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Stell dir vor, du machst eine Reise und findest dabei die Liebe deines Lebens. Ihr seid füreinander bestimmt und habt gemeinsame Zukunftspläne. Doch dann kommt alles anders. Du wachst eines Tages auf und kannst dich an nichts von alledem erinnern. Nicht an die Reise und auch nicht an die Person, der du dein Herz geschenkt hast. Dein Leben ist wieder so, wie es immer war. Nur in deinen Träumen erwachen Erinnerungen und Sehnsüchte, denn Träume vergessen nie. Aber reichen Träume aus, um alles stehen und liegen zu lassen und sich auf die Suche nach jemandem zu machen, den es möglicherweise gar nicht gibt?
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Mark A. Maier
Mila!Ein Hauch von Zimt
Roman
Mark A. Maier lebt als Autor, freischaffender Musiker und Musikpädagoge mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Tirol und ist als Dozent im Tiroler Landesmusikschulwerk tätig. Neben seiner musikalischen Tätigkeit für nationale und internationale Künstler zeichnet er sich auch als Produzent für etliche CDs und Werbejingles verantwortlich. Mark A Maier schreibt Presse- und Songtexte für diverse Künstler und veröffentlichte unter verschiedenen Pseudonymen Kurzgeschichten und Kinderbücher.
Mila!Ein Hauch von Zimt
© 2021 Mark A. Maier
E-BOOK © 2021 BRINKLEY Verlag
Ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers darf kein Teil dieser Publikation in irgendeiner Form vervielfältigt, übertragen oder gespeichert werden.
Sowohl die im Buch vorkommenden Personen als auch die Handlungen sind vom Autor frei erfunden. Namen und Ähnlichkeiten mit Personen oder tatsächlichen Handlungen sind zufällig und nicht gewollt.
Satz: Constanze Kramer, coverboutique.de
Lektorat: Nora Preuß
©Umschlaggestaltung: BRINKLEY Verlagunter Verwendung von Adobe und freepiks
Gedruckt und gebunden von: SKALA PRINT
ISBN 978-3-903392-05-2
www.brinkley-verlag.at
Für Denise, Jonas & Frida
»Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir – für immer.«
(Konfuzius)
Mila hielt bereits seit Beginn der Zugfahrt Roberts Hand festumklammert und lehnte sich dabei an seine Schulter an. Ihre tiefblauen Augen schimmerten hinter einem hauchdünnen Film aus Tränen hervor und ihre Unterlippe zitterte leise, als würde sie jeden Augenblick laut schluchzend losweinen. Mit aller Kraft kämpfte sie dagegen an und versuchte, Roberts Nähe, seinen Geruch und den sanften Druck seiner Finger, die sich liebevoll um die ihren schlossen, einfach nur zu genießen, solange sie noch die Möglichkeit dazu hatte.
Doch mit jeder Minute, die verstrich, fiel es ihr schwerer und die trüben Gedanken, die Roberts Verstand inzwischen bereits zur Gänze eingenommen hatten, griffen nun auch immer mehr auf sie über und färbten ihr ansonsten so sonniges Gemüt in ein glanzloses Grau ein.
Beide starrten unverwandt auf die abgewetzte Rückseite der Sitzlehne vor ihnen und verweilten dabei, jeder für sich, in den Erinnerungen an die letzten vier Wochen. Doch nicht eine davon entlockte ihnen auch nur ein einziges Lächeln oder wenigstens ein zufriedenes Schmunzeln – ganz im Gegenteil. Jede auch noch so schöne Erinnerung bestärkte die beiden nur noch mehr in ihrer Trübheit und Traurigkeit. Während Robert dabei nicht einen Ton von sich gab, seufzte Mila immer wieder leise und der hauchdünne Film aus Tränen wuchs vor ihren Augen zu einem kleinen See heran, der drohte, allmählich über seine Ufer zu treten.
Schließlich war es dann auch so weit.
Die erste Träne löste sich und bahnte sich langsam einen Weg über Milas zierliche Nase, um am Ende ihrer kurzen Reise wie ein einzelner, einsamer Regentropfen in Roberts Schoß zu zerbersten. Mila drückte ihren Kopf noch fester an seine Schulter, fast so, als wolle sie in ihn eintauchen – mit ihm verschmelzen.
Dann schloss sie ihre Augen.
Sie wollte nichts von alldem um sie herum sehen. Keine anderen Fahrgäste, die ohnehin nichts davon ahnten, was gerade in ihr und Robert vor sich ging; keine Bildschirme, welche die nächsten Stationen anzeigten; keine Hochhaussiedlungen oder Landschaften, die in Windeseile an den Fenstern vorübersausten; und vor allem keine anderen verliebten Pärchen, die kicherten, Händchen hielten, schmusten oder auch nur gelangweilt nebeneinander saßen und auf ihre Handys starrten.
Nichts!
Sie wollte einfach nur Robert spüren und das Später noch einen Moment lang ausblenden.
Erst als der Regional Express 5814 in der Station des Amsterdamer Schiphol-Flughafens angehalten hatte, setzte sich Mila auf und wischte sich dabei eine weitere Träne aus ihrem Gesicht. Sie griff nach Roberts Hand, der bereits aufgestanden war, und ließ sich von ihm aus ihrem Sitz hochziehen. Als sich ihre Blicke dabei trafen, berührte für einen kaum wahrnehmbaren Augenblick ein winziges Lächeln ihre rosigen Lippen – doch noch vor dem nächsten Wimpernschlag war es auch schon wieder verschwunden.
Die übrigen Passagiere mit demselben Fahrtziel drängten inzwischen schon ungeduldig zu den Ausgängen und kaum, dass sich die Tore mit einem lauten Zischen geöffnet hatten, quetschte sich die erste Menschentraube auch schon hinaus auf den Bahnsteig. Robert nahm hingegen in aller Ruhe seinen blau-rot karierten Rucksack aus dem Gepäckfach, warf ihn sich über die Schultern und griff dann wieder nach Milas Hand. Er zog sie sanft aber bestimmt zu sich heran, küsste sie auf ihre Stirn und nickte ihr mit einem leisen Seufzer zu. Dann erst verließen auch die beiden gemeinsam den Wagon. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig, bevor sich die Türen hinter ihnen schlossen und der Zug seine Fahrt wieder aufnahm.
Die Welt um sie herum drängte sie.
Die Zeit wurde knapp.
Auch die Rolltreppe nach oben in die große Eingangshalle schien schneller zu rasen als gewöhnlich und ihnen kaum Luft für eine innige Umarmung zu lassen.
Ein liebevoller Kuss – für einen zweiten reichte die Zeit nicht mehr.
Es fühlte sich an, als wäre ihr gemeinsames Glück inzwischen an eine Sanduhr gebunden, deren letzte Körner es kaum noch erwarten konnten, endlich durch die Verengung des Glases zu rieseln.
Oben in der großen Bahnhofshalle angekommen durchquerten sie die verschiedenen Terminals, an denen gestresste Horden von Pendlern und Reisenden hektisch versuchten, ihre Zeitpläne einzuhalten – Rempeleien und Gedränge, wo man nur hinsah. Doch nichts und niemand konnte die beiden entzweien. Robert hielt Milas Hand fest umschlungen und sie somit dicht an seiner Seite. Sanft zog sein Daumen dabei kleine Kreise auf der weichen, hellen Haut ihres Handrückens, während ihre schmalen, langen Finger sich immer fester um die seinen schlossen, als könne sie ihn so auf ewig an sich binden und verhindern, ihn doch noch zu verlieren.
Seit sie sich vor gerade einmal vier Wochen zum ersten Mal begegnet waren, waren die beiden nicht einen Tag oder auch nur eine Nacht voneinander getrennt gewesen.
Zu Beginn hatte Robert Mila sogar noch täglich zur Arbeit gebracht, sie dann in der Mittagspause zum gemeinsamen Essen abgeholt und abends vor der kleinen Buchhandlung, in der sie seit zwei Jahren angestellt war, auf sie gewartet. Dabei hatte er ihr stets zur Begrüßung einen Becher Cappuccino überreicht, dessen weiße, luftige Schaumhaube täglich mit einer Extraportion Kakao und einem Hauch von Zimt bestreut gewesen war. Die ersten beiden Tage hatte er ihn noch aus Milas Lieblingscafé geholt, doch dann hatte er begonnen, ihn selbst zuzubereiten.
Genau wie er es von ihr gelernt hatte.
Und vor jedem ersten Schluck hatte Mila den Deckel ihres Bechers abgenommen und daran gerochen, was ihr jedes Mal aufs Neue ein genussvolles Stöhnen entlockt und dieses zauberhafte, unverwechselbare Lächeln ins Gesicht gezaubert hatte.
»Als wäre jeden Tag Weihnachten«, hatte sie ihm dabei vorgeschwärmt, als er ihr das erste Mal einen Becher Cappuccino überreicht hatte. »Und wenn du ihn selbst zubereitest«, hatte sie ihm zwei Tage später beim Frühstück in ihrer kleinen, aber gemütlichen Küche geschildert und auch augenblicklich demonstriert, »musst du nur darauf achten, dass du zuerst den Zimt auf die Milchhaube gibst. Nur ganz wenig – und ganz vorsichtig. Und dann erst streust du den Kakao darüber. Nie mit einem Löffel – immer mit bloßen Fingern. Und wie durch einen Zauber breitet sich der Duft des Zimts in dem Augenblick aus, wenn der Kakao den Milchschaum berührt. Es ist einfach wunderbar.«
Robert hatte schon dazu angesetzt, ihr zu erklären, dass die Milchhaube erst durch den grobkörnigen Kakao beginnt, mit der Luft zu reagieren, und dadurch der Duft des feinkörnigen Zimts freigesetzt wird, doch als er Milas strahlendes Gesicht gesehen hatte, die gerade noch einmal einen tiefen Atemzug des verführerischen Geruchs genossen hatte, hatte er es lieber bleiben lassen. »Wirklich wundervoll«, hatte er stattdessen bestätigt und sie dabei liebevoll angelächelt.
Schon nach wenigen Tagen hatte Mila um Urlaub angesucht. Und da Edda, die Besitzerin des Ladens, in den letzten beiden Jahren zu Milas bester Freundin geworden war, hatte dies auch auf Anhieb funktioniert und die beiden Turteltauben waren von da an rund um die Uhr zusammen gewesen – und Mila hatte keine Sekunde davon ungenutzt verstreichen lassen.
Sie hatte Robert tagtäglich in einen anderen Winkel ihrer geliebten Stadt entführt und ihm dabei nicht nur Amsterdam sondern auch ihr eigenes Leben nähergebracht. Zu beinahe jedem Platz, jeder Gasse und zu allen nur erdenklichen Sehenswürdigkeiten, die sie passiert hatten, hatte sie Geschichten aus ihrer Vergangenheit zu erzählen gewusst. Sie waren zwar nicht immer ganz passend gewesen und hatten auch nicht immer vollends der Wahrheit entsprochen, da Mila in ihren Ausschmückungen immer wieder den sprichwörtlichen Boden unter ihren Füßen verloren hatte, aber sie hatten Robert stets zum Lachen gebracht und er hatte jedes einzelne Wort ihrer fantastischen Geschichten genossen – egal wie unglaublich und absurd sie manchmal auch gewesen waren.
Bei einem ihrer täglichen Stadtrundgänge hatte Mila Robert in einer der engen Gassen sogar dazu gebracht, mit ihr zu den Klängen eines englischen Straßenmusikers, der völlig in seiner Interpretation von Hey Jude aufging, zu tanzen. »Die sind doch nur neidisch«, hatte sie ihm dabei ins Ohr geflüstert, als sie Roberts panischen Blick bemerkt hatte, nachdem sie sich wie aus dem Nichts mit ihm zu drehen begonnen hatte und die ersten Passanten ihnen plötzlich mehr Aufmerksamkeit als dem Musikanten geschenkt hatten. Für Robert, der sich Fremden gegenüber für gewöhnlich immer etwas bedeckt hielt, hatten sich diese ersten Tanzschritte nahezu so angefühlt, als würde er völlig nackt durch die brechend volle Fußgängerzone laufen. Doch mit jedem Ton, der ihren Tanz begleitet hatte, mit jeder Drehung, die sie über den Asphalt hatte schweben lassen, und mit jedem Lachen, das dabei über Milas Gesicht gehuscht war, waren Roberts Hemmungen mehr und mehr verflogen. Er hatte sogar begonnen, es zu genießen, sich wohl und lebendig zu fühlen und immer mehr eins mit dieser wundervollen Frau zu werden, die ihre Arme dabei sanft um seinen Nacken geschlungen hatte – bis es irgendwann überhaupt nur noch sie und ihn gegeben hatte.
Auch Mila, für die der Tanz aus purer Lebensfreude heraus begonnen hatte, hatte gespürt, wie sich mit jeder Sekunde, in der sie sich gemeinsam drehten, lachten und nach und nach immer mehr miteinander verschmolzen, alles um sie herum verändert hatte.
Die Welt war zwar noch da aber nicht mehr dieselbe gewesen, als wären sie mit einem ihrer Tanzschritte, ohne es zu merken, in einen dieser kitschigen Filme der sechziger Jahre eingetaucht, in dem ein Happy End vorprogrammiert war. Die Welt war plötzlich keine Herausforderung mehr gewesen, die es zu bewältigen galt, sondern zu einem Geschenk geworden – einer Bühne, die ihnen nicht mehr vorgeschrieben hatte, was es auf ihr zum Besten zu geben galt. Sie war zu einer Plattform geworden, auf der alles möglich und erlaubt gewesen war.
Sie waren frei gewesen.
Frei von aller Last und allem Druck.
Frei, ganz und gar sie selbst zu sein.
Frei, zusammen eins zu werden.
Immer noch beflügelt von diesem Gefühl hatte Mila Robert anschließend sofort in einen kleinen Supermarkt am Rembrandtplein gezerrt. Robert war ganz benommen gewesen und hatte immer noch nicht recht fassen können, was er gerade vor den Augen unzähliger Menschen getan hatte.
Er hatte getanzt – einfach so.
Am Eingang zum Supermarkt hatte Mila ihm sofort einen dieser kleinen Metalleinkaufskörbe in die Hand gedrückt.
»Lass uns alles nehmen, worauf wir Lust haben«, hatte sie gesagt. »Wein, Käse, Obst, Schokolade. Pack einfach alles ein.«
Zwei vollgefüllte Papiertüten später hatten sie den Laden auch schon wieder verlassen.
»Und jetzt?«, fragte Robert.
»Auf zum Strand«, erwiderte Mila strahlend. »Ich will picknicken – und mit dir alleine sein.«
Und das hatten sie dann auch getan. Ganz alleine. Abseits vom Trubel der Stadt. Nur er und sie.
Doch das Essen hatten sie kaum angerührt. Sie hatten sich stattdessen im kniehohen Gras geliebt – immer und immer wieder, bis sie im Schein des Vollmondes, begleitet vom Rauschen des Meeres, engumschlungen auf einer der Dünen eingeschlafen waren.
Ein wundervolles Ereignis hatte das andere gejagt. Doch ihre gemeinsamen Tage waren einfach viel zu kurz gewesen, um all das Herrliche und diese Magie, die hinter all dem zu stecken schien, uneingeschränkt genießen zu können. Die Realität hatte nie lange auf sich warten lassen und jeder neue Sonnenaufgang war immer mehr zu einer mahnenden Erinnerung an das unausweichliche Ende ihrer Zweisamkeit geworden.
Am Beginn ihrer dritten gemeinsamen Woche hatte Roberts bevorstehende Abreise – obwohl bis dahin noch gut zwei Wochen Zeit gewesen waren – bereits einen derart mächtigen Schatten über ihren gerade erst langsam entstehenden Alltag geworfen, dass all das Schöne, das sie erlebten, kaum noch im Stande gewesen war, daraus hervorzutreten und zu strahlen. Robert hatte besonders darunter gelitten. Es war ihm immer schwerer gefallen, das Unausweichliche zu akzeptieren und das Jetzt überhaupt noch genießen zu können, ohne dabei immer wieder in diesen lähmenden Zustand der Traurigkeit zu verfallen.
Er hatte durch Mila eine neue Art zu leben kennengelernt, und jeder Gedanke daran, dieses Leben bald wieder zu verlieren und erneut in seinen alten, gewohnten Trott zurückzukehren, hatte ihn geängstigt – ganz zu schweigen davon, Mila möglicherweise nie wieder zu sehen. Dieser Gedanke hatte ihm nahezu körperliche Schmerzen bereitet.
»Ich hab eine Idee!«, hatte Mila eines Morgens verkündet, nachdem sie neben ihm aufgewacht war und Robert bereits wieder in diese trüben Gedanken versunken am Bettrand gesessen hatte. Ohne jede weitere Erklärung war sie einfach aus dem Bett aufgesprungen, hatte Robert zuerst einen Kuss und dann seine Klamotten vom vorherigen Tag zugeworfen und war dann mit ihrem Handy in der Hand im Badezimmer verschwunden.
»Komm schon! Zieh dich endlich an! Wir müssen los!«, hatte sie ihn ungeduldig aufgefordert, als sie wieder aus dem Badezimmer heraus gekommen war und Robert noch immer unverändert dagesessen hatte. Und obwohl es ihm zu Beginn noch schwer gefallen war, aus seiner Lethargie aufzutauchen, hatte Mila es mit Hilfe eines zärtlichen Kusses und ihres unwiderstehlichen, strahlenden Lächelns doch geschafft, dass die beiden schon wenige Minuten später in die Pedale ihrer Fahrräder getreten hatten.
Mila war vorausgefahren und Robert war ihr ohne Widerworte und ohne nachzufragen, wohin ihr morgendlicher Ausflug eigentlich gehen sollte, durch die schmalen Gassen Amsterdams gefolgt.
»Komm schon! Nicht so lahm!«, hatte sie immer wieder über ihre Schulter hinweg nach hinten gerufen und Robert, der die Vorzüge eines vierundzwanzig Gang starken Mountainbikes gewohnt gewesen war, hatte sich auf dem alten, schwarzen Swift-Rad, das Edda ihnen geliehen hatte, schon ziemlich ins Zeug legen müssen, um mit Mila mithalten zu können. »Schneller!«, hatte er noch einmal gehört, während er gerade über eine stark renovierungsbedürftige Kopfsteinpflasterstraße gedonnert war und es ihn dabei so richtig durchgebeutelt hatte.
Zum ersten Mal an diesem Tag hatten sich Roberts Mundwinkel jedoch zu einem Lächeln verzogen. Und mit jedem Schlagloch, über das die beiden hinweggebraust waren, wurde das Lächeln größer, bis es schon bald in ein lautes und ausgelassenes Gelächter gemündet war. Auch Milas Lachen war von den Häuserfronten widergehallt, und bei jedem Blick zurück zu Robert, der mit ausgestreckten Beinen über das Kopfsteinpflaster gepoltert war und dabei recht unbeholfen ausgesehen hatte, war das Lachen nur noch lauter und lauter geworden.
Es war einfach nur herrlich gewesen, durch die fast menschenleeren Straßen der Stadt zu sausen, als wären sie noch Kinder, denen mögliche Konsequenzen nie und nimmer hätten Einhalt bieten können.
Kurz darauf hatten sie die Innenstadt hinter sich gelassen und waren die Beach Line entlang in Richtung Strand gefahren. Bei einem kleinen Backsteinhaus mit grünen Fensterläden, einer weißen Eingangstür und einem bezaubernden kleinen Vorgarten, das sich direkt an einem der Kanäle zum Meer befand, ganz in der Nähe der Düne, wo Mila und Robert das Picknick bei Sonnenuntergang genossen hatten, hatte Mila plötzlich angehalten. Im selben Augenblick war aus der weißen Tür eine in einen hellgrünen flauschigen Morgenmantel eingehüllte ältere Dame aufgetaucht und direkt auf sie zugeeilt, als hätte sie ihre Ankunft bereits ungeduldig erwartet. Ohne viele Worte mit ihr zu wechseln, hatte sie Mila einen Schlüsselbund überreicht und war dann auch schon wieder im Nachbarhaus verschwunden.
Robert hatte Mila verdutzt angestarrt.
»Was soll das hier?«
Doch Mila hatte einfach nur gelächelt.
Dann hatte sie Robert, ohne auf seine Frage einzugehen, an der Hand genommen und zum Haus geführt.
Vor der Tür war Robert jedoch stehen geblieben. Mila hatte zwar an ihm gezerrt und gezogen, aber ihr um zwei Köpfe größerer Freund hatte sich keinen Millimeter von der Stelle gerührt. Auch die flehenden Blicke aus ihren tiefblauen Augen, die unter ihrem kurzen, blonden Haar hervorstrahlten, hatten ihn nicht dazu gebracht, einen Schritt weiterzugehen.
»Ich geh da erst rein, wenn du mir sagst, was das hier soll!«
»Musst du immer alles sofort wissen?«
Dieses Mal hatte Robert nur gelächelt.
Daraufhin hatte Mila, zum Zeichen, dass sie sich seiner Sturheit beugen würde, einmal lautstark ein- und wieder ausgeatmet und dabei vorwurfsvoll geseufzt. »Also gut!« Dann hatte sie ihn zärtlich an beiden Händen gefasst und begonnen zu erklären. »Ich hab das Haus hier für die nächsten zwei Wochen gemietet. So sind wir nicht mehr bei mir in der Wohnung und du bist nicht nur ein Gast. So haben wir unser gemeinsames Nest – unser gemeinsames Häuschen. Keine Vergangenheit – nur das Jetzt. Und vielleicht fällt es uns ja hier draußen auch leichter, nicht daran zu denken, dass …« Sie hatte mitten im Satz einfach aufgehört zu sprechen, um nach der richtigen Umschreibung zu suchen, die Robert nicht augenblicklich wieder in seine Traurigkeit verfallen ließ. Doch das war nicht mehr nötig gewesen. Robert hatte sich zu ihr gebeugt, sie geküsst und dann wie aus dem Nichts hochgehoben, um sie auf seinen Armen über die Eingangsschwelle zu tragen.
Mila war derart überrascht gewesen, dass sie es einfach hatte geschehen lassen. Und es hatte sich wundervoll angefühlt – wie in einem Traum.
Die nächsten beiden Wochen waren voll von solch glücklichen und schönen Momenten gewesen und Mila und Robert hatten jeden einzelnen davon gemeinsam genossen. Der Gedanke an Roberts Abreise war zwar nicht völlig verschwunden gewesen, aber zusammen hatten sie es geschafft, ihn nicht zu groß und mächtig werden zu lassen.
In ihrer letzten gemeinsamen Nacht jedoch, war dies nicht mehr möglich gewesen. Sie hatten bis spät in die Nacht auf der kleinen Bank in ihrem Vorgarten gesessen und schweigend hinaus ins Dunkel gestarrt. Auch als sie sich dann für die letzten drei Stunden eng umschlungen in ihr Bett gekuschelt hatten, war an Schlaf nicht zu denken gewesen. Vier mit Tränen gefüllte Augen hatten unaufhörlich Löcher in die Zimmerdecke gestarrt, bis beim ersten Sonnenstrahl, der durch das kleine Schlafzimmerfenster direkt auf ihre Bettdecke gefallen war, auch schon ihr Handywecker geläutet hatte. Ohne auch nur ein Wort zu wechseln, waren sie aufgestanden und hatten sich zur Abfahrt bereit gemacht.
Am Check-In Schalter standen die beiden noch immer Hand in Hand in einer schier endlosen Schlange von Wartenden an. Doch auch diese Minuten verstrichen viel zu schnell und nachdem Robert eingecheckt und seinen Rucksack abgegeben hatte, machten sie sich langsam auf den Weg zum angegebenen Gate.
Auf ihrem Weg kamen sie an einem Café vorbei.
»Wir hätten noch etwas Zeit«, sagte Robert leise.
Mila nickte nur.
Noch nie in ihrem Leben hatte sie so wenig gesprochen wie in den letzten zwölf Stunden.
Sie setzte sich an einen freien Tisch, während Robert zwei Becher Cappuccino an der Bar bestellte. Er reichte Mila einen davon und nahm dann neben ihr Platz. Mila hielt sich aus purer Gewohnheit den Becher unter die Nase und roch daran, doch obwohl sie es eigentlich nicht erwartet hatte, wurde sie nicht enttäuscht. Ein kurzer Augenblick der Zufriedenheit überkam sie.
»Danke«, flüsterte sie.
«Würde ich doch nie vergessen», erwiderte Robert und nahm einen ersten Schluck. Der herbe und doch süßliche Duft von Zimt stieg ihm dabei in die Nase und für den Bruchteil eines Moments war auch für ihn alles gut.
An der Sicherheitskontrolle, die zu den einzelnen Gates und zum Duty-free-Bereich führte, standen nur eine Handvoll Menschen an.
»Das war’s dann wohl«, sagte Mila mit zittriger Stimme und umklammerte Roberts Finger noch fester als zuvor. Ihre Mundwinkel zuckten und ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen.
»Ich kann das nicht«, sagte Robert plötzlich.
»Was kannst du nicht?«, schluchzte Mila.
»Von dir fortgehen«, antwortete er knapp. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken und formten dabei ohne sein Zutun plötzlich einen völlig neuen Plan – eine völlig neue Zukunft.
Abrupt ließ er Milas Hand los, drückte ihr einen festen Kuss auf die Lippen und lächelte. Kein erzwungenes Lächeln wie vorhin. Nein. Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte er sie von Herzen an. Seine Augen funkelten dabei und sein Gesicht strahlte verschmitzt, als wäre er ein kleiner Junge, der gerade etwas ausheckte, das ihm mit Sicherheit Ärger einbringen würde.
»Willst du, dass ich bleibe?«
Milas Atem stockte und sie sah Robert irritiert an.
»Wie meinst du das?«
»So wie ich es sage! Willst du, dass ich bleibe? Richtig bleibe! So für immer mein’ ich!«
Milas Herz pochte wie wild, so dass sie es hoch bis in ihre Kehle spüren konnte, und ihre Hände begannen zu zittern. Diese Frage kam so überraschend, dass sie nicht im Stande war, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie starrte Robert an und in ihrem Kopf schwirrten statt einer Antwort nur unzählige Fragen herum, die sie auch augenblicklich loswerden musste. »Und dein neuer Job? Deine Familie? Dein ganzes Leben in Tirol? Deine …«
»Das ist jetzt alles egal«, unterbrach Robert sie. »Willst du es? Ja oder Nein?«
Obwohl sich auf ihren Lippen ein Lächeln abzeichnete, rannen Mila Tränen über ihre Wangen. »Natürlich will ich das, du Idiot! Nichts würde ich mir mehr wünschen!«
In Robert tat sich eine Welt auf, von der er zuvor nicht einmal geahnt hatte, dass sie überhaupt existierte. Alles, wirklich alles in seinem Leben ergab plötzlich Sinn. Seine ganze Vergangenheit hatte ihn hier her an diesen Ort und zu dieser Frau geführt; die Gegenwart half ihm dabei, seine Augen zu öffnen; und auch seine Zukunft begrüßte ihn mit offenen Armen und ersten möglichen Bildern, ohne ihm dabei jedoch einen vorgegebenen Weg zu weisen. Sie präsentierte ihm lediglich eine Richtung, in der nichts mehr unmöglich schien. Er fühlte sich lebendig wie an jenem Tag, als sie auf der Straße getanzt hatten – und zum ersten Mal in seinem Leben zweifelte er seine eigenen Gefühle und Bedürfnisse nicht mehr an, sondern ließ sie einfach zu.
Endlich war er bereit, Mila das zu sagen, was vom ersten Augenblick an, als er ihr in dieser Bäckerei gegenübergestanden hatte, schon klar gewesen war, ihm jedoch aufgrund ihrer begrenzten gemeinsamen Zeit als unpassend und Mila gegenüber als unfair erschienen hatte.
»Ich liebe dich«, flüsterte er.
Nun war es endlich raus.
»Ich liebe dich auch«, hauchte Mila, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.
All ihre trüben Gedanken waren mit einem Schlag erloschen und ihr Herz jubilierte. Durch ihren Bauch schwirrten tausende Schmetterlinge. Sie hatte sich so sehr nach diesen Worten aus Roberts Mund gesehnt. Nun war es endlich so weit. Sie warf ihre Arme um Robert und drückte sich so fest sie nur konnte an ihn.
Eng umschlungen und frei von allem Kummer und allen Zweifeln verharrten sie, bis eine metallisch klingende weibliche Stimme aus den Lautsprechern ertönte.
»Final boarding call for flight 996, nonstop service to Innsbruck airport, now boarding through gate nine!”
»Und jetzt?«, fragte Mila, ließ Robert los und starrte ihn mit großen, fragenden Augen an.
»Ganz einfach«, begann Robert. »Jetzt wird alles gut. Ich steig’ in diesen verdammten Flieger ein, sag meinem Vater, dass ich den Job in seiner Firma nicht annehmen werde, kündige meine Wohnung, packe meine Sachen ins Auto und bin spätestens in einer Woche wieder hier bei dir. Okay?«
»Okay«, erwiderte Mila noch etwas zaghaft, da sie erst allmählich begriff, dass dies hier kein Abschied sondern der Beginn ihrer gemeinsamen Zukunft war. Trotzdem fiel es ihr schwer, Robert nun doch einfach so gehen zu lassen – auch wenn es nur für wenige Tage war. »Eine Woche?«, wiederholte sie. »Eine Woche«, bestätigte Robert.
»Gut!« Erneut schlang sie ihre Arme um ihn. »Eine Woche und keinen Tag mehr«, flüsterte sie und küsste dann immer und immer wieder sein Gesicht. »Versprochen?«
»Versprochen!«, erwiderte Robert und musste dabei lachen. »Ich muss jetzt los!«
»Oh! Klar! Sorry!« Mila ließ von Robert ab und strahlte ihn glücklich an.
»Also! Bis gleich«, sagte Robert und hätte bei diesen schlichten, doch für ihn so bedeutungsvollen Worten am liebsten die ganze Welt umarmt.
»Bis gleich«, hauchte Mila.
Sie gaben sich noch einen schnellen, aber dadurch nicht weniger liebevollen Kuss und Robert begab sich zum Sicherheitskontrollpunkt, während sich Mila, die nicht mehr aufhören konnte zu lächeln, nicht vom Fleck rührte und ihre große Liebe keinen Moment aus den Augen ließ.
Robert legte seine Geldtasche, den Schlüssel, seinen Gürtel und das Handy in den kleinen, blauen Plastikkorb am Fließband, ging durch den Körperscanner, sammelte seine Habseligkeiten wieder ein, warf Mila noch einen letzten Blick und einen letzten Kuss zu und verschwand dann hinter der automatischen Schiebetür zum Sicherheitsbereich.
Mila stand noch einige Minuten da und ihr Blick verharrte auf der Tür, durch die ihr Liebster gegangen war. »Bis gleich«, flüsterte sie noch einmal und verließ dann mit demselben Lächeln im Gesicht, das sie Robert zuvor mit auf den Weg gegeben hatte, den Flughafen.
Auch Robert trug während des gesamten Fluges ein leises Schmunzeln auf den Lippen. Weder seine Gedanken an das anstehende Gespräch mit seinem Vater noch sein grimmiger Sitznachbar, der sich mit Robert einen unerbittlichen Kampf um die Armlehne lieferte und ihn schon bei der kleinsten Körperberührung mit einem bitterbösen Blick strafte, konnten ihm seine Leichtigkeit und sein Strahlen nehmen.
Sogar nachdem er gelandet war, war dieses belebende Gefühl immer noch so präsent wie bei seinem Abflug und er durchquerte liebestrunken und leichtfüßig die Ankunftshalle des Innsbrucker Flughafens. Er trat hinaus ins Freie und war bereit, sich in aller Würde und mit reinem Gewissen von seiner Heimatstadt und seinem bisherigen Leben zu verabschieden. Milas Lächeln begleitete ihn auf jedem Meter und ihre süße, zarte Stimme hallte mit den schlichten Worten »Bis gleich« in seinen Ohren nach.
Das Auto, das viel zu schnell die Garagenausfahrt herausgeschossen kam, hatte er weder gehört noch gesehen. Robert spürte nur noch den dumpfen Aufprall und die Welt um ihn herum versank in einem tiefschwarzen Nichts.
Ein leises Knarren riss Andrea aus ihrem ohnehin leichten Schlaf. Sie öffnete die Augen, konnte aber lediglich die Umrisse eines Schattens erkennen, der sich langsam neben ihr erhob – aber dieser schreckte sie nicht. Sie knipste ihre Nachttischlampe an, setzte sich auf und sah ihren Verlobten, wie schon so oft in den letzten Nächten, mit dem Rücken zu ihr am Bettrand sitzen. Zärtlich legte sie die Hand auf seine Schulter.
»Alles okay, Liebling?«
»Ja, alles gut«, erwiderte er. »Schlaf ruhig weiter.«
Andrea beugte sich zu ihm hinüber, küsste ihn sanft auf den Nacken und ließ sich dann wieder gähnend zurück auf ihr Kissen sinken. Es dauerte keine Minute und sie war auch schon wieder eingeschlafen.
Robert blieb noch einen Augenblick lang sitzen, dann stand er leise auf. Er schlüpfte in seinen grauen Morgenmantel und verließ ihr gemeinsames Schlafzimmer. Er ging in die Küche, schenkte sich ein Glas Milch ein, stellte sich ans Fenster, trank einen Schluck und beobachtete den sich langsam ausbreitenden Morgen. Seine Gedanken kreisten dabei wie immer in den letzten Tagen um das ewig selbe Thema – um den ewig selben Traum. Doch er war zuversichtlich, dass es bald soweit sein würde und das alles ein Ende oder besser gesagt einen Neuanfang mit sich bringen würde.
Nachdem er eine Weile so dagestanden hatte, knipste er die indirekte Beleuchtung der Küchenzeile an. Die Welt vor dem Fenster war mit einem Schlag in der noch vorherrschenden Dunkelheit verschwunden und in der Fensterscheibe spiegelte sich nur noch sein Gesicht wider. Wie ferngesteuert ließ er den Zeigefinger über die sichelförmige Narbe wandern, die über seinem linken Auge prangte. Er konnte nach all der Zeit noch immer die leichte Wölbung spüren, die – egal ob im Winter oder Sommer – stets blasser als der Rest seines Gesichts war. Und sogar in seinem leicht verschleierten Spiegelbild stach sie hell schimmernd hervor. Zum ersten Mal jedoch ließ sich bei diesem Anblick ein Lächeln auf Roberts Lippen nieder. Robert war voller Hoffnung.
Früher hatte Robert diese Narbe und alles wofür sie in seinen Augen gestanden hatte gehasst. Sie war für ihn das Sinnbild der Amnesie geworden, unter der er seit seinem schweren Unfall litt – seiner Behinderung, wie es sein Vater nannte. Und auch wenn sich die Amnesie auf nur vier Wochen beschränkte – ein verhältnismäßig kurzer Zeitraum, wenn man ihn den übrigen einunddreißig Jahren seines Lebens gegenüberstellte – in denen er ohnehin nichts weiter als eine Vergnügungsreise quer durch Europa gemacht hatte, hatte sich Robert deswegen stets unvollständig, um Erfahrungen betrogen und nicht zuletzt immer irgendwie krank und schwächlich gefühlt.
»Oh Mann, jetzt jammre nicht rum«, hatte Kris, Roberts bester Freund, bereits vor knapp zwei Jahren zu ihm gesagt, nachdem Robert versucht hatte, ihm seine beklemmenden und alles erdrückenden Gefühle aufgrund der Amnesie und eben dieser Narbe zu schildern. »Da fehlt mir eindeutig mehr Zeit aus meiner Vergangenheit als dir. Und ich habe dafür keinen Unfall gebraucht. Ein paar gute Partys und so einige durchgemachte Nächte haben dafür gereicht. Und glaub mir, bei so manchen Erinnerungen bin ich froh, dass sie sich aus meinem Gedächtnis verabschiedet haben.« Dabei hatte Kris kurz gegrinst und sich eine neue Zigarette mit der Glut der alten angezündet. »Sei froh, dass du überhaupt noch hier bist – dass du lebst. Du hättest bei diesem verdammten Unfall auch genauso gut abkratzen können. Bist du aber nicht. Und dein Körper war wirklich im Arsch. Kannst du dich noch an die ersten beiden Monate erinnern, in denen ich dich im Rollstuhl vor mir hergeschoben habe? Ich mich noch sehr gut! Ich kann mich auch noch daran erinnern, dass du damals nie rumgejammert hast. Du hast einfach nur hart und konsequent an dir gearbeitet, trainiert und niemals aufgegeben. Du brauchst inzwischen nicht einmal mehr Krücken – und das grenzt schon beinahe an ein Wunder. Aber wegen einer Narbe und ein paar Erinnerungen willst du jetzt plötzlich einknicken? Scheiße! Hör einfach nur damit auf, in deiner Vergangenheit rumzuwühlen, und schau nach vorne, dann spielt das alles bald keine Rolle mehr. Die Vergangenheit ist vorbei, deine Zukunft aber steht dir noch völlig offen.«
Diese Worte hatten damals Wirkung gezeigt. Zwar hatte Robert seine Narbe deswegen nicht besser leiden können, aber er hatte damit begonnen, sie einfach zu ignorieren. Und egal ob er sich von da an im Spiegel oder auf einem Foto betrachtet hatte, sein Verstand war immer besser dazu im Stande gewesen, die Narbe einfach auszublenden, als wäre sie gar nicht da gewesen.
Er hatte es geschafft, einen Teil seiner Vergangenheit, den er ohnehin nicht kannte, zu begraben und nur noch seine Zukunft anzuvisieren. Dadurch hatte er gewissermaßen auch seine Amnesie besiegt. Zwar waren seine Erinnerungen an dieses eine Monat nie zurückgekommen, aber sie hatten irgendwann einfach keine Rolle mehr für ihn und sein weiteres Leben gespielt.
Und das hätten sie vermutlich auch weiterhin nicht getan, wenn diese Träume nicht vor wenigen Wochen begonnen hätten – oder präziser ausgedrückt, dieser eine Traum, der sich Nacht für Nacht in seine Gedanken schlich und dessen Handlung von Tag zu Tag leicht variierte.
Seine Amnesie war mit einem Male wieder allgegenwärtig. Egal ob er arbeitete, mit Andrea beim Essen saß, eine seiner geliebten Serien auf Netflix schaute oder in der Straßenbahn auf seinem Tablet Zeitung las.
Doch dieses Mal fühlte es sich anders an als noch vor zwei Jahren. Der Frust von damals hatte sich in eine Art Euphorie gewandelt. Und die Narbe spiegelte plötzlich nicht mehr seinen Verlust sondern seine Hoffnung wider – Hoffnung, dass dieser eine Traum, der ihn Nacht für Nacht besuchte, ihm sein vergessenes Leben zurückbringen würde.
Den Inhalt dieses Traumes konnte er zwar noch nicht wirklich deuten, da er etwas Absurdes und nicht Greifbares an sich hatte und es ihm dadurch schwer fiel, ihn mit realen Begebenheiten, anderen Erinnerungen, die nicht seiner Amnesie zum Opfer gefallen waren, oder auch Erlebnissen aus seiner Vergangenheit in Verbindung zu bringen. Aber er spürte mit jeder Nacht mehr und mehr, dass die Bilder, die darin vorkamen, sowie dieses blonde, weibliche, fast schon engelhafte Wesen, das dort nie von seiner Seite wich, ihm etwas Bestimmtes zeigen wollten. Er wusste nur nicht genau, was es war.
Andrea hatte er noch nichts von diesem Traum erzählt. Er hätte auch nicht die geringste Ahnung gehabt, was er ihr genau hätte sagen sollen.
Auf diese Frau, die ihn dabei stets an der Hand durch die Straßen dieser ihm nicht bekannten aber trotzdem so vertraut wirkenden Stadt führte und in ihm Gefühle wie Geborgenheit, Zuversicht und Gelassenheit weckte, wäre sie mit Sicherheit nicht gut zu sprechen gewesen. Seit sie mich in diesem Traum besucht, wirkt mein reales Leben plötzlich grau und fast schon lieblos, wäre auch keine ideale Eröffnung für ein Gespräch gewesen – auch wenn es zum Teil der Wahrheit entsprach. Doch welche Verlobte auf dieser Welt wäre schon glücklich, dies von ihrem zukünftigen Ehemann zu hören?
So hatte er beschlossen abzuwarten, diesen immer wiederkehrenden Traum zu beobachten und weiterhin zu hoffen, dass irgendwann einfach nur ein Schalter anging, sich seine Erinnerungen mit einem Schlag wieder klar und deutlich in seinem Gedächtnis einnisteten und er und seine komplette Vergangenheit wieder eins wären. Dann erst würde er auch Andrea einweihen, ohne sie zuvor aufgrund von irgendwelchen Träumen unnötig beunruhigen oder gar verletzen zu müssen.
Er goss die noch übrige Milch aus seinem Glas in seinen geliebten Milchschäumer, den er sich vor knapp drei Jahren, kurz nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, gekauft hatte, und stellte ihn an. Er schaltete die Kaffeemaschine ein, wartete geduldig auf den Pieps-Ton, der ihm bedeutete, dass die Maschine ausreichend aufgeheizt hatte und bereitete sich dann seinen morgendlichen Cappuccino zu. Sorgfältig ließ er dabei eine Brise Zimt auf die weiße Schaumhaube rieseln, griff dann mit bloßen Fingern in die Kakaopackung und verstreute die groben, braunen Körner gleichmäßig auf der luftigen Krone. Der herbe und doch zugleich süße Duft, der sich in diesem Augenblick entfaltete, schenkte ihm für einen Moment Ruhe und Zufriedenheit und seinen Gedanken allmählich wieder Platz, um sich einem neuen Tag zu stellen – einem realen Tag, der sich außerhalb seines Traumes befand.
Er setzte sich an den Küchentisch, nippte an seiner Tasse und begann damit, die To-do-Liste für heute auf seinem Tablet zu notieren. Auch wenn Sonntag war, stand ihm ein arbeitsreicher Tag im Büro bevor und dieser gehörte akribisch genau geplant, um jede Minute sinnvoll nutzen zu können.