Michael -  - E-Book

Michael E-Book

4,8

Beschreibung

"Das Schloss der Wohnungstür, wie immer sorgfältig verschlossen. Wir leben alle in Angst, leben alle mit der Angst. Flüchten uns in die Gewissheit, als könne uns ein kleines Metallstück vor dem, was wir eigentlich zu fürchten hätten, beschützen." Michael, dem sechzehnjährigen Teenager, fallen die ersten, eigenständigen Schritte in der Welt nicht leicht. Zu vage und verworren wirken Land und Gesellschaft, um seinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Als sich sein bester Freund Thomas in dasselbe Mädchen verliebt, eskaliert die Situation. Michael nimmt sich eine Auszeit und startet eine Reise durch die Republik, mit der er so fremdelt. Ein moderner Entwicklungsroman über das Leben, kleine Erfolge und das Scheitern im Großen.

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Seitenzahl: 180

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gewidmet allen helden

jenen, die jedes mal aufstehen,

und in den tag hineingehen

ohne sich morgendlich unter

der dusche zu ersäufen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Schatten

Sonnensterne

Abwesenheit

Sternenschatten

VERLORENHEIT

Der Vortrag

Behinderte im Alltag – Integration Leben!

Alltag

Erwachen

Inspired by life

Blutige Entscheidung

Stumme Verhandlung

Der Aufbruch in eine neue Welt

Reiselust

Letzte Version

Kapitel II - Ein knappes Jahr später

Ignorama

Abwegigkeit

Morgendämmerung

Liebe

Der Weg nach Hause

Todesmoment

Abschiedsbrief

Missionarisch

Leblose Grundsatzfaszination

Atemnot

Psychiatrische Unvernunft

Designerkultur zuerst

Endlose Morgenröte

Fernsehgelüste

Hüttenparty

Das Erwachen

Bergwanderung

Haremsphilosophie

Die Begegnung

Zauberer

Treibsand

Fanatismus II

Essenz

Widmung und Dank

Kapitel I

Schatten

„Es ist vorbei!“. Ein Hall rau-forscher Stimme. Alles gegen den verfallenen Häuserblock. Ungewöhnlich. Lebloses Echo vervielfältigt sich tausendfach; verstummt zwischen den Wänden. Stille Verlorenheit. Eingekesselt. Verhüllt. Die Vögel wagen keinen Laut, selbst die Geister bleiben fern. Jäger laufen ins Leere.

Es ist eine dieser kalten Septembernächte. Vollmondzeit. Ein Schatten durchquert stolpernd die verfallene Ruine. Schwärze als fremdes Spiegelbild - kein Anhaltspunkt. Vorherrschende Atemnot im unnötig aufgewirbelten Staub.

Zwei Flaschen in beiden Händen. Wodka Schwarz und Rot. Es ist alles dabei. Die Gestalt wankend, suchend. Keine Witterung. Kurze Nächte überwältigender Schönheit. Das Gehen wird anstrengend. Heilende Qual. Die leeren Glasbottiche zu Boden geworfen. Tausendfaches Glitzern, als gleite man auf vergoldeten Rosen.

Ruhende Endlosigkeit spiegelt die Überheblichkeit in den Augen. Zitternd streift er sich die verklebten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Schweiß perlt von seiner Stirn, die linke Hand den Nacken umschließend. Unruhiges, unwillkürliches Zittern seiner Rechten. Begleitende, verschreckte Augen. Erloschen.

Betonte Gleichgültigkeit, den Blick gesenkt. Stets nur auf den nächsten Schritt gerichtet, als wolle er mit jedem Meter die Vergangenheit vergessen, ungeschehen machen. Unsicherheit. Keine Vision in den Himmel.

Die Gedanken kreisen. Verloren in Erinnerung und Wortspielerein. Kein Geplänkel. Je mehr er nachdenkt, desto fester die Überzeugung: Es war das Richtige, die einzige Möglichkeit! Kann nichts bereuen, kann nicht verurteilen, konnte nichts verhindern. Beschränkte Philosophie. Der Verfall in höhnisches Lachen. Eigener Sarkasmus – die Flucht nach vorne. Ein letzter verzweifelter Widerstand. Die Augen wieder entflammt im vergangenen Funkenflug. Es ist eine einsame Zündelei. Streichholzakrobatik. Die Kräfte reichen nicht aus – nicht mehr. Ausdruckslose Mimik. Verlogene Verlorenheit in ferner Heimatsucht.

Schlussendlich die Erschöpfung. Zusammenbruch. Bewegungslos bleibt er auf den taubedeckten Steinen liegen. Kein harter Aufschlag im gewohnt weichen Fall. Keine Regung, kein Lebenszeichen. Es ist vorbei.

Als die ersten Sonnenstrahlen zart über den Horizont streifen ist er verschwunden. Ohne Wiedersehen, ohne Kontakt. Bis heute.

Es ist Zeit.

Jetzt oder nie mehr.

Sonnensterne

Ein frischer Luftstrom durchströmt Michaels braunschwarzes Haar. Gepflegt ungewaschen. Grenzenlose Unmöglichkeit. Dieser Eindruck zieht sich durchs gesamte Erscheinungsbild. Kein Zufall. Ihm liegt wenig an einem makellosen Aussehen; hasst es, sich bis ins letzte Detail gestylt der Öffentlichkeit zu präsentieren. Kein Tier, im Sonntagsgewandt der breiten Masse zur Schau gestellt. Begaffend nach Markenklamotten bewertet zu werden - kein Interesse. Warum sich in der Gesellschaft tagtäglich beweisen; definieren. Sinnlos, sich selbst im Sekundentakt neu zu erfinden. Generell fällt es schwer sein Aussehen zu beschreiben. Auf dem ersten Blick würde ihn jeder 5-8 Jahre älter schätzen. Erste kleine Einkerbungen zieren sein unebenes Gesicht. Seine kurze, ständig verschnupfte Nase ebenso selbstverständlich wie hell flackernde Augen. Meist nur halb geöffnet. Gerade genug für die schwebende Mischung aus Trance und Wirklichkeit. Aber dennoch eigentümliche Anziehungskraft, der man sich kaum entziehen kann. Ein Blick in die glasklaren Augen genügt. Schattenspielerei, überraschendes Verlangen geborgen aus tiefstem Urgestein. Es ist unerträglich. Nahezu unnahbare Gefangenschaft – leere Versprechungen. Vielmehr als nur stupide Illusion – man müsste es selbst erleben. Die Begegnung dem Zufall überlassen.

Michael überlässt vieles der Kompassnadel. Schicksal auf höchster Ebene, nicht weil ihm alles egal bleibt. Ob er nun 500 Euro oder nur 5 Cent in der Tasche hat: Wen interessiert das schon? Auf Nullen gilt es zu verzichten. Ob nun mit Nike oder nicht durch die Straßen wandernd – das Gehen würde dadurch auch nicht einfacher. Man hätte auch nicht mehr Begleiter. Wenn es auch andere besorgt, Michael verschwendet keinen Gedanken. Er liebt die Abgeschiedenheit, liebt die Gedanken der Zeit, liebt das Vergessen. Er liebt das Leben, flirtet beherzt mit der Sinnlosigkeit.

Verschlagen stellt er sich an den Gehsteigrand; auf den Stadtbus wartend schweifen seine Augen in die ihm umringende Menge. Hier und da hat man eine Zigarette in der Hand. Eigene Präsentationstechnik umringt vom neidigen Freundeskreis. Wohin man auch blickt: Man steht überall auf gnadenlos perfekten Schuhen. Werben in eigener Person. Man ist etwas Besonderes. Eifrig unterhalten sich Gleichaltrige über wichtige Dinge des Lebens. Verdecktes Geheimnis offenbarter Zukunftsängste. Sein Interesse schweift ab.

Gedankenverloren schlendert Michael durch die Straßen der vergoldeten Stadt. Ein Zwang durch enge Gassen; im Versuch der Menschenmenge zu entgehen. Alleine zu sein, mit sich und der Welt. Unabdingbare Freiheit. Atemlos. Inzwischen schleckt Michael lustlos an einem Eis; vermutlich Pfirsich-Zitrone mit Schokoladenüberzug. Während er hier und da einen desinteressierten Blick in ein Schaufenster wirft, umschließen die Augen einzig und allein das verachtete Spiegelbild.

Im Grunde hasst er es. Eis, selbst in der heißen Jahreszeit hat ihn bisher nichts dazu bewogen. Kein vernünftiger Grund halb gefrorenes Fruchtwasser, eingekerkert im Zustand irgendwo zwischen Trinken und Essen. Wozu auch? Diente es zum Leben? Ein Teil von Glück? Kalte Zufriedenheit erkauft? Michael kann sich nicht mehr erinnern. Ungläubigkeit, strenger Blick auf seine Hand. Aber es ist ja auch egal, denn an diesem Tag sollte es anders sein. Dennoch kein Kniefall, er schmeißt es achtlos zu Boden. Kein Tritt, kein Sprung. Gleichgültigkeit.

Belanglose Sekunden prägen und verändern ein Leben. Kein Unterschied bei Michael. „Nie“, erinnert er sich reumütig, „einfach nie...“. Ein altes, erloschen geglaubtes Feuer kehrt für kurze Zeit in seine Augen zurück, flammt auf. Verglimmt, weicht innerhalb von Sekunden im Geäst einer Glut trüber Melancholie. „Nie werde ich vergessen können. Allein die Tatsache, ich wäre an diesem Tag wie jeden Tag einfach gleichgültig nach Hause gegangen, allein dies macht den Gedanken unerträglich. Dennoch... Es hätte doch nichts geändert.“

Michael verlässt selbstzufrieden den Bus; den blauen Himmel, mit dessen gebrochenen, schneeweißen Wolkenschwaden bewundert; seine Gedanken schweifen erneut ab; träumt den Traum, seinen Traum. „Michael? Michael!“. „Wie? Was? Oh...“ Eine Nachbarin reißt Michael unsanft, ungewollt, aus seiner Traumwelt in die Realität zurück. Michael in Ungewissheit. Grund zur Freude, unstillbare Momentdynamik, einen Smalltalk probieren, oder einfach weitergehen? Nach einer anfänglich übertriebenen Begrüßung versuchen beide ein Gespräch; scheint jedoch keines zu gelingen und bevor man vollends in Standardfloskeln verfällt; sich durch Schweigen und zu Boden gesenkte Blicke blamiert – getrennte Wegkultur. Bereits nach wenigen Augenblicken hat Michael diesen lästigen Zwischenfall vergessen. Wie vieles scheint ihm auch dies nicht wert, in Gedanken zu bleiben. Zaghaft schließt Michael seine Augen, lässt seine Traumwelt erneut aufleben; ein verzweifelter Versuch, auch wenn er sich selbst darüber noch im Unklaren ist. Eigenständiger Aktionismus dem Zeitgeist entkommend. Endlich weg von der „Keine Zeit zum Leben“-Einstellung. Kein Wunder von Anarchie, eher verzweifelte Rebellion der Freiheit. Endlich ein Sonnenblick purer Gedankenluft. Es ist zum Atmen zu schwer.

Gelangweilt schlendert er an einem Computerladen vorbei. Umringt von Bildschirmen, piepsende Effektdynamik. Braune Blutspritzer. Überall Zensur. Stillstand. Ein Text zum Lesen, ein Auswahlmenü.

„... life is over...

start again

quit and exit”

Pure Ironie.

Endlich hat Michael sein Lieblingscafé erreicht, lässt sich, wie jedes Mal, nachdem er verstohlen, verschämt die Eingangstür geöffnet hat, in einen Sessel fallen. Alle Blicke auf ihn gerichtet. Sekundengenauer Mittelpunkt. Nicht ohne Grund.

Endlich Entspannung. Ruhe vor dem Sturm. Wie immer sitzt er auf der Bank, Rücken gegen Wand. Der Hass auf Plastiksesseln zu sitzen - unbeschreiblich. Nicht aus Bequemlichkeit. Kraft der Symbolik.

Michaels Blick schweift in die Menge. „Menschenmassen, da glaubt man an Verallgemeinerung. Dabei doch alles Einzelschicksale. Unglaubwürdige Anzahl, alle nur wenige Meter von mir entfernt. Einen Atemhauch nah und doch weiß ich nichts von ihnen; nicht einmal ihre Namen. Indessen werden Pickel und schiefe Zähne enttarnt, während Hoffnungsträume im Untergrund dämmern. Es interessiert mich auch nicht.“ Ein Mann, nicht einmal zwei Meter von Michael entfernt, zündet sich eine Zigarette an. Es ist bereits die dritte innerhalb von fünf Minuten. Den Blick besorgt aus dem Fenster; Menschen; Frauen, Männer und Kinder huschen wie Schatten an ihm vorbei. Jeder ist auf seinem Weg Richtung Morgen. Ende unbekannt.

„Was darf’s denn sein?“ „Wie?“ „Äh, ich wollt nur wissen, was du gerne trinken möchtest.“ Verhaltenes Lachen, einsame Grübchenbildung. „Du kannst natürlich auch einfach nur so dasitzen. Normal dürft ich das ja nicht sagen, aber bei dir...“ „Ach, ist schon ok. Ich hätt’ gerne einen Eistee.“ Sie bleibt stehen, kein Anhaltspunkt. Gefrorene Steinskulpturen. Verwirrung, der Versuch die Situation zu retten. „Sonst... Sonst noch etwas? Vielleicht ein Eis? Eine Apfeltorte? Oder vielleicht doch lieber etwas anderes, wir haben da ziemlich gute...“; Michael vielsagende Blicke zuwerfend; ein scheues Lächeln ihre Lippen entstellend. „Danke, ein Eistee reicht mir. Mehr brauch‘ ich derzeit nicht zum Glücklichsein.“ Versuchte Tiefgründigkeit. Die Botschaft kommt an, härter als gewollt. Leicht gekränkt stolziert die 18jährige Bedienung zur Theke. Im Gehen wirft sie ihr blondes Haar provozierend zurück; einem scheinbar unbemerkten Blick folgend. Resignation in vorletzter Instanz, wieder kein Erfolg. „Wie kann man nur so stur sein? Jetzt versucht sie’s schon seit fast einem Jahr. Dabei weiß Sandy doch genau, dass ich für den Scheiß weder Zeit noch Lust habe. Liebe und Gefühle bringen nicht nur Blindheit; sie lassen einen wirklich verblöden. Und dafür bin ich mir ehrlich gesagt echt zu schade. Zum Glück...“ Michael versinkt in Gedanken. Sein Notizblock liegt geöffnet vor ihm. Unmerklich leicht schwebend über Blättern. Ein Spiel. Linien zu Buchstaben, Wörter zu Botschaften. Leichtgängigkeit, kein Nachdenken. “ Wenn ich’s mir recht überlege... Im Grunde dreht sich doch alles in unserer Gesellschaft nur um Sex. Kein Unterschied. Überall versucht man ein Girl mit Standardfloskeln zu beeindrucken. Stolze Eitelkeit: Egal wo, wer oder wann man es probiert – das Ziel ist immer dasselbe. Irgendwie schon grotesk. Da sitzen wir nun rum in dieser Kapitalismusscheiße, umgeben von Hightech, Gentechnik und allen möglichen Erkenntnissen. Und dennoch sind wir stupide Gefangene dieses primitiven Urtriebes.“ Michael wirkt deprimiert, als Sandy mit dem Getränk heranstolziert. „Sicher wird sie mir den Eistee wieder mit einem - ihrem - scheuen Lächeln der Augen; vielsagenden Blicken; näher als nötig auf den Tisch stellen. Wie immer voller Hoffnung.“ Michael irrt sich nicht

„Michael? Bist du’s? Bist heute aber reichlich spät dran. Übrigens, Frau Czyner hat angerufen. Sie würde gerne wissen, ob du wieder einmal zu einer Partie Schach Zeit hättest. Tu ihr doch bitte den Gefallen, sie hat doch sonst niemanden und...“ Stille. „Und? Was und?“ „Ach nichts. War nicht so wichtig“ „Ok, auch gut.“ Klare Gedanken, unruhige Luftvibrationen. Michael hat es im Gespür, unausweichlich. „Wie war es übrigens in der Schule?“ „Naja, wie immer halt. Großteils recht in Ordnung, nur die Alte nervt mich echt jeden Tag mehr.“ „Ach du mit deinem ewigen Kleinkrieg. Ich weiß ja, dass du die Sprache hasst, aber vergiss nicht: Sie sitzt am längeren Hebel.“ „Das werden wir erst sehen.“ Eigene Gedanken. „Warum warst du heute eigentlich noch in der Stadt?“ „Woher weißt du, dass ich in der Stadt war?“ „Ach, Frau Wessner hat dich dort gesehen. Bist ihr ziemlich merkwürdig vorgekommen. Sie glaubt du nimmst Drogen, so total abwesend und desinteressiert wie du angeblich ihr gegenüber warst.“ „Frau Wessner. Soso. Lässig, dass eine, die ihr Leben durch Soap-Operas gelebt hat, mir Ratschläge über das Leben erteilt. Hätte besser selbst den Abstieg hin zu den ‚Wahre Begebenheiten‘-Laiendarstellern vermieden und wäre bei ihren Seifenopern hängen geblieben.“; den Gedanken erfasst. „Hast du mir überhaupt zugehört? Michael!?“ „Wie? Ja klar. Ich werde gleich mal bei Frau Czyner vorbeischauen. Wundert mich, dass ausgerechnet du mich darauf aufmerksam macht.“ Wortgewaltige Entwaffnung, Schachmatt in erster Instanz. „Ach mach was du willst, ich geh‘ inzwischen shoppen. Wenn irgendetwas ist, ich hab mein Handy eingeschaltet und wenn du ....“. „Jaja. Bis später“; Michael rennt. Blinde Hast menschlicher Angst. Bestimmtheit großer Erwartung. Der Sprint aus dem gefangenen Raum. Grenzenlosigkeit im Zeitfenster. Die noch geöffnete Tür fällt mit einem lauten Knall ins Schloss zurück. Eilendes Szenario. Es ist nicht einmal die Hälfte wert.

Frustration.

Abwesenheit

6:45, ein Dienstagmorgen. „Michael?“ Stille. „Michael!“ Keine Antwort... Ihre Gedanken haben die Tatsache noch nicht erfasst; ihr Gefühl, ihr Herz hat es längst erspürt. Kein gewagtes Denken – es ist eingetreten. Der Kompass nicht länger nach Herz und Gefühl gerichtet in vergessener Intelligenz. Man folgt nicht länger Eingebung. Erwartungen und Wünsche kraftlos. Alles im Abseits.

Michaels Mutter begutachtet mit eisigem Blick das unberührte Bett. Die Sorgen halten sich in Grenzen.

2 Uhr nachts zuvor, ein Schatten durchbricht die Dunkelheit. Michael schlendert seit mehr als 4 Stunden. Gedankenverloren; lebensmüder Blick. Sein Weg durch den Stadtpark. Hier und da ein vereinzeltes Geräusch; ein Zirpen hallt durch das ungeschnittene Gras. Michaels Schritte scheinen mit jedem Meter schwerfälliger. Regen perlt in seinen Nacken, spiegelt tausendfach. Die Bilder; Eindrücke, verfließen vor Michaels Augen; seit 3 Tagen hatte er keinen Schlaf gefunden; seine Beine nicht mehr fähig seiner selbst zu tragen. Ein weiches Fallen in das vom Regen der letzten Monate aufgeweichte Grün. Himmlischer Trauerbeistand. Wahnvorstellungen plagen Michael; in einem Schneideweg zwischen Traum und Wirklichkeit flammen alte Erinnerungen und Gefühle auf. Verschreckte Augen blicken den leuchtenden Sternen entgegen. Verlorengeglaubtheit. Schlussendlich erlöst der Schlaf. Träume in Wiederkehr. Kettenlos.

Sternenschatten

Tage später. Michael rennt aus dem Haus. Blinde Hast. Die massive Haustür mit voller Wucht aufgestoßen; nimmt er in einem gewaltigen Satz über die letzten Stufen 3 Meter Höhenunterschied – ein stechender Schmerz durchfährt Michael. Verzerrter Gesichtsausdruck. Der Fall ins tiefgrüne Gras. Mit eiserner Umklammerung hat er mit der linken Hand den Knöchel umfasst. Der Schmerz scheint unerträglich. Es ist nicht der einzige. Sekundenbruchteile später. Unterdrückung. Gewandter als je zuvor klettert er über den Nachbarszaun. Außer Atem. Endlich das Ziel greifbar nahe. Doch angsterfasste Sonnensterne. Eine Vorahnung. Michael will schon wieder umkehren; noch im selben Atemzug die Türklingel. Ein leises Geräusch durchzieht Michaels Körper. Warten. Keine Sekunde später ein erneutes Klingeln. Wieder warten. Die Spannung scheint unerträglich. Farbenblass, Michaels Blick gehüllt in Schwärze. Die Augen dennoch geöffnet. Plötzlich ein Knacksen. Strahlende Lichtquelle, endend im Türspalt. Zuviel für Michaels Kreislauf, zu wenig für seine Gedanken.

„Nein, nein!“, schweißgebadet. Unwissend ob Realität oder Traum. Eine Träne perlt von seiner linken Wange; die Träume heftiger. Sind es seine Träume? Michael schreckt hoch. Was war passiert? Plötzlich ein vertrauter Klang. Er verschlingt das leise Zirpen mit jedem Atemzug. Der Versuch Vertrautheit zu schaffen. Orientierungslosigkeit. Michael erinnert sich. Angstvolle Ungewissheit. Schlussendlich Leere. „Michael? Michael!“; kaum hörbar; verschwommene Bilder im fremden Farbenrausch. „Michael! Wach endlich auf! Michael!“; die Stimme, einstiger Flüsterton. Es verfestigt sich in seinen Gedanken. Michael kommt zu sich; öffnet seine Augen. Ein Blick. Die Gewissheit: Es war nur Illusion.

„Geht’s dir schon etwas besser?“, ein nasses Handtuch bedeckt Michaels Stirn. „Du weißt ja gar nicht, was ich mir für Sorgen gemacht hab. Stell dir vor, da liegst du auf einmal vor der Haustür. Ganz bleich hast ausgeschaut und kaum geatmet. Ach Michael, was machst du immer für Sachen. Zuerst wollt ich ja den Arzt rufen, man weiß ja nie, dann dacht‘ ich mir, hol‘ ich lieber zuerst deine Mutter, aber...“ „Aber die ist ja shoppen, ich weiß. Aber mal unter uns, du glaubst doch wohl selbst nicht, dass sie wirklich einkaufen ist, oder?“ „Aber... Wieso sollte sie denn nicht...“. „Ach, dir hat sie doch sicher schon davon erzählt, oder? Sie glaubt wirklich noch immer, dass ich davon nichts mitbekommen habe, oder?“ „Von was mitbekommen, Michael?“ „Ach komm, jede Woche ein oder zwei Arzttermine, alle zwei Tage geht sie in ihre angeblichen „Boutiquen“. Soviel Mode gibt es in 10 Jahren nicht, wie sie in einer Woche kaufen will.“ „Du... weißt es also?“ „Ja, natürlich. Seit sie das erste Mal nach Hause gekommen ist. So etwas spürt man doch. So blind kann keiner sein.“ Zwangloses Seufzen. Beide wirken verschreckt. Einschüchterung auf berührendem Niveau. „Nein, natürlich nicht.“ Stille. „Aber... Michael, tu mir bitte einen Gefallen: Sprich sie nicht darauf an. Sie wird es dir schon selbst sagen. Irgendwann.“ „Ja, ok.“ „Versprochen?“ „Sicher.“ Erneute Stille. Ein scheues Lachen. „Ich hab‘ eh keine andere Wahl, was soll man schon groß dagegen machen?“ „Stimmt. Was soll man da noch machen.“ Mehr Antwort als Frage.

Frau Czyner steht auf. Offensiv. Direkter Wegschritt. Scheinbar letzte Kraftanstrengung. Sie öffnet den Wandschrank. Vermutlich Eichenholz der 50er Jahre. Ein Schachbrett kommt zum Vorschein. Ein stundenlanges Spiel entbrennt. Königswürdig, sandige Märchengebilde. Strandlose.

Ein Gefühl in der Luft. Keiner wagt es auszusprechen.

Michael streift durch die Stadt. Gedankenverlorene Zufriedenheit mit sich und der Welt. Er schlendert durch Hauptstraßen wie durch enge Gassen. Sonnenstrahlen, langsam brechend durch dichte Wolkendecken. Der Frühnebel schwindet in unendlichen Weiten. Man scheint glücklich. Man freut sich über jedes Detail des Lebens. Kindlicher Anblick, Nostalgie auf der dunklen Seite des Mondes. Idealismus beim Anblick eines Schmetterlings, Selbstbestätigung bei versiegenden Regentropfen. Man will nicht in Silber gefasst werden.

„Mann, hab‘ ich einen Hunger.“; ein kurzer Blick fällt auf Michaels Handgelenk. Keine Uhr. Was macht das schon. Die meisten denken, es wäre „in“ – der neueste Modetrend aus Paris. So gesehen ein wahrer Trendsetter. „Hm... Es müsst eh schon 8 sein. Eigentlich...“ Michaels Schritte verfestigen sich. Aus unruhig-ziellosem Schlendern ein schneller Gang. Es gibt ein Ziel. Minuten später sitzt er bereits in seinem Lieblingscafé; genießt eine Tasse Kaffee. Vorfreude auf sein Frühstück. Doch irgendwas ist anders als sonst. Nicht der Kaffee, nicht der Zigarrenrauch eines Gastes, nicht die familiäre Atmosphäre, nicht die Gedanken. Michael fragt sich auch diesmal, wieso man es in dieser Welt selbst in aller Früh nicht mehr ohne Drogen, ohne Betäubung aushält. Man fühlt sich beobachtet; Augen haben jeden seiner Schritte verfolgt. Bekannte Augen. Kann es sein?“ Die Sicherheit übermannt, keine Chance die Befürchtung zu beenden.“ Sandy; scheues Lächeln, vielsagende Augen, steht bereits vor ihm. Sie hält ein Frühstückstablett in der Hand. „Hi Michael. Ich hab hier dein Frühstück. Darf es... Darf ich dir sonst noch was bringen?“, erwartend einer Zuneigungsgeste. „Nein, danke!“ Michaels Gedanken spiegeln sich in Sandys Augen; die Blicke treffen sich. Es sind nicht die Gleichen. Keine funkenden Nachtigallen. Verlegen tritt Sandy einen Schritt zurück; stolpert über einen Stuhl. Glückliche Zufälle, erwartungsvolle Blicke gen erhobenes Antlitz. „Ist was passiert?“ „Nein, nein, aber...“ „Dann ist ja gut.“; Michael genießt seinen Kaffee, schneidet sich ein Brötchen. Gekränkt richtet sich Sandy auf. Stolziert. Ihr blondes Haar nach hinten geworfen; ein letzter scheuer Blick. Keine Liebe zum Schleuderpreis.

Plötzlich schlendert ein Mädchen an Michael vorbei. Sekundenbruchteile der Ewigkeiten. Was sind schon Ewigkeiten? Michael, einen Schluck Kaffee trinkend, schreckt hoch. Ihre Blicke treffen sich. Selbstbewusst; flirtende Augen. Magie im umworbenen Aktionismus. Die Gefühle in Wallung, vorbestimmt gibt es kein Entkommen. Beidseitige Entwaffnung, beidseitiges Einverständnis. Michael ist gebannt. Nina, wie er später erfährt, setzt sich zu ihm. Es ist eine Selbstverständlichkeit. Kaum ein halber Meter trennt sie voneinander in längst gebrochenen Barrieren. Michael hin und her gerissen; sollte er den Versuch wagen? Ja! „Hi...“ „Hi.“ „Ich... äh... bin Michael.“ „Nina, super dich kennen zu lernen. Bist du öfters hier?“ „Äh.. Hin und wieder schon... Okay, eigentlich fast jeden Tag. Jeden Tag – die haben einen super Kaffee hier“ Michael, nach einer Entschuldigung suchend, hebt wie zur Bestätigung seine Tasse und bietet sie ihr an. Ein Lächeln huscht über die Gesichter. „Weißt du, gleich als ich hier reinkam, bist du mir irgendwie aufgefallen. Ich weiß nicht warum, aber... Das sagen sicher viele zu dir, oder?“ „Eigentlich nicht direkt; nur wenige... So direkt noch niemand.“; Michael vom Kompliment verlegen. Der Blick beschämt zu Boden. Verlegenheit. Ein Lachen entspannt die Situation. Doch genau dies stachelt Nina immer mehr an. Gefühlsinterne Verlorenheit. Risiken. Sie berichtet begeistert von ihren Erlebnissen im letzten Sommer, lästert über Bekannte. Ungezwungenheit, als kenne man sich jahrelang. Sandy, bisher nur argwöhnisch beobachtend, stolziert auf Michael zu. Unbändige Angst verdunkelnder Eifersucht. Es gibt kein „Jetzt“, gibt kein „Nie“. Es ist Zeit zum Handeln. „Hi mein Schatz“, ein Begrüßungskuss auf die Wange. „Aber... Was...“ „Ich hab dich schon vermisst. Sag mal, kennst du die eine da neben dir?“ Fassungslose Augen; ein Blick durchbricht die Seele. „Ich... Ich glaube es ist besser, ich gehe jetzt.“ „Aber... Das... Lass dir doch erklären…“ Nina steht auf; verlässt rennend das Café. Michael im Schlepptau. Doch es ist zu spät. Sie ist in der Menge verschwunden. „Das darf doch nicht wahr sein! Sandy! SANDY!“ Michaels letzte Blicke durchziehen den Hauptplatz. Suchende Resignation. Verlorengegangenes aufgegeben, Siegeswillen begraben. Er trabt langsam, Kopf gesenkt zurück. „Sandy! Was sollte das eben! Ich meine... Das gibt’s doch nicht!“ „Aber...“ „Was aber?! Siehst du nicht, was du angerichtet hast! Sie ist weg! Weg! Einfach weg! Ich... Was soll das! Wie soll ich sie jemals wiederfinden?“ „Aber... Es tut mir leid!“ „Es tut dir leid? Es tut dir also leid! Sag mir, was hilft es mir, dass es dir jetzt leid tut? Hilft es mir irgendwie? Ändert es irgendwas? Nachher tut es immer allen leid, aber dass sie vorher einmal ein paar Sekunden nachdenken, dazu reicht das Hirn dann nicht oder was ist bloß los mit euch!“ „Aber Michael, ich...“ „Spar‘ dir das! Spar dir das bitte.“ Michael bezahlt und verlässt das Café.

VERLORENHEIT