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Mr. Barnstaple fand, daß er dringend einen Urlaub brauchte; nur wußte er weder, mit wem, noch wohin er hätte gehen können. Er war überarbeitet und hielt es zu Hause nicht mehr aus. Barnstaple hatte von Natur aus ein starkes Temperament. Seine Familie liebte er innig, so daß er sie durch und durch kannte und sie ihn entsetzlich langweilte, wenn er in so niedergedrückter Stimmung war. Seine drei heranwachsenden Söhne schienen von einem Tag zum andern langbeiniger und größer zu werden. Wollte er sich in einen Sessel setzen, so saß sicher schon einer von ihnen darin; sie verjagten ihn von seinem Pianola; sie erfüllten das Haus mit gellendem und nicht enden wollendem Gelächter über Witze, die sich nicht zum Erzählen eigneten. Sie störten ihn bei den späten, harmlosen Flirts, die bis dahin sein bester Trost in diesem Jammertal gewesen waren; sie schlugen ihn im Tennis; sie rauften miteinander voll Übermut auf den Treppenabsätzen und sausten zu zweit und dritt unter gewaltigem Getöse die Stiegen hinunter. Ihre Hüte lagen überall umher. Sie kamen zu spät zum Frühstück. Jeden Abend beim Zubettgehen erhoben sie ein Gebrüll: "Uahu! Uahu! Uahu! … bums!" Und ihrer Mutter schien dies zu gefallen. Sie alle kosteten Geld und setzten sich sorglos über die Tatsache hinweg, daß alles, mit Ausnahme von Barnstaples Verdienst, gestiegen war. Und wenn er bei den Mahlzeiten einige schlichte Wahrheiten über Mr. Lloyd George äußerte, oder wenn er den leisesten Versuch machte, den Ton des Tischgespräches über das Niveau des dümmsten Tratsches zu erheben, ließ ihre Aufmerksamkeit ostentativ nach … Auf jeden Fall schien es ostentativ. Er hatte das starke Bedürfnis, von seiner Familie fort, irgendwohin zu gehen, wo er in Ruhe mit Stolz und Liebe an seine Angehörigen denken konnte, ohne von ihnen gestört zu werden … Und ebenso wünschte er dringend, für einige Zeit von Mr. Peeve loszukommen. Nie wieder wollte er eine Zeitung oder eine Zeitungsankündigung sehen; selbst der Anblick der …
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Seitenzahl: 395
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Mr. Barnstaple fand, daß er dringend einen Urlaub brauchte; nur wußte er weder, mit wem, noch wohin er hätte gehen können. Er war überarbeitet und hielt es zu Hause nicht mehr aus.
Barnstaple hatte von Natur aus ein starkes Temperament. Seine Familie liebte er innig, so daß er sie durch und durch kannte und sie ihn entsetzlich langweilte, wenn er in so niedergedrückter Stimmung war. Seine drei heranwachsenden Söhne schienen von einem Tag zum andern langbeiniger und größer zu werden. Wollte er sich in einen Sessel setzen, so saß sicher schon einer von ihnen darin; sie verjagten ihn von seinem Pianola; sie erfüllten das Haus mit gellendem und nicht enden wollendem Gelächter über Witze, die sich nicht zum Erzählen eigneten. Sie störten ihn bei den späten, harmlosen Flirts, die bis dahin sein bester Trost in diesem Jammertal gewesen waren; sie schlugen ihn im Tennis; sie rauften miteinander voll Übermut auf den Treppenabsätzen und sausten zu zweit und dritt unter gewaltigem Getöse die Stiegen hinunter. Ihre Hüte lagen überall umher. Sie kamen zu spät zum Frühstück. Jeden Abend beim Zubettgehen erhoben sie ein Gebrüll: »Uahu! Uahu! Uahu! … bums!« Und ihrer Mutter schien dies zu gefallen. Sie alle kosteten Geld und setzten sich sorglos über die Tatsache hinweg, daß alles, mit Ausnahme von Barnstaples Verdienst, gestiegen war. Und wenn er bei den Mahlzeiten einige schlichte Wahrheiten über Mr. Lloyd George äußerte, oder wenn er den leisesten Versuch machte, den Ton des Tischgespräches über das Niveau des dümmsten Tratsches zu erheben, ließ ihre Aufmerksamkeit ostentativ nach …
Auf jeden Fall schien es ostentativ.
Er hatte das starke Bedürfnis, von seiner Familie fort, irgendwohin zu gehen, wo er in Ruhe mit Stolz und Liebe an seine Angehörigen denken konnte, ohne von ihnen gestört zu werden …
Und ebenso wünschte er dringend, für einige Zeit von Mr. Peeve loszukommen. Nie wieder wollte er eine Zeitung oder eine Zeitungsankündigung sehen; selbst der Anblick der Straßen wurde ihm zur Qual. Er war von der Furcht vor einem finanziellen und wirtschaftlichen Zusammenbruch besessen, gegen den der Weltkrieg bloß als ein geringfügiger Zwischenfall erschienen wäre. Und das nur aus dem Grunde, weil er zweiter Redakteur und Faktotum beim Liberal war, jenem bekannten Organ der traurigeren Aspekte der fortschrittlichen Meinung, und weil der unentwegte Pessimismus des Mr. Peeve, seines Chefs, ihn immer mehr ansteckte. Früher war es noch möglich gewesen, Mr. Peeve eine Art Widerstand entgegenzusetzen, indem man sich mit den anderen Angehörigen der Redaktion über seinen Trübsinn verstohlen lustig machte, aber jetzt gab es keine anderen Redaktionsmitglieder mehr; in einem Anfall finanzieller Verzagtheit hatte Mr. Peeve sie alle abgebaut. Tatsächlich schrieb jetzt außer Barnstaple und Mr. Peeve niemand mehr regelmäßig für den Liberal. So stand nun Mr. Barnstaple ganz unter Peeves Einfluß. Der konnte manchmal zwei Stunden lang zusammengekrümmt, die Hände tief in den Hosentaschen, und alle Dinge von der düstersten Seite betrachtend, auf seinem Redaktionsstuhl hocken. Barnstaple neigte von Natur aus zu bescheidenen Hoffnungen und zu Fortschrittsglauben, aber Mr. Peeve hielt hartnäckig daran fest, daß es um mindestens sechs Jahre zu spät sei, an einen Fortschritt zu glauben und daß der Liberalismus bestenfalls auf ein baldiges Jüngstes Gericht hoffen könne. Und wenn Mr. Peeve den Leitartikel, den der Redaktionsstab, als es noch einen gab, dessen wöchentliche Magenverstimmung nannte, fertiggebracht hatte, ging er fort und überließ es Mr. Barnstaple, den restlichen Teil des Blattes für die nächste Woche zusammenzustellen.
Schon in normalen Zeiten wäre es schwer genug gewesen, mit Mr. Peeve zusammenzuarbeiten; aber die Zeiten waren nicht normal. Sie waren erfüllt von unangenehmen Begebenheiten, die seine trübseligen Ahnungen nur zu berechtigt erscheinen ließen. Die große Aussperrung der Grubenarbeiter dauerte bereits einen Monat und ließ den kommerziellen Zusammenbruch Englands vorausahnen; jeder Morgen brachte aus Irland Nachricht von neuen Ausschreitungen, von unverzeihlichen und unvergeßbaren Greueltaten; eine anhaltende Dürre bedrohte die Welternte; der Völkerbund, auf den Mr. Barnstaple in den glorreichen Tagen des Präsidenten Wilson riesige Hoffnungen gesetzt hatte, war zu trauriger und selbstzufriedener Bedeutungslosigkeit herabgesunken; überall Konflikte, überall Unvernunft; sieben Achtel der Welt schienen in chronische Unordnung und soziale Auflösung zu verfallen. Sogar ohne Mr. Peeve wäre es schwer genug gewesen, den Ereignissen die Stirn zu bieten.
Mr. Barnstaple gab nun auch wirklich die Hoffnung auf, aber für Menschen seiner Art ist Hoffnung eine wesentliche Würze, ohne die das Leben unverdaulich wird. Er hatte seine Hoffnung stets auf den Liberalismus und auf eine großzügige, freiheitliche Bewegung gesetzt, jetzt aber begann er zu glauben, daß der Liberalismus niemals mehr erreichen würde, als gekrümmt dazusitzen, mit den Händen in den Taschen, über die Rührigkeit tiefer stehender, aber energischer Männer zu grollen und darüber zu raunzen, daß ihre krabbelnde Emsigkeit die Welt zugrunde richten werde.
Tag und Nacht machte sich Mr. Barnstaple nun Sorgen um die ganze Welt; nachts noch mehr als tagsüber, da er keinen Schlaf finden konnte. Er war von einer krankhaften Begierde behext, eine Nummer des Liberal herauszubringen, die sein ureigenstes Werk sein sollte, alles abzuändern, nachdem Mr. Peeve gegangen war, das ganze gallige Zeug, den elenden leeren Hohn über dieses oder jenes Unrecht auszumerzen, die Schadenfreude über Grausamkeit und Unglück, die Aufregung über die belanglosen, natürlich menschlichen Fehlgriffe von Mr. Lloyd George unter Berufung auf Lord Grey, Lord Robert Cecil, Lord Lansdowne, den Papst, die Königin Anna oder auf Kaiser Barbarossa (sie wechselten von Woche zu Woche); sich zu erheben, den jungen Bestrebungen einer wiedergeborenen Welt Stimme und Gestalt zu geben und die Nummer zu füllen mit – Utopia! Den verblüfften Lesern des Liberal zu sagen: Seht her, das hat zu geschehen. Seht her, das wollen wir tun. Welch ein Schlag wäre das für Mr. Peeve bei seinem Sonntagsfrühstück! Vor Staunen würde er am Ende gar diese Mahlzeit ausnahmsweise richtig verdauen.
Aber das waren höchst närrische Träume. Zu Hause saßen die drei jungen Barnstaples, und ihnen mußte ein anständiger Start gesichert werden. Und so schön der Traum auch war, so hatte Mr. Barnstaple doch die sehr bedrückende Überzeugung, daß er in Wirklichkeit nicht geschickt genug sei, um so eine Sache richtig anzupacken. Irgendwie würde er sie doch verpfuschen …
Und dann könnte er vom Regen in die Traufe kommen. Der Liberal war wohl ein ödes, entmutigendes und kleinliches Blatt, aber es war immerhin kein gemeines und verrufenes Blatt.
Indes, wenn es auch zu keinem so verheerenden Ausbruch kommen sollte, so war es doch für Mr. Barnstaple unbedingt erforderlich, einige Zeit von Mr. Peeve auszuruhen. Ein- oder zweimal hatte er ihm schon widersprochen. Ein Streit konnte jeden Augenblick ausbrechen. Es war klar, daß der erste Schritt, den er tun mußte, um von Mr. Peeve auszuruhen, ein Besuch beim Arzt war. Also ging Mr. Barnstaple zu einem Arzt.
»Ich verliere die Gewalt über meine Nerven«, sagte Mr. Barnstaple, »ich bin fürchterlich nervös.«
»Sie leiden an Neurasthenie«, sagte der Arzt.
»Ich hasse meine tägliche Arbeit.«
»Sie brauchen einen Urlaub.«
»Glauben Sie, daß ich eine Abwechslung nötig habe?«
»Eine so gründliche, wie nur irgend möglich.«
»Können Sie mir einen Ort empfehlen, wohin ich gehen könnte?«
»Wohin wollen Sie gehen?«
»Ich habe kein bestimmtes Ziel. Ich dachte, Sie könnten mir etwas empfehlen …«
»Finden Sie einen anziehenden Ort – und gehen Sie dorthin. Tun Sie sich keinen Zwang an.«
Mr. Barnstaple zahlte dem Doktor eine Guinee und, gewappnet mit dessen Ratschlägen, bereitete er sich darauf vor, Mr. Peeve von seiner Erkrankung und der Notwendigkeit eines Urlaubs zu benachrichtigen, sobald sich Gelegenheit ergeben würde.
Eine Zeitlang bedeutete der in Aussicht stehende Urlaub für Mr. Barnstaple eine Vermehrung der schon äußerst schwer auf ihm lastenden Sorgen. Der Entschluß fortzugehen stellte ihn plötzlich vor drei anscheinend unlösbare Probleme: Wie fortkommen? Wohin? Und da Mr. Barnstaple zu jenen Leuten gehörte, die sehr schnell ihrer eigenen Gesellschaft überdrüssig werden: Mit wem? Verstohlene Pläne brachen wie ein leuchtender Strahl durch die Miene voll aufrichtigen Jammers, die Barnstaple in letzter Zeit zur Schau trug. Aber niemand achtete sonderlich auf Barnstaples Gesichtsausdruck.
Eines war ihm ganz klar. Kein Sterbenswörtchen von diesem Urlaub zu Hause! Er wußte ganz genau, was geschehen würde, wenn Mrs. Barnstaple Wind davon bekäme. Sie würde mit einer Miene hingebungsvollen Eifers die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen. »Du mußt einen richtigen Urlaub haben!« würde sie sagen. Sie würde ein ziemlich entferntes und teures Bad in Cornwall, Schottland oder in der Bretagne wählen, sie würde einen Haufen Reiseausstattung zusammenkaufen, im letzten Augenblick würde ihr noch etwas einfallen, um das Gepäck mit unbequemen Dingen vollzupfropfen, und – sie würde die Jungen mitnehmen. Wahrscheinlich würde sie es so einzurichten verstehen, daß eine oder zwei Freundesgruppen an denselben Ort kämen, um ›etwas Leben in die Bude zu bringen‹. Und dann würden die sicherlich ihre schlechtesten Charakterzüge hervorkehren und sich als ganz unausstehliche Menschen entpuppen. Es würde kein ordentliches Gespräch, keine echte Fröhlichkeit geben, sondern nur endlose Spiele … Nein!
Wie kann es aber ein Mann anstellen, auf Urlaub zu gehen, ohne daß seine Frau Wind davon bekommt? Irgendwie muß doch ein Koffer gepackt und aus dem Hause geschmuggelt werden …
Mr. Barnstaple betrachtete es als den hoffnungsvollsten Umstand in seiner Lage, daß er ein kleines Auto sein eigen nannte. Es war nur natürlich, daß dieser Wagen eine große Rolle in seinen geheimen Plänen spielte. Er schien ihm die günstigsten Möglichkeiten zum Entkommen zu bieten. Er verwandelte die mögliche Antwort auf die Frage: Wohin? Von einem bestimmten, feststehenden Ort in einen, der, wie ich glaube, in der Mathematik geometrischer Ort genannt wird. Und dann hatte das kleine Biest etwas so Gemütliches an sich, daß es leise, aber ganz vernehmlich die Frage beantwortete: Mit wem? Es war ein Zweisitzer! In der Familie hieß es ›Das Fußbad‹, der ›Senftopf‹ oder ›Die Gelbe Gefahr‹. Wie man aus diesen Bezeichnungen schließen kann, war es ein niederer, offener Wagen von grellgelber Farbe. Barnstaple benützte ihn zur Fahrt von Sydenham nach seinem Büro. Der Wagen legte mit einem Liter Brennstoff leicht zwölf Kilometer zurück, war also viel billiger als eine Monatskarte. Tagsüber stand er im Hof unter dem Bürofenster. In Sydenham war er in einem Schuppen untergebracht, zu dem nur Mr. Barnstaple den Schlüssel besaß. Bisher war es ihm gelungen, zu verhindern, daß die Jungen das Auto fuhren oder in Stücke zerlegten. Manchmal fuhr er mit Mrs. Barnstaple in Sydenham umher, ihre Einkäufe zu besorgen. Aber sie konnte den kleinen Wagen nicht recht leiden, weil er sie zu sehr den Elementen aussetzte und sie darin verstaubt und zerzaust wurde. Durch all das, was der kleine Wagen ermöglichte, und durch all das, was er verhinderte, war er offenbar zum Mittel des benötigten Urlaubs bestimmt. Und Mr. Barnstaple fuhr ihn wirklich gern. Er steuerte sehr schlecht, aber sehr vorsichtig. Und obwohl die Karre manchmal stehenblieb und sich weigerte, weiterzufahren, so tat sie doch nicht das, was die meisten anderen Dinge in Mr. Barnstaples Leben taten, oder sie hatte es wenigstens bisher nicht getan; nämlich, sich nach Osten zu wenden, wenn Barnstaple das Steuerrad nach Westen drehte. Dies verlieh ihm ein angenehmes Gefühl der Überlegenheit.
Schließlich traf Mr. Barnstaple seine Entscheidung mit großer Eile. Plötzlich eröffnete sich ihm eine günstige Gelegenheit. Donnerstag hatte er in der Druckerei zu tun, und er fühlte sich furchtbar abgehetzt, als er abends heimkam. Das Wetter war andauernd heiß und trocken. Es wurde nicht weniger bedrückend durch den Gedanken, daß diese Dürre Hunger und Elend für die Hälfte der Welt vorausahnen ließ. Und in London herrschte Hochsaison – mondän und grinsend. Dieses Jahr war womöglich noch blödsinniger als das große Tangojahr 1913, welches Mr. Barnstaple im Hinblick auf die darauf folgenden Ereignisse bis jetzt für das blödsinnigste Jahr der Weltgeschichte gehalten hatte. Der Star brachte den üblichen Schub an schlechten Nachrichten neben der Spalte, in welcher die sportlichen und gesellschaftlichen Neuigkeiten herrschten. Zwischen den Russen und Polen waren Kämpfe ausgebrochen, ebenso in Irland, in Kleinasien, an der indischen Grenze und in Ostsibirien. Drei neue schreckliche Mordtaten waren geschehen. Die Bergarbeiter waren noch immer ausgesperrt, und es drohte ein großer Eisenbahnerstreik. In der Bahn hatte Barnstaple nur einen Stehplatz bekommen, und der Zug war mit zwanzig Minuten Verspätung abgefahren.
Zu Hause fand er einen Zettel vor, auf dem ihm seine Frau mitteilte, daß ihre Vettern aus Wimbledon telegrafiert hätten, man habe dort die seltene Gelegenheit, Mademoiselle Lenglen und andere Größen Tennis spielen zu sehen; sie sei mit den Jungen hinübergefahren und werde erst spät zurückkehren. Es würde den Jungen guttun, meinte sie, wirklich erstklassige Tennisspieler zu sehen. Die Dienstboten hätten an diesem Abend ihren Ausgang. Er werde hoffentlich nicht böse sein, diesmal allein daheim bleiben zu müssen. Die Mädchen würden etwas kalten Aufschnitt für ihn bereitstellen, ehe sie fortgingen.
Mr. Barnstaple las diese Botschaft mit Resignation. Beim Abendbrot las er eine Broschüre, die ihm ein Freund aus China gesandt hatte, um ihm zu zeigen, wie die Japaner die Reste chinesischer Zivilisation und Bildung zerstörten.
Erst als er nach dem Abendbrot in seinem kleinen Garten saß und seine Pfeife rauchte, kam es ihm voll zu Bewußtsein, was es für ihn bedeutete, allein zu Hause zu sein. Dann wurde er auf einmal sehr geschäftig. Er rief Mr. Peeve an, teilte ihm das Urteil des Arztes mit, erklärte ihm, daß die Dinge beim Liberal gerade jetzt besonders günstig lägen, und erhielt Urlaub.
Danach ging er in sein Schlafzimmer und packte eilig einen vorsintflutlichen Koffer, den man wahrscheinlich nicht so bald vermissen würde, und verstaute ihn unter dem Sitz seines Wagens. Danach beschäftigte er sich einige Zeit damit, seiner Frau einen Brief zu schreiben, und steckte ihn sehr sorgfältig in seine Brusttasche.
Dann sperrte er den Wagenschuppen ab und setzte sich mit seiner Pfeife und einem guten, gedankenschweren Buch über den Bankrott Europas in einen Liegestuhl im Garten, um so unschuldig wie nur möglich auszusehen und sich auch so zu fühlen, ehe seine Familie nach Hause käme.
Als seine Frau zurückkam, erzählte er ihr so beiläufig, daß er sich sehr nervös fühle und daß er sich vorgenommen habe, am nächsten Montag nach London zu fahren, um einen Arzt zu konsultieren.
Mrs. Barnstaple schlug einen Arzt vor, er aber sagte, er habe in dieser Angelegenheit auf Peeve Rücksicht zu nehmen und Peeve sei gerade auf den Dr. Soundso versessen – das war nämlich der Mann, den er in Wirklichkeit schon konsultiert hatte. Und als Mrs. Barnstaple sagte, ihrer Meinung nach hätten sie alle einmal richtige Ferien nötig, brummte er etwas Unverständliches.
Auf diese Weise konnte Mr. Barnstaple mit dem ganzen Gepäck, das für mehrere Ferienwochen nötig war, das Haus verlassen, ohne irgendeinem unüberwindlichen Widerstand zu begegnen. Am nächsten Morgen brach er nach London auf. Der Verkehr auf der Straße war bunt und lebhaft, aber keineswegs schwierig, und die ›Gelbe Gefahr‹ fuhr so sanft dahin, daß sie den Namen ›Goldene Hoffnung‹ verdient hätte. In Camberwell bog er in die Camberwell-New Road ein und nahm den Weg nach dem am Anfang der Vaux-Bridge Road gelegenen Postamt. Hier hielt er an. Sein Vorhaben erschreckte ihn, erfüllte ihn aber auch mit Stolz. Er begab sich ins Postamt und sandte seiner Frau ein Telegramm: ›Dr. Pagan sagt, Einsamkeit und Ruhe dringend nötig, fahre daher in den Seen-Distrikt, habe, dies vorausahnend, Gepäck mitgenommen. Brief folgt.‹
Dann kam er heraus, kramte in seiner Tasche, zog den Brief hervor, den er am vorigen Abend geschrieben hatte, und steckte ihn in den Postkasten. Den Brief hatte er absichtlich so gekritzelt, daß er Neurasthenie in akutem Stadium ahnen ließ. Dr. Pagan habe einen sofortigen Urlaub verordnet, stand dort geschrieben, und ihm empfohlen, ›nordwärts zu wandern‹. Es sei besser, ihm während einiger Tage oder etwa einer Woche keinerlei Post nachzusenden. Er werde nicht schreiben, außer es ginge etwas schief. Keine Nachricht sei gute Nachricht. Sie möge ruhig sein, alles würde gut werden. Sobald er eine feste Adresse für Briefe habe, werde er drahten, aber nur ganz dringende Sachen sollten ihm dann nachgeschickt werden.
Danach stieg er wieder in den Wagen und das mit einem Gefühl der Freiheit, wie er es seit seinen ersten Schulferien nicht mehr empfunden hatte. So schlug er die Richtung nach der Great North Road ein, aber im Stau am Hyde Park Corner hieß ihn ein Polizist nach der Knights Bridge abbiegen, und später wurde er an der Ecke, wo die Bath Road von der Oxford Road abzweigt, durch einen Möbelwagen, der den Weg versperrte, in die erstere abgedrängt. Aber das machte nicht viel aus. Jeder Weg führt nach Irgendwohin, und er konnte ja auch später nordwärts fahren.
Es war einer jener Tage voll heiteren Sonnenscheins, die für die große Dürre von 1921 so charakteristisch waren. Es war nicht im geringsten schwül. Im Gegenteil, die Frische und Mr. Barnstaples gute Laune vereinigten sich, um ihn recht angenehme Erlebnisse erwarten zu lassen. Die Hoffnung war wieder zurückgekehrt. Er wußte wohl, daß er auf dem Wege war, dem Alltag zu entfliehen, aber er hatte bis jetzt noch nicht die leiseste Ahnung, wie vollkommen ihn dieser Weg dem Alltag entführen sollte. Es wäre schon ein nettes kleines Erlebnis, jetzt bei einem Wirtshaus zu halten und zu frühstücken. Und wenn er sich unterwegs einsam fühlen sollte, würde er irgend jemanden mitnehmen und mit ihm plaudern. Er konnte ganz ruhig jemanden mitnehmen, denn es war ihm ganz gleichgültig, nach welcher Richtung er fuhr, wenn er nur Sydenham und die Redaktion des Liberal im Rücken hatte.
Unweit von Slough wurde er von einem riesigen grauen Tourenwagen überholt, der ihn aufschreckte und zum Ausweichen zwang. Der Wagen tauchte lautlos neben ihm auf und hatte ihn im Augenblick überholt, obwohl er selbst nach seinem Geschwindigkeitsmesser, der nur manchmal nicht ganz genau war, gut fünfundfünfzig Kilometer in der Stunde fuhr. Die Insassen waren, wie er feststellte, drei Herren und eine Dame; sie saßen alle hochaufgerichtet und sahen sich um, als ob sie sich für etwas interessierten, das hinterherkam. Da sie sehr schnell an ihm vorüberfuhren, konnte er bloß bemerken, daß die Dame von einer auffallenden, strahlenden Schönheit war und daß der ihm zunächst sitzende Herr ein sonderbar elfenhaftes, wenn auch ältliches Gesicht hatte.
Noch bevor er den Schreck über diese vorbeisausende Erscheinung überwunden hatte, machte ihn ein andrer Wagen mit dem Ton eines prähistorischen Sauriers darauf aufmerksam, daß schon wieder jemand an ihm vorbeiwollte. Auf solche Weise – nämlich nach freundlicher Verständigung – ließ sich Mr. Barnstaple gern überholen. Er verringerte die Geschwindigkeit, ließ jeden Anspruch darauf, König der Straße zu sein, fallen und machte mit der Hand aufmunternde Zeichen. Eine große, glatte, schnelle Limousine machte von seiner Erlaubnis, die breite Straße zu passieren, Gebrauch. Der Wagen führte eine tüchtige Menge Gepäck mit sich; aber, mit Ausnahme eines jungen Mannes mit einem Monokel, der neben dem Fahrer saß, sah Barnstaple keine Insassen. Gleich vor ihm bog die Limousine um die Ecke, hinter dem Tourenwagen her.
Nun, selbst eine fahrende ›Fußbadewanne‹ hat es nicht gern, an einem hellen Morgen auf offener Straße so großspurig überholt zu werden. Barnstaple drückte das Gaspedal hinunter und nahm die Kurve mit gut zehn Stundenkilometer schneller, als ihm seine Vorsicht sonst zu fahren gestattete. Er fand die Straße vor sich ganz leer.
Ja, er fand die Straße vor sich viel zu leer. Sie erstreckte sich etwa fünfhundert Meter lang schnurgerade vor seinen Augen. Auf der linken Seite waren eine niedrige, gestützte Hecke, vereinzelte Bäume, flache Felder, dahinter lagen einige kleine Häuschen, weiter entfernt Pappeln, und ganz hinten sah man Windsor Castle. Auf der rechten Seite waren gleichfalls Felder und ein kleines Wirtshaus vor einem Hintergrund niedriger bewaldeter Hügel. Eine auffallende Erscheinung in dieser ruhigen Landschaft war die Reklame eines Strandhotels in Maidenhead. Barnstaple sah vor sich das Flimmern der heißen Luft und zwei oder drei Staubwirbel, die auf der Straße entlang tanzten. Aber keine Spur von dem großen Tourenwagen – und keine Spur von der Limousine. Mr. Barnstaple brauchte gut zwei Sekunden, ehe er sich dieser erstaunlichen Tatsache voll bewußt wurde. Weder zur Rechten noch zur Linken gab es irgendeine Seitenstraße, in welche die Wagen hätten verschwinden können. Und wenn sie schon um die nächste Biegung sein sollten, dann hätten sie mit dreihundert Kilometern in der Stunde fahren müssen.
Mr. Barnstaple hatte die gute Gewohnheit, die Geschwindigkeit sofort zu verringern, wenn er sich über etwas nicht klar war. Auch jetzt stoppte er ab. So kam er auf eine Geschwindigkeit von ungefähr zwanzig Stundenkilometer und starrte mit offenem Munde in die leere Landschaft, um irgendeinen Anhaltspunkt für das rätselhafte Verschwinden der Wagen zu finden. Erstaunlicherweise hatte er durchaus nicht das Gefühl, daß er selbst irgendwie gefährdet sein könnte.
Dann schien sein Wagen an irgend etwas anzustoßen und begann zu schleudern. Er schleuderte so heftig herum, daß Barnstaple für einen Augenblick den Kopf verlor. Er konnte sich nicht erinnern, was man zu tun hat, wenn ein Wagen schleudert. Er erinnerte sich dunkel, daß man in die Richtung zu steuern hätte, nach der sich der Wagen dreht, aber in seiner momentanen Aufregung konnte er nicht feststellen, in welche Richtung der Wagen schleuderte.
Später erinnerte er sich, daß er in diesem Augenblick einen Ton gehört hatte. Es war genau derselbe Ton, der entsteht, wenn eine Spannung ihren Höhepunkt erreicht hat, scharf wie das Springen einer Lautensaite, ein Ton, den man zu Anfang – oder zu Ende – der Bewußtlosigkeit in der Narkose hört.
Es war ihm, als ob er gegen die Hecke an der rechten Seite geschleudert worden wäre, aber nun fand er die Straße wieder vor sich. Er berührte den Gashebel, stoppte aber dann wieder ab und blieb stehen. Voll tiefster Verwunderung blieb er stehen.
Diese Straße war vollkommen verschieden von derjenigen, auf der er sich noch vor einer halben Minute befunden hatte. Die Hecken waren verwandelt, die Bäume waren verändert. Windsor Castle war verschwunden, und – eine kleine Entschädigung – die große Limousine war wieder in Sicht. Sie stand am Rand der Straße, ungefähr zweihundert Meter entfernt.
Eine Zeitlang war Mr. Barnstaples Aufmerksamkeit sehr ungleich geteilt zwischen der Limousine, deren Insassen eben ausstiegen, und der Landschaft, die ihn umgab. Letztere war wirklich so fremdartig und schön, daß die kleine Gruppe vor ihm nur insofern einige Bedeutung in seinem Bewußtsein erlangte, als es sich um Leute handelte, die seine Bewunderung und sein Erstaunen teilen mußten, und die ihm deshalb wahrscheinlich helfen konnten, seine wachsende und ihn ganz überwältigende Verwirrung zu klären und zu beruhigen.
Die Straße war nicht wie eine gewöhnliche englische Landstraße, ein Mischmasch aus Schotter und Erde, bedeckt mit teerbeschmiertem Kies, Staub und tierischen Exkrementen, sondern war offenbar aus Glas, stellenweise durchsichtig wie stilles Wasser, und stellenweise milchweiß oder opalisierend, durchzogen von sanft gefärbten Streifen, oder glänzend von Wolken glitzernder goldener Flocken. Sie war vielleicht zwölf oder fünfzehn Meter breit. Auf jeder Seite erstreckte sich ein grüner Rasenstreifen mit Gras, wie es Barnstaple feiner noch niemals gesehen hatte – und in der Pflege von Rasenflächen hatte er reiche Erfahrung –, dahinter ein breiter Saum von Blumen. An der Stelle, wo Mr. Barnstaple gaffend in seinem Wagen saß, und von da etwa dreißig Meter nach beiden Richtungen hin, bestand dieser Saum aus einer dichten Masse vergißmeinnichtblauer Blüten unbekannter Art. Weiterhin wurde die Farbe durch eine zunehmende Zahl großer, reinweißer Ähren unterbrochen, die schließlich das Blau vollständig aus dem Beet verdrängten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Weges waren die gleichen Ähren vermischt mit Gruppen von ebenso fremdartigen Pflanzen, die Samenkapseln trugen und deren Farben abschnittweise zwischen Blau, Anilinrot, Purpurrot bis zu einem intensiven Karmesinrot wechselten. Jenseits dieses farbenprächtigen, duftigen Blumensaumes breiteten sich flache Wiesen aus, auf denen cremefarbenes Vieh weidete. Durch Barnstaples plötzliches Erscheinen wahrscheinlich aufgeschreckt, betrachteten ihn drei ganz in der Nähe wiederkäuende Tiere mit gutmütig nachdenklichen Augen. Sie hatten lange Hörner und Wammen, ähnlich dem Vieh in Südeuropa und Indien. Von diesen gutartigen Wesen wandten sich Barnstaples Augen einer langen Reihe flammenförmiger Bäume zu, einer Säulenhalle aus Weiß und Gold und einem Hintergrund von schneebedeckten Bergen. Einige große weiße Wolken segelten über einen Himmel von reinstem Blau. Die Luft empfand Mr. Barnstaple erstaunlich klar und lind.
Mit Ausnahme der Kühe und der kleinen Gruppe von Menschen, die bei der Limousine standen, konnte Mr. Barnstaple kein Lebewesen entdecken. Die Automobilisten standen still da und blickten erstaunt um sich. Der Schall verdrossener Stimmen drang zu ihm.
Ein scharfes Knistern hinter seinem Rücken veranlaßte Barnstaple, sich umzudrehen. An der Straße, in der Richtung, aus der er offenbar gekommen war, lagen die Trümmer eines scheinbar erst ganz kürzlich zerstörten Steinhauses. Daneben waren zwei große Apfelbäume wie durch eine Explosion frisch geknickt und gespalten; aus der Mitte der Trümmer stieg eine Rauchsäule empor und ertönte ein Knistern wie von feuerfangenden Gegenständen. Die geknickten Stämme der zerschmetterten Apfelbäume brachten Mr. Barnstaple auf die Idee, daß einige Blumen nahe am Straßenrand ebenfalls nach einer Seite umgeknickt waren, so als ob vor kurzem ein heftiger Windstoß über sie hinweggefegt hätte. Jedoch hatte er weder eine Explosion gehört noch den geringsten Wind verspürt.
Eine Zeitlang starrte er dort hin, dann wandte er sich wieder zur Limousine, als ob er von dort eine Erklärung erwartete. Drei Leute kamen nun die Straße entlang auf ihn zu, geführt von einem hohen, schlanken, grauhaarigen Herrn mit einem Filzhut und einem langen Staubmantel. Er hatte ein schmales Gesicht mit einer kleinen Stülpnase, die den Bügeln seines goldenen Kneifers kaum genügend Platz bot. Mr. Barnstaple ließ den Motor an und fuhr ihnen langsam entgegen.
Sobald er sich in Hörweite zu befinden glaubte, blieb er stehen und beugte den Kopf fragend aus der ›Gelben Gefahr‹ heraus. In demselben Augenblick stellte der lange grauhaarige Herr die gleiche Frage: »Mein Herr, können Sie mir sagen, wo wir eigentlich sind?«
»Vor fünf Minuten«, sagte Mr. Barnstaple, »hätte ich gesagt, wir sind auf der Maidenhead Road, in der Nähe von Slough.«
»Stimmt!« sagte der lange Herr in einem ernsthaften und nachdrücklichen Ton. »Stimmt! Und ich behaupte, daß nicht die geringste Ursache besteht, anzunehmen, daß wir nicht noch immer auf der Maidenhead Road sind!«
Der herausfordernde Ton des Dialektikers klang aus seiner Stimme.
»Es sieht aber nicht aus wie die Maidenhead Road«, sagte Mr. Barnstaple.
»Zugegeben! Aber haben wir nach dem Anschein zu urteilen, oder haben wir auf Grund der direkten Fortsetzung unserer Erfahrung zu urteilen? Die Maidenhead Road führte hierher, sie stand in lückenlosem Zusammenhang mit dem hier, und darum bleibe ich dabei: das ist die Maidenhead Road!«
»Diese Berge?« gab Mr. Barnstaple zu bedenken.
»Windsor Castle sollte dort sein!« sagte der große Herr strahlend, als ob er einen guten Schachzug getan hätte.
»Es war dort vor fünf Minuten«, sagte Mr. Barnstaple.
»Dann ist es klar, daß diese Berge eine Art Camouflage sind«, sagte der große Herr triumphierend, »und die ganze Geschichte nichts weiter ist als ›Mache‹, wie man es heutzutage nennt.«
»Es scheint merkwürdig gut ›gemacht‹ zu sein!« erwiderte Mr. Barnstaple.
Es entstand eine Pause, während welcher Mr. Barnstaple die Begleiter des langen Herrn musterte. Ihn selbst kannte er ganz genau. Er hatte ihn ein dutzendmal in öffentlichen Versammlungen und bei Festessen gesehen. Es war Mr. Cecil Burleigh, der große Führer der Konservativen. Er war nicht nur ein hochgeachteter Politiker, sondern auch im Privatleben ragte er als Gentleman, als Philosoph und als ein Mann von umfassender Bildung hervor. Hinter ihm stand ein kurzer, untersetzter, nicht mehr ganz junger Mann, den Mr. Barnstaple nicht kannte. Das Unsympathische seiner Erscheinung wurde noch durch ein Monokel verstärkt. Der dritte in der Gruppe war ebenfalls eine bekannte Figur, aber Mr. Barnstaple konnte ihn einige Zeit nirgends einreihen. Er hatte ein glattrasiertes, rundes, derbes Gesicht und war wohlbeleibt; seiner Kleidung nach konnte man ihn entweder für einen Geistlichen der Hochkirche oder für einen wohlbestallten römisch-katholischen Priester halten.
Der junge Mann mit dem Monokel sprach nun mit der Stimme eines Eunuchen: »Es ist kaum einen Monat her, daß ich die Straße nach Taplow Court hinausfuhr, und damals war bestimmt nichts derartiges am Weg zu sehen!«
»Ich gebe zu, es bestehen Schwierigkeiten!« sagte Mr. Burleigh. »Ich gestehe, es sind sogar bedenkliche Schwierigkeiten vorhanden, immerhin wage ich noch zu glauben, daß meine Behauptungen im wesentlichen zu Recht bestehen.«
»Sie glauben nicht, daß dies die Maidenhead Road ist?« fragte der Herr mit dem Monokel mit herausfordernder Miene Mr. Barnstaple.
»Für ein Machwerk sieht es zu vollkommen aus«, erwiderte Mr. Barnstaple mit sanfter Hartnäckigkeit.
»Aber, mein Herr«, protestierte Mr. Burleigh, »diese Straße ist doch allgemein durch die Kunstgärtner bekannt, die manchmal aus Reklamegründen die erstaunlichsten Schaustellungen veranstalten.«
»Warum fahren wir dann jetzt nicht geradeaus weiter nach Taplow Court?« fragte der Herr mit dem Monokel.
»Weil«, sagte Mr. Burleigh mit einem Ton von Schroffheit, die ganz natürlich ist, wenn man immer wieder auf eine Tatsache zurückkommen muß, die schon genau bekannt ist und eigensinnig übersehen wird, »weil Rupert dabei bleibt, daß wir in einer anderen Welt seien und er nicht weiter will. Das ist der Grund! Er hat immer zuviel Einbildungskraft gehabt. Er glaubt, daß Dinge, die nicht existieren, doch existieren können. Und jetzt glaubt er sich in irgendeinen wissenschaftlichen Roman versetzt, außerhalb unserer Welt, in einer anderen Dimension. Manchmal glaube ich, es wäre für uns alle besser gewesen, wenn Rupert sich damit beschäftigt hätte, Romane zu schreiben, anstatt sie zu erleben. Wenn Sie, als sein Sekretär, glauben, daß Sie ihn dazu bringen können, zur rechten Zeit in Taplow zu sein, um mit den Leuten aus Windsor zu frühstücken …« Mr. Burleigh deutete durch eine Gebärde an, daß er für solche Ideen keine passenden Worte finden könne.
Indessen hatte Mr. Barnstaple eine hohe Gestalt mit gelblicher Gesichtsfarbe unter einem grauen Zylinder mit schwarzem Band, eine aus Karikaturen vertraute Erscheinung, bemerkt, die mit langsamen Bewegungen das Blumengewühl neben der Limousine untersuchte. Dies konnte niemand anderer sein als der berühmte Rupert Catskill, der Staatssekretär im Kriegsministerium. Ausnahmsweise befand sich Mr. Barnstaple in voller Übereinstimmung mit diesem allzu abenteuerlustigen Politiker. Dies war eine andere Welt. Barnstaple stieg aus dem Wagen und wandte sich an Mr. Burleigh: »Ich denke, mein Herr, wir werden es eher aufklären können, wo wir sind, wenn wir das hier nebenan brennende Gebäude untersuchen. Mir war soeben, als ob ich eine auf dem Hang hinter dem Hause liegende Gestalt gesehen hätte. Wenn wir nur einen von diesen Flunkerern fangen könnten …« Er ließ diesen Satz unbeendet, weil er nicht einen Augenblick daran glaubte, daß sie gefoppt seien. Mr. Burleigh war in den letzten fünf Minuten sehr in seiner Achtung gesunken. Alle vier wandten ihre Gesichter der rauchenden Ruine zu.
»Es ist doch sehr eigentümlich, daß weit und breit keine Seele zu sehen ist«, bemerkte der Monokelmann, den Horizont absuchend.
»Gut, es kann nicht schaden, nachzusehen, was da brennt«, sagte Mr. Burleigh und lenkte seine Schritte nach dem zusammengestürzten Haus zwischen den umgebrochenen Bäumen, wobei er seine schlaue, besserwissende Miene beibehielt. Aber ehe er noch ein Dutzend Schritte gemacht hatte, wurde die Aufmerksamkeit der kleinen Gruppe durch einen lauten Schreckensschrei der Dame, die in der Limousine sitzen geblieben war, wieder dahin gelenkt.
»Das ist aber wirklich zuviel!« rief Mr. Burleigh in aufrichtiger Entrüstung. »Es muß doch polizeiliche Verordnungen geben, um solchen Unfug zu verhindern!«
»Er ist einem Wanderzirkus entsprungen«, sagte der Herr mit dem Monokel. »Was sollen wir tun?«
»Er sieht zahm aus«, sagte Mr. Barnstaple, aber ohne die geringste Neigung, seine Theorie zu erproben.
»Wie leicht kann man durch so etwas sehr ernstlich erschreckt werden«, sagte Mr. Burleigh. Und in einem beruhigenden Ton rief er:
»Rege dich nicht auf, Stella! Er ist wahrscheinlich ganz zahm und harmlos, reize ihn nicht mit dem Sonnenschirm, er könnte dich anfallen, Stella!«
Er war ein großer und schöner Leopard, der ganz leise aus den Blumen aufgetaucht war und sich wie eine gewaltige Katze mitten auf die gläserne Straße neben den großen Wagen gesetzt hatte. Er blinzelte und bewegte den Kopf rhythmisch von einer Seite auf die andere mit einem erstaunten und interessierten Ausdruck, weil die Dame, wie es für solche Anlässe der Tradition entspricht, ihren Schirm, so schnell sie nur konnte, gegen ihn auf- und zuklappte. Der Chauffeur hatte hinter dem Wagen Deckung genommen. Mr. Rupert Catskill, der offenbar erst durch den Schrei, welcher die Aufmerksamkeit Mr. Burleighs und seiner Gefährten erregt hatte, die Existenz jenes Wesens bemerkte, stand, knietief in den Blumen, verblüfft da.
Mr. Catskill war der erste, der handelte, und seine Handlungsweise bewies seinen Mut; sie war zugleich vorsichtig und kühn.
»Hören Sie doch auf, den Schirm zu schwingen, Lady Stella!« rief er. »Lassen Sie mich … ich will seinen Blick auf mich ziehen.«
Er machte einen Bogen um den Wagen herum, um dem Tier von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Dann stand er einen Augenblick so da, als ob er sich bewundern lassen wollte, eine beherzte kleine Gestalt im grauen Gehrock und schwarzbebänderten Zylinder. Er streckte vorsichtig die Hand aus, nicht zu plötzlich, aus Angst, er könnte das Tier erschrecken: »Mieze!« lockte er.
Der Leopard, beruhigt durch das Verschwinden von Lady Stellas Sonnenschirm, betrachtete ihn mit Interesse und Neugier. Catskill rückte weiter vor. Der Leopard streckte sein Maul vor und schnupperte.
»Wenn er sich nur streicheln ließe!« sagte Mr. Catskill und kam auf Armeslänge heran.
Das Tier beschnupperte mit ungläubiger Miene die ausgestreckte Hand. Dann, mit einer Plötzlichkeit, die Mr. Catskill mehrere Schritte zurückweichen ließ – nieste es. Es nieste noch einmal viel heftiger, schaute Mr. Catskill einen Augenblick vorwurfsvoll an und sprang dann leichtfüßig nach der weiß-goldenen Säulenhalle davon. Mr. Barnstaple beobachtete, wie das auf der Weide grasende Vieh den Leoparden vorbeispringen sah, ohne die geringste Furcht zu zeigen.
Mr. Catskill blieb mit einer gewissen Erleichterung mitten auf der Straße stehen.
»Kein Tier«, bemerkte er, »kann dem festen, durchbohrenden Blick des Menschen widerstehen! Keines! Für euch Materialisten ist das natürlich ein Rätsel! Wollen wir Mr. Cecil folgen, Lady Stella? Es scheint, daß er dort unten etwas Sehenswertes gefunden hat. Der Mann in dem kleinen gelben Wagen wird vielleicht wissen, wo er ist. Ja?«
Er half der Dame aus dem Wagen, und die beiden kamen auf Mr. Barnstaples Gruppe zu, die sich nun wieder dem brennenden Haus näherte.
Der Chauffeur, der offenbar nicht wünschte, in dieser Welt unglaublicher Möglichkeiten mit der Limousine allein gelassen zu werden, folgte so dicht, als es ihm der Respekt erlaubte.
Das Feuer in dem Häuschen schien keine weiteren Fortschritte zu machen. Die daraus aufsteigende Rauchfahne war jetzt viel schwächer geworden, als sie vorhin gewesen war. Nahe herangekommen, fanden sie eine Menge verbogener Stücke glänzenden Metalls und Splitter zerbrochenen Glases zwischen den Mauertrümmern. Die Vermutung drängte sich zwingend auf, daß wissenschaftliche Apparate explodiert seien. Dann wurde die ganze Gesellschaft fast gleichzeitig eines Körpers gewahr, der auf dem Grasabhang hinter der Ruine lag. Es war der Leib eines Mannes in der Blüte der Jahre, nackt bis auf ein paar Armbänder, einen Halsschmuck und Lendenschurz; aus Mund und Nasenlöchern sickerte Blut. Mit einer gewissen Scheu kniete Mr. Barnstaple neben dieser hingestreckten Gestalt nieder und befühlte das Herz. Niemals zuvor hatte er ein so schönes Gesicht und einen so edlen Körper gesehen.
»Tot«, flüsterte er.
»Seht«, ertönte die schrille Stimme des Herrn mit dem Monokel, »noch einer!«
Er deutete auf etwas, das Mr. Barnstaple durch ein Stück Mauer verborgen war. Mr. Barnstaple mußte aufstehen und über einen Haufen Geröll klettern, um diesen zweiten Fund sehen zu können. Es war ein schlankes Mädchen, ebenso spärlich bekleidet wie der Mann. Sie war anscheinend mit riesiger Wucht gegen die Mauer geschleudert und augenblicklich getötet worden. Das Gesicht war ganz unverletzt, obwohl der Schädel hinten zerschmettert war. Ihr vollendet schöner Mund und die grüngrauen Augen waren ein wenig geöffnet, und sie hatte den Ausdruck eines Menschen, der noch über irgendein schwieriges, aber interessantes Problem nachdenkt. Das Antlitz machte gar nicht den Eindruck einer Toten, sondern sah nur wie geistesabwesend aus. Eine Hand umkrampfte noch ein kupfernes Gefäß mit einem gläsernen Griff, die andere hing schlaff herunter.
Einige Sekunden lang sprach niemand. Es war, als ob jeder fürchtete, den Gedankengang des Mädchens zu unterbrechen.
Dann hörte Mr. Barnstaple hinter sich den geistlichen Herrn mit leiser Stimme sagen:
»Welch vollendete Gestalt!«
»Ich gebe zu, ich hatte Unrecht«, sagte Mr. Burleigh mit Bedacht. »Ich war im Unrecht … Das ist kein irdisches Volk, wahrhaftig! Und folglich sind wir auch nicht auf der Erde. Ich kann mir nicht vorstellen, was geschehen ist, noch, wo wir uns befinden. Angesichts genügender Beweise habe ich nie gezögert, eine Meinung zurückzuziehen. Diese Welt, in der wir jetzt sind, ist nicht unsere Welt. Es ist etwas …« er machte eine Pause, »es ist etwas wirklich sehr Wunderbares!«
»Und unsere Freunde in Windsor«, sagte Mr. Catskill ohne sichtliches Bedauern, »frühstücken ohne uns.«
»Aber«, sagte der geistliche Herr, »in was für einer Welt sind wir dann, und wie sind wir hierhergekommen?«
»Ah! Was das anbelangt«, sagte Mr. Burleigh höflich, »fragen Sie mich mehr, als ich mit meinen schwachen Kräften aufklären kann. Wir sind hier in einer Welt, die in gewisser Beziehung der unseren ähnlich ist und in gewisser Beziehung nicht. Auf irgendeine Weise muß sie mit unserer Welt im Zusammenhang stehen, sonst wären wir nicht hier. Aber was für eine Verknüpfung das sein kann, ist für mich, ich gestehe es, ein unenthüllbares Geheimnis. Es mag sein, daß wir uns in irgendeiner anderen räumlichen Dimension befinden als in jener, die wir kennen. Aber in meinem armen Kopf wirbelt es, wenn ich an diese Dimensionen denke. Ich bin … ich bin verwirrt … total verwirrt …!«
»Einstein!« warf der Herr mit dem Monokel mit Nachdruck und mit deutlicher Selbstzufriedenheit ein.
»Stimmt«, sagte Mr. Burleigh, »Einstein könnte es uns erklären. Oder der liebe alte Haldane könnte eine Erklärung versuchen und mit seinem schmalzigen Hegelianismus den Schleier vor uns lüften. Aber ich bin weder Haldane noch Einstein. Hier sind wir in einer Welt, die für alle praktischen Zwecke, einschließlich unserer Sonntagsverabredung, nirgendwo ist. Oder, wenn Sie den griechischen Ausdruck vorziehen, wir sind in ›Utopia‹. Und da ich nicht sehe, wie wir von hier wieder wegkommen können, bin ich der Ansicht, daß wir uns als vernünftige Wesen so gut wie möglich in die Lage finden und auf alles uns Nützliche bedacht sein müssen. Es ist sicherlich eine sehr schöne Welt. Die Schönheit ist sogar noch größer als das Wunder. Und es gibt menschliche Wesen hier – vernunftbegabte. Aus dem ganzen hier herumliegenden Material schließe ich, daß es eine Welt ist, in der chemische Experimente durchgeführt werden – durchgeführt bis zu einem bitteren Ende – unter beinahe idyllischen Bedingungen. Chemie – und Nacktheit. Ich fühle mich verpflichtet, zu gestehen, daß es mir als eine Frage des persönlichen Geschmacks erscheint, ob wir diese zwei Menschen, die sich hier offenbar soeben selbst in die Luft gesprengt haben, als griechische Götter oder als nackte Wilde zu betrachten haben. Ich bekenne mich zu der Ansicht, es seien ein griechischer Gott – und eine Göttin!«
»Nur, daß es ein bißchen schwer ist, sich zwei tote Unsterbliche vorzustellen«, quäkte der Mann mit dem Monokel in einem Ton, als ob er einen Trumpf im Kartenspiel ansagte.
Mr. Burleigh war nahe daran, zu antworten, und nach seinen Stirnfalten zu schließen, hätte seine Antwort einen zurechtweisenden Ton angenommen. Statt dessen stieß er einen kurzen Schrei aus und drehte sich um, zwei Neuankömmlinge zu betrachten. Die ganze Gesellschaft wurde ihrer im gleichen Augenblick gewahr. Zwei vollkommene Apollogestalten standen auf der Ruine und betrachteten unsere Erdlinge mit einem Erstaunen, das mindestens so groß war wie dasjenige, das sie selbst hervorriefen.
Einer sprach, und Mr. Barnstaple war über alle Maßen erstaunt, verständliche Worte zu vernehmen, die in seinem Bewußtsein Widerhall fanden.
»O Götter!« rief der Utope. »Was seid ihr für Dinger? Und wie seid ihr in die Welt gekommen?«
(Englisch! Es wäre viel weniger erstaunlich gewesen, wenn sie griechisch gesprochen hätten. Aber daß sie sich überhaupt in einer bekannten Sprache ausdrückten, war unglaublich, verblüffend.)
Von der ganzen Gesellschaft geriet Mr. Cecil Burleigh am wenigsten aus der Fassung. Er sagte: »jetzt können wir hoffen, etwas Bestimmtes zu erfahren – angesichts vernünftiger und verständlich redender Wesen.« Er räusperte sich, faßte die Aufschläge seines langen Staubmantels mit schmalen, nervösen Händen und übernahm wie selbstverständlich die Rolle des Wortführers.
»Meine Herren, es ist ganz unmöglich, Rechenschaft über unsere Anwesenheit hier abzulegen!« sagte er. »Wir stehen genauso vor einem Rätsel wie Sie. Wir haben uns auf einmal in Ihrer Welt statt in unserer eigenen gefunden!«
»Ihr kommt aus einer anderen Welt?«
»jawohl, aus einer ganz anderen Welt, in welcher jeder von uns seinen besonderen, ihm von der Natur bestimmten Platz einnimmt. Wir waren in jener Welt gerade in unseren – äh – äh – in gewissen Vehikeln unterwegs, als wir uns auf einmal hierher versetzt fanden. Eindringlinge, ich gebe es zu, aber ich kann Ihnen versichern, unschuldige und unfreiwillige Eindringlinge.«
»Wißt ihr nicht, wie es kam, daß Ardenn und Chrysolagone ihr Experiment mißlang, und warum sie tot sind?«
»Wenn Ardenn und Chrysolagone die Namen dieser beiden schönen jungen Leute hier sind, so wissen wir überhaupt nichts von ihnen, außer, daß wir sie so vorfanden, wie Ihr sie jetzt liegen seht, als wir von der Straße hierherkamen, um herauszubekommen, oder eigentlich, um jemanden zu fragen …«
Er räusperte sich und verschluckte das Ende seiner Rede.
Der Utope, wenn wir den, der zuerst gesprochen hatte, der Bequemlichkeit halber so nennen wollen, blickte nun seinen Begleiter an und schien ihm eine stumme Frage zu stellen. Dann wandte er sich wieder an die Erdlinge. Er sprach, und wieder erklangen klare Laute – Mr. Barnstaple hatte den Eindruck, als schlügen sie nicht an seine Ohren, sondern ertönten in seinem Kopf.
»Es wird gut sein, wenn ihr und eure Freunde nicht weiter auf diesem Trümmerhaufen herumtrampelt. Es wird gut sein, wenn ihr alle zur Straße zurückkehrt. Kommt mit mir! Mein Bruder hier wird den Brand löschen und tun, was für unseren Bruder und unsere Schwester nötig ist. Und dann wird diese Stelle von jenen untersucht werden, die von dem Werk, das hier unternommen wurde, etwas verstehen.«
»Wir müssen uns ganz auf Ihre Gastfreundschaft verlassen«, sagte Mr. Burleigh, »und stehen vollständig zu Ihrer Verfügung. Wir haben diese Begegnung, lassen Sie es mich wiederholen, nicht gesucht.«
»Obwohl wir sie sicherlich gesucht hätten, wenn uns eine solche Möglichkeit bekannt gewesen wäre«, sagte Mr. Catskill und blickte Mr. Barnstaple an, als würde er von ihm eine Bestätigung erwarten. »Wir finden diese Ihre Welt … äußerst anziehend!«
»Auf den ersten Blick«, bestätigte der Herr mit dem Monokel, »eine äußerst anziehende Welt!«
Als sie hinter dem Utopen und Mr. Burleigh durch die dichtwachsenden Blumen zur Straße zurückkehrten, hörte Mr. Barnstaple ein leises Rascheln – Lady Stella stand neben ihm. Die heitere und unbekümmerte Gewöhnlichkeit ihrer Worte, inmitten dieser reinen Wunder, erstaunte ihn.
»Haben wir uns nicht schon irgendwo getroffen – bei einem Essen oder dergleichen, Herr … Herr …?«
War dies alles doch nichts weiter als leerer Schein? Er starrte sie einen Augenblick verblüfft an, bevor er ergänzte:
»Barnstaple.«
»Mr. Barnstaple?«
Er ging auf ihren Ton ein.
»Ich hatte niemals das Vergnügen, Lady Stella. Obwohl ich Sie natürlich kenne – ich kenne Sie sehr gut von Ihren Fotos in den Illustrierten.«
»Haben Sie gehört, was Mr. Cecil soeben gesagt hat? Daß dies Utopia ist?«
»Er sagte, wir sollten es ›Utopia‹ nennen!«
»Ganz Mr. Cecil! Aber ist es Utopia? – wirklich Utopia?«
»Ich habe mich immer so nach Utopia gesehnt!« fuhr die Lady fort, ohne Mr. Barnstaples Antwort abzuwarten. »Was für prächtige junge Leute scheinen doch diese beiden Utopen zu sein! Ich bin sicher, sie gehören zur Aristokratie – trotz ihrer – ungezwungenen – Kleidung. Oder gerade deswegen …«
Mr. Barnstaple hatte einen glücklichen Gedanken.
»Ich habe auch Mr. Burleigh und Mr. Rupert Catskill erkannt, Lady Stella, aber ich wäre froh, wenn Sie mir sagen wollten, wer der junge Mann mit dem Monokel und der geistliche Herr sind. Sie stehen dicht hinter uns.«
Lady Stella gab mit leiser Stimme in einer entzückend vertraulichen Weise Auskunft.
»Das Monokel«, flüsterte sie, »ist – ich buchstabiere – F. R. E. D. D. Y. M. U. S. H., Geschmack, guter Geschmack. Er ist schrecklich tüchtig im Entdecken junger Dichter und all solch literarischem Zeug. Er ist Ruperts Sekretär. Wenn es irgendwo eine Veranstaltung gibt, ist er bestimmt dabei, sagt man. Er ist fürchterlich kritisch und sarkastisch. Wir waren eben im Begriff, zu einem hochintellektuellen Weekend nach Taplow zu fahren, ganz wie in alten Zeiten, das heißt sobald die Leute aus Windsor weggefahren wären. Mr. Gosse und Max Beerbohm wollten kommen und allerhand solche Leute. Aber heutzutage kommt immer etwas dazwischen. Immer … Das Unerwartete – fast zu viel davon … Der geistliche Rock« – sie guckte zurück, um festzustellen, ob sie sich außer Hörweite des Herrn befand, von dem sie eben sprach – »ist Pater Amerton, der entsetzlich freimütig über die Sünden der Gesellschaft und all solchen Kram predigt. Es ist komisch, aber außerhalb der Kanzel neigt er zur Schüchternheit und Schweigsamkeit und geht ein bißchen ungeschickt mit Gabel und Löffel um. Paradox, nicht wahr?«
»Natürlich!« rief Mr. Barnstaple. »Ich erinnere mich jetzt, ich kannte sein Gesicht, aber ich konnte es nirgends unterbringen, ich danke Ihnen vielmals, Lady Stella.«
Die Gesellschaft dieser berühmten und ausgezeichneten Leute verlieh Mr. Barnstaple neuen Mut, und ganz besonders die Gesellschaft Stellas. Sie war aber auch wirklich beruhigend, sie brachte so viel von der lieben alten Welt mit und war offensichtlich bereit, die neue Welt bei der ersten besten Gelegenheit den Regeln der alten unterzuordnen. An ihr prallte ein großer Teil des Wunders und der Schönheit, die Mr. Barnstaple gänzlich zu überwältigen drohten, vollkommen ab. Das Zusammentreffen mit ihr und ihren Freunden war an und für sich für einen Mann in seiner Stellung ein zwar nicht sehr wichtiges, aber doch bemerkenswertes Erlebnis, das dazu beitrug, den erstaunlichen Abgrund zwischen dem Einerlei seines normalen Lebens und dieser atemberaubenden Atmosphäre Utopias zu überbrücken. Daß auch Lady Stella und Mr. Burleigh die leuchtende Pracht um ihn herum sehen und über sie sprechen konnten und daß Mr. Freddy Mush sie durch sein kritisches Monokel betrachten durfte, machte sie faßlich und degradierte sie – wenn man diesen Ausdruck in diesem Zusammenhang gebrauchen darf – zu vollkommener Glaubwürdigkeit. Sie wurde dadurch in eine Reihe mit Dingen gebracht, die in die Zeitungen kommen. Allein in Utopia, wäre Mr. Barnstaple so völlig verwirrt worden, daß er geistig zusammengebrochen wäre. Diese sich so unbeschwert benehmende gebräunte Gottheit, die eben jetzt mit Mr. Burleigh Fragen austauschte, wurde durch die Vermittlung dieses großen Mannes dem Geiste zugänglich.
Doch als Mr. Barnstaples Aufmerksamkeit von den Leuten, die in der Limousine gesessen waren, sich der so prächtig aussehenden Welt, in die er und jene gefallen waren, zuwandte, verschlug es ihm wieder fast den Atem. Was für eine Art von Lebewesen waren eigentlich diese Männer und Frauen einer Welt, in der, wie es schien, schädliches Unkraut aufgehört hatte zwischen Blumen zu wuchern, und wo Leoparden ohne jegliche katzenartige Bosheit mit freundlichen Augen die Vorübergehenden anguckten?
Es war seltsam, daß die zwei ersten Einwohner, die sie in dieser Welt der bezwungenen Natur gefunden hatten, anscheinend als Opfer eines gewagten Experiments tot dalagen. Noch seltsamer war es, daß die anderen beiden, die sich selbst Brüder des toten Mannes und Mädchens nannten, so wenig Kummer und Trauer angesichts der Tragödie verrieten. Es fiel Mr. Barnstaple auf, daß es keine rührende Szene, keinerlei Bestürzung oder Tränen gab. Sie waren offensichtlich viel mehr verwundert und interessiert, als erschreckt oder betrübt.
Der Utope, der in der Ruine zurückgeblieben war, hatte den Leichnam des Mädchens herausgeschafft, um ihn neben ihren Gefährten zu legen, und war dann, wie Mr. Barnstaple sah, zurückgekehrt, um die Trümmer des Experiments einer gründlichen Prüfung zu unterziehen.