft auch Nowak 2016: 83f.

38Nowak 2016: S. 79.

39Vgl. Attardo 2014 [Hg.]: S. 392.

40Milner und Phillips 2017: S. 32.

41Siehe hierzu vor allem ebd.: S. 30ff.

42Pörksen 2018: S. 8.

43Ebd.: S. 7f.; Hervorhebung nicht im Original.

44In Bezug auf seinen Untersuchungsgegenstand, die ›neue Rechte‹ im Netz, verfolgt Simon Strick ein ähnliches Ziel: »Es reicht nicht, einen ›neuen Faschismus‹ festzustellen, der sich im Netz ausbreitet. Wir müssen ihn und die Parameter seiner Ausbreitung auch neu begreifen.« (Strick 2021: S. 11)

2.ReferenzialitätLokale meme-Kultur global vernetzt

Während die Digitalkultur ein globales Phänomen ist, sind ihre Ausprägungen doch wieder ›lokal‹, nicht im Sinne einer geographischen, sondern einer infrastrukturellen und/oder ideologischen Verankerung. Auf bestimmten Plattformen finden sich bestimmte Mem-Kulturen, Gemeinschaften von Gleichgesinnten oder jedenfalls von User*innen, die über dieselben Dinge lachen – Gemeinschaften, die auch aufgrund der technischen Gegebenheiten und Funktionsweisen der jeweiligen Infrastruktur dort entstehen und florieren. Einige Beispiele: User*innen benutzen den Kurznachrichtendienst Twitter, um das politische Geschehen zu kommentieren. Auf Twitter lassen sich die Profile relativ vieler Nutzer*innen an ihre offline-Identitäten zurückbinden; sie verwenden ihren Klarnamen, verweisen in ihren Profilbeschreibungen auf berufliche Funktionen und private Websites oder sind gar durch die Plattform ›verifiziert‹ worden (was durch ein blaues Häkchen neben dem Benutzernamen angezeigt wird). Berüchtigt wurde der Mikrobloggingdienst im Rahmen des US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs 2016, da Donald Trump ihn ausgiebig nutzte – und auch als Präsident nicht davon abließ, politische Kommunikation und Agitation über Tweets zu betreiben.1 Instagram, eine Mischung aus Microblog und audiovisueller Plattform, wird genutzt, um das eigene Leben fotografisch zu dokumentieren, Einblicke in das Leben von Berühmtheiten zu erhalten, sogenannten Influencer*innen zu folgen – und natürlich um memes zu verbreiten. Facebook – die Muttergesellschaft von Instagram – dient unter anderem der persönlichen Vernetzung und Planung des Soziallebens, da sowohl private als auch institutionelle User*innen ausgiebig die Funktion nutzen, Einladungen zu verschicken und Anlässe zu organisieren. Auf Reddit wiederum, einem sogenannten Social-News-Aggregator, können registrierte Benutzer*innen Inhalte – Links, Bilder oder Textbeiträge – einstellen beziehungsweise anbieten, die wiederum von anderen Nutzer*innen positiv oder negativ beurteilt werden. Die Bewertungen beeinflussen, welche Position der Beitrag auf der jeweiligen Reddit-Seite sowie der Startseite einnimmt. Dazu kommen verschiedene Mainstream-Plattformen, die Beiträge und memes von anderen Plattformen abschöpfen und sie oft einem breiteren Publikum zugänglich machen, jenseits der spezifischen Ausrichtungen der Seiten, auf denen die memes entstanden. Dazu gehört zum Beispiel 9GAG, eine englischsprachige Plattform, auf der meistens ohne Quellenangaben Bilder, GIF-Animationen und Videos von Nutzern geteilt, kommentiert und bewertet werden. User*innen benutzen oftmals verschiedene Plattformen parallel, um verschiedene Interessen und soziale Bedürfnisse abzudecken.

In Sachen Alter, Geschlecht oder ideologischer Ausrichtung unterscheiden sich die User*innenbasen der verschiedenen Plattformen. Zum Beispiel wird Facebook ausgiebiger von der generationellen Kohorte der sogenannten Babyboomer genutzt als Instagram. Die Plattform Tiktok wiederum, ein chinesisches Videoportal für die Lippensynchronisation von Musikvideos und anderen kurzen Videoclips mit Funktionen eines sozialen Netzwerks, wird vornehmlich von sehr jungen User*innen genutzt. Plattformen sind also durch ihre Funktionalitäten bestimmte Nutzungsweisen eingeschrieben und sie ziehen unterschiedliche Gruppen von Menschen an – und auf ihnen entstehen aufgrund unterschiedlicher technischer Möglichkeiten auch unterschiedliche memes, auf Tiktok etwa vornehmlich virale Videos.

Die Meme-Kultur aber wird nicht nur durch Plattformen und ihre Affordanzen, sondern auch durch distinkte Nutzer*innengruppen und ihre Weltbilder geprägt. Simon Moebius schreibt:

[D]ie Wirklichkeitsdeutung, welche vielen Memes zugrunde liegt, ist nicht kosmopolitisch über nationale und ethnische Grenzen hinweg geprägt – wie man aufgrund des Vorkommens im vermeintlich egalitären Internet annehmen könnte. Ganz im Gegenteil sind die Communities, in denen Memes zirkulieren, und Internetseiten, auf denen Memes mit einfachen Mitteln hergestellt werden können, in fester Hand eines weißen, jungen Publikums westlicher Prägung. Alle zentralen Foren (reddit, 4chan, imgur usw.) sind stark westlich bzw. meist sogar explizit amerikanisch geprägt, auch wenn sie weltweit aufgesucht und genutzt werden. Damit einher geht eine bestimmte Sicht auf die Welt, die – folgt man Berger – dementsprechend auch einen Einfluss auf den humoristischen Inhalt hat. Denn diesem liegt die Wirklichkeitsdeutung einer Community zugrunde, welche mit bestimmten Werten, Vorstellungen, alltäglichen Normen und Regeln aufgewachsen ist, auch wenn die Ansichten innerhalb dieser Gruppe noch sehr divergent ausfallen können. So stellt […] Weißsein eine zentrale Norm dar[], welche größtenteils unbemerkt bleibt und nur punktuell Gegenstand von Reflexion wird. Damit einher geht ein Othering von anderen ethnischen und nationalen Gruppen, welches einen enormen Einfluss darauf hat, wie Stereotype in Memes aufgegriffen werden. Weiterhin ist die Community stark männlich geprägt, was sich in einer häufig sexistischen Umgangsweise und sehr männlich geprägten Diskussionen äußert.2

Zu konstatieren ist außerdem, dass verschiedene ideologische Gruppierungen von Plattform zu Plattform wandern. Spricht man über kriminelle und/oder extremistische Subkulturen im digitalen Raum, gestaltet es sich deswegen schwierig, langfristig angelegte soziologische und kulturwissenschaftliche Beobachtungen zu unternehmen.3 Diese Gemeinschaften sehen sich einem konstanten Druck durch deplatforming und polizeiliche Ermittlungen ausgesetzt und brechen deshalb oft unvermittelt ihre ›Zelte‹ ab – migrieren also von Forum zu Forum, von Kommunikationskanal zu Kommunikationskanal. Wie das etwa im Fall der englischsprachigen Neonaziszene aussieht, die sich seit einiger Zeit primär mittels des verschlüsselten Nachrichtendiensts Telegram organisiert, zeigte jüngst Talia Lavin auf.4

Damit sind einige Punkte genannt, die in unseren Analysen zentral sein werden: Meme mögen global zirkulieren, sie entstammen aber bestimmten ›lokalen‹ Kulturen und Szenen; Meme dienen oftmals, aber nicht nur humoristischen Zwecken; und viele Memkulturen sind männlich, ›westlich‹ und weiß geprägt. Sie können somit zumindest zum Teil auch als Ausdrucksformen einer Ingroup gewertet werden, die sich auf Basis ideologischer Gemeinsamkeiten auf spezifischen Plattformen versammelt und deren Inhalte unterschiedlich erfolgreich darin sind, in die breitere Öffentlichkeit zu diffundieren (vgl. Kapitel 6). Technik und Ideologie, konkrete Funktionalitäten und Ausdruck bestimmter Sentimente finden in der Digitalkultur zusammen: Man könnte hier mit Adrienne Massanari von »platform politics« sprechen, also »the assemblage of design, policies, and norms that encourage certain kinds of cultures and behaviors to coalesce on platforms while implicitly discouraging others«.5

Die Ideologie beziehungsweise die politische Ausrichtung einzelner Plattformen, auf denen besonders markante und erfolgreiche Beispiele von memes entstanden und entstehen, ist allerdings selten homogen. Auf den meisten Plattformen werden durch unterschiedliche Subkulturen auch unterschiedliche Diskurse gepflegt; die politische Kultur einer Plattform ist kaum je monolithisch. Tendenzen lassen sich aber dennoch ausmachen. 4chan, ein primär auf visuellen content ausgerichtetes imageboard,zählt (obwohl ursprünglich ideologisch weitgehend indifferent) inzwischen als Bastion der ›Rechten‹, wohl nicht zuletzt wegen der kompletten Anonymität der dort verbreiteten Inhalte, zu denen auch höchst erfolgreiche Memes wie Pepe the Frog gehören (vgl. Kapitel 4 und insbesondere 4.4).6 Um zu differenzieren, wäre freilich anzufügen, dass diese politische Orientierung 4chans vor allem auf dem Subboard/pol/, politically incorrect zu finden ist, das 2011 gegründet wurde; selbst 4chan besitzt Subboards wie/lgbt/, das Lesbian, Gay, Bisexual, & Transgender-Board,7 auf dem auch ganz anders gelagerte Diskussionen geführt werden können. Nach dem Vorbild von/pol/, nun aber explizit in der xenophoben und misogynen Ecke verortet, entstand 8kun, vormals 8chan – die Nutzer*innen des dortigen Politik-Forums (/pnd/) können als rechtsradikal eingestuft werden,8 wobei Repräsentant*innen der Szene spätestens seit Sommer 2019 eben vermehrt auch Telegram nutzen9 (und dies trifft Stand 2021 auch auf deutschsprachige Akteure vom rechten Rand zu10). 4chan mit/pol/, 8kun, aber auch die »Facebook- und Twitter-Klone Parler und Gab« oder der »Youtube-Ersatz Bitchute« gehören nicht zur Welt von Big Tech, sondern sie stilisieren sich zu alt-tech: »kleine Social-Media-Plattformen, die sich als unabhängige Alternativen zu Facebook, Google, Twitter und Co. positionieren.«11 Und eben diese Plattformen, in deren Sammelbezeichnung alt-tech schon die politische alt-right mit ihrer diskriminatorischen Agenda anklingt – von dieser Bewegung später mehr –, gelten als »Horte von Extremismus, Rassismus und Verschwörungstheorien«, wie Kovic schreibt:

Die utopischen Hoffnungen, die in den 1990er-Jahren mit dem damals jungen World Wide Web verbunden wurden, haben sich ein Stück weit bewahrheitet. Social-Media-Plattformen sind tatsächlich eine Art digitale Agora geworden: Wir alle können so einfach wie noch nie am öffentlichen Diskurs teilnehmen. Gleichzeitig sind wir eingeklemmt zwischen zwei Dystopien: hier der überwachungskapitalistische Albtraum von Big Tech, dort die hasserfüllte Radikalisierungsmaschine von Alt-Tech.12

Diese digitale Landschaft entspricht soweit dem, was Moebius konstatiert, nur in zugespitzter Form. Auf Plattformen wie 4chan oder 8kun, diesen »sewer[s] of the internet«,13 wird, auch und gerade auf der Grundlage memetischen Handelns, ein erbarmungsloses »Othering von anderen ethnischen und nationalen Gruppen« betrieben. Bestimmte Plattformen können also mit ihren spezifischen technischen Affordanzen »toxic technocultures« ausbilden – auch das ein Begriff von Massanari:

I am using the phrase ›toxic technocultures‹ to describe the toxic cultures that are enabled by and propagated through sociotechnical networks such as Reddit, 4chan, Twitter, and online gaming. […] [T]actics used within these cultures often rely heavily on implicit or explicit harassment of others. The toxic technocultures I discuss here demonstrate retrograde ideas of gender, sexual identity, sexuality, and race, and push against issues of diversity, multiculturalism, and progressivism.14

Frei nach Marshall McLuhan gilt mithin, wie Pörksen festhält, »[d]as Medium radikalisiert die Botschaft. Denn nun« – mit den Kommunikationsmitteln der Kultur der Digitalität – »können sich auch die einst Marginalisierten mit Gleichgesinnten verbünden und eine hemmende Isolationsfurcht überwinden, die sie zuvor noch blockiert […] haben mag«.15 Eine paradigmatische ›toxische Technokultur‹, die sich in diesem Sinn ›enthemmt‹ hat, wäre etwa die berüchtigte (und an memes reiche16) incel-Subkultur, die sich in eigenen Foren, diversen (Sub-)Reddits und auch auf 4chan und 8kun herumtreibt.17 Ihre Mitglieder sind ›involuntary celibates‹, also, wie Veronika Kracher in ihrer einschlägigen Studie ausführt,

unfreiwillig im Zölibat Lebende. Es handelt sich um junge Männer, die der sogenannten Blackpill-Ideologie anhängen, das nihilistischere Derivat der verschwörungstheoretischen und antifeministischen Redpill-Ideologie. Die Redpill-Ideologie ist […] eine maskulinistische Verschwörungsideologie, die besagt, dass der weiße, heterosexuelle und cisgeschlechtliche Mann inzwischen der große Verlierer unserer Zeit ist, in der die Welt vom Feminismus beherrscht wird, der wiederum eine jüdische Erfindung sei. Deswegen müsse sich der Mann auf ursprünglich männliche Werte zurückbesinnen und, da Männlichkeit sich für diese Redpiller über die Abwertung von Weiblichkeit konstituiert, Frauen zeigen, wo sie hingehören: in die Küche und ins Ehebett. Die Redpill-Ideologie ist die Ideologie narzisstisch gekränkter Männer, die panische Angst vor dem Verlust ihrer Hegemonie haben, die nun einmal auf der Unterdrückung und Ausbeutung anderer basiert. Wenn People of Colour, Frauen und queere Menschen sich emanzipieren, wird die Aufwertung der eigenen Person über die Abwertung Marginalisierter um einiges erschwert, weshalb jegliche Emanzipationsbestrebungen bis aufs Blut bekämpft werden. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass Männerrechtsaktivismus die Einstiegsdroge in rechtsradikales Denken ist.18

Die Blackpill-Ideologie ist dann die resignative Zuspitzung dieser Verschwörungserzählung, wie die incels sie eben vertreten: Wer die schwarze Pille schluckt, akzeptiert alle durch die rote Pille offenbarten konspiratorischen ›Wahrheiten‹, hat aber jegliche Hoffnung aufgegeben, irgendetwas am eigenen deplorablen incel-Zustand oder an der angeblich feministisch-jüdisch durchseuchten Gesellschaftsordnung verändern zu können (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Ideologie im Pillenformat – die visuelle Leitmetapher der incel-Community

Es ist bezeichnend, dass sich eine gewaltbereite Online-Gemeinschaft (nach Krachers Recherchen sind Stand 2020 allein »in den USA und Kanada« bereits »über 50 Menschen durch Incel-Attentate ums Leben gekommen«19) eben auch und gerade über memetische Signifikanten konstituiert (die ›rote Pille‹ spielt auf eine in entsprechender Weise ausgeschlachtete Szene aus dem 1999 erschienenen Film The Matrix an). Die expressive Kraft und die eingängige Semiotik von memes reifizieren im memetisch gesättigten incel-Jargon nicht nur toxische Geschlechterrollen und Verhaltensmuster, so etwa in den vielen ›virgin vs. chad‹-memes, die ihren Ursprung auf Reddit haben und eine karikatureske Juxtaposition der ewig jungfräulichen incels und der virilen ›chads‹ darstellen (siehe Abb. 3). Siekönnen darüber hinausnachgerade terroristischen Gruppendynamiken und äußerst gefährlichen Radikalisierungseffekten Vorschub leisten.

Abb. 3: ›virgin vs. chad‹ – memetische Selbstbespiegelung des incel-Kults

Aber natürlich gibt es auch anders geprägte Plattformen und Memkulturen. Als Gegenpol zu 4chan fungierte vor allem in den Zehnerjahren des 21. Jahrhunderts gemeinhin Tumblr,20 eine Heimat der sogenannten Social Justice Warriors – ein abwertender Begriff für insbesondere US-amerikanische Progressive, denen damit vorgeworfen wird, sich ›nur‹ auf einer symbolischen Ebene und aus Profilierungsgründenfür soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Obwohl Tumblr und 4chan in Fragen der technischen Funktionalitäten durchaus Gemeinsamkeiten aufweisen – Anonymität, nur begrenzt mögliche Monetisierung21 –, ziehen sie in Sachen gender und Politik eine sehr unterschiedliche User*innenbase an.

2.1Fallstudie: Wenn Plattformen sich lieben und bekriegen

Diese Differenzen und In- und Outgroup-Zuschreibungen sind memetisch wirksam, und eine Analyse der Meme sowie der Kontexte von deren Entstehung erlaubt grundlegende Einblicke in die Funktionsweise, Verbreitung und Ästhetik von memes. So kam es im Jahr 2010 zu in dieser Hinsicht exemplarischen Auseinandersetzungen zwischen den User*innenbasen von 4chan und Tumblr, die von 4chan mit dem militärischen Begriff ›Operation Overlord‹ bedacht wurden, während die Tumblr-Nutzer*innen ihre Gegenaktion ›Operation Overkitten‹ nannten.22 Die digitalen Aggressionen gingen vom image board/b/auf 4chan aus, dem sogenannten random board, mit ungefähr 350.000 anonymen Postings am Tag das beliebteste Subboard der Plattform. Das Board gilt als Wiege der heterogenen hacktivistischen Gruppierung(en) Anonymous, wobei Anonymous auf 4chan vor allem als eine Art (auch aggressive) Spaßbewegung zum Amüsement der einzelnen Nutzer*innen aufgefasst werden muss. Es handelt sich hier also weniger um ein Vehikel ernsthafter politischer Agitation, anders als die Ableger von Anonymous, die oft in den Medien porträtiert wurden, zum Beispiel im Kontext der Occupy-Wallstreet-Bewegung.23 4chans Anonymous-Mitglieder also unternahmen im Jahr 2010 sogenannte Distributed-Denial-of-Service attacks (DDoS-attacks, wörtlich verteilte Dienstverweigerungs-Angriffe) auf Tumblr; sie stellten eine große Anzahl gezielter Serveranfragen, die zu einer Überlastung der Datennetze führten und Tumblr für einige Stunden lahmlegten.24 Das koordinierte Posting von Threads mit Katzenbildern auf 4chan durch Tumblr-Nutzer*innen führte in der Folge zu einer Blockade des random-Boards.

Wieso diese digitalen Unruhen genau ausbrachen, ist nicht ganz klar. Eine Rolle wird gespielt haben, dass mit Tumblr eine als ›progressiv‹ und weiblich wahrgenommene Plattform in den Jahren um 2010 enormen Zulauf erhielt, stetig wuchs25 und sich als Ort erfolgreicher meme-Produktion etablieren konnte. Auf Tumblr vertreten und vertraten User*innen selbstbewusst eine intersektionale und queere Art Feminismus26 und auch Trans-Aktivismus,27 freilich im Rahmen eines oftmals sehr US-zentrierten Diskurses. Der ideologischen Ausrichtung eines großen Teils der Tumblr-User*innenbase kommen die technischen Gegebenheiten entgegen: Tumblr wird von einer meist anonymen User*innenbase genutzt, die einzelne Blogs auch kollektiv verwaltet und oft mehr als einen Blog führt, zum Beispiel einen Blog für politische Angelegenheiten, einen anderen für Fankultur(en). Die Suchfunktion ist unterentwickelt, was Tumblr zu einer »disorienting«28 Erfahrung machen kann, aber auch Schutz und Anonymität bietet. Jessalynn Keller verweist in ihrer Studie zum Tumblr-Feminismus darauf, dass Nutzer*innen die Plattform als eine Art ›schwarzes Loch‹ begreifen, das sowohl vor einer jungen Frauen gegenüber oft übergriffigen Außenwelt schützt als auch immer aufs Neue überrascht.29 Die Threads einzelner Einträge sind kaum nachzuverfolgen, da Tumblr keine automatisierten Zeitstempel verwendet und Kommentare bloß chronologisch geordnet in einer langen Reihe an Reaktionen erscheinen. Somit können sie sehr einfach ignoriert oder auch ganz einfach übersehen werden. Die längste Zeit verfügte Tumblr über keine eigentliche Kommentarfunktion – Einträge mussten zwingend auf die eigene Seite reblogged werden. Zudem verfügt Tumblr über weitgehende Blacklisting-Funktionalitäten, was bedeutet, dass die User*innen mehr Kontrolle über das haben, was sie sehen. Keller belegt, dass zumindest ihre Stichprobe feministischer Jugendlicher dies auch so wahrnimmt und sich auf Tumblr sicherer und freier fühlt als z.B. auf Twitter,30 einer Plattform, deren Kommunikationsstrukturen hate speech besonders gegenüber Frauen und Minoritäten befördern können.31Alle diese (fehlenden) Funktionalitäten und Eigenheiten des Plattform-Designs erschwerten und erschweren das klassische trolling,32 also – verkürzt ausgedrückt – die Provokation von Gesprächsteilnehmer*innen gegen deren Willen und zur eigenen Ergötzung (vgl. zum seinerseits memetischen Phänomen des trolling vertieft Kapitel 6.1).

Neben dem feministischen Aktivismus vertrat Tumblr auch selbstbewusst eine ›weiblich‹ codierte Fankultur – eine Fankultur, die sich stark auf das Verfassen transformativer Erzählungen, sogenannter Fanfiction, konzentrierte, und auf das Erschaffen von Fanart, also von Zeichnungen und anderen visuellen Artefakten mit Figuren aus bestehenden narrativen Universen.33 Es kommt daher auch nicht von ungefähr, dass Tumblr große Überschneidungen mit Archive of Our Own aufweist, einem Projekt der Organization for Transformative Works, das aus der Selbstorganisation zahlreicher Fankulturen entstand, als gemeinnütziger Service kreative Faninhalte hostet und sich damit der Marktlogik verschließt.34 Zentral in Tumblr-Fandoms ist das sogenannte Shipping, also das Interesse an Liebesbeziehungen (relationships) zwischen verschiedenen Figuren aus existierenden medialen Erzählungen. Diese romantischen Verflechtungen sind entweder in den jeweiligen fiktionalen Universen vorgegeben oder sie werden zusätzlich imaginiert, wobei gerne Lektüren des jeweiligen canon oder Kanons – hier: des Materials, das offiziell für das fiktionale Universum gültig ist – vorgelegt werden, die die Beziehungen beglaubigen sollen.35

Die neue ›Macht‹ von Tumblr, will heißen: die Fähigkeit der User*innenbase, intersektionale Inhalte zu generieren und breit zu verteilen, dürfte nun die Nutzer*innen von 4chan in den frühen Zehnerjahren verunsichert und provoziert haben. Denn dieser Geltungsanspruch stellte althergebrachte Privilegien und Besitzansprüche im digitalen Feld in Frage. So wurde den viele und erfolgreiche memes generierenden Nutzer*innen der Plattform Tumblr von 4chan etwa auch vorgeworfen, sie würden Memes von 4chan ›stehlen‹. Allen ideologischen Differenzen zum Trotz teilen die beiden Plattformen also eine Vorliebe für die Memesis, für die Erzeugung, Modifikation und Dissemination von memes. Diese in geteilter memetischer Aktivität gründende Nähe der Plattformen wurde nach dem trolling war von 2010 denn auch – wie könnte es anders sein – in einem meme explizit gemacht und reflektiert. Die Rede ist vom 4chumblr-Mem (ab 2010),36 das Tumblrs ›weibliche‹ Fankultur spielerisch aufgreift: Anthropomorphisierte Versionen der beiden Plattformen, ein blauhaariges Mädchen und ein gesichtsloser grüner Mann, wurden in Bildern, Videos und in Fan Fiction als Paar dargestellt und als »Ship« bezeichnet.37 Die Idee des Mems entstand, als Tumblr-Nutzer*innen auf 4chan darüber posteten, dass der ›Krieg‹ der Plattformen doch eigentlich absurd sei, denn auf beiden Seiten stünden sexuell frustrierte Nerds, einmal Frauen, einmal Männer (natürlich eine Vereinfachung der tatsächlichen Gegebenheiten). Der Aufruf war simpel: Make love, not war.

Abb. 4: Eine romantische Szene?38

Ein close reading eines exemplarischen 4chumblr-meme erlaubt Einblicke in die selbstreflexive Verschachtelung von Memes. Das meme lässt sich auf einer ersten Ebene, der Ebene des Signifikanten, etwa so beschreiben: Es handelt sich um eine Zeichnung, in naiv-kritzligem Stil gehalten. Eingefügt werden Schrift und Noten, die explizieren, worum es sich bei der Schrift handeln soll – den Text eines Lieds. Damit erinnert das Meme an einen Comic, auch wenn der Text hier nicht in einer Sprechblase platziert ist, sondern frei durch das Bild schwebt. Auch dieses Stilmittel ist aus dem Medium Comic bekannt, auf das sich viele Exemplare der Gattung meme beziehen: Hier liegt eben nicht eine Sprechaktäußerung vor; stattdessen bezieht sich der Text auf ein Bildobjekt, ein klobiges Radio oder einen Ghettoblaster, den eine Figur in die Luft hält. Der Text dringt anscheinend in der Form eines Lieds aus dem Radio und lässt sich übersetzen mit: »Ich werde dich niemals aufgeben«. Hochgehalten wird das Radio von einer glatzköpfigen Figur mit grünem Gesicht, roten Augen und schwarzem Anzug. Im Hintergrund sieht man eine kaum definierte Landschaft, die in ihrer hellgrünen Farbe am ehesten einem Grashügel gleicht; darüber dehnt sich ein hellblauer Himmel aus, ebenso wenig ausgearbeitet wie der Hügel. Im Vordergrund sieht man eine Figur mit blauen Kleidern und langen Haaren und einer Haarspange; sie wendet sich von der Betrachter*in ab und dem grünen Mann zu. Es entsteht der Eindruck, dass es sich hier um eine romantische Szene handeln könnte – eine männliche Figur spielt für eine weibliche Figur Musik mit einem Text, der romantisches Begehren und den Wunsch nach einer Bindung evoziert.

Eine solche Beschreibung allein macht das meme noch nicht verständlich. Mit einbezogen werden muss die Ebene des Signifikats und vor allem des Kontexts, der die Inhaltsseite dieses Memes erst vollständig lesbar macht und zu dem auch andere Iterationen des memes gehören. Die Frauenfigur trägt eine T-förmige Haarspange, wie in vielen anderen Versionen des 4chumblr-Memes – die Figur ist für Eingeweihte zu erkennen als Tumblr-tan, die weibliche Personifikation von Tumblr. Das Suffix ihres Namens ist der japanischen Manga- und Anime-Kultur entlehnt. 4chan war ursprünglich seinerseits als reines Anime‐Forum konzipiert, und Inhalte rund um Anime und Manga sind dort bis heute sehr dominant, weswegen der Verweis im 4chumblr-Meme nicht überrascht. Tan oder eben -tan ist eine Anrede, die neben Babys auch für besonders niedliche, meist weibliche Figuren in Mangas und Animes (auch Moe genannt) verwendet wird; übersetzen ließe sie sich als ›Schatz‹ oder ›Schätzchen‹. Man könnte nun denken, die Anrede sei auch als Entsprechung des chan in 4chan konzipiert, handelt es sich dabei doch ebenfalls um eine japanische Verniedlichungsform, die gegenüber kleineren Kindern, guten Freund*innen oder von verliebten Paaren benutzt wird. Auch wenn dem 4chan-Gründer die Anspielung sehr wohl bewusst gewesen sein wird, da er ja der Manga- und Anime-Fankultur angehörte,39 leitet sich der Name der Plattform offiziell nicht von diesem Namenssuffix ab. 4chan basierte zum größten Teil auf dem japanischen Manga- und Anime-Forum Futaba Channel oder 2chan, das sich mit Anime, Manga und Otakukultur beschäftigte, also mit der leidenschaftlichen japanischen Fankultur. 2chan baute wiederum auf 2channel auf, einem in Japan populären Internetforum – chan ist somit als Kurzform von channel zu lesen.

Wie dem auch sei: Tumblr ist hier eine begehrenswerte weibliche Figur, gerade weil sie ›niedlich‹ und ›nerdig‹ ist. Der grüne Mann wiederum existierte als Mem schon vor der Entstehung des 4chumblr-Mems. Als True/Old Anonymous repräsentiert er die anonyme userbase von 4chan40 und wird hier als Figur oder Avatar in einen neuen Kontext gestellt. Erschaffen irgendwann vor 2006, ziert sein Gesicht oft der Text »No Picture Available«; in 4chumblr-Memes allerdings fehlt der Schriftzug meistens. Der Mann im Anzug mit der roten Krawatte scheint inspiriert durch einen anderen, ähnlich aussehenden und gekleideten Mann: die Figur auf René Magrittes Bild Le Fils de l’homme (1964), dessen Kopf vollständig durch einen grünen Apfel verdeckt wird. Die Konstellation, die das exemplarische 4chumblr-meme abbildet, ist wiederum ein Zitat oder eine ›Reappropriation‹, und zwar aus der Filmgeschichte: Die Hauptfigur der romantischen Komödie Say Anything… (1989) ist ein verliebter junger Mann (gespielt von John Cusack), der einer Frau in einer ikonischen Szene mit Ghettoblaster ein Ständchen darbringt und ihr seine Liebe erklärt. Der Mann, der den Blaster hochhält, ist denn auch das Motiv des oft reproduzierten Filmplakats.41 Auf Deutsch unter dem Namen Teen Lover bekannt, widmet sich die Komödie einer dramatischen Liebe zwischen zwei Jugendlichen, die verschiedenen Cliquen oder sozialen Kreisen angehören, natürlich eine Variation des Romeo-und-Julia-Motivs. Der Song, der in der Ghettoblaster-Szene abgespielt wird, lief bezeichnenderweise auch in einer früheren Szene während der ersten sexuellen Begegnung der beiden Figuren. Die Szene des 4chumblr-memes ist also im Film vorgeformt – und durch ihn als pathetisch und ernst ins kulturelle Gedächtnis eingegangen, denn obwohl Say Anything…