Midnight Symphonie - Gabriele Kluge - E-Book

Midnight Symphonie E-Book

Gabriele Kluge

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Beschreibung

"Liebe braucht einen Anfang, aber kein Ende. Dennoch bringt jedes Ende einen neuen Anfang." Das sind die Worte von Kirstin, der Seelenverwandten und Ehefrau Hans Bertholds, den beiden Protagonisten in "Kirstins Blues". In Mareike, eine bis dahin unbekannte Enkelin und Frederick, dem ersten Protegé von Hans, bewahrheiten sich diese Worte. Sie sind die nächste Generation, die in die Fußstapfen der Alten treten. Sie lieben und leben Musik, schreiben, texten und werden eines Tages ebenso erfolgreich sein wie ihre Vorgänger. Außerdem sind sie ebenfalls durch das Band der Liebe aneinander gefesselt und müssen gegen ihre eigenen Geister kämpfen. Mareike unterschreibt z. B. gegen den Rat von Frederick einen Vertrag, der sich als Knebelvertrag herausstellt. Sie opfert dafür sogar ihr gemeinsames, ungeborenes Kind. Kann Frederick diesen Verrat je vergeben?

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Gabriele Kluge wurde 1949 in Magdeburg geboren. Nach dem Schulabschluss erlernte sie zunächst den Beruf einer Stenotypistin, den sie aber bereits 1968 zu Gunsten ihres Wunschberufs, Sängerin zu werden, aufgab. Mehr als 25 erfolgreiche Jahre war sie auf den Bühnen und in den Studios von Rundfunk, Schallplatte und Fernsehen zu Hause. Erst mit 74 Jahren begann sie ihren ersten Roman „Kirstins Blues – Ein Leben ist nicht genug“ zu schreiben.

Bisher erschienen:

- „Kirstins Blues – Ein Leben ist nicht genug“

- „Midnight Symphonie – Die Geschichte von Mareike und Frederick“

- „Königskinder“

- „Besessenheit“

Instagram: www.gabriele_kluge 2 www.gabrielekluges-schreibwerkstatt.jimdosite.com Facebook: www.facebook.com/GabrieleKluge-Autorin tik tok: www.gabrielekluge_autorin

Inhaltsverzeichnis

Midnight Symphonie

Prolog

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Kapitel Dreißig

Kapitel Einunddreißig

Kapitel Zweiunddreißig

Kapitel Dreiunddreißig

Kapitel Vierunddreißig

Kapitel Fünfunddreißig

Kapitel Sechsunddreißig

Kapitel Siebenunddreißig

Kapitel Achtunddreißig

Kapitel Neununddreißig

Kapitel Vierzig

Kapitel Einundvierzig

Kapitel Zweiundvierzig

Kapitel Dreiundvierzig

Kapitel Vierundvierzig

Kapitel Fünfundvierzig

Kapitel Sechsundvierzig

Kapitel Siebenundvierzig

Kapitel Achtundvierzig

Kapitel Neunundvierzig

Kapitel Fünfzig

Kapitel Einundfünfzig

Kapitel Zweiundfünfzig

Kapitel Dreiundfünfzig

Kapitel Vierundfünfzig

Kapitel Fünfundfünfzig

Kapitel Sechsundfünfzig

Kapitel Siebenundfünfzig

Kapitel Achtundfünfzig

Kapitel Neunundfünfzig

Kapitel Sechzig

Kapitel Einundsechzig

Kapitel Zweiundsechzig

Kapitel Dreiundsechzig

Kapitel Vierundsechzig

Kapitel Fünfundsechzig

Kapitel Sechsundsechzig

Kapitel Siebenundsechzig

Kapitel Achtundsechzig

Kapitel Neunundsechzig

Prolog

Midnight Symphonie

Winding through my own darkest lane With no one by my side

Dreaming of hope and faith again

When nothing’s feeling right

But even on this lowest ground

I feel there must be someone holding me

Who I can’t see

Someone who’s strong enough to set me free

Cause every night when I’m lost in melodies

I hear you sing with me

Lying lonely in my bed, but I can feel

That this loneliness isn’t real

Show me the earth that sleeps

The moon that unites us with dreams

Believe in the bound of us in this midnight symphony

The bound of us in this midnight symphony

Can all of this be true at all?

Or is it just a lie?

How can I just break out of my own

With only what I hear at nights

Well if distance is relative

Then from another point of view

It could be true

Not alone anymore when music shines through

Cause every night when I’m lost in melodies

I hear you sing with me

Lying lonely in my bed, but I can feel

That this loneliness isn’t real

Show me the earth that sleeps

The moon that unites us with dreams Believe in the bound of us in this midnight symphony

The bound of us in this midnight symphony

Show me the earth that sleeps

The moon that unites us with dreams

Believe in the bound of us in this midnight symphony

Cause every night when I’m lost in melodies

I hear you sing with me

Lying lonely in my bed, but I can feel

That this loneliness isn’t real

Show me the earth that sleeps

The moon that unites us with dreams

Believe in the bound of us in this midnight symphony. The bound of us in this midnight symphony

(Text und Musik: Noah Benedikt)

Prolog

Kirstin saß mit geschlossenen Augen in der ansonsten völlig leeren Royal Albert Hall. Es fiel ihr nicht schwer, die Geräusche zu hören, den unverkennbaren Geruch wahrzunehmen und sich auch sonst an alle Kleinigkeiten zu erinnern. Sie hörte das leise, erwartungsvolle Stimmengewirr im Saal, sah die vielen Menschen. Und dann betrat er das Podest, die Legende Mr. Slowhand. Es war genau so, vor nunmehr 46 Jahren. Sie haben hier auf genau denselben Plätzen gesessen. Neben ihr saß ihr gerade frisch gebackener Ehemann. Der war von allem hier so beeindruckt, dass sie glaubte, er könnte das Atmen vergessen. Seine Londoner Freunde hatten ihnen auf ihrer Hochzeitsreise diese Eintrittskarten geschenkt. Eric Clapton & Friends spielten zum Gedenken an den zuvor verstorbenen Stargitarristen Jeff Beck. Ein Traum wurde für Hans wahr, an den er eigentlich nicht einmal selbst geglaubt hatte. Nach dem Konzert war ein neuer Traum geboren. Er wollte wenigstens einmal in seinem Leben dort auf der Bühne stehen. Nicht mehr und nicht weniger. Manche hätten ihn vielleicht für größenwahnsinnig gehalten, aber er glaubte an sich.

Schließlich war er ein aufgehender Stern am Rockhimmel. Er besaß alles, um zu Gitarrengiganten aufzusteigen, der für würdig erachtet wurde, diese heilige Stätte zu bespielen. Er hatte es geschafft, wenn auch erst, nachdem er seine Karriere bereits beendet hatte, die, wie sollte es anders sein, alle Erwartungen mehr als erfüllt hatte. Er war zu dem Rock- und Bluesgitarristen geworden, an dem auch ein Eric Clapton nicht vorbeikam.

Dieses allerletzte Konzert hatte sie allein hier im Saal erlebt. Diesmal war sie es, die vor lauter Aufregung und vor Stolz auf ihren Mann beinahe das Atmen vergaß. Es war einfach grandios. Seine Duette mit Clapton, der ihn als absolut Gleichen unter Gleichen behandelte, hatten Musikgeschichte geschrieben. Vielleicht auch deshalb, weil es bisher sehr wenigen deutschen Gitarristen vergönnt war, auf dieser Bühne spielen zu dürfen.

Nun saß sie wieder hier, aber als sie die Augen öffnete, war sie allein; der Saal lag verlassen im Halbdunkel, der Platz neben ihr war leer, denn ihr Hans war tot.

Eins

Nie würde sie diesen schrecklichsten Tag ihres Lebens vergessen. Nichts deutete darauf hin. Alles schien wie immer. Ohne Vorbereitung hatte das Schicksal zugeschlagen.

Hans hatte Kirstin überredet, an diesem Tag in die City zu fahren. Sie hatte sich das schon so oft vorgenommen, aber nie wirklich Lust dazu gehabt. Wer geht schon gerne zum Frauenarzt? Da aber auch Hans dann endlich mal dazu kam, sein Studio auf Vordermann zu bringen, hatte sie sich endlich dazu entschlossen. Dem Vorschlag, dass sie doch noch ein schönes Eis im „Venezia“ essen könnte, hatte sie nichts entgegenzusetzen. Aber es sollte wohl nicht sein, denn auch wenn ihr Audi noch keine Woche alt war, wollte er partout nicht anspringen. „Deutsche Qualitätsarbeit scheint auch nicht mehr das zu sein, was sie einmal war“, schimpfte sie vor sich hin. Dann eben nicht. Sie nahm also ihre Handtasche und ging zum Haus zurück. Beim Betreten des Hauses brach ihre Welt auseinander. Als sie vom Flur ins Wohnzimmer gehen wollte, sah sie Hans hinter der halb geschlossenen Tür liegen. Sie stürzte zu ihm, fühlte an allen erdenklichen Stellen nach einem Puls, fand aber nichts. Seine Augen waren geöffnet und sahen ins Leere. Sie war immer noch erstaunlich ruhig; die Möglichkeit, dass Hans tot sein könnte, war bisher nicht in ihr Bewusstsein vorgedrungen. Sie wuchtete ihren Mann auf den Rücken und begann mit der Wiederbelebung, wie sie es mal vor vielen Jahren gelernt hatte. „Night Fever, Night Fever …“, den alten Bee Gees Song sang sie, um den richtigen Rhythmus zu finden. Dann Kopf in den Nacken, Nase zuhalten und in den geöffneten Mund atmen. Noch einmal und noch einmal und noch einmal. Erst als sie völlig außer Atem und erschöpft war, hielt sie inne. Hans war gegangen. Sie konnte ihn nicht zurückholen.

Tot, tot, tot – immer wieder dieses eine Wort, es drehte sich in ihrem Kopf wie ein riesenhafter Mühlstein. Sie wusste, dass sich bei jeder Wiederholung ein Schrei in ihrer Brust bildete. Nicht mehr lange und sie würde ihn nicht mehr verhindern können.

Dann war es so weit, ein grauenhafter, die Welt in ihren Grundfesten erschütternder Schrei löste sich und sie ließ in los. Die Welt hatte aufgehört, sich zu drehen, für sie jedenfalls. Dann sackte sie über Hans zusammen. Als sie wieder zu sich kam, sah sie ihren Nachbarn von gegenüber. Er hatte diesen markerschütternden Schrei gehört und da er einen Schlüssel für alle Fälle hatte, genau wie sie für seine Wohnung, war er herübergekommen, um nach ihr zu sehen. Er war ebenso betroffen wie sie. Aber er war dennoch in der Lage, das Heft in die Hand zu nehmen. Zuerst lagerte er Kirstin auf der großen, gemütlichen Couch und dann rief er den Hausarzt an. Der sollte den Tod amtlich machen und sehen, was er für Kirstin tun konnte, die ganz offensichtlich einen tiefen Schock erlitten hatte. Sie lag auf der Couch, starrte an die Decke und bewegte sich ansonsten kaum. Der Arzt gab ihr ein starkes Beruhigungsmittel, damit sie zumindest die Nacht durchschlafen konnte. Morgen würde man weitersehen müssen. Wenn man Kirstin hätte fragen können, hätte sie wohl gesagt, dass es für sie kein Morgen geben würde. Ihre Welt hatte an diesem Tag aufgehört, sich zu drehen. Wer wollte es ihr verdenken? Jeder, der die Liebesgeschichte von Editha und Hans kannte, wusste, wie grausam dieser Schicksalsschlag war. Ihre Liebe dauerte vom ersten Augenblick ihres Kennenlernens, das wie ein Wiedererkennen war, bis zu Hans letzten Atemzug. Und für Editha endete sie auch damit nicht, denn für diese Liebe war ein Leben nicht genug. Sie hatten sich immer geliebt, sie liebten sich und sie würden es noch in vielen weiteren Leben tun. Darin bestand der einzige

Trost, aus dem Editha würde schöpfen können.

Doch noch war sie weit davon entfernt, in irgendetwas Trost zu finden.

Zwei

Der Schock hatte Kirstin fest im Griff. Der Arzt wollte sie gern in ein Krankenhaus einweisen, aber Elmo, der beste und langjährigste Freund von Editha und Hans, sowie Caroline Webster, die ihren musikalischen Durchbruch der Unterstützung von Hans zu verdanken hatte, wie sie selbst immer wieder betonte, verhinderten das. Die beiden waren ihre Familie und kümmerten sich nun, in dieser noch nie dagewesenen Katastrophe um sie. Sie kümmerten sich auch um all die unvermeidlichen organisatorischen Dinge, die auch oder gerade im Todesfall so wichtig zu sein schienen. Elmo war sogar bei ihr eingezogen, um Tag und Nacht für sie da zu sein. Kirstin schien von alledem nichts mitzubekommen. Sie dämmerte vor sich hin, aß, wenn man ihr etwas vorstellte und schlief, wenn es dunkel wurde. Der Arzt meinte, dass sei die beste Therapie. Der Körper und auch ihr Geist mussten Zeit bekommen, mit allem fertig zu werden. Ihre

Freundschaft war jetzt besser als jede Medizin. Als Elmo ihn fragte, ob es normal sei, dass Kirstin noch nicht eine Träne der Trauer vergossen hatte, antwortete der:

„Ja, das ist es. Um Trauer zu empfinden und Tränen vergießen zu können, muss sie erst einmal akzeptieren, was passiert ist. Das dauert aber seine Zeit.“

Der Tag der Beisetzung rückte immer näher und Kirstin befand sich immer noch in einem fast katatonischen Zustand. Elmo und Caroline machten sich Sorgen deswegen. Es käme ihrer Meinung nach einer weiteren Katastrophe nah, wenn sie sich nicht von Hans verabschieden konnte, wenn sie eines Tages begriff, dass ihr Hans nicht nur nicht mehr da ist und nie wieder kommen würde, sondern dass sie auch noch seine Besetzung versäumt hatte. Wie sollte sie da jemals loslassen können?

Caroline meinte: „Weißt du Elmo, wenn ich mir vorstelle, dass dies alles mir passieren würde, wünschte ich vermutlich, dass ich alles festhalten könnte, was mich je mit dem Menschen verbunden hat, den ich so sehr liebte. Und was wäre da besser geeignet als seine Musik?“

Elmo sah sie an und nickte. Er verstand sofort, was sie meinte. Wenn etwas Kirstin wieder ins Hier und Jetzt zurückholen konnte, dann war es die Musik von Hans. Allerdings wussten sie auch nicht, wie sie es anstellen sollten, damit sie Kirstin nicht überforderten und vielleicht das Gegenteil von dem, was sie wollten, erreichten. Elmo meinte, dass man über Träume ins Unterbewusstsein gelangen konnte, oder so ähnlich. Also entschlossen sie sich, ihr ganz leise, während Kirstin schlief, die sanftesten Songs von Hans vorzuspielen. Gerade so laut, dass sie nicht erwachte, aber die Stimme von Hans sie über Träume oder so erreichen konnte. Während sie das taten, würden sie Kirstin nicht aus den Augen lassen, um zu erkennen, ob es ihr guttat oder vielleicht doch eher schadete.

Caroline übernahm die Aufgabe, die Vielzahl der Songs nach den geeigneten Titeln zu durchsuchen. Es mussten nicht viele sein, aber sie sollten eine Bedeutung für Kirstin haben. Was lag da näher als „Die Liebe meines Lebens“ oder „Kirstins Blues“? Als Elmo und Caroline der Meinung waren, dass genau diese Songs infrage kamen, bereitete Caroline alles vor, während Elmo mit Kirstin in ihren Märchenwald ging und sich mit ihr gemeinsam in die Sonne setzte.

Als Kirstin an diesem Abend eingeschlafen war, betätigte Caroline die Anlage und ganz leise erklang die Musik, erklang die Gitarre von Hans und auch seine Stimme aus den Boxen. „Die Liebe meines Lebens“ erklang. Elmo musste sofort eine Träne aus dem Augenwinkel wischen. Er hatte die Liebesgeschichte zwar nicht von Anfang an miterlebt, war aber dennoch der älteste Zeuge. Er hat über Jahrzehnte dieses Wunder einer nicht enden wollenden Liebe begleitet. Ihm war vielleicht noch am ehesten klar, was der Tod von Hans mit Kirstin machte.

Caroline konnte nicht glauben, was sie nun sah. Bereits nach wenigen Klängen dieses schicksalhaften Liebesliedes entspannten sich die Gesichtszüge von Kirstin. Sie wurden weich und beinahe hätte man glauben können, dass Kirstin lächelte. Sie hatten offenbar richtig vermutet; die Musik, die Stimme ihres geliebten Mannes und seine Gitarre konnten den Panzer durchbrechen, der Kirstin gefangen hielt. Mit Erstaunen sahen die beiden Freunde, dass neben dem leichten Lächeln auch eine kleine Träne ihren Weg unter den geschlossenen Augenlidern auf ihr Gesicht fand. Alles würde gut werden. Kirstin würde es schaffen.

Drei

Hans stand vor ihr und lächelte. Im Hintergrund, irgendwo, hörten sie ihr Lied - „Die Liebe meines Lebens“. Sie nahm seine ihr entgegen gestreckte Hand und ließ sich in seine Arme ziehen. Dann tanzten sie. Sie roch den vertrauten Duft, sein Bart kitzelte sie leicht an der Schläfe. Es war wunderschön. Als die Musik endete, verschwand auch Hans. Sie wollte ihn festhalten, sie wollte noch weiter tanzen, aber er verschwand vor ihren Augen und dann wurde sie wach. Als sie die Augen langsam öffnete, weil ihr bewusst wurde, dass sie nur geträumt hatte, sah sie Elmo vor sich sitzen und ohne Vorwarnung landete sie in der Gegenwart. Hans war tot, sie war allein. Ohne ihr Zutun liefen Tränen aus den Augenwinkeln. Sie weinte. Sie fühlte sich, als wäre sie in einem Albtraum gefangen. Nun erwachte sie und der Albtraum wurde zu ihrer Realität. Doch, da war ein Traum gewesen. Sie hatte mit Hans getanzt, das allein konnte nur ein Traum gewesen sein, weil Hans nicht tanzte. Auch nicht mit ihr. Sie hatte ihn gerochen und gespürt. Sie wollte in diesen Traum zurück. Aber das ging nicht. Durch tränennassen Augen sah sie Elmo an und dann konnte sie sich nicht mehr halten. Sie weinte um ihre Liebe, ihren Mann, ihre verlorene Jugend, ihr vergangenes Leben, egal, sie weinte um sich selbst. Elmo hatte sich zu ihr heruntergebeugt und hielt sie so gut es ging im Arm. Er flüsterte ihr immer wieder ins Ohr:

„Ist ja gut, lass die Tränen laufen, lass sie laufen“, oder so ähnlich.

Selbst wenn sie gewollt hätte, die Tränen waren nicht aufzuhalten. Irgendwann versiegten sie aber doch und es blieb nur der Schmerz. Ein Schmerz, der eine nie dagewesene Dimension angenommen hatte. Was hätte sie darum gegeben, wenn ihr Geist wieder in diese bodenlose Leere gleiten könnte, in dem er dank der Medikamente ihres Arztes lange Zeit abgetaucht war. Aber ihr Verstand war klar. Kein seliges Vergessen war ihr vergönnt. Hans und sie waren gefühlt ihr ganzes Leben zusammen gewesen, haben immer alles gemeinsam gemacht oder haben zumindest den anderen unterstützt, wenn er es allein tun musste und jetzt? Die allerschwerste Aufgabe, vor der sie je gestanden hatte, musste sie allein bewältigen. Sie fragte sich, warum sie nicht auch starb. Alles in ihr war zerrissen. Wie kann ein Mensch da weiterleben? Und morgen sollte die Beisetzung sein. Wie um Himmelswillen sollte sie das schaffen?

Der Tag, vor dem sie sich so sehr fürchtete, begann wie immer: für andere vielleicht, aber nicht für sie. Sie lag in dem großen breiten Ehebett, mit dem Gesicht zum Fenster. Die Sonne war bereits aufgegangen und versprach ihr Bestes zu tun, um ihn schön werden zu lassen. Sie sah es nicht. Sie wagte auch nicht, sich im Bett auf die andere Seite zu drehen. Wenn sie es täte, sähe sie nur die leere Betthälfte, das unbenutzte Kopfkissen, das glatt gestrichene Laken. Nein, das konnte sie nicht, das war einfach noch zu viel. Also stand sie auf, ohne auf das leere Bett zu sehen. Caroline saß bereits am Küchentisch, eine große Tasse dampfenden Kaffee vor sich. Als sie Kirstin sah, fragte sie, ob sie auch eine wollte. Kirstin nickte. Gott sei Dank fragte sie nicht, wie es ihr ging. Was sollte sie darauf schon antworten? Wenn sie den heutigen Tag überstand, hoffte sie sehr, dass sie dann endlich Ruhe hätte. Sie wollte sich der Trauer hingeben und wollte mit Hans reden. Sie konnte ihn in ihren Gedanken hören und sehen. Ihre Fantasie schaffte es sogar, dass sie manchmal seine Hände auf ihren Körper spüren konnte. Nicht lange, nur wenige und kurze Momente, aber schon diese Augenblicke halfen ihr. Sie konnte weinen und sie wusste nicht wieso, sie konnte sogar lachen, wenn sie das Gefühl hatte, dass er bei ihr war und sie gemeinsam an längst vergangene lustige Begebenheiten in ihrem Leben dachten. Das alles war besser, als ständig durch nett gemeinte Anrufe oder Beileidsbekundungen an diese grauenhafte Tatsache erinnert zu werden, dass sie die Liebe ihres Lebens, ihre andere Hälfte, den wertvollsten Teil ihres Lebens für immer verloren hatte.

Nur Elmo und Caroline konnte sie um sich ertragen. Sie bemitleideten sie nicht, sie versuchten nicht, sie mit platten Sprüchen zu trösten. Sie fühlten ihren Schmerz, weil es ihnen ähnlich erging. Sie würden sie heute durch den Tag tragen. Auf sie konnte sie sich verlassen, sie würden sie abschirmen. Abschirmen vor der Presse, vor den Fans oder einfach nur den sensationsheischenden Zuschauern, die hofften, dass sie zusammenbrechen würde. Das wird nicht geschehen, nahm sie sich ganz fest vor.

Und dann war es so weit. Elmo und Caroline begleiteten sie zum Auto und ab da konnte sie sich an fast nichts mehr erinnern. Sie wusste nur noch, dass sie auf den Sarg stierte und sich immer vorstellte, dass Hans darin lag. Sie glaubte, das war das Schrecklichste an diesem schrecklichen Tag. Der Körper, den sie fast so gut kannte, wie ihren eigenen, lag da in dieser Kiste und war eiskalt. Mit diesem Bild vor Augen litt sie körperliche Qualen. Kirstin brauchte all ihre Kraft, um die Mauern, die sie um sich errichtet hatte, aufrechterhalten zu können. Was dann am Grab geschah, wusste sie danach nicht mehr. Sie war wie betäubt. Später erfuhr sie, dass Caroline Angst hatte, sie könnte das Defilee der Trauergäste nicht durchstehen und sie sie einfach zum Auto gebracht hat. Zu Hause angekommen, war sie wieder in eine Art Schockzustand gefallen. Caroline hat ihr dann eine Beruhigungspille gegeben und sie ins Bett gebracht.

Am nächsten Morgen wusste Kirstin, dass sie von nun an ohne Hans auskommen musste, dass er weg war, für immer. Nein, nicht für immer. Nur, bis sie sich in einem neuen Leben wiedersehen würden. Für ihre Liebe war ein Leben nicht genug. Daran würde sie sich festhalten.

Vier

Caroline wollte Kirstin eigentlich noch nicht allein lassen. Erst, als diese ihr versicherte, dass sie klarkommen würde und sie sich davon überzeugt hatte, weil sie Kirstin bei der Gartenarbeit überraschte, fuhr Caroline auch mal wieder in ihre Wohnung. Kirstin wollte sie nicht weiter in Beschlag nehmen, denn auch Caroline hatte ein Leben und vor allem eine Karriere. The Show must go on.

Sie freute sich über das schöne Wetter und der Garten war zu ihrem Lieblingsort geworden. Hier war Hans und ihr Märchenwald, hier konnte sie die Anwesenheit von Hans fast körperlich spüren. Es fiel ihr nicht schwer, ihn neben mir auf der Bank zu wissen. Nur hinsehen durfte ich nicht, denn da war dann nur der leere Platz. Sie unterhielt sich mit ihm, erzählte ihm von ihrem Tag und er antwortete ihr, gab ihr Ratschläge oder lachte mit ihr über eine besonders lustige Episode. Sie war auf einem guten Weg, über diesen entsetzlichen Verlust hinwegzukommen.

Kirstin war noch ganz in Gedanken versunken, als sie die Haustürklingel hörte. Sie sah sn sich herunter und musste lächeln. Die offenen Gartenschuhe hatten natürlich nicht verhindern können, dass ihre Füße schmutzig waren; ihr Haar hing ihr wirr um den Kopf und auch ihre Hände sahen richtig nach Gartenarbeit aus. Da sie keine Gartenhandschuhe anzog, blieb so etwas nicht aus. Dennoch stand sie auf und ging um das Haus herum, damit sie nicht durch das Haus musste.

Frederick stand vor der Tür. Über seinen Besuch freute sich Kirstin immer besonders. Er war ein junger Mann, sechzehn oder vielleicht auch schon siebzehn und der Sohn von zwei lieben Freunden, die zu den treuesten Fans von Hans zählten. Ich rief ihn also und er kam mit offenen Armen auf mich zu. Heute trug er sein langes, welliges, blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Wenn er es offen trug, sah er mit seinen blauen Augen aus wie ein Engel. Seine Gesichtszüge waren weich und das Mädchen wollte ich sehen, welches ihm widerstehen konnte, wenn er sich für sie interessierte. Aber davon war er weit entfernt. Alles, was er wollte, war Musik machen.

„Na mein Junge? Was liegt an?“ Dabei hielt sie ihm ihre Wange hin, die er wie immer küsste.

Frederick war der Sohn, den Hans und sie leider nie hatten. Er war außerdem ein außerordentlich begabter Musiker – Gitarre, Saxophon, Schlagzeug, Klavier und Flöte – und ein ausgezeichneter Komponist und Texter. Beinahe hätte er sein Talent nicht ausbilden lassen können, weil seine Eltern, mit ihren insgesamt drei Kindern, nicht in der Lage waren, die Kosten für das Konservatorium, mit allem, was dazugehörte, zu tragen. Hans war aber so sehr von Frederick beeindruckt, dass er ohne viel Federlesens die Kosten übernahm. Frederick und auch vor allem seine Eltern waren ihnen beiden dafür sehr dankbar und Frederick gehörte seitdem zur Familie.

„Komm mit nach hinten. Du siehst ja, ich buddele ein wenig rum. Willst du die Gitarre ins Haus stellen?“

„Ja, ich möchte dir nachher was vorspielen, deswegen bin ich hauptsächlich heute hier. Und natürlich, um dich zu besuchen“, fügte er verschmitzt hinzu. „Wie geht es dir?“

„Ach, na ja, eigentlich relativ gut. Der Garten ruft, die Vögel tirilieren, die Blumen blühen, was will man mehr? Hast du Lust auf eine Tasse Kaffee oder Tee, hast du schon etwas gegessen? Ich habe noch Eintopf von heute Mittag.“

„Eintopf, was für einen? Graupen etwa?“ „Mhm, mhm. Magst du?“

„Ja klar, du weißt doch, dafür würde ich meine Gitarre versetzen.“

Kirstin musste lachen: „Na, na, nicht die Gitarre. Dafür spielst du mir nachher etwas vor. Ich bin schon richtig gespannt. Was ist es denn?“

„Ich habe einen Song geschrieben, nur für Gitarre, diesmal ohne Text. Der soll für meine Zwischenprüfung sein. Mal sehen, was du dazu sagst.“

Sie gingen zusammen in die Küche. Frederick stellte seinen Gitarrenkoffer an seinen Stammplatz, den er von Anfang an ausgewählt hatte. Kirstin wärmte inzwischen die Graupensuppe auf. Danach gingen sie in den Garten. Die Sonne hatte sich ein wenig hinter die hohen Bäume verzogen und so konnte man es gut aushalten.

„Wie geht es deinen Eltern? Ich müsste sie wirklich mal wieder anrufen.“

„Ja, denen geht es ausgezeichnet. Sie wollte sich auch schon öfter bei dir melden, aber sie wussten nicht, wie es dir geht, wegen Hans und so.“ Er schwieg und sah sie von der Seite an. „Kommst du klar?“

„Ja, ich muss ja, aber es wird auch immer besser. Du kannst deinen Eltern also gern ausrichten, dass ich mich sehr über einen Besuch freuen würde. Sie sollen mich nur vorher anrufen, damit ich etwas salonfähiger als heute bin.“ „Wieso? Du siehst doch gut aus, wie immer.“

Sie musste lachen und gab ihm einen Klaps an den Hinterkopf: „Du sollst eine alte Frau nicht veralbern“, sagte sie und über sein Gesicht, das völlig ahnungslos aussah, huschte ein jungenhaftes Lächeln. Es war gut, ihn um sich zu haben.

Frederick hatte mit gutem Appetit seinen Teller leer gegessen. Nun sagte er ganz aufgeregt:

„Das hat wieder mal richtig gut geschmeckt. Nun bin ich satt bis oben hin“, dabei streichelte er zufrieden über seinen flachen Bauch.

Dann nahm er ihre Hand und zog sie ins Haus. Er nahm seinen Gitarrenkoffer und sah ganz aufgeregt zu Kirstin. Im Studio knipste er die Beleuchtung an, dimmte sie ein wenig, nahm die Gitarre aus ihrem samtenen Bett, schloss sie an die Anlage an, spielte ein paar Akkorde und sagte dann:

„Pass auf, Kirstin, ich möchte dich nicht überfordern, deshalb sage ich es dir lieber vorher. Diesen Song habe ich angefangen zu schreiben, kurz nachdem Hans verstorben war. So konnte ich die Tatsache, dass er einfach nicht mehr da sein sollte, noch am ehesten kapieren. Es sind ein paar wenige Passagen drin, die von ihm stammen. Du wirst sie erkennen. Der Song heißt „Blues für einen Freund“. Wenn du es also doch nicht hören willst oder es noch nicht kannst, habe ich Verständnis dafür und spiele ein anderes Stück“, dabei sah er sie fragend, mit schief gelegtem Kopf an. Kirstin nickte und antwortete dann aber, dass sie es gern hören wollte.

Sein Gitarrenspiel ließ vor Kirstins geschlossenen Augen eine Bildfolge entstehen. Sie sah Hans auf der Bühne, sah ihn aber auch bei sich zu Hause. Es folgte eine ruhige, kleine Melodie, die im Kontrast zum kraftvollen Auftakt stand. Sie erkannte natürlich Teile aus „Kirstins Blues“, aus „Summer Love“ und vor allem aus „The Love of my Life“. Tief beeindruckt lauschte sie diesem Jungen, der es verstand, ihr ihren Mann, ja fast ihr ganzes Leben mit ihm, vor Augen zu führen. Sicher, sie war fantasiebegabt, aber diese Musik machte es ihr auch nicht schwer. Seine Musik, ihr gemeinsames Leben und ihre Liebe waren ja nie auseinanderzuhalten. Das Ganze war eine Einheit. Nach ein paar Minuten war es vorbei und Kirstin öffnete die Augen wieder. Eine kleine Träne stahl sich aus dem Augenwinkel. Frederick kam zu ihr und fragte, ob alles in Ordnung sei. Mit ehrlichem Herzens antwortete sie, dass sie sehr glücklich war und ihm sehr dankte.

„Du hast das Wesen von Hans in dieser Musik gebannt. Ich danke dir. Es war unbeschreiblich. Aber sag mal, noch ziemlich am Anfang, nach diesem kraftvollen Auftakt war so eine ruhige Stelle, was war das?“

„Ha“, machte er, „dass du das bemerkt hast. Das war ich. Du weißt ja, dass Mutti und Vati so total auf Hans und „Paradox“ abgefahren sind. Da bin ich also fast mit dieser Musik aufgewachsen. Die gehörte zu meiner frühesten Kindheit. Da musste ja was hängen bleiben.“ Über sein Gesicht erblühte ein breites Grinsen. „Als ich die Musik und vor allem die Männer auf der Bühne das erste Mal live erlebt habe, war es um mich geschehen. Ich wusste es zwar selbst noch nicht, aber ich denke, damals hat das angefangen, dass ich unbedingt so sein wollte wie Hans. Ich freue mich so, dass mein Traum durch euch möglich werden konnte.“

Er küsste mich auf die Wange und sah mich mit großen glücklichen Augen an. Er strahlte regelrecht von innen.

„Diesen Traum hast du dir ganz allein erfüllt. Na gut, einen Großteil des Erfolgs kann man deinen Eltern oder Vorfahren insgesamt zuschreiben, denn ohne dein Talent wäre alles umsonst. Aus Nichts kann man nichts machen. Hans wäre so stolz auf dich.“

„Ja, das stimmt schon, aber wenn ihr beide nicht das Geld gegeben hättet, würde ich irgendwie, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll – dilettantisch ist wohl das richtige Wort. Ja, wie ein Dilettant würde ich auf der Gitarre rumschruppen. Dazu machte er Luftbewegungen, als hätte er eine Gitarre im Arm. Kirstin musste bei dieser Vorstellung lachen.

„Ja“, fuhr er fort, „erst vor ein paar Wochen musste man so einen kleinen Bengel wegschicken, obwohl dem das Talent aus den Ohren kam. Seine Mutter ist alleinerziehend und da ist sowas wie die Musikschule eben nicht drin.“ „Das ist ja schrecklich“, entfuhr es Kirstin.

Dann saßen sie ein Weilchen schweigend da. Schließlich meinte Frederick, dass er nun mal wieder verschwinden wollte, er war noch mit einem Kumpel verabredet. Bevor er das Haus verließ, bot er Kirstin noch an, dass er in den nächsten Tagen vielleicht nochmal vorbeikommen und ihr dann seinen Song auf eine CD überspielt schenken könnte. Wenn ich wollte – natürlich wollte sie.

Dieser Tag, angefangen mit einem wunderschönen Morgen, fortgeführt mit schweißtreibender Gartenarbeit und vor allem durch den Besuch von Frederick, war seit langem mal wieder ein glücklicher Tag gewesen. Darüber war Kirstin sehr froh, zeigte es ihr doch, dass sie stärker wurde. In Gedanken wandte sie sich in Gedanken an Hans und sagte:

„Alle Freunde zusammen können dich nicht ersetzen, aber sie stärken mich. Mach dir keine Sorgen, ich schaffe das.“

In den nächsten Tagen wollte ihr die Geschichte vom „kleinen Bengel“, mit dem Riesentalent nicht aus dem Kopf gehen. Wie viele Talente gab es noch, die aus irgendeinem Grund nie zu voller Größe gedeihen können, weil das verfluchte Geld fehlt. Da muss doch was zu machen sein. Ja, gut, sie konnte auch diesen kleinen Mann als Patin unterstützen, aber das löste doch das Problem nicht. Während sie den Staubsauger schwang, drehten sich die Gedanken weiter und weiter, aber es kam nichts dabei heraus. Jedenfalls nichts, dass sie zufriedenstellte. Nachdem die wenige Hausarbeit geschafft war, entschloss sie sich, heute einen Spaziergang zu machen. Sie kam viel zu wenig raus. Frische Luft hatte sie im Garten vor der Tür und ansonsten war sie einfach zu faul geworden. Viel zu selten holte sie ihre Sportmatte hervor und machte ca. eine halbe Stunde Gymnastik, Muskelaufbau usw., aber an die Zeit, in der der Sport zu ihrem Alltag gehörte, kam sie bei Weitem nicht mehr heran. Es fehlten einfach die Lust und der Elan.

Ehe sie sich versah, war sie auf dem Weg und erkannte, dass sie ihre Schritte ohne ihr bewusstes Zutun auf den Weg zum Friedhof leiteten. Warum nicht? Dort ist es ruhig und schön. Mittlerweile war dies für sie auch kein Ort der unendlichen Trauer mehr. Kirstin hatte dort auch nicht das Gefühl, ihrem Hans besonders nah zu sein, wie das viele Hinterbliebene empfanden. Er war immer und überall bei ihr. Am Eingang kaufte sie noch einen Strauß Blumen und dann schlenderte sie zum Grab.

Trotz meiner festen Überzeugung, dass ich über die Trauer hinweg war, konnte ich das Gefühl nicht verhindern, das mir wieder mal deutlich zeigte, dass ich allein war.

Nachdem ich die Blumen vor den Grabstein drapiert hatte, räumte ich noch die verblühten Sträuße ab. Dabei überkam mich ein dankbares Gefühl. Auch die Fans hatten Hans nicht vergessen. Immer wieder waren auch Kuscheltiere oder Bilder von ihm, mit und ohne Gitarre, auf dem kleinen Beet abgelegt. Dieses Grab war zu einer kleinen Pilgerstätte geworden. Nachdem sie ihre routinemäßige Säuberungsaktion beendet hatte, setzte sie sich auf die kleine Bank, die zu ihrem Bedauern zwar zu weit von Hans' Grab weg stand, aber sie wollte noch ein wenig ihren Gedanken nachhängen. Wie sie das immer tat, teilte sie die im Kopf mit Hans. Ohne Frage drängte sich natürlich das Problem mit dem fehlenden Geld für den Jungen und für wen auch sonst noch in den Vordergrund. Es war eigentlich wie immer. Hans hörte ihr zu, sie erzählte und dann wartete sie, ob er ihr eine Antwort geben würde.

Dass sie sich die Antworten ehrlicherweise immer nur selbst geben konnte, spielte dabei keine Rolle. Für sie war es Hans, der ihr half. Deshalb war sie auch nicht sonderlich erstaunt, als sie Hans’ Stimme in ihrem Kopf hörte. Was er sagte, war so einfach wie logisch:

„Ja, da musst du etwas tun. Hast du schon mal an eine Stiftung gedacht?

Eine Stiftung? Natürlich hatte sie schon von Stiftungen gehört, und auch wenn sie nicht wusste, wie genau so etwas funktioniert, erschien ihr dies der erste brauchbare Gedanke zu sein. Plötzlich hatte sie es besonders eilig. Sie wollte so schnell wie möglich wissen, was sie alles tun musste, wo sie Rat her bekam usw. Wo sollte sie anfangen? Wer konnte ihr sagen, was sie wissen musste? Kirstin hatte keine Ahnung.

Aber sie hatte natürlich das World Wide Web. Als sie endlich zu Hause war, gab sie sofort den Suchbegriff „Stiftung gründen“ ein und siehe da, sie bekam Antworten, die sie weiterbrachten. Nachdem sie alles durchgelesen hatte, was ihr wichtig erschien, entschied sie sich für eine Treuhandstiftung mit ihr als Treuhänderin. Dann machte sie einen Termin mit ihrer Bank, damit sie sich mal wieder einen genauen Überblick verschaffen konnte und sich natürlich auch beraten ließ. Danach zum Finanzamt, weil Ordnung ja sein muss. Na ja, und dann kann es losgehen, dachte sie.

Ganz so einfach war es dann doch nicht. Deutsche Bürokratiemühlen mahlen eben gründlich und sehr langsam. Aber dann war mein Projekt doch eines Tages fertig und Kirstin konnte mit dem Konservatorium gemeinsam diese Stiftung mit Leben erfüllen. Sie hatte dank des Erbes von Hans eine beachtliche Summe für diese Stiftung aufbringen können und nun musste noch festgelegt werden, wer unter welchen Bedingungen für ein Stipendium aus dieser Stiftung infrage kam. Die Fachleute vom Konservatorium hatten ihr einige Vorschläge unterbreitet und jetzt wollten sie gemeinsam entscheiden. In diesem Jahr waren es nicht so viele Anwärter, da einige Eltern bereits von vornherein wussten, dass sie das nicht stemmen konnten und deshalb ihre Sprösslinge gar nicht erst versuchten, anzumelden.

Der Junge, der durch Fredericks Äußerung das hier in Gang gesetzt hatte, war ebenfalls mit dabei. Er hieß Timmy. Timothy, um genau zu sein, war 11 Jahre alt und spielte Gitarre. Dazu wollte er noch lernen, wie man arrangiert. Seine Eltern waren dem Gremium sehr dankbar und Timmy hatte rote Ohren vor Aufregung. Sie stachen unter seinen blonden Locken regelrecht hervor. Er war eigentlich ein sehr introvertiertes Kind, aber weil er nun doch lernen konnte, „wie es richtig geht“ – das waren seine Worte – brach die Freude und Begeisterung regelrecht aus ihm heraus.

An diesem Abend ging Kirstin glücklich und zufrieden ins Bett. Nachdem sie Hans alles bis ins Kleinste geschildert hatte, schlief sie tief und fest ein und erwachte pünktlich zum Konzert der Vögel in ihrem Garten in den frühen Morgenstunden.

Sechs

Ehe sich Kirstin versah, war sie stark in die Angelegenheiten des Konservatoriums involviert. Sie hätte es nicht gemusst, aber es interessierte sie schon sehr, wie es mit „ihren“ Schützlingen voranging. So hatte sie einmal während einer Unterrichtsstunde bei Timmy Mäuschen gespielt oder war zu einer Probe gegangen, die die Band, die Frederick um sich geschart hatte, durchführte. Also, was sie da zu sehen und zu hören kriegte, brauchte sich hinter nichts und niemanden zu verstecken. Für alle galt, dass sie musikverrückt waren, dass sie absolute Könner an ihren Instrumenten waren oder bald sein würden und eine gemeinsame Richtung verfolgten, und zwar die nach oben. Kirstin war schwer beeindruckt. Zwar war der Musikstil ein anderer als der von Paradox damals, aber das brachte die Zeit so mit sich. Es war immer noch Rock und Blues, aber moderner. Frederick verriet mir, dass sich ihre derzeitige Richtung am Prog Rock orientierte. Was auch immer das sein sollte, es stellte sehr hohe Anforderungen an das Können jedes Einzelnen und gefiel ihr sehr gut. Auch beim Direktor ließ sie sich des Öfteren mal sehen, um zu hören, wie er die Entwicklung einschätzte. Es lief alles bestens. Es ist ein verdammt schönes Gefühl, wenn man für sein Geld eine sinnvolle Verwendung gefunden hat und das Ergebnis einen bestätigt. Was sie aber am Allermeisten zufriedenstellte, war, dass sie dafür sorgen konnte, dass Hans und sein Werk, sein Talent und seine Liebe zur Musik nicht in Vergessenheit geraten würden. Es wird immer wieder gute und sehr gute Musiker geben, die auf seinen Spuren und in seinem Geist weitermachen würden. Mittlerweile gab es Revival von vielen seiner Titel. Nicht alles gefiel ihr, sie würde immer die Originale vorziehen. Oftmals wurden die Songs einfach mit 0/8/15 Rhythmen unterlegt. Da konnte man zwar gut nach abtanzen, aber es hatte nichts mehr mit der Liebe zum Detail zu tun, auf die Hans so viel Wert gelegt hatte. Kirstin hatte sogar schon einmal Protest eingelegt, weil sie ja die Rechte besaß und nicht alles akzeptieren musste. Das war ein ganz schön aufwendiger Akt gewesen, hatte aber so hohe Wellen geschlagen, dass sich viele überlegten, ob sie oder wie sie die Originalsongs veränderten. Zuspruch und Ablehnung für ihr Handeln hielten sich fast die Waage. Ihre Meinung würde sie deshalb aber dennoch nicht ändern.