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Er war dreimal verheiratet, zeugte 22 Kinder, erfand nach etlichen Experimenten die Streichhölzer und das elektrische Feuerzeug, konstruierte die erste Handfeuerspritze der Welt und hinterließ ein in feiner Kurrentschrift verfasstes Tagebuch. Johann Samson Wilhelm Mayer (1787–1852), Kupferschmied aus Esslingen am Neckar, hat sein halbes Leben lang getüftelt: Lustfeuerwerk, Gewürztinte, Frostbalsam, Stiefelfett, probate Mittelchen gegen allerlei Schmerz und vieles mehr. "Mensch Mayer!" Dieser respektvolle Ausruf gilt einem Mann, der sich gegen widrige Umstände zu behaupten wusste. Eberhard Neubronner ermöglicht ebenso farbige wie spannende Einblicke in das Milieu der Romantik und des Biedermeier bis hin zu Vormärz und Industrialisierung in Württemberg. Er rückt den talentierten Kupferschmied romanhaft ins Licht, das Ganze eingebettet in historische Tatsachen und Texte, manchmal erheiternd, nicht selten anrührend, zuweilen aber auch durchaus beklemmend. Ein besonderes Leseerlebnis.
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Seitenzahl: 420
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Eberhard NeubronnerMensch Mayer
Eberhard Neubronner
DER WUNDERLICHE WEGEINES WÜRTTEMBERGER ERFINDERS
EINE ROMANBIOGRAFIE
Der Leser ist skeptisch. Was stimmt wirklich,und was hat sich der Autor hingebogen, weileine Geschichte damit schöner wird?Wer schreibt, der hat auch Chronistenpflicht.
Heinz Knobloch, »Herr Moses in Berlin«
»LICHT«, SAGT ER LEISE und wiederholt etwas lauter: »Licht, bitte …« Was ist los? Nimmt ihn denn niemand wahr? »Herrgott«, ächzt Samson, »zündet doch endlich die Kerzen an. Ich seh ja nichts mehr! Line, wo bist du?«
Eine Tür knarrt. Caroline betritt das kleine Zimmer, in dem Johann Samson Wilhelm Mayer liegt. Ihr Mann, der Kupferschmied, wird wohl nicht wieder gesund. Man muss mit dem baldigen Ende rechnen. Sie nähert sich auf Zehenspitzen dem Bett. Nur keinen Lärm machen, denn Samson reagiert zunehmend empfindlich; selbst Doktor Steudel kommt seine sehr dünne Haut seltsam vor. Ernst Gottlob von Steudel kenne jeden Schmerz, hat Caroline Mayer gehört. Der sollte auch die Reizbarkeit lindern können. Wenn aber ein Arzt nur Rhabarberpulver zur Stärkung der Nerven verordnet, wem nutzt das? Dieses Mittel sei zwar erprobt, sagt er, doch seine Wirkung ist fraglich. Es kostet bloß Geld.
Caroline steht am Fenster und schaut gegen Nordost hinaus, wo der Kaisheimer Pfleghof schwach zu erkennen ist; man nennt ihn »Klösterle«. Alle Läden im Haus Mittlere Beutau 6 sind geöffnet, Meister Samson hat keinen Grund zur Klage wegen angeblicher Dunkelheit, die Schlafkammer ist hell trotz des trüben Wetters. Jetzt, Mitte Dezember 1852, pudert Schnee das Dachmosaik der schwäbischen Oberamtsstadt Esslingen. Es sieht hübsch aus. Bis Heiligabend fehlen nur noch ganze neun Tage.
Mayers Ehefrau wird ins Untergeschoss gerufen. Sie bleibt eine halbe Stunde lang fort, kommt zurück und beugt sich über den Kranken: Feuchtes Haar, Bartstoppeln, hohle Wangen, bläulicher Mund. Samsons Hände zittern. Sein Atem geht schwer, dann folgt ein Hustenanfall. Hinterher zerren die Finger am Plumeau, als sei es zu kurz.
»Frierst du?«
Der Patient schweigt. Im selben Moment erinnert sich Caroline Mayer, Tochter des Tuchmachers Volz aus Calw, dass der Oberamtsarzt Steudel einmal gesagt hat, viele Sterbende wollten dem Tod entwischen und abtauchen. Er habe das oft registriert. Man dürfe jedoch keine Angst haben, wenn Freund Hein sich melde. Nichts schlage ihm ein Schnippchen, er hole nach Lust und Laune die Reichsten und Ärmsten. Sie reden ja anders als unser Pfarrer Schumann, hatte Caroline damals geantwortet, der meinem Samson immer wieder Trost spendet und vom Paradies spricht. Aber kennt denn ein Geistlicher die Atemnot oder Samsons Auswurf, den ich wegputzen muss, wenn der Napf kippt? Pfui Teufel. Wenn nicht Luise wäre, die bald 15 Jahre alt wird und mir im Haushalt hilft, sähe es schlimmer aus.
Luise heißt eigentlich Caroline Friederike Beate, doch jeder ruft sie »Luisle« zur Erinnerung an ein sehr jung verstorbenes Schwesterchen. Dieses Kind und seine Mutter wurden anno 1820 und 1833 begraben. Die Letztere kurz vor dem Christfest.
Nun ist er selbst dran, denkt Caroline Mayer. Durch dieses Datum wiederholt sich etwas. Soll man es Schicksal nennen? Ihr praktischer Sinn wahrt seit jeher Distanz vor großen Worten, doch Ergebenheit hat sie früh gelernt – was immer passiert, dient zum Besten. Caroline dreht sich um und betrachtet Samsons vielleicht letzte irdische Stätte, von der aus er zum Himmel fahren wird. Gott empfängt einen frommen Pietisten wie ihn freundlich und löscht sein Sündenregister, daran ist kein Zweifel erlaubt.
Inventur also: Unten gebohnerte Dielen, oben der vergilbte Plafond ohne Stuck. Ein schlichter, doppeltüriger Schrank, die furnierte Kommode, das Bett fürs Ehepaar mit geschwungenem Kopf- und Fußteil (in dem zehn Kinder gezeugt worden sind, von welchen noch vier bei Vater und Mutter leben). Rechts wie links je ein Nachtkasten, pot de chambre und Bibel haben dort ihren Platz. Zwischen zwei schmalen Fenstern der Waschtisch vor einem halbblinden Spiegel. Kein Bild an den Wänden.
Caroline seufzt hinter vorgehaltener Hand. Wie kurz ein Leben ist!
Tja, das Leben … Fast lautlos quert Mayers Ehefrau den Raum und lässt Samson allein. Der scheint zu phantasieren. Sieht er jenes Land, das seine Söhne Adolf und Gustav anno 1848 aufgenommen hat? Gut drei Jahre sind seit ihrer Flucht in die Schweiz vergangen. Bürgerliche Revolutionäre waren sie, Kämpfer fürs offene Wort und gegen Bevormundung, aber im Innersten brav. Nach Hohem zu greifen ist nicht kriminell! Wenn beide nur wenigstens einmal geschrieben hätten. Etwa: »Habt keine Angst, liebe Eltern, wir kommen zurück.«Sind sie längst weitergewandert? Ihr alter Vater wird das Brüderpaar suchen, auch wenn es beschwerlich sein sollte. Los, Mayer, mach dich auf deinen Weg! Trotz der schwindenden Kraft.
Samson wundert sich darüber, wie dunkel die Welt plötzlich wird. Fremde Geräusche sind zu vernehmen, andere Stimmen als sonst. Gelten sie ihm oder wem? Rasend schnell spulen sich Bilder ab: Ein Kind hockt am Haus und formt kleine Tiere aus Dreck, Fuhrwerke rattern vorbei, Rösser schnauben, der Nachbar backt Brot. Seine Frau wird »d’Ulmere« genannt. Was bedeutet das, heißt sie wirklich so?Wenn Vater und Mutter mit ihm reden, sagen sie Sami.Vor dem heftigen »Saamiii« muss man Respekt haben, denn dann setzt es den Klaps hintendrauf. Ist der Papa schlecht gelaunt, weil die Werkstatt nichts zu tun hat, nennt er seinen Filius demonstrativ Johann Samson Wilhelm. Alsbald sucht dieser das Weite.
Während Sami im Matsch spielt, stürmen erboste Bürger am 14. Juli 1789 in Paris das Stadtgefängnis Bastille. 98 Menschen sterben dabei, 73 sind zum Teil schwer verletzt. Als Jacob Wilhelms Sohn Samson noch keine sechs Jahre alt ist, wird der längst entmachtete französische König Ludwig XVI. Mitte Januar 1793 zum Tod verurteilt und kurz darauf geköpft. Die jakobinische Diktatur folgt. Während Maximilien de Robespierres Herrschaft fließt ebenfalls Blut, vom revolutionären Motto Liberté – Égalité – Fraternité entfernt man sich immer mehr.
Ebenfalls streng, aber nicht halb so brutal geht Jacob Wilhelm Mayer, Obermeister der Kupferschmiede zu Esslingen, mit Sami um. Schon sein eigener Vater Georg hatte das traditionelle Handwerk betrieben und die Reichsstadt am Neckar mit Geräten versorgt. 1768 meldete das Ratsprotokoll: »… trägt eine von ihm neu verfertigte kleine Feuer-Sprize zu kaufen an und offerirt sich, solche in einem billigen Preiß zu erlassen. Weil dem Vernehmen nach von denen bei löblichem Hospital befindlichen 2 Feuer-Sprizen die eine nur wenig, die andere aber gar nicht zu gebrauchen ist, so wird löbliches Amt recommandirt, dieses in der damit angestellten Prob sehr gut befundene Werklein des Meisters Mayer zu erhandeln …«
Dessen Enkel Johann Samson Wilhelm kommt am 10. März 1787 gegen Abend zur Welt, Esslingen zählt damals nur 8000 Seelen. Samsons Mutter Paulina, Tochter des Schlossers Johann Martin Brinzinger, hat Schmerzen während jenes beißend kalten Samstags. Sie quält sich und stöhnt, bis der Sohn endlich geboren ist. Er wird das einzige Kind bleiben.
Fast zur selben Stunde sitzt im Wasserschloss Hohenheim bei Stuttgart die frühere Mätresse und jetzige Ehefrau des württembergischen Herzogs Carl Eugen. Franziska, geborene Freiin von Bernerdin, schreibt wie stets ohne Scheu vor Fehlern in ihr »Tagbuch«, das aus losen Blättern besteht: »Mit die Gesondheids umstande des Hertzogs [er leidet an Gicht] war es noch immer eins, u. der Tag wurde fast hingebracht wie gestern, nur daß man nicht so weid spatziren fur.«
Exakt ein Jahr später wird sie notieren: »Um 1 uhr geng Es nacher Stuttgardt, dorden wurde hof gehalden u. man blieb bis 6 uhr da u. kam gegen 8 uhr wieder hier [in Hohenheim] an.«
Zu einer Zeit, in der viele Säuglinge den ersten Monat nicht überleben, sind Ärzte oft hilflos. So oder so treten zwei Männer und Frauen als Samsons Paten auf: Onkel Johann Tobias Mayer, seit Jahresfrist Hofrat sowie Professor für Mathematik und Physik in Erlangen, genießt den Vorrang. Dieser sehr beschäftigte Ordinarius bleibt leider fern, doch von ihm wird man noch positiv hören. Drei ortsfeste Leute immerhin sind beim Taufakt präsent – der Sattler Johann Samson Rieger (er steuert zwei Vornamen bei), die Stadt-Cassiers-Tochter Elisabeth Wickersreuter und die Hospitalverwalters-Tochter Catharina Bahnmayer. Beide sind laut Niederschrift ledig. Was Johann Georg Schättler »unterthänigst, gehorsamst und dienstwilligst« bezeugt. Als Mesner der evangelischen Hauptkirche Sankt Dionys hat er ein wichtiges Amt.
Wo befinden wir uns? Ein Anonymus schreibt 1790 über die damals noch Freie Reichsstadt:
»Eßlingenhat eine sehr angenehme und, wie mich dünkt, auch sehr gesunde Lage; da es durch den Berg, der zugleich den besten hiesigen Wein liefert, durch die sogenannte Neckarhalte, gegen den Nordwind sehr gut geschüzt ist. […] Da sind rings umher stattliche Mauern und immer in kleinen Entfernungen Thürme darauf, deren Zahl noch jetzt sehr beträchtlich ist, obschon längst manche eingegangen seyn mögen. Hoch ragt an der Nordseite die Burg hervor und bestreicht die ganze Stadt. Diese Burg, zu welcher der Weg durch gut unterhaltene Weinberge geht, ist jetzt ein mit Mauern eingeschlossener Gras- und Baumgarten, in dem man noch Graben, Wälle, gewölbte Gänge vermuthlich zu Ausfällen […], kurz alles findet, was den Plaz ehemals fest und sehr haltbar gemacht haben kann. Von sehr vielen Kanonen, welche die Stadt noch vor hundert Jahren besaß, sind noch zwei hier aufgepflanzt, durch welche bei Feuersbrünsten ein Zeichen gegeben wird […]
Zur Ehre des hiesigen Frauenzimmers [der Frauen] muß ich doch noch anmerken, daß ich es fast durchgehends weit mehr mit dem Hauswesen bekannt und beschäftigt gefunden habe, als an vielen anderen Orten, die ich wohl nennen könnte. […]
Esslingen von der oberen Neckarhalde, Blick nach Osten. Gut erkennbar sind links die Frauenkirche und daneben Sankt Dionysius mit zwei Türmen (Aquarell des Malers Johannes Braungart, 1835).
Der Wein- und Gartenbau machen den ansehnlichsten Nahrungszweig der Einwohner aus. Von Gartengewächsen aller Art bringen sie jährlich eine große Menge nach Stuttgart zu Markte, wo doch auch der Gartenbau sehr stark getrieben wird. Die Eßlinger Zwiebeln sind zum Sprüchwort geworden. Fast vor jedem Thore kommt man auf freye Pläze und Wasen, welche sich längst des Nekars und seiner abgeleiteten Canäle hinziehen und zu sehr angenehmen Spaziergängen dienen. Sie sind meistens mit fruchtbaren Bäumen besezt und gewähren also Vergnügen und Nuzen zugleich.«
Dass der Kupferschmied Jacob Wilhelm Mayer samt Frau und Kind davon profitiert hat, darf man gern annehmen.
Mayer ist kein seltener Name, doch in Esslingen klingt er gut. Dort wissen zumindest etliche Honoratioren, dass ein Tobias Mayer aus Marbach am Neckar das war, was heutige Schwaben noch immer »ein Käpsele«nennen.
Samsons Großonkel Tobias hatte früh seinen Vater verloren, lebte im Waisenhaus und durfte als intelligenter Bub die Esslinger Lateinschule besuchen. Er lernte dort rasch, der Chronist Johann Jakob Keller schrieb später von einer großen Neigung zum Malen. Sechzehnjährig zeichnete Tobias Mayer den ersten örtlichen Stadtplan, bildete sich autodidaktisch fort, wurde 1751 auf den Lehrstuhl für Ökonomie und Mathematik der Universität Göttingen berufen, fand zur Astronomie, veröffentlichte zahlreiche Arbeiten und starb schon 1762. Mayer hatte niemals studiert, nichts konnte diesen großen Wissenschaftler stören oder gar stoppen.
Die Aura des Chèr papa half auch dem Sohn Johann Tobias bei dessen eigener Karriere. Doch im Zusammenhang mit seinem Neffen, unserem Kupferschmied Johann Samson Wilhelm, der ein Vierteljahrhundert nach Tobias Mayers Tod geboren und in Sankt Dionys Mitte März 1787 getauft worden ist, müssen wir noch ein wenig warten. Er soll wachsen, laufen lernen, die Umgebung erkunden und sich entwickeln.
Umgebung? Als Samson längst ohne Hilfe läuft und keine Windel mehr trägt, sitzt ein Diakon aus Marbach vor seinem Tag für Tag wachsenden Manuskript. Philipp Ludwig Hermann Röders »Geographisches Statistisch-Topographisches Lexikon von Schwaben« befasst sich 1791 auch mit Esslingen, der damals noch Freien Reichsstadt im Herzogtum Württemberg. Er schreibt über sie:
»Ihre Lage ist sehr angenehm und gehört unter die schönsten Gegenden Schwabens. Diese ist eine breite Ebene voll fruchtbarer Felder, die auf allen Seiten von Bergen umschloßen werden, und zwar sind auf der rechten Seite Weinberge und auf der linken Seite Waldungen. Die Abwechslungen der mancherlei Gegenstände, die sich dem Auge darbieten, bilden den schönsten Prospekt, in dessen Mitte der Nekar dahin fließt. […] Die Stadt ist mit starken Mauren, Thürmen, Gräben undZwingern umgeben. Die engen Gäßchen und altmodischen Häuser, aus welchen Eßlingen fast durchgehends zusammen gesezt ist, geben den augenscheinlichsten Beweis von dem Alter der Stadt.« Doch finde man dort auch »ansehnliche geistliche und weltliche Gebäude« im Gegensatz zu Fabriken, von welchen »ein gänzlicher Mangel« herrsche.
Röder betrachtet Menschen genau und charakterisiert sie so:
»Die hiesigen Einwohner sind auch industriös, sowohl in Rüksicht auf den Feldbau als [auf ] die Handwerker. Fleiß, Entfernung von allem Luxus, Zufriedenheit mit mäßiger Kost erhält sie im Wohlstande. Ueberhaupt ist die Bemerkung richtig, daß aller Luxus, sowohl in Kleidern als andern Sachen, aus Eßlingen ganz verbannt ist. Sonderbar mag es freilich manchem scheinen, der die Nähe der Residenz Stuttgart in Betracht zieht, daß die Eßlinger nicht einmal die Moden im Kleinen nachmachen.«
Mitten in diesem Milieu leben Jacob Wilhelm, Paulina und Johann Samson Wilhelm Mayer. Sie sind im Obertorviertel daheim, dem locker bebauten Quartier der Kleinhändler, Handwerker und Tagelöhner. Dort führt die Reichsstraße von Speyer nach Ulm parallel zum Neckar ostwärts in Richtung Schwäbische Alb. Vor dem mittelalterlichen Obertor, meist Wolfstor genannt, steht »eine dreystöckige Behausung alda neben Johan Georg Müller, Canonier, und Jacob Ulmers Becken Gärdtle, vornen die Straß und hinden [an] sein aigen Gärdtle stoßend«, heißt es 1773. Der Wert von Kupferschmied Mayers Wohnund Werkstatthaus Nummer 116 wird mit 300 Gulden beziffert.
Bleibt nachzutragen, dass Samsons Eltern am 11. Juli 1786 geheiratet haben. Damals glich die Landkarte des deutschen Territoriums einem bunten Flickenteppich. Auch König Friedrich II. von Preußen regierte noch, dessen Freund Moses Mendelssohn erst seit fünf Monaten tot war. Der jüdische Aufklärer und Philosoph hinterließ nicht nur beim»Alten Fritz«eine leuchtende Spur, Absolutismus hin oder her. Sein Bewunderer starb Mitte August zu Potsdam im Schloss Sanssouci – wie gewohnt in seinem Lehnstuhl sitzend.
Lausige Gegenwart: Als Sami schulreif ist und längst weiß, dass Arbeit mehr gilt als Spiel, wird in Berlin schon seit zwei Jahren das von Carl Gotthard Langhans geschaffene Brandenburger Tor bewundert. Am Neckar geht die Ära der Reichsstadt Esslingen ihrem Ende entgegen; ihre Finanzen bröckeln, ihr Rechnungswesen ist desolat. Seit in Paris (so schimpft Samis Vater am Stammtisch des »Goldenen Löwen«) ein Sauhaufen grunzt und von Republik schwafelt, schaut man teils voller Abscheu, teils aber auch interessiert nach Westen. Hinter dem Horizont jedenfalls brennt etwas. Reisende bringen widersprüchliche Nachrichten von Frankreich mit. Die einen reden vom Höllenfeuer, andere sahen gar das Himmelslicht leuchten – aber was trifft wirklich zu? Je nachdem, grinst ein Altgeselle, ob einer auf seinem Besitz hockt oder darbt. Er war weit herumgekommen und spricht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.
»Den würd ich aus meiner Werkstatt werfen«, schnaubt Jacob Wilhelm Mayer empört. »Gott schütze das Herzogtum!«
Dies tut er nicht oder nur begrenzt. Nach blutigen Revolutionskriegen und der Hinrichtung des französischen Königs Ludwig XVI. von Bourbon am 21. Januar 1793 war, fast sieben Jahre später, ein korsischer General namens Napoleon Bonaparte per Staatsstreich an die Macht gekommen. Er steigt zum Ersten Konsul auf und krönt sich zum Kaiser. Napoleon ordnet Europa neu, Zersplitterung hat für ihn keine Zukunft. Dazu gehört auch, dass Esslingen 1802 die Reichsfreiheit verliert und württembergisch wird. Zwar wollte Herzog Friedrich II. sein kleines Land zunächst neutral halten und so dem Strudel der Jahrhundertwende entkommen, doch er akzeptiert schließlich Ende 1805 im Pressburger Frieden Napoleons Plan. Mit Gewinn, denn Württemberg wird doppelt so groß wie bisher.
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ist passé, Friedrich eliminiert die alte landständische Verfassung per Staatsstreich und herrscht von nun an mit der dynastischen Ziffer I von Stuttgart aus als König über gut eine Million Menschen. Wehe dem nicht gehorchenden Untertan! Vier Jahre zuvor aber hatte man am Neckar erlebt, was kaum zu glauben war:
»Actum den 23. November 1802«, vermerkt das Esslinger Ratsprotokoll, »wurde der heutige Tag zur Civilbesitzergreifung in Stadt undGebiet bestimmt.« Herzog Friedrich befahl, dass das fürstliche Wappen an allen öffentlichen Gebäuden anzuschlagen sei. Er verlangte von jedem Magistraten, Beamten und Bürger, sich seiner Landeshoheit zu unterwerfen und dem von ihm abgeordneten Zivilkommissär und Militärkommandanten zu gehorchen. Dafür versprach der Herzog, »für die Glückseligkeit Meiner neuen Unterthanen zu sorgen und ihnen, im Fall ihres Wohlverhaltens, Meine Huld und Gnade zu schenken«.
Zur Huld gehört auch eine Huldigungsfeier. Nicht zuletzt deshalb, weil der dicke Herzog seit Mai 1803 die Kurfürstenwürde trägt. Das Fest findet in Esslingen Ende Juli statt. Oberamtmann Christian Kausler versichert dem Volk mit trockenen Worten, dass vom da oder dort kritisierten Wechsel nur Gutes ausgehe. Jeder, sagt er, werde vor württembergischen Richtern rascher sein Recht finden als einst beim Reichsgericht. Es gebe nun keine endlosen Prozesse mehr. Nicht genug damit, wird Kurfürst Friedrich bei seinem Besuch am 12. August durch blumenstreuende Jungfern empfangen; ein Gymnasiast drückt »innigste Ehrfurcht und Unterthänigkeit« aus. Das passende Poem stammt von Friedrich August Herwig, Rektor des Pädagogiums, dessen Loyalität zum Hohen Herrn außer Zweifel steht. Speziell dann, wenn er dem Pegasus die Sporen gibt: »Ahnungen neuer, beglückender Zeiten / Sehn wir Entzücken rings um uns verbreiten …«
Der Leiter jener Lateinschule am Marktplatz, die Söhne gut situierter Bürger aufs Leben vorbereitet, war 1799 dem verstorbenen Theophil Albrecht Tritschler gefolgt. Diverse Herrschaften hatten ihn warm empfohlen. Es ist wahrscheinlich, dass Samsons Vater für diese Anstalt keinen Kreuzer ausgibt und seinen Sohn selbst unterrichtet (einen Hauslehrer spielen, wie ihn der Krösus hat, das kann ich auch). Lesen ohne Gestotter, simple Rechnerei, Schreiben – dieses Programm genügt gegen Ende des alten Jahrhunderts.
Doch dann kreuzt Johann Tobias Mayer auf. Er meldet sich aus dem Kurfürstentum Hannover und will vom Kupferschmied wissen, was Sami treibt. Hat der Patenonkel einen Narren an ihm gefressen, oder nimmt Johann Tobias nur seinen Status ernst? Zeitgleich mit Rektor Herwigs Amtsantritt in Esslingen war Hofrat Mayer von Erlangen nach Göttingen gewechselt und leitet dort als Professor für Physik die »Gesellschaft der Wissenschaften«, ein Institut der noch jungen Universität.
Hofrat Johann Tobias per Brief zu Beginn des 19. Jahrhunderts an den Handwerker Jacob Wilhelm: »Möchte erfahren, ob Samson prosperiert. Bitte um baldige Antwort.« Der Adressat postwendend: »Packt voller Fleiß in meiner Werkstatt am Wolfstor zu. Lernt recht schnell.«
Der Hofrat präziser: »Hat er Gaben?«
Der Handwerker wiederum: »Ist geschickt bey allem, was sich bewegt. Untersucht jede Maschinerie. Verlangt teure Bücher, die ich aber schwerlich anschaffen kann.«
Solche Botschaften liebt Johann Tobias Mayer mit der ihm eigenen Fähigkeit, Parallelen zu erkennen und Lösungen zu entwickeln. Sein 1723 geborener Vater Tobias war talentiert, das Wunderkind wurde durch kluge Leute wie den Esslinger Bürgermeister gefördert. Schon früh hat sich das abgespielt. Ein begabter Mensch ohne Geld muss Gönner haben, jawohl! Sonst greift alles Talent nicht.
Der Direktor des Göttinger Instituts handelt, sobald Jacob Wilhelms letzte Antwort in Kopf und Herz verarbeitet ist. Zwanzig Louisdor werden zur Rolle geformt, zwischen jeweils zwei Münzen kommt roter Samt als Puffer. Bevor Johann Tobias das Päckchen schließt und mit seinem Wappenring siegelt, schreibt er drei Zeilen an Jacob Wilhelm und legt das Papier um die Goldwurst. Der Schmied liest ein paar Tage später erstaunt:
»Werter Vetter zu Esslingen. Gebt Euren fleißigen Sohn in die Lateinschule, unserem jungen Millennium zum Schmuck und Euch zur Ehre. Dies ist mein dringender Wunsch. Ergebenst J. T. Mayer, Hofrat.«
Um 1800 hat Paris als zweitgrößte Stadt Europas 600 000 Einwohner, aber nur 300 Badewannen. Im nordamerikanischen Bundesstaat Virginia scheitert eine Rebellion schwarzer Sklaven; sie war durch Gabriel Prosser angeführt worden, der aus Richmond stammende Schmied kommt dabei ums Leben. Ein Attentat auf den damaligen Konsul und Heerführer Napoleon Bonaparte missglückt, weil das Sprengsystem versagt. In England entstehen erste Blechwalzwerke. Der britische Astronom und Musiker William Herschel entdeckt die Infrarotstrahlung, schon 1781 hatte er mit dem Planeten Uranus ein bisher unbekanntes Objekt gefunden.
Friedrich August Herwig begrüßt den neuen Zögling interessiert. Wer schneit denn da herein, denkt er und fragt sich, welches Potenzial in ihm steckt. Samson wirkt eher ärmlich, aber von Kopf bis Fuß sauber. Lass sehen:
Lockiges, hellbraunes Haar, blanke Augen, reine Haut, Sommersprossen, lange Nase, das Kinn etwas vorspringend, weicher Mund, die Figur mit dem Alter verglichen recht groß. Samsons Kleidung ist abgeschabt, sie spiegelt die Sparsamkeit seiner Eltern. Ihr Kind sitzt in einer Bank des dämmrigen Pädagogiums und weiß noch nicht, was geschehen wird. Von draußen hört es die Stimmen der Stadt – auf Kopfstein polternde Karren, das Hü-Hott heimischer Kutscher, schwatzende Boten, endlos palavernde Eckensteher, wiehernde Pferde und manchmal der Klang einer Kirchenglocke.
»Samson Mayer«, brummt Herwigs Bass, »willkommen.« Und zum Auditorium: »Samson heißt so viel wie ›Diener Gottes‹, der hebräische Vorname stammt aus dem Alten Testament. Dieser Mann war unbezwingbar, solange sein Haupthaar nicht geschoren wurde.«
Jemand kichert.
»Wer lacht hier? Ich bitte um äußerste Ruhe. Wir fahren mit Griechenland fort. Sokrates sprach …«
Friedrich August Herwig denkt und handelt konservativ. Er zeigt zugleich ein selten irrendes Gespür für Begabungen, ist gerecht und versucht stets, den Schülern sein hohes Ideal umfassender Bildung nahezubringen. Disziplin bleibt dabei aber unverzichtbar.
Der Theologe hat Erfahrung im schulischen Alltag und vor allem Verständnis für Kinder aus dem unteren Stand. Wobei Samsons Vater als Obermeister durchaus Respekt genießt. Weder hat er einen schlechten Ruf noch setzte er je seine Reputation aufs Spiel. Dem Stadtregiment sind mindestens zwei Generationen Mayer bekannt, seit Georg Wilhelm und Jacob Wilhelm Feuerspritzen von solider Qualität hergestellt haben oder weiterhin fertigen. Warum also sollte der jüngste Spross dieser Familie nicht in der Bank des Pädagogiums sitzen?
Die Schule sei während der Stauferzeit gegründet worden, ist zu hören, ein nobles Relikt mit fünf Jahrhunderten auf dem Buckel. Dort stehen außer Religion, Deutsch, Latein und Französisch die Fächer Schreiben, Rechnen, Logik, Rhetorik und Poesie auf dem Stundenplan. Geschichte, Geographie, Geometrie, Chemie, Mechanik, Naturhistorie und nicht zuletzt »Gute Sitten« runden ihn ab.
16 Fächer! Fast zu viel für einen Buben vom Handwerkerstand, aber gleichwohl enorm.
Doch leider: Das hochgiebelige Haus vor Sankt Dionys verkommt. Der schlechte Bauzustand wird beklagt, im Kollegenkreis regt sich Unmut. Die oberste Klasse habe fast keine Schüler mehr, heißt es, diese Anstalt sei altväterisch und stemme sich gegen den Zeitgeist. Wenn ein hochlöbliches Konsistorium nichts daran zu ändern beliebe, müsse man um ihre Zukunft bangen.Wer kein Studium anstrebt, wird schließlich von außen kritisiert, könne auf Latein verzichten.
Trifft solches für Samson Mayer zu?
Er ist 13 Jahre alt und lernt rasch. Was immer Rektor Herwig ihm vorsetzt, Latein inklusive, nimmt er umgehend auf und ist in der Lage, es selbst nach Wochen oder gar Monaten wiederzugeben. Die Mittelstufe des Esslinger Pädagogiums dürfte ihn kaum mehr fordern; speziell Chemie begeistert den bald konfirmierten Knaben, Mechanik ohnehin. Zudem schreibt er auffallend schön, fast wie ein Kalligraf.
Woher dieser Bub aus dem Obertorviertel das nur hat?
Sein Lehrer nennt ihn auch Simon, was wie Samson der Bibel entnommen ist und frei übersetzt »Gott hört« oder »Gott versteht«heißt. Denn hier schaut einer hinter den Horizont und kapiert, während andere Schüler noch rätseln. Wenn er jedoch keine Konzentration zeigt, muss Friedrich August Herwig mahnen:
»Samson!«
Der Kupferschmied lauscht. Von fern tönt sonor eine Stimme. Sie wiederholt seinen Namen, Johann Samson Wilhelm Mayer hebt die Hand. »Aufstehen kann ich nicht«, flüstert er, »bitte sehr um Verständnis. Meine Krankheit entschuldigt mich. Das wird schon wieder, meint Doktor von Steudel. Hab aber alle Lektionen gelernt. Soll ich vortragen?«
Keine Antwort.
»Repetition erwünscht?«
Stille. Dann knackt etwas wie brechendes Glas. Noch immer Schnee, jetzt wirbeln Flocken, ein starker Nordwind drückt gegen die Fenster des Wohn- und Werkstatthauses in der schwäbischen Oberamtsstadt. Meister Mayer lebt dort mit seiner letzten Frau Caroline und vier von 22 Kindern aus drei Ehen. Zehn sind schon tot, acht haben Berufe erlernt und stehen auf eigenen Füßen. Doch daheim geht es traurig zu. Johann Samson Wilhelm hat hohe Schulden, Caroline wäscht und bügelt für Herrschaften, die Familie verarmt. Mittlere Beutau 6 beim Klösterle unter der Burg – im Dezember 1852 ist das keine erste Adresse mehr. Aber was kann man tun, wenn sich trotz aller Plackerei nichts ändert?
Pfarrer Gottlob Friedrich Schumann liest Matthäus 6, Vers 26 vor: »Sehet die Vögel unter dem Himmel. Sie säen nicht, sie ernten nicht. Sie sammeln auch nicht in den Scheunen, und euer himmlischer Vater ernähret sie doch.«
Samson verdreht die Augen. Er ringt nach Luft, hustet sich frei und versucht dem fremden Rufer Wort für Wort näherzukommen. »Das ist doch …«, bringt der Kranke hervor. »Ihr habt mich im Pädagogium …«
Samsons Bett schwankt, sein Kopf dröhnt, um ihn herum wird es dunkel.
AN EINEM MITTWOCH im März 1802 erscheint Sami nicht zum Unterricht. »Wer weiß etwas?«, fragt Rektor Herwig besorgt und bittet den Vater her, weil niemand antwortet. Jacob Wilhelm Mayer lässt sich zwei Tage lang Zeit, obwohl er die Autorität des Schulleiters respektiert. Friedrich August Herwig, hoch gewachsen, empfängt ihn schließlich abends nach Schulschluss im Pädagogium und spendet Lob zu Beginn der Aussprache. Simons Leistung liege weit über dem Durchschnitt, sein Engagement sei fabelhaft, alle Kollegen berichteten Bestes. Dieser talentierte Kopf habe das Zeug zum Studium an einer Universität. Summa summarum: »Exzellent.«
Der Kupferschmied lächelt verhalten. »Simon«, kurios …
»Warum war Euer Sohn seit Mittwoch nicht hier?«
»Weil er gebraucht wird. Mein letzter Helfer hat ausgelernt und geht auf die Walz. Samson soll unserer Zunft dienen. Von Generation zu Generation.«
Eine Furche teilt Herwigs Stirn. Er schiebt beide Daumen unter den Aufschlag seines schwarzen Habits, als solle es abgestreift werden, um mit Jacob Wilhelm Mayer zu ringen. Doch der Lehrer wahrt Contenance. Nicht zuletzt deshalb schätzen ihn Eltern und Schüler.
»Habt Ihr Euren Schritt bedacht? Es gibt kein Retour.«
»Gewiss.«
»Dann lebt wohl.«
»Einen Augenblick noch«, schiebt Mayer nach und fügt etwas hinzu: Ob denn nicht bekannt sei, dass die Reichsstadt bald sterbe? Was oder wer forme ihre Zukunft? Herzog Friedrich offenbar, dessen Landhunger jeder Mensch kenne. Sein Appetit stamme von Napoleon Bonaparte, dem welschen Neuerer, deshalb müsse man wenigstens hier in letzter Minute mit Entschiedenheit eine Tradition verteidigen. »Denn Handwerk hat goldenen Boden. Dabei bleibt es. Gestern, heute und morgen!«
Friedrich August Herwig ist sprachlos. Wen haben wir da? Den Homo politicus aus der Obertorvorstadt? So reden höchstens Wengerter beim sechsten Glas Wein. Serenissimus würde solche Leute stracks zur Raison bringen lassen, wenn sie gefährlich wären. Aber das trifft hier kaum zu.
»Guten Abend«, sagt der Rektor nach einer kurzen Pause. »Geht heim zu Eurer Familie. Der Frau Gattin meine Reverenz.«
Zu dieser Zeit schafft man im russischen Reich die Folter ab, Zar Paul I. alias Pawel Petrowitsch wird ermordet. Der amerikanische Ingenieur Robert Fulton lässt 1801 das durch ihn konstruierte U-Boot »Nautilus« in Rouen vom Stapel laufen – es taucht später 25 Fuß tief, was fast acht Meter entspricht, und gilt als Sensation. In Leipzig wird Friedrich Schillers Tragödie »DieJungfrau von Orleans« uraufgeführt. Bei Winterthur (Schweiz) macht eine Fabrik für Spinnstoffe von heute auf morgen viele Handweber arbeitslos. Der Ingenieur Albert Mathieu schließlich plant einen Tunnel unter dem Ärmelkanal. Er will Pferdekutschen zwischen Frankreich und England verkehren lassen.
Esslingen zählt immer noch etwa 8000 Einwohner, 540 treiben ein Gewerbe um. Zehn Prozent davon sind wirtschaftlich bedrängt und können sich als Handwerker oft weder Gesellen noch Lehrbuben leisten. Zugleich aber schreibt der evangelische Geistliche Röder aus Marbach über die dort lebenden Leute: »Nicht der Mann, der sich gut und mit Geschmack kleidet, sondern jeder Bürger, weß Standes er sei, steht im Ansehen, wenn er nur Geld hat.«
Jacob Wilhelm Mayer zieht sich vom Pädagogium zurück wie ein Statist, dessen kurze Präsenz im Theater den Kritikern kein Wort entlockt. Samson seinerseits gehorcht stumm dem Papa, obwohl er ihn nicht versteht und Sehnsucht nach Rektor Herwig hat. Doch so oder so: Maulerei mag ein Paterfamilias tolerieren, Widerstand bleibt tabu. Von Samis ebenfalls schweigender Mutter ist kein Protest zu erwarten; Frau Paulinas Rolle beschränkt sich auf den Versuch, Balance zwischen Oben und Unten zu halten.
Der Schmied hat einen kurzen Kampf siegreich beendet. Er nimmt Samson in seiner Werkstatt auf, informiert die Zunft und schafft mit dem neuen Lehrling weiter. Backformen, Becher, Bettflaschen, Braupfannen, Fußwärmer, Kannen, Kessel, Siebe, Teemaschinen, Töpfe oder Trichter werden am Wolfstor hergestellt, auch kupferne Verkleidungen für Dächer und Turmhelme. Das Züchtigungsrecht wendet Jacob Wilhelm selten an, oft reicht ein warnendes Wort. Täglich wird fast ohne Pause gearbeitet. Kohlen im Herd erzeugen heftige Hitze, der Blasebalg stöhnt; wenn man metallischen Staub einatmet, kommt es zu Brechreiz und Durchfall. Samis Brust schmerzt, raue Befehle halten ihn auf Trab.
»Wo bleiben Kreuzhammer, Schelleisen, Stichel?«, brüllt Mayer. »Mehr Glut! Mehr Glut!«
Du wirst irgendwann deine Zeche bis zum letzten Kreuzer bezahlen, denkt der Sohn. Ich habe Zeit …
Vier harte Jahre lang lernt Samson drinnen das Handwerk, während draußen die Welt sich verändert: 1803 werden in England die ersten Schreibfedern aus Stahl hergestellt, ein aus Cornwall stammender Ingenieur namens Richard Trewithick stellt seine durch Dampf angetriebene Postkutsche vor. In der Normandie regnet es Steine vom Himmel; man erkennt sie als Partikel eines Meteoriten. 1804 konstruiert der britische Offizier und Ingenieur William Congreve eine Brandrakete, in Königsberg stirbt zwei Monate vor seinem achtzigsten Geburtstag der Philosoph Immanuel Kant. Meriwether Lewis und William Clark brechen zu ihrer zwei Jahre dauernden Querung Nordamerikas auf. Der schon todkranke schwäbische Dramatiker Friedrich von Schiller erlebt noch die Premiere seines »Wilhelm Tell« am Weimarer Hoftheater, Regie führt dessen Intendant Goethe.
Von Paris aus greift Bonaparte nach der Macht über Europa. Er hatte anno 1800 die Österreicher bei Marengo in Oberitalien geschlagen, im Frieden von Lunéville fiel das linke Rheinufer vom Deutschen Reich an die französische Republik. Als Ersatz wurden Entschädigungen vereinbart, worauf auch der württembergische Herzog Friedrich II. nicht leer ausging. Unter anderem sprach ihm der Vertrag die Reichsstadt Esslingen zu, sie zählte ab 1802 zum Herzogtum. Am Neckar ist seit vier Jahren ein Oberamtmann im Dienst, unter ihm arbeitet Eberhard Friedrich Honold als Bürgermeister. Dessen Vorgänger Göschel war aus Kummer über den Verlust der Reichsfreiheit gestorben.
Dies alles zieht an Samson Mayer vorbei, der bis zur Erschöpfung schuftet und abends wie tot ins Bett sinkt. Nur am Sonn- oder Feiertag entspannt sich die Lage für wenige Stunden. Dann wird die »Maille«besucht, der auf einer Insel zwischen zwei Neckararmen gelegene Park. Einst ließ man dort das Vieh weiden, jetzt lockt er Flaneure. Manchmal sitzt Sami auch mit anderen Zunftgenossen im Wirtshaus, doch dort wird wenig getrunken, denn Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Außerdem würde ein Rausch dem Ruf des Handwerks schaden. So jedenfalls warnt Jacob Wilhelm Mayer.
Dass der Meister selbst gern ins Glas guckt, hat keine Bedeutung.
Ein Thema sorgt jedoch für Hallo: Schon am 31. Mai 1802 hatte man im Taunus einen Verbrecher gefasst, er heißt Johannes Bückler junior und trieb sich seit 1797 mit seiner Bande herum – heute hier, morgen dort, oft aggressiv. Diesem »Schinderhannes« genannten Mann(der Vater war Abdecker von Beruf )wurden Diebstahl, Erpressung, Hehlerei, ja sogar Mord und vielfacher Straßenraub zur Last gelegt. Man machte ihm den Prozess und köpfte Johannes samt 19 Spießgesellen vor dem Mainzer Neutor. Die Prozedur dauerte nur eine halbe Stunde lang, weil ein in Frankreich erfundenes Fallbeil verwendet wurde; der deutsche Klavierbauer Tobias Schmidt hatte sich damit als Fabrikateur hervorgetan.
Im »Goldenen Adler« von Johann Michael Marz wird diskutiert. Blauer Dunst wabert Ende Januar 1804 um wackere Männer; der Schinderhannes ist jetzt Vergangenheit, an Bücklers Stelle tritt die Lokalpolitik. Hat nicht Oberamtmann Kausler kürzlich dem Stadtgericht vorgeschlagen, altes Zeug zu zerstören? Fort mit Turm und Mauer, empfahl er und erntete Applaus bei Teilen des Gremiums. Aber nein, widerspricht ein Bürger am bullernden Ofen der Gaststätte, sie mögen bleiben und an unsere Civitas Esslingensis erinnern. Genau, stimmt ihm sein älterer Nachbar zu. Hoch die Heimat!
Dann klopfen sie wieder Karten und rauchen Pfeife. Wenn es nicht das Gaigelspiel gäbe, müsste man es erfinden.
»Wer teilt aus?«
»Schell isch Trumpf.«
Ein paar Monate nach diesem Palaver setzt man um, was Christian Kausler wollte und wozu der Rat seinen Segen gab. Nun fällt das Untere Beutautor, die Vorwerke anderer Stadttore werden beseitigt, im Waisenhof geht es dem Schwör- und Musikantenhäusle ans Fundament. Egal ob Mauern oder Gräben: Schluss damit, zuschütten, fertig. Auch etliche Zunfthäuser sind abzubrechen.
Sami zahlt und steht auf. Nur weg aus Esslingen, die Enge lähmt. Aber wohin? Eine Luft voller Gift wie in Vaters Werkstatt herrscht hier, sie macht ihn krank. Alles kreiselt um Samson herum, doch er ist nüchtern. Sein Hirn setzt als Mosaik zusammen, was dem Schmiedemeister nach Jahr und Tag gesagt werden soll (der Sohn formuliert schon jetzt »Gehabt Euch wohl«). Aber dieser harte Schädel wird sich vermutlich erst öffnen, wenn ein Totengräber den Rest zerhackt: »Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.« Das zitiert Samis Mutter bei jeder Gelegenheit, ob es passt oder nicht.
Ach, die mit ihrer Bibel …
Zwei weitere Jahre vergehen. In der Stadt leben 1805 gut 9000 Einwohner, die zwischen Frankreich und Österreich geführten Kriege werfen Schatten. Nun macht Jean-Louis Chancel von sich reden, denn nach Meinung dieses Franzosen könnten Feuerstein oder Zunderschwamm bald ausgedient haben: Eine Mixtur aus Kaliumchlorat, Schwefel, Zucker und Gummiarabikum lässt (wenn man den damit bestrichenen Span in Schwefelsäure taucht) das Holz brennen. Phantastisch, n’est-ce pas? Sami hört davon nichts. Chancels »Tunkfeuerzeug« wird aber, obwohl man es sieben Jahre später in Wien massenhaft herstellt, einen Nachfolger finden – alles Gute braucht Zeit.
Der »Schwäbische Merkur« druckt außer solchen Nachrichten ab, was die Konkurrenz manchmal übersieht: Joseph-Marie Jacquard erfindet den durch Lochkarten gesteuerten Webstuhl, weshalb ihm das Kreuz der Ehrenlegion zusteht. Wilhelm Adam Sertürner, Apothekergehilfe aus Paderborn, isoliert eine Substanz aus dem Schlafmohn und nennt sie Morphin. Dies alles verblasst jedoch, als am 10. Mai 1805 Friedrich von Schillers Tod bekannt wird. Er ist fünfundvierzigjährig in Weimar nach schwerer Krankheit verstorben. Auch sein Dichterfreund Goethe trauert und bleibt gleichwohl distanziert. Das Schicksal, sagt Johann Wolfgang, sei »unerbittlich«.
Ende August 1806 wird der Buchhändler Philipp Palm aus Schorndorf auf Befehl des französischen Kaisers Napoleon I. erschossen. Er hatte die Schrift »Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung« veröffentlicht, man wendet sofort das Standrecht gegen ihn an. Paris feiert, weil der Grundstein für den Arc de Triomphe gelegt wird und dieser Bau ewigen Ruhm spiegeln soll. Bei einem Bergsturz in Goldau (Zentralschweiz) kommen 475 Menschen ums Leben. Clemens Brentano und Achim von Arnim geben unter dem Titel »Des Knaben Wunderhorn« ein Konvolut deutscher Volkslieder heraus.
Französisches Militär sucht Esslingen heim. Raub oder Misshandlungen häufen sich, schuldige Kommissäre werden bestraft. Ein Dekret Napoleons legt fest, dass man ihm überall dort Reverenz erweist und Glocken läutet, wo Seine Majestät samt Gefolge durchzieht. Im jungen Königreich Württemberg grassiert ein Nervenfieber, das noch nicht als Typhus bekannt ist. Jacob Wilhelm, Paulina und Samson Mayer bleiben davon verschont, doch wer leidet, hat schlechte Karten: Die Ärzte lassen oft nur zur Ader, damit »krankes Blut« entweicht.
»Wie geht es dir«, fragt Samis Freund Armand Kern im April 1807, »was steht an? Plagt dein Vater dich immer noch? Mach Schluss damit, so kanns nicht bleiben. Zieh endlich den Strich!« Der Achtzehnjährige lernt bei einem anderen Kupferschmied unten am Neckar und ist fast fertig, sein Meister will ihn entlassen. »In die Freiheit«, fügt Armand hinzu. Er fischt ein zerknittertes Papier aus dem Wams und liest vor:
»Nach vollbrachter Lehre erhält der Lehrling die Eigenschaft eines Gesellen unmittelbar und ohne Mitwirkung von Seite der Mitgesellen. Auch dem bisherigen Lehrmeister ist er nur im Fall einer besonders eingegangenen Verbindlichkeit zu fernerer Arbeit verpflichtet.«
Sami wundert sich: »Woher stammt dieser Wisch?«
»Psst«, grinst Armand Kern. »Den hab ich auf unserem Klosett entdeckt. Man sagt jetzt Gewerbe statt Zunft und meint das Handwerk. Die neuen Regeln verdanken wir König Friedrich. Der Lehrbub hat jetzt mehr Rechte.«
»Wenn davon mein Vater erfährt?«
»Hau doch ab!«
In Samis Kopf schwirrt es herum wie Wespen kurz vor dem ersten Frost. Er plant und verwirft, beginnt wieder und kommt zu keinem Ergebnis. Jeder Pfad endet blind, nur eines bleibt übrig – die Flucht nach vorn:
»Ich werds probieren.«
Also teilt er dem Vater schon am nächsten Morgen mit, dass seine Zeit in Esslingen bald zu Ende gehe. Nichts werde ihn mehr vom Wandern abhalten, der Entschluss sei gefasst. Wenn Vögel fliegen wollen, müsse man ihre Käfige öffnen und sie freigeben. Nach dieser Botschaft fühlt Sami sich zwar wie ein Artist auf dem Hochseil, doch er hält die Balance.
Der anschließende Streit mit Jacob Wilhelm Mayer gleicht einem Duell ohne Sekundanten. Zum Glück findet er sonntags im Wohnzimmer statt und nicht dort, wo Hämmer vor dem Amboss liegen. Beide Akteure stehen allein, Brust gegen Brust, Paulina wurde ausgesperrt. Atemlos wartet Samis Mutter am Küchenherd. Trägt Jacob vom Kirchgang her noch seinen Gehrock? Hoffentlich nicht, denn er könnte Schaden nehmen. Die Meisterin fürchtet sich, aber nur ein Monolog ist zu hören:
»Aha, mein Prinz hat also genug. Er will unser Boot verlassen oder gar selbst steuern. Das endet im Dreck, unter Garantie! Wer hat dich vom Schulzwang befreit und dir Monat für Monat Gutes erwiesen? Wem hast du alle Kenntnisse zu verdanken? Ehrlos bist du!«
Sami bleibt stumm. Die fällige Antwort (»du auch«) peinigt ihn mehr als den Vater, der sie offenbar ahnt. Doch sein Sohn schweigt voller Trotz. Jacob Wilhelm indes wiederholt, was der damals enttäuschte Rektor Friedrich August Herwig vor mehr als vier Jahren zu ihm gesagt hat.
»Ist dein Schritt bedacht worden?«, fragt er. »Es gibt kein Retour.« Auf Samis Reaktion wartet Mayer senior vergeblich. Deshalb folgt nach einer Atempause das Urteil:
»Valet! Aus den Augen!«
Sami nickt, doch dem Kupferschmied ist dieser letzte Gehorsam egal. Kein streunender Hund hebt demnächst das Bein an diesem Kerl, über kurz oder lang wird er selbst einen besseren Lehrling finden. Doch immerhin wurde Sami schon freigesprochen. Die Esslinger Zunft hat seinen Sohn als fertigen Handwerker anerkannt, ohne den Vater zu konsultieren. Er ist auch mit allen Regeln des Wanderns vertraut und weiß, wie man die »Walz«bewältigt.
Der Kampf im Haus vor dem Wolfstor hinterließ Sprachlosigkeit auf beiden Seiten. Paulina Mayer steckt zwischendrin und wagt weder Ja noch Nein zu sagen. An einem Mittwoch, frühmorgens, läuft dann alles rasch ab: Sami beantragt und erhält jenes »Königlich Württembergische Wander-Buch«, ohne das kein arbeitsloser Geselle in fremder Umgebung bleiben darf. Johann Samson Wilhelm Mayer, geboren am 10. März 1787 zu Esslingen am Neckar als Sohn des Jacob Wilhelm Mayer, Kupferschmied-Obermeister allhier, und der Paulina, geborene Brinzinger, dem Kupferschmiedehandwerk zugehörig, mittelgroß, soll sich laut diesem Dokument
»1. vor allem zweckwidrigen Umherziehen und besonders vor dem Betteln hüten;
2. mit demjenigen, was er aus den Handwerks- oder öffentlichen Cassen als Zehrpfennig erhalten wird, begnügen;
3. seine Reise nur auf solche Orte, wo sich Meister von seinem Handwerke befinden, richten;
4. an keinem Orte, wo er keine Arbeit erhält, über vier und zwanzig Stunden ohne besondere obrigkeitliche Erlaubniß verweilen, und
5. an jedem Orte, wo er Meister seines Handwerks antrifft, wenn er, ohne in Arbeit zu kommen, sich weiter begiebt, durch einen Meister in gegenwärtiges Wanderbuch anmerken lassen: ob er Arbeit zu erhalten Gelegenheit gefunden oder nicht, und ob und aus welchen Gründen er solche nicht habe annehmen wollen.«
Samson selbst wird so beschrieben:
Was tut sich im Jahr 1807 anderswo?
Die seit 1798 erscheinende »Allgemeine Zeitung« des Verlegers Johann Friedrich Cotta aus Tübingen zieht wegen der Zensur unter König Friedrich I. von Stuttgart über Neu-Ulm nach Augsburg. Das liberale Blatt wird dort, oft gegängelt, bis zur Revolution 1848 und darüber hinaus dem freien Wort folgen. In England verbietet man die Sklaverei, Friedrich Wilhelm II. von Preußen befreit per Edikt seine Bauern von der Leibeigenschaft. Robert Fultons Raddampfer »Clermont« pendelt zum Staunen vieler Leute zwischen New York und Albany. Friedrich Albert Winzer aus Braunschweig baut in London ein Gaswerk; er beleuchtet Teile der Prachtstraße Pall Mall mit modernen Lampen, bald wird man deshalb auf das Walöl verzichten können.
Weit vom Getriebe entfernt steht ein noch nicht ganz erwachsener Mensch namens Sami. Mit Buch und Signalement versehen, stopft er Kleidung sowie Proviant in jenen ledernen Sack, der Armand Kern gehört. Wer weiß, woher dieser Schelm dieses alte Ding und den ihm noch gestern geschenkten Knotenstock hat? Das »Felleisen« und der »Stenz« sollen Freunde werden. Die Mutter legt noch ihr Losungsheft dazu, sie starrt vor sich hin.
Jacob Wilhelm Mayer bleibt dem Abschied fern.
Ohne ein Wort oder eine Geste wird Sami entlassen. Niemand begleitet ihn, wie es seit Jahrhunderten üblich ist. Am 24. April 1807, einem milden Freitag, passiert er um sieben Uhr morgens das Wolfstor mit den staufischen Löwen, läuft die Küfergasse entlang, streift seine Taufkirche Sankt Dionys, stiefelt zur Neckarhalde empor, bleibt am Törlein der Weingärtner stehen. Samis Blick richtet sich ostwärts: über Rebhänge und Dächer (aus den Kaminen quillt Rauch) bis zum Horizont, wo die Kontur des Albtraufs schwebt: eine taubenblaue Vision. Dann wird es im Hals plötzlich eng, er schluckt und schultert wieder das Felleisen. Der Stenz schenkt Halt, Armand sei Dank.
Schritt für Schritt weicht aller Druck, bald ist kein Schmerz mehr zu spüren. Courage!
DIE TÜR DER WERKSTATT steht offen wie das Scheunentor eines Bauern zur Erntezeit. Sami tritt ein, sieht den fremden Kupferschmied vor seiner Esse arbeiten, räuspert sich und sagt: »Mit Gunst und Verlaub. Gott grüß Euch, ehrbarer Meister.«
»Woher kommt Ihr, Gesell?«
»Aus Esslingen.«
»Die Reichsstadt am Neckar hat einen guten Ruf!«
»Sie gehört jetzt zum Kreis Stuttgart. Das Deutsche Reich gibts nimmer, wenn es beliebt …«
Samson Wilhelm Mayer wird in Freiburg ausgefragt und kritisch gemustert. Er soll sein Wanderbuch zeigen, das Gewerbe nennen und nicht zuletzt auch bei der Meisterin vorsprechen. Letzteres findet Sami seltsam, wie überhaupt Frauen etwas problematisch sind. Mit denen hat der junge Mann keine Erfahrung, doch sie interessieren ihn. Leider gab es bisher kaum Gelegenheit, ihre Bekanntschaft zu machen. Ein paar scheue Blicke oder ungelenke Honneurs, damit endete jeder Versuch.
Von Esslingen aus war Sami zuerst nach Stuttgart spaziert, den Fluss stets zur Linken. In König Friedrichs Residenzstadt suchte er die Herberge der Schmiedezunft auf, wo ein Geselle saß und ihn zum nächsten Meister führte. Christian Siegele nahm den Helfer gern an, womit Lohn und Brot bis zum Herbst gesichert waren; dann zog Samson zufrieden weiter. Sein neues Buch enthielt folgende Sätze:
»Eigenthümer dieses hat bei mir seit sechs Monaten als Geselle in Arbeit gestanden und ist, da er weiter zu wandern gesonnen, aus der Arbeit entlassen worden. Hat sich während seines hiesigen Aufenthalts ohne Ausnahme wohl betragen.«
Calw, Nagold und Rottweil heißen Samis nächste Stationen. Sein Wissen wird größer, die berufliche Praxis lässt reifen, er ist streng zu sich selbst und spart jeden Kreuzer. Anfang Februar 1808 stapft der nur dünn bekleidete Bursche im hohen Schnee durch den Schwarzwald, verliert immer wieder den Weg, irrt herum und hat Angst vor Wölfen. Wäre er bloß in Rottweil geblieben! Nachts gegen elf Uhr klopft Samson an das Fenster einer einsamen Bauernkate, nach langem Warten schlurft jemand her.
»Wo bin ich?«, fragt die eisverkrustete Figur.
»Zwei Stunden von Freiburg entfernt.«
»Gott sei Dank.«
»Kommt herein, ruht Euch aus.«
Über diesen Monat schreibt ein Chronist, Vögel seien im Schwarm tot vom Himmel gefallen, und Bettler hätten um eine Zuflucht beim Vieh gefleht. Seit ewiger Zeit wisse man von keinem derart strengen Frost. Verkehrte Welt: Die letzte Winterperiode, berichtet der badische Dichter Johann Peter Hebel, habe »viel Verwunderung erregt und den armen Leuten wohlgethan. Wer jetzt noch fröhlich in den Knabenschuhen herumspringt, wird in sechzig Jahren einmal auf der Ofenbank sitzen und seinen Enkeln erzählen, daß man anno 1806 zwischen Weihnacht und Neujahr Erdbeeren gegessen habe.«
Mayer weiß nichts von Hebels Text. Er hat längst das Wirtshaus der Schmiede erreicht, dort einen Trunk bekommen, danach den ihm empfohlenen Meister Johann Spöhri aufgesucht und bei ihm Arbeit bis zum Frühling gefunden. Auch dessen hübsches Weib wendet gegen ihren Kostgast nichts ein. Der ist strebsam und hält sein Quartier sauber, Gesellen wie Johann Samson Wilhelm Mayer sind rar.
»Ihr bleibt nur drei Monate hier«, sagt sie Ende April nebenbei, »seid jedoch länger gelitten. Nun also …«
Sami spürt ein Werben im Ton der Meisterin,sieht ihre Gestalt plötzlich mit wacheren Augen als bisher und antwortet:
»Ich weiß nicht so recht. Bitte gebt mir Bedenkzeit.«
Nachts liegt er Stunde um Stunde schlaflos und hat sich vor Sonnenaufgang entschieden.
Zwischen blühenden Bäumen am Kaiserstuhl schlängelt der Pfad bergab. Lerchen trillern: Hoch hinauf steigen sie und sind niemand etwas schuldig, denkt Sami, wie schön. »Von Breisach aus über den Rhein und direkt nach Colmar« hatte ein junger Kaltschmied in Stuttgart geraten, dieser Satz begleitet ihn jetzt. Die Elsässer seien freundlich, das Savoir vivre dort mache mehr Lust als im Herzogtum Baden. Gar nicht zu reden vom Königreich Württemberg.
Doch dann lernt Johann Samson Wilhelm zwei Schweizer namens Jürg und Bert kennen, die Holz aus dem Jura geladen haben. Sie reden von Holland, er zahlt im Voraus und geht an Bord ihres Kahns. Jeder Tag bietet neue Eindrücke. Anders als Breisach, das durch Napoleons Truppen verbrannt worden ist und seit 1806 zu Baden zählt, spiegeln manche Städte flussabwärts die Herrschaft des klein gewachsenen, aber politisch großen Kaisers Bonaparte: von Kehl bis Worms, von Speyer bis Mayence, von Coblence bis Cologne. Überall flattert demonstrativ Blauweißrot, mit »Vive l’Empereur« wird man links des Rheins noch acht Jahre lang leben – in der »Einigen und untheilbaren Franken-Republik«.
Das alte Köln mit seinem 1794 profanierten und nun wieder geweihten Dom zieht Sami an. Weshalb er keine Windmühlen oder Deiche sehen will, Holland auf irgendwann verschiebt und seinen Kurs ändert. Wenn die Eidgenossen jetzt allein in Richtung Nordsee schippern, was solls? Denen geht es ohnehin nur um den wartenden Lohn für drei Wochen Arbeit. Adieu, Bert und Jürg!
Sie schauen ihm wortlos nach.
Cologne gehört zum welschen Kaiserreich wie Koblenz, Mainz und weitere Städte am Fluss. Hier findet Sami ohne Umstände den nächsten Patron. Nicolaus Müllenwitsch hält das Personal straff zusammen, drei Gesellen und ein Lehrling helfen ihm. In der großen Werkstatt geht die Arbeit nicht aus, weshalb Sami sich bewähren darf. Vor allem kupferne Kessel für Brauereien werden bei Müllenwitsch hergestellt, der Schwabe lernt etwas dazu und gewinnt an Statur. Von seiner Dachkammer aus blickt er morgens zum noch stummen Dom; wenn andere Glocken geläutet werden, schwingt etwas wie Wehmut mit.
War es falsch, Esslingen zu verlassen? Hätte man dem Vater standhalten müssen?
»Lieber Freund«, schreibt Samson Mayer eines Tages an Armand Kern, »verzeih. Ich habe lang nichts hören lassen. Du bist wohl auf der Walz, deshalb schick ich diese Botschaft nach Württemberg und hoffe, daß sie dich erreicht. Wo wanderst du? Felleisen und Stenz leisten noch immer gute Dienste. Köln steckt voller Franzosen, die sympathisch sind. Auch promenieren sonntags honette Fräuleins am Arm ihrer Mütter. Hier weht ein frischerer Wind als daheim, man spricht oft über Politik. Was mir mißfällt, ist das rheinische Temperament, es fehlt dem hiesigen Volk an Tiefgang. Außerdem kann ich den Katholischen nicht viel abgewinnen. Melde dich bald. Immer dein treuer J. S. W. Mayer, Kupferschmied bey Nicolaus Müllenwitsch, Cologne (Département de la Roer).«
Eine Antwort von Armand bleibt aus. Die »untröstlichen« Eltern Daniel und Elisabeth Kern schicken Samis Brief mit dem Hinweis zurück, ihr Sohn habe sich im Herbst letzten Jahres nach Nordamerika eingeschifft. New York sei sein Ziel gewesen: »Doch der Segler aus Hamburg lief vor Cornwall auf ein Riff, zerbrach bei Land’s End und ging unter. Kein Mensch wurde gerettet.«
Untröstlich, ja. Auch Sami trifft diese Nachricht schwer. Erst beugt sie ihn, dann taucht die Sinnfrage auf und will nicht weichen. Er steht stumm am Rhein mit dem leeren Ledersack des ertrunkenen Spenders in der Hand. Nie wird Armand Kern vergessen sein.
Sami schwenkt das Felleisen und wirft es ins Wasser, dessen Strömung die braune Hülle davonträgt. Sie treibt langsam zum Meer, wo Armand vor England liegt. Fern von hier ruht sein Kamerad bei den Fischen und sehnt sich nach einem Stück Heimat.
England, Britannien … du lieber Gott. Von dieser Insel hat Samson zwar viel gelesen, doch war Rektor Herwigs Geografie an der Lateinschule für ihn stets weniger reizvoll als chemische Experimente oder zwei Stunden Physikunterricht. Jetzt aber lockt ihn kein alter Stoff, sondern die Möglichkeit, bis zum Rand Europas zu laufen. Und dann?
Ich komme, Armand!
»Etwas ruft mich fort«, sagt Samson Wilhelm Mayer Anfang Oktober 1808 zu Nicolaus Müllenwitsch, was dieser bedauert. Der Kessler fragt ihn, ob er nicht eine Nacht lang schlafen und sich erst dann festlegen wolle? Sami verneint höflich, erhält das Wanderbuch, packt seine Habe in einen neuen Tornister und liest Müllenwitschs Resümee:
»Derselbe hat hier zu Cölln durch sechs Monate gearbeitet und sich geschickt, treu und fleißig benommen.«
Meister Müllenwitsch reicht Sami das ihm zustehende »Geschenk«, ein offizielles Salär für scheidende Gesellen, und zahlt außerdem mehr als erwartet: blanke Goldmünzen mit Kaiser Napoleons Kopf, barhäuptig, Lorbeer um Schläfen und Stirn. Sami näht alle Francs in sein Hemd ein, weil da oder dort Räuber lauern – die Spitzbuben sind auf französischem Terrain unterwegs, aber auch im Herzogtum Baden. Pulver und Blei schützen kaum, denn dieses Pack ist bewaffnet und schont weder Leib noch Leben.
Köln hinterlässt Spuren im Kopf. Woran liegt das? Samson hungert nach Informationen, sein Gehirn verlangt Tag für Tag Nahrung, das Denken schärft schnell den Geist. Überall kann man Neues hören, auf den städtischen Straßen oder beim Wein wird mehrsprachig diskutiert, jede Botschaft macht zehnmal die Runde und stellt sich entweder als falsch oder wahr heraus. Zutreffend ist:
Ein Dekret Napoleons schränkt die bürgerlichen Rechte der Juden ein, er selbst greift nach Spanien und Portugal. Bonapartes Schwager Joachim Murat übernimmt die Macht im Königreich Neapel, sein Bruder Joseph Bonaparte wird als José I. zum König von Spanien erklärt. In Australien findet eine »Rum Rebellion« statt, der dortige Gouverneur William Bligh war 1789 durch die gegen ihn gerichtete Meuterei auf dem Segelschiff »Bounty«bekannt geworden. Johann Gottlieb Fichte verfasst 14 patriotische »Reden an die deutsche Nation«. Dass Heinrich von Kleists Lustspiel »Der zerbrochne Krug«am Weimarer Hoftheater uraufgeführt wird und wenig Erfolg hat, dringt vorerst nicht bis zum Rhein.
Die Laubwälder leuchten wie Kupfer, als Sami südwärts trabt. Was der preußische Novellist Franz von Gaudy später in seinem »Tagebuch eines wandernden Schneidergesellen« humorvoll schildern wird, könnte schon jetzt für ihn gelten. Mit leiser Selbstironie und auf ebener Bahn: