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Eine schaurige Kurzgeschichtensammlung mit folgenden AutorInnen: Alexandra Maibach, Anika Sawatzki, Anna-Lena Brandt, Cara Yarash, Elias Finley, Gina Grimpo, Jaschka Gaillard, Jenny Barbara Altmann, Jess A. Loup, Julia Bohndorf, Lena Bieber, Lisa-Katharina Hensel, Maya Shepherd, Mo Kast, Sabrina Patsch, Sabrina Stocker, Tanja Amerstorfer Klappentext: In der dunkelsten Stunde der Nacht, wenn der Mond hinter Wolkenschleiern hervorblitzt, Nebelschwaden über das Land ziehen und fern das Krächzen eines Raben erklingt, ereignen sich unheimliche Begebenheiten. Geschichten, die für Gänsehaut sorgen, den Herzschlag beschleunigen, kalten Schweiß ausbrechen und das Blut in den Adern gefrieren lassen. Einem Albtraum gleich sind Realität und Einbildung nur schwer auseinanderzuhalten. Ob schaurig und düster, grausam, mystisch oder übernatürlich – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Siebzehn Kurzgeschichten, die zum Fürchten einladen.
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Seitenzahl: 278
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Vorwort
Das Atelier
Das Dunkle deiner Träume
Der Panther
Die eine Nacht
Die falsche Schwester
Die Ratte
Die Seele des Voodoo
Ferne Ufer
Filmriss
Irrlichter
Leandra
Nacht der Jäger
Proband X
Rache aus dem See
Schwarze Erde
Sturmnacht
Ursprung der Seele
Auflösung der Kurzgeschichten
Dank
Midnight Stories
Anthologie
Midnight Stories (Anthologie)
In der dunkelsten Stunde der Nacht, wenn der Mond hinter Wolkenschleiern hervorblitzt, Nebelschwaden über das Land ziehen und fern das Krächzen eines Raben erklingt, ereignen sich unheimliche Begebenheiten.
Geschichten, die für Gänsehaut sorgen, den Herzschlag beschleunigen, kalten Schweiß ausbrechen und das Blut in den Adern gefrieren lassen. Einem Albtraum gleich sind Realität und Einbildung nur schwer auseinanderzuhalten.
Ob schaurig und düster, grausam, mystisch oder übernatürlich – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Die Autoren
Maya Shepherd (Hrsg.)
Alexandra Maibach
Anika Sawatzki
Anna-Lena Brandt
Cara Yarash
Elias Finley
Gina Grimpo
Jaschka Gaillard
Jenny Barbara Altmann
Jess A. Loup
Julia Bohndorf
Lena Bieber
Lisa-Katharina Hensel
Mo Kast
Sabrina Patsch
Sabrina Stocker
Tanja Amerstorfer
www.sternensand-verlag.ch
Hinweis zu sensiblen Inhalten:
Die Anthologie »Midnight Stories« besteht aus insgesamt siebzehn gruseligen Kurzgeschichten, die nicht von Personen unter 14 Jahren gelesen werden sollten. Das Thema »Grusel« lässt sich auf verschiedenste Weise interpretieren. In einigen der Geschichten sind Szenen mit folgenden Inhalten enthalten:
Erwähnung körperlicher, seelischer oder sexualisierter Gewalt
Suizid
Psychische Störungen und Süchte (z. B. Drogen)
Selbstverletzung
Mobbing
Blut
Tod
Personen, die solche Inhalte beunruhigend finden könnten, lesen die Anthologie auf eigene Verantwortung.
1. Auflage, Oktober 2021
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2021
Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns
Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röllig
Korrektorat 2: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick
Auswahl der Kurzgeschichten: Sabrina Stocker & Maya Shepherd
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-224-3
ISBN (epub): 978-3-03896-225-0
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
„Once upon a midnight dreary…”
aus
The Raven von Edgar Allan Poe
Diese Anthologie ist durch einen Schreibwettbewerb zum Thema »Grusel« entstanden.
Über 200 Bewerbungen sind eingegangen, die mir gezeigt haben, wie vielfältig das Thema interpretiert werden kann. Sabrina Stocker und ich haben alle Geschichten anonymisiert gelesen, ohne zu wissen, ob sie von einem Neuling oder einem Wiederholungstäter verfasst wurden. Dieses vorurteilsfreie Erlebnis möchte ich auch jenen, die diese Sammlung lesen, ermöglichen. Deshalb stehen keine Namen über den Kurzgeschichten, sondern nur die Titel. Eine Auflösung erfolgt erst am Ende. Wer neugierig ist, kann natürlich aber auch schon zuvor einen Blick auf die letzten Seiten werfen.
Die ausgewählten Kurzgeschichten schwanken zwischen Traum und Realität sowie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Täter und Opfer lassen sich nicht immer klar voneinander trennen. Mythen, Legenden und Aberglaube stehen dem Wunsch nach einer logischen Erklärung gegenüber.
In dieser Auswahl ist etwas für jeden Geschmack dabei. Zartbesaiteten Personen rate ich, diese Anthologie nur bei Tageslicht zu lesen. Diejenigen, die auf Gänsehaut und beschleunigten Herzschlag aus sind, dürfen sich gerne zur Mitternachtsstunde an die Lektüre wagen. Und selbst den härtesten Gruselfans, die sich von nichts mehr schocken lassen, garantiere ich, dass diese Kurzgeschichten sie zum Nachdenken anregen und ihre Gedanken auf eine Reise schicken werden.
Ein schauriges Vergnügen mit »Midnight Stories« wünscht
Maya Shepherd (Herausgeberin)
Er kniff die Augen zusammen, betrachtete den kaputten Spiegel. Sein Gesicht wurde einwandfrei reflektiert, die grauen Haare, die es umgaben, die feinen Linien an den Augenrändern, die Falten auf der Stirn, als er seine dunklen Brauen hochzog. Das Glas zeigte lediglich die Makel in seinem Gesicht, die die Zeit auf ihm hinterlassen hatte.
Wenn er, wie so oft, regungslos dastand, den Blick senkte, ihn über seine schmalen Lippen, sein Kinn streifen ließ, wurde es unscharf. Die Falte an seinem Hals konnte er noch ausmachen, dann wiederum wurde das Bild verzerrt, endete in einer scharfen Kante, die den Rand des Spiegels bildete.
Splitter. Jeden Tag löste sich einer aus dem Glas, jeden Tag fiel einer von ihnen auf das Parkett des Ateliers, jeden Tag reflektierte der Spiegel einen Teil seines Selbst weniger.
Er seufzte, versuchte seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, doch es war bereits zu spät.
Eine Träne rann aus seinem Augenwinkel, ließ sich nicht mehr aufhalten. Sie lief unbeirrt weiter, tropfte vom Kinn und verschwand.
Herzschlag, ein lautes Pochen. In seiner Brust.
Es war nicht so, als hätte er es nicht versucht. Er hatte versucht, die Splitter zu entfernen. Er hatte versucht, sie aus seinem Herzen zu entfernen, hatte versucht durchzuatmen. Durchzuatmen und zu vergessen.
Jeden Tag, jeden Tag aufs Neue.
Ohne Erfolg.
Mit feiner Präzision hatten sie sich in das Organ gebohrt, hatten die kleinen Äderchen aufgerissen, das Blut laufen lassen, das jetzt seine Wangen färbte und die Außenwelt um ihn herum zum Schweigen brachte.
Rot, überall rot, überall.
Die Splitter waren bereits zu tief eingedrungen, ließen sich nicht mehr entfernen, klebten an ihm wie eine zweite Haut.
Mit zitternden Händen wischte er über seine Wange, wischte eine weitere Träne fort.
Er wollte sich von dem Spiegelbild abwenden, aber er konnte es nicht. Er wollte nichts mehr damit zu tun haben, aber es ging nicht anders. Zu viel war passiert, viel zu viel, und zu groß seine Hoffnung.
Die Hoffnung, dass er es eines Tages schaffen würde, das perfekte Antlitz zu zeichnen.
Ihr perfektes Antlitz.
Er seufzte, es war wieder so weit. Er spürte es, noch bevor es geschah, starrte auf den unteren Rand des Spiegels.
Ein Splitter löste sich aus dem Glas, fiel zu Boden, hinterließ lautlose Stille. Nur der Herzschlag. In seiner Brust.
Schwindel.
Er starrte auf die scharfe Kante, starrte auf die Reflexion seiner selbst, die nunmehr auch die Falte an seinem Hals verbarg.
Herzschlag. In seiner Brust.
Er musste es schaffen. Es gab keinen anderen Weg.
Der Schwindel wurde immer stärker, er hatte große Mühe, aufrecht zu stehen, versuchte sein Gleichgewicht zu halten, doch die Hände, die sich an etwas festhalten wollten, griffen ins Leere. Er verlor die Balance, folgte dem Weg des Splitters, glitt auf das Parkett hinab, schnappte nach Luft, stöhnte.
Er musste es schaffen. Es gab keinen anderen Weg.
In blinder Entschlossenheit streckte er seinen Arm nach dem Splitter aus, das scharfkantige Ende schnitt durch die Haut an seinem Finger.
Er merkte es nicht mal, stand wieder auf, stützte sich auf seine Knie, schnappte nach Luft, wartete, bis die Intensität des Schwindels abermals aus seinem Körper kroch.
Dann richtete er sich auf, stellte sich vor den Spiegel und begann zu malen.
Unzählige Male. Unzählige Male hatte er das Glas mit der Flüssigkeit benetzt, versucht, rote Konturen und Linien zum Leben zu erwecken.
Waren sie überhaupt rot? Oder waren es seine Hände, die rote Spuren auf dem Glas hinterließen?
Egal.
Er schüttelte den Kopf, ließ das Glas durch seine zitternden Finger gleiten. Die scharfen Kanten glitzerten im Licht der Stehlampe, reflektierten einen seltsamen Schein.
Er fuhr sie mit den Fingerspitzen nach, zögerte kurz, malte weiter.
Rote Konturen, überall rote Konturen.
Er seufzte.
Der Schwung der Lippen, er durfte ihn nicht vergessen. Die Lippen, die leicht geöffnet gewesen waren, die Lippen, durch die ein letztes Mal ein Atemhauch ausgestoßen wurde. Ihr Atemhauch.
Diese Intensität, dieses Rot musste er einfangen. Um jeden Preis. Dieses Mal musste es klappen.
Ein leises Geräusch. Er fuhr zusammen. Es wurde immer lauter.
Doch es war nur die Wanduhr, die Wanduhr, die das baldige Kommen der Frau ankündigte.
Drei Schläge, drei Schläge ließen verlauten, dass sie bald eintreffen würde.
Nervös versuchte er die voranschreitende Zeit zu ignorieren. Er wusste, dass er bald fertig werden sollte, er wusste aber auch, dass er sie so malen musste, wie er sie noch nie zuvor in seinem Leben gemalt hatte. Mit einer Intensität und einer Echtheit, die es noch nie gegeben hatte.
Das Porträt. Er vertiefte sich wieder in das Rot ihrer Lippen, die geschwungenen Linien um ihre Augen und das Muttermal auf ihrer Wange. Das Gemälde wurde intensiver, versperrte ihm den Blick auf sein eigenes Gesicht nun fast gänzlich, sorgte für eine Gänsehaut auf seinem ganzen Körper.
Ein roter Mund. Ein Mund, der sich ihm mit der lautlosen Kraft roter Lippen entgegenstreckte, ihn zum Schweigen brachte.
Braune Augen. Braune Augen, die seine Seele einfingen.
Er ging einen Schritt zurück, die Außenwelt um ihn herum bewegte sich zurück in sein Blickfeld, wurde wieder schärfer.
Das Prasseln von Splittern. Splitter, die sich immer weiter in sein Herz bohrten.
Rote Tränen. Rote Tränen mischten sich mit seinem Werk, die Konturen der Lippen verschwammen, sprengten den Rahmen. Der Mund verzog sich zu einem lautlosen Lachen.
Er kniff die Augen zusammen, wusste, dass er sich zusammenreißen, dass er ihr Kommen abwarten musste. Diese Hoffnung, diese verdammte Hoffnung.
Und rot überall, rot.
Er blinzelte, betrachtete den Splitter in seiner Hand, den er immer noch fest umklammerte.
Ein Seufzen glitt über seine Lippen, er ignorierte die Schmerzen, die sich von seinem Herzen aus über seinen gesamten Körper ausbreiteten. Nervös sah er auf die Wanduhr.
Kurz vor. Der Zeiger rückte, wie es ihm schien, in immer größeren Schritten auf die Zwölf zu. Dann würde sie in seinem Atelier auftauchen.
Wie jedes Mal.
Der Zeiger der Wanduhr kroch in stiller Präzision auf die Zwölf, bedeckte sie mit dem dicken Metall.
Mitternacht.
Der Schlag riss ihn aus seiner Trance, angespannt wandte er den Blick von dem großen Ziffernblatt ab.
Da stand sie. Ihre Silhouette zeichnete sich vor der weißen Wand ab, ihre roten Lippen verzogen sich zur Begrüßung zu einem süffisanten, zu einem lautlosen Lächeln. Sie sah zu dem Spiegel; unweigerlich beschleunigte sich sein Herzschlag.
Schmerzen. In der Brust. Und die aufkeimende Hoffnung. Immer wieder.
Er versuchte, sie zu unterdrücken, doch sein Blick wanderte bereits voller Erwartung zwischen ihr und dem Glas hin und her.
Herzschlag. Ein pochender Schmerz. Immer wieder.
Er hatte nicht bemerkt, dass er den Splitter wieder fest umklammerte, hatte nicht bemerkt, dass die scharfen Kanten sich bereits durch seine Haut gebohrt hatten.
Ohne den Blick von der Frau zu lösen, lockerte er seinen Griff, das Glas landete unbemerkt auf dem Parkett.
Blut lief über seinen Finger, folgte dem Weg des Splitters bis auf den Boden.
Er fokussierte ihren Gesichtsausdruck, dieser blieb unverändert. Keine Regung, keine Bewegung war in ihm auszumachen.
Jede Zelle seines Körpers schien nach ihr zu schreien, schien sie zu einer Reaktion bewegen zu wollen. Doch äußerlich blieb er stumm.
Sekunden, ja vielleicht sogar Minuten des zähen Schweigens schritten voran. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, verharrte, umgeben von schier unbändiger Hoffnung.
Als sich ihr Gesicht schließlich zu ihm wandte, sah er sie immer noch an, versuchte jede noch so kleine Veränderung zu bemerken, einzufangen.
War da der Anflug eines Lächelns? Verzogen sich ihre Lippen etwas nach oben, zuckte ihr Mundwinkel, war da ein kurzes Aufblitzen in ihren braunen Augen auszumachen?
Sein Herz pochte immer wilder, die Splitter übten mit jedem weiteren Schlag einen stärkeren Druck auf das Organ aus, die Adern drohten vor Spannung zu platzen.
Sie sah ihn nun direkt an, fokussierte seinen Blick.
Nein. Da war immer noch keine Regung auszumachen.
Langsam hob sie die Hand, deutete mit einem ausgestreckten Finger auf das Kunstwerk. Wie jedes Mal.
Ihre Schritte führten sie zum Spiegel.
Wie jedes Mal.
Sie verharrte kurz, drehte sich um.
Wie jedes Mal.
Er betrachtete ihren Rücken, suchte ihn nach einem Zeichen ab, einem Zeichen, das ihm sagte, dass sie sich endlich auf dem Porträt erkennen, ihn endlich erlösen würde.
Wie jedes Mal.
Er konnte einen Teil ihrer Mimik in dem Spiegel ausmachen, erkannte, wie sich ihre Konturen mit dem Gemälde vermischten, eins mit ihm wurden, zu undefinierbaren Linien verschwammen, sich im selben Moment wieder davon lösten. Umrisse trennten und verbanden sich, ein roter Mund berührte den anderen.
Rote Lippen. Die Berührung schlug ihm mit der Wucht ihrer Vergänglichkeit entgegen.
Die Frau wandte sich von dem Spiegel ab, drehte sich wieder zu ihm um.
Doch er wusste bereits. Es hatte sich nichts verändert. Sie hatte sich in dem Porträt nicht wiedererkannt.
Sie bestätigte seine böse Vorahnung mit einem Kopfschütteln.
Taubheit. Und ein stechender Schmerz. Mit unfassbarer Wucht bohrten sich die Splitter tiefer, bildeten einen unnachgiebigen Weg, um ihn weiter zu zerstören.
»Ich komme mit dir«, hörte er sich sagen. Seine Stimme klang seltsam leer, so als wäre sie seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden.
Die Frau schüttelte den Kopf.
Wie jedes Mal.
Sie erwiderte seinen Blick, berührte seine wunden Finger, hinterließ ein glühendes Pochen auf seiner Haut.
Dann wandte sie sich erneut dem Gemälde zu, wischte mit einer Handbewegung über den Spiegel.
Konturen verschmolzen miteinander, glitten ineinander über, der rote Glanz der vollen Lippen breitete sich zu einer matten Form seiner selbst aus. Das Bild verschwand.
Sie verschwand.
Ihre Abwesenheit ließ sich wie ein schwerer Mantel auf seinem Körper nieder, bildete ein Echo, das sich in jede Faser des Ateliers legte.
Er hob die Scherbe auf, ließ sie durch seine Finger gleiten.
Ein Strich. Und noch einer.
Der Bleistift in Jennas Hand kratzte geschmeidig über das raue Papier des Zeichenblocks, während das Bild vor ihr langsam Gestalt annahm. Lauer Wind wehte ihr einige ihrer kupferfarbenen Haarsträhnen ins Gesicht und ließ sie im Licht der untergehenden Sonne beinahe rot glühen. Wie jeden Tag hatte Jenna sich am frühen Abend auf den Hügel hinter dem Haus ihrer Familie verzogen, um in Ruhe ein wenig zu zeichnen. Früher hatte sie das bloß getan, weil sie das Zeichnen so sehr liebte. Sie konnte sich schon lange nicht mehr an einen Tag erinnern, an dem sie keinen Stift in der Hand gehalten hatte. Aber seit einigen Wochen gab es auch noch einen anderen Grund für ihre immer länger werdenden Besuche auf der verlassenen Wiese nahe dem Waldrand.
Jenna sah von ihrer Zeichnung auf und betrachtete die untergehende Sonne, die alles in ein warmes goldenes Licht tunkte. Für gewöhnlich genoss sie diese Stunden in völliger Abgeschiedenheit von der Welt und deren Lärm, doch heute nicht. Heute waren nicht einmal die warme Frühlingsluft und die Schönheit des Sonnenuntergangs dazu imstande, sie von ihren düsteren Gedanken abzulenken.
Düstere Gedanken, die sie verfolgten, die in ihre Träume krochen und am Morgen aus den Schatten erwachten, als ob sie ihr zeigen wollten, dass sie niemals ganz verschwinden würden.
Früher hatte Jenna nie solche Träume gehabt. Sie war unbeschwert gewesen, voller Energie und Hoffnung, Sorglosigkeit und Zuversicht.
Doch vor ein paar Monaten hatte sich etwas verändert.
Nein, alles hatte sich verändert.
Und seitdem waren ihre Träume voll Dunkelheit und Finsternis, voller Angst und Hilflosigkeit und sie wachte jeden Morgen mit dem dumpfen Gefühl der Panik auf, welches ihre Glieder lähmte und ihre Brust zuschnürte, bis sie glaubte, daran zu ersticken.
Sie wusste, dass ihr irgendetwas entging, aber immer, wenn sie danach zu greifen versuchte, entglitt es ihr wieder. Das Einzige, was sie mit Sicherheit sagen konnte, war, dass die Schatten sie niemals losließen, egal wie hell die Sonne auch strahlte. Tief in ihr drin fühlte sie die Dunkelheit der Nacht, die ihre Gedanken beherrschte.
Jenna senkte den Blick, steckte sich den Bleistift mit der gewohnten Bewegung hinters Ohr und blätterte mit gerunzelter Stirn durch die letzten Seiten ihres Zeichenblocks. Sie erkannte genau, an welchem Tag die Träume begonnen hatten. Es war der 13. Mai gewesen, ein Tag wie jeder andere, doch wurden die Schatten in ihren Bildern seit diesem Tag länger, die Gestalten düsterer und die Striche lebendiger, als wollten sie sich geradewegs von den gestärkten Seiten erheben, herauskriechen und ihren Betrachter ganz und gar einnehmen.
Eine Gänsehaut kroch Jenna bei diesen Gedanken über die Arme und sie schüttelte energisch den Kopf, als könnte sie so die Enge vertreiben, die seit Wochen in ihrer Brust saß und ihr das Atmen erschwerte. Denn zu dem morgendlichen Unwohlsein, das schnell wieder vergessen war, hatte sich nun eine Angst gesellt, die sie keine Sekunde am Tag losließ. Sie begleitete sie, wohin sie auch ging, sogar auf diesen Hügel, der ihr schon immer eine Zuflucht gewesen war. Der einzige Ort, an dem ihre Gedanken verstummten und ihr Herz sich so frei fühlte, als würde es jeden Moment davonfliegen.
Doch diese Zeiten waren vorbei. Sie waren in dem Moment vorbei gewesen, als sie angefangen hatte zu träumen. Am 13. Mai.
Bei dem Gedanken an die dunklen Gestalten, Wesen, die sie nicht benennen konnte, und an ein Grauen, das ihr die Luft zum Atmen nahm, fuhr Jenna ein Kribbeln durch den Körper, sodass ihre Finger sich fest um den Einband ihres Blocks krampften. Ihr Puls ging hektisch und sie spürte ganz deutlich ihren Herzschlag, der nun so viel schneller gegen ihre Rippen pochte als noch vor wenigen Augenblicken.
Deshalb war sie hier. Schon seit Stunden saß sie hier und zeichnete, in der Hoffnung, dass es ihr helfen würde, die Bilder, die sie Nacht für Nacht vor ihrem inneren Auge sah, auf das farblose Papier zu verbannen. Dorthin, wo sie sie sehen konnte, wo sie greifbar waren und weniger real.
Mit einer zögerlichen Bewegung holte Jenna den Stift wieder hinter ihrem Ohr hervor, atmete einmal tief durch und fuhr dann damit fort, die Konturen des Wesens zu schraffieren. Es fiel ihr nicht schwer, sich die Bilder der vergangenen Nacht ins Gedächtnis zu rufen, und sie merkte, wie ihr Puls mit jedem Strich, für den sie den Stift über das Papier führte, ein wenig ruhiger wurde.
Na also, es funktionierte.
Ein leichtes Lächeln schlich sich in ihre Mundwinkel, während die schaurige schwarze Gestalt vor ihr immer dunkler und unheilvoller wurde. Aber Jenna sah gar nicht mehr hin. Ihre Hand flog über das Papier, korrigierte ein paar Unebenheiten, verstärkte die Schatten, die ihr mit einem Mal nicht mehr dunkel genug erschienen, und gab dem Gesicht der Gestalt einen noch grimmigeren Zug.
Sie merkte, wie ihre Ängste schwanden, während sie sich ganz dem Sog hingab, den das Zeichnen auf sie ausübte. Dabei vergaß sie, dass sie bereits vor einer Stunde hätte zu Hause sein sollen, um das Abendessen vorzubereiten. Sie bemerkte auch nur am Rande, dass ihre Glieder schmerzten und immer steifer wurden, weil sie zu lange auf dem harten Boden gehockt hatte. Sogar die Angst vor der bevorstehenden Nacht floss mit ihren übrigen Gedanken in die vor ihr liegende Zeichnung.
Und dann wurde es dunkel.
Die Sonne war verschwunden, ihre warmen Strahlen streckten sich nicht mehr bis zu dem Hügel hinauf, auf dem Jenna noch immer ganz versunken im Gras saß, während die Schatten langsam aus ihren Ecken hervorkrochen. Denn nun hatte ihre Zeit des Tages begonnen.
Als das Licht irgendwann ihr Papier grau und das Wesen darauf noch dunkler als die Nacht erscheinen ließ, hob Jenna das erste Mal seit einer ganzen Weile den Kopf. Erst jetzt spürte sie ihre eingeschlafenen Beine, den steifen Nacken und die Kälte, die ihre nackten Arme hinaufkroch. Erschrocken riss sie die Augen auf, als ihr klar wurde, wie viel Zeit vergangen sein musste und dass sie besser schleunigst zurückkehren sollte. Das Haus ihrer Eltern lag direkt auf der anderen Seite des Hügels und wenn sie nur ein Stück weiter hinaufsteigen würde, wäre es schon zu sehen. Da der Hügel das Licht der untergehenden Sonne verdeckte, waren dort schon vor einiger Zeit die Schatten eingekehrt, was auch ein Grund dafür war, dass es Jenna jeden Abend hier hinaufzog. Sie wollte noch ein paar Augenblicke des Lichts genießen, bevor all das erwachte, was sich in der Finsternis der Nacht verbarg und wieder einmal versuchte, sich in ihre Träume zu schleichen.
Ihre Gedanken lenkten ihren Blick direkt auf den nahen Wald, der sich rechts von ihr erstreckte und den unteren Teil des Hügels vollständig unter sich begrub. Langsam und ohne den Blick von der Dunkelheit abzuwenden, die zwischen den eng beieinanderstehenden Bäumen hervorquoll, stand Jenna auf. Den Block hielt sie fest umklammert.
Eine unerklärliche Unruhe hatte sich in ihr breitgemacht, und ihr war, als wollten ihr die Schatten zeigen, dass sie ihnen jetzt nicht mehr entkommen konnte. Ohne es wirklich zu wollen, fiel Jennas Blick auf das Bild von jenem düsteren Wesen, das sie selbst in den letzten Stunden auf weißem Papier festgehalten hatte. Nun, da sie es das erste Mal tatsächlich im Ganzen betrachtete, musterte sie ihr Werk eingehend und plötzlich entfuhr ihr ein Schrei. Sie ließ den Block reflexartig fallen, als hätte sie sich verbrannt.
»Das gibt es nicht«, hauchte Jenna und hob eine Hand an ihren Mund.
Sie kniff die Augen zusammen, öffnete sie wieder und starrte auf die schwarze Gestalt, die da vor ihr im Gras lag und das weiße Blatt so dominierte, als würde sie es jeden Augenblick verschlingen. Langsam kniete sich Jenna hin, um die Zeichnung genauer zu betrachten, ohne sie berühren zu müssen. Mit zusammengekniffenen Augen beugte sie sich vor, sodass ihre Nase nur noch wenige Zentimeter über dem Papier schwebte, und beobachtete jeden Millimeter ihrer Zeichnung so intensiv, dass ihr schon nach einigen Sekunden die Augen schmerzten.
Und dann passierte es wieder.
Die Schatten, die das Wesen umgaben und so tiefschwarz erschienen, wie kein Stift sie je abbilden könnte, begannen zu verschwimmen. Zuerst nur ganz langsam und kaum wahrnehmbar, doch je genauer Jenna hinsah, desto stärker wurden die Wirbel aus schwarzer Nacht, die um die Gestalt waberten.
Erschrocken keuchte Jenna auf und brachte Abstand zwischen sich und das Papier, aber nun war die Veränderung in ihrer Zeichnung auch von dort deutlich zu erkennen.
»Das ist nicht möglich. Ich bilde mir das bloß ein«, haspelte Jenna, während sie mit aufgerissenen Augen versuchte, die immer stärker werdenden Bewegungen auf dem Papier als Illusion abzutun. Aber es wollte ihr einfach nicht gelingen.
Sie spürte, wie ihr Herz mit jedem Augenblick schneller pochte, bis sie bald nichts mehr hörte als das Rauschen des Blutes in ihren Ohren, das viel zu schnell durch ihren Körper gepumpt wurde. Ihre Hände wurden schwitzig. Panik stieg wie kalter Nebel in ihr auf, lähmte ihre Beine und wollte aus ihr herausbrechen. Doch wohin?
Gerade als sie sich erneut ins Gedächtnis rief, dass all das nur ihrer viel zu blühenden Fantasie zuzuschreiben war und ihre Mum vermutlich recht damit hatte, wenn sie sagte, sie solle mehr in der Realität als in ihren Traumwelten leben, passierte etwas, was all ihr gutes Zureden mit einem Schlag zunichtemachte.
Die Wirbel, die sich in den Schatten des Wesens gebildet hatten, kreisten immer schneller umher und schwollen plötzlich zu so beachtlicher Größe an, dass Jenna ein ganzes Stück zurückwich. Wenige Augenblicke später hatten sich die Schatten aus ihrem papierenen Gefängnis befreit und türmten sich gewaltig vor dem dämmrigen Himmel auf, der völlig ohne Sterne wirkte wie ein toter grauer Vorhang.
Jenna stieß einen spitzen Schrei aus, während sie rücklings auf allen vieren immer weiter den Hügel hinaufkroch. Der Anblick, der sich ihr bot, war atemberaubend und schrecklich zugleich. Nach und nach erhoben sich immer weitere Teile von ihrer Zeichnung in die Nacht und formten sich in einem einzigen schwarzen Wirbel zu ebendem Wesen, dem Jenna Nacht für Nacht in ihren Träumen begegnete. Ein Wesen voller Dunkelheit und Düsternis, voller Grauen und Entsetzen. Eine Schattengestalt.
Sie jetzt hier vor sich zu sehen, entzog Jenna sämtliche Luft aus der Lunge, sodass sie voller Panik nach Atem rang, während ihr Kopf ihr befahl wegzulaufen. Ihre Beine wollten ihr jedoch nicht gehorchen. Sie war wie festgefroren und völlig außerstande, etwas anderes zu tun, als dieses Wesen der Nacht anzustarren.
Eine panische Stimme in ihrem Kopf rief ihr zu, dass das alles nicht real sein konnte, dass sie träumte und schleunigst von hier verschwinden sollte. Aber als wenige Herzschläge später die Gestalt in voller Größe vor Jenna aufragte und sich abermals zu wandeln begann, verstummten sämtliche Gedanken in ihrem Kopf.
Nein, das hier war real. Sie sah mit ihren eigenen Augen, wie sich die Schatten formten, wie die Bilder, die darin zum Vorschein kamen, immer deutlicher wurden und vor allem immer schmerzhafter. In keinem ihrer Träume hatte sie die Schatten, die sie verfolgten, so deutlich gesehen wie jetzt. Nie hatte einer von ihnen ihr sein wahres Gesicht gezeigt und immer, wenn sie versucht hatte herauszufinden, was sich hinter den Schatten verbarg, waren sie verschwunden und an einer anderen Stelle wieder aufgetaucht.
Doch diesmal war es anders.
Alles hier fühlte sich anders an. Es war zu real. Zu real, um bloß ein Produkt ihrer Fantasie zu sein.
Und mit einem Mal regte sich etwas in ihrem Inneren.
Ihr Puls raste und das Rauschen in ihren Ohren wurde so laut, dass sie sich nicht sicher war, ob sie sich das Geräusch bloß eingebildet hatte oder ob es tatsächlich da gewesen war. Dann hörte sie es wieder.
Quietschende Reifen. Rufe. Schreie. Chaos. Und dazwischen ihre eigene Stimme, wie sie immer wieder einen Namen rief, aber keine Antwort erhielt.
So fest sie konnte, presste Jenna die Augen zusammen, um den Erinnerungen zu entfliehen, die gerade im Begriff waren, auf sie einzustürzen und alles mit sich zu reißen, was noch von ihr übrig war.
Doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Immer schneller kamen die Fetzen aus jener Nacht zurück an die Oberfläche und als sie die Augen mit einem Ruck wieder aufriss, blickte sie direkt in den schwarzen Nebel, der die Gestalt vor ihr umrahmte wie bei einem hübschen Gemälde.
Der Schrei, den sie ausstoßen wollte, blieb ihr im Hals stecken, als in diesem Augenblick Bewegung in die Schattengestalt kam.
Kalte Furcht krallte sich in ihr Herz und drückte ihr die Luft ab. Ihre Brust fühlte sich an, als wäre sie schlichtweg zu klein, um all der Panik Platz zu bieten, die sich in ihr aufstaute, und die eisige Kälte, die ihre Beine hinaufgekrochen war, hatte sich mittlerweile zu ihrem Herzen durchgeschlagen und umhüllte es mit ihren frostigen Schwingen.
Ihr Atem ging nur noch stoßweise, während die Schatten ihr immer näher kamen und gleichzeitig ihre Erinnerungen immer deutlicher wurden. Unbarmherzig bohrten sie sich in Jennas Innerstes und ließen ihr einen Schauer über den Rücken rinnen. Ohne Vorwarnung bahnte sich das Bild eines zertrümmerten Wagens einen Weg in ihr Bewusstsein und ließ sie erstarren. Sie war wie gelähmt und brachte es nicht fertig, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, während sie die immer näher rückende Gestalt anstarrte, als wartete sie auf ihr Todesurteil. Denn das war die einzige Konsequenz, die ihr jetzt noch sinnvoll erschien. Die Schatten hatten sie in ihren Träumen besucht. Seit Monaten waren sie Teil ihrer Nächte gewesen, hatten sie zu sich ziehen wollen, um sie in ihre Dunkelheit zu hüllen. Und jetzt hatten sie sie gefunden.
Als das Wesen ihr so nahe gekommen war, dass die weitesten Ausläufer der wabernden Schatten, die die Gestalt wie ein dichter Nebel umgaben, nur noch eine Handbreit von ihr entfernt waren, blieb es plötzlich stehen. Es verströmte eine solche Kälte, dass sich eine Gänsehaut auf Jennas Körper ausbreitete. Ein leises, schlurfendes Geräusch kam aus seinem schattenhaften Mund, und Jenna begriff, dass es etwas zu sagen versuchte. Ihr Atem stockte und das Entsetzen fuhr ihr durch Mark und Bein, als sie nach weiterem, immer lauter werdendem Gemurmel des Schattenwesens endlich einen Satz heraushörte, dessen Bedeutung sie verstand.
»Wach auf, Jenna. Wach endlich auf!«
Ihr Herz fühlte sich an, als würde es jeden Augenblick stehen bleiben. Nein, das konnte nicht wahr sein. Das durfte nicht wahr sein!
Die Gestalt stand ihr nun direkt gegenüber und als Jenna ihr mit wild pochendem Herzen entgegensah, sickerte langsam die Erkenntnis zu ihr durch, dass sie sich nicht getäuscht hatte.
Die Stimme gehörte ihrer Mum.
Als ihr das klar wurde, rannte sie los. Das Grauen vor den Erinnerungen, die auf sie lauerten, und dem Wesen, das sie mit sich brachte, war stärker als die Furcht, die sie auf dem Boden festgehalten hatte, und befahl ihr, so schnell zu laufen wie nur möglich, nicht zurückzublicken und nicht auf die Schatten zu achten, die ihr folgen würden. Denn das taten sie, da war sie sich sicher.
Jenna spürte deutlich ihren kalten Lufthauch, während sie den steilen Hügel hinaufrannte, was sie das brennende Stechen in ihren Seiten beinahe vergessen ließ. Die Panik, die sich in ihre Brust gequetscht hatte, als wollte sie sie von innen heraus ersticken, bahnte sich nun einen Weg nach draußen und ließ Jenna keuchend nach Luft ringen und so schnell atmen, dass sie glaubte, gleich ohnmächtig zu werden.
Ohne zurückzublicken, hechtete sie den Hügel hinauf, während sie spürte, wie ihr die lange zurückgehaltenen Schluchzer in der Kehle steckten und ihr Tränen in die Augen stiegen. Aber die Angst vor dem, was sich hinter ihr befand und sie in die Nacht verfolgte, war zu groß, um dieser Versuchung nachzugeben.
Kurz bevor sie die Hügelkuppe erreicht hatte, wagte sie einen hastigen Blick nach hinten und bereute es noch in derselben Sekunde. Ihr panischer Atem brachte sie aus dem Schritt und während sie nach hinten schaute, um die schwarzen Schatten in der finsteren Nacht auszumachen, stolperte sie und fiel der Länge nach auf den Boden.
Von Panik ergriffen schrie sie auf, versuchte sich hochzuziehen und weiterzulaufen, doch da spürte sie schon die eisigen Klauen der Gestalt an ihren Knöcheln und wusste, dass sie diesen Kampf verloren hatte.
Mit aufgerissenen Augen drehte sich Jenna auf den Rücken und starrte nach oben in die Dunkelheit, die sich über sie beugte. Nun war sie sich völlig sicher, hinter der Fassade aus Schrecken und Tod die Augen ihrer Mum zu erkennen.
Es war, als würde die Zeit stillstehen. Die Nebelschwaden um sie herum hörten auf, sich zu bewegen, ihr Herz verlangsamte seinen Takt und ihre Gedanken lösten sich in Luft auf. Es fühlte sich an, als gäbe es nur noch sie und dieses Paar Augen, das Stück für Stück auf sie zukam und dabei eine Wärme ausstrahlte, die so gar nicht zu dem Wesen der Nacht passen wollte. Sie war allerdings so intensiv, dass Jenna sie auf ihrem eiskalten Körper zu spüren glaubte.
Dann war der Moment vorbei und schwarze Schatten hüllten Jenna ein, sodass alles um sie herum verschwamm und von wogender Dunkelheit erfüllt wurde. Das Atmen fiel ihr immer schwerer und das eisige Grauen, das sie durch die Nacht verfolgt hatte, senkte sich nun in aller Ruhe auf ihre Brust, um sich tief in ihr Herz zu graben.
»Du kannst nicht vor den Schatten davonlaufen.« Die Stimme des Schattenwesens war nur ein Raunen, aber von solcher Intensität, dass Jenna unwillkürlich die Luft anhielt. Ihr blieb bloß noch, das Wesen voller Entsetzen anzustarren, während sie darauf wartete, endgültig von den Schatten verschlungen zu werden.
Das Letzte, woran sie dachte, war ihr Zeichenblock voller Skizzen, der nun verloren einige Meter weiter den Hügel hinunter im Gras lag, bevor sie die Schattengestalt auf sich zukommen sah, immer dichter und dichter, bis ihr Atem versagte und die Dunkelheit vollkommen wurde.
Die Schatten hatten sie verschluckt.
Mit einem heiseren Schrei schreckte Jenna aus dem Schlaf. Reflexartig fuhren ihre Hände hinauf zu ihrem Gesicht, berührten ihre Augen, den Mund, die Nase, schließlich den Hals und blieben auf ihrem wild pochenden Herzen liegen, das ihr schmerzhaft gegen den Brustkorb trommelte.
Der Traum klebte noch wie ein Schatten an ihr, was sie dichter an das Bettende rücken ließ. Ihre Augen hatte sie weit geöffnet, trotzdem schaffte sie es nicht, der aufsteigenden Panik Herr zu werden.
Nacht für Nacht kehrte sie zurück an ihren Zufluchtsort. Nacht für Nacht sah sie dieselben Schatten, doch jeden Morgen waren es nichts weiter als flüchtige Erinnerungen und ein dumpfes Gefühl der Furcht gewesen.
Bis jetzt.
Bei der Erinnerung an das, was sie in ihrem Traum gesehen hatte, rannen Jenna heiße Tränen über die Wangen und sie presste sich die Hand auf den Mund, um ein Schluchzen zu ersticken, während die Bilder vor ihrem inneren Auge langsam Gestalt annahmen.
Nun bestand kein Zweifel mehr.
Ihre Mum war dort gewesen. Mitten in den Schatten.
Der Schmerz kam plötzlich, hüllte sie ein, türmte sich auf, bis er über ihr zusammenschlug. Jenna keuchte und schnappte nach Luft, aber es fühlte sich so an, als würde nicht ein bisschen Sauerstoff ihre Lunge erreichen, als sich langsam die Erkenntnis in ihr breitmachte, weshalb ihre Mum dort gewesen war.
Weshalb sie nicht hier war.
Der 13. Mai. Es war kein Tag wie jeder andere gewesen.
Es war der Tag, an dem sich alles verändert hatte.
Der Tag des Unfalls.
Der Tag, an dem ihre Mum in die Schatten gehen musste und nie zurückgekehrt war.
Bis jetzt.
Es war ein hektischer Morgen. Mara hatte verschlafen, weil sie seit Kurzem nachts kaum ein Auge zubekam. Völlig außer Atem drängte sie sich an Passanten auf der Rolltreppe vorbei. Von allen Seiten wurde sie angerempelt. Sie musste gegen den Menschenstrom anschwimmen und hatte kurz dabei das Gefühl zu ertrinken. Alles war so viel und so anstrengend. Trotzdem musste sie in den zweiten Stock der Bahnhofsgalerie. Dort lag die Buchhandlung, in der sie arbeitete.
Gerade als sie oben angekommen war, traf sie der Blick des Raubtiers. Kalt, düster und so müd, dass er nichts mehr hielt. Er gehörte zu einem hageren Kerl mit weiß blitzenden Zähnen. ›Der Panther‹ nannte Mara ihn deshalb, nach dem Gedicht von Rainer Maria Rilke. Nur gab es keine tausend Stäbe zwischen ihnen, sondern nur seine Augen in ihrer Welt.
Ohne es zu wollen, kämpfte sich ein lauter Schrei aus ihrer Kehle, gefolgt von einem Schluchzen. Sie ertrug es einfach nicht mehr! Immer war er da und starrte sie an. Immer. Immer. Immer! Und sie hatte Angst. Ihr Blickfeld verschwamm vor ihren Augen. Sollten sie doch alle gucken! Ihr konnte nichts passieren, wenn jeder sie sah. Sichtbarkeit war Sicherheit.