Millionär wider Willen - Ben Bertram - E-Book
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Millionär wider Willen E-Book

Ben Bertram

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Beschreibung

Weit weg von der elitären Hamburger Gesellschaft lebt Sid auf Fuerteventura seit sechs Jahren den Traum seiner eigenen Surfschule. Als er jedoch wegen eines Todesfalls in der Familie zurück nach Deutschland muss, stellt seine große Erbschaft das Leben des Millionärs wider Willen auf den Kopf. Durch einen Aushilfsjob lernt Candela Sid kennen. Doch ihre Erfahrung hat sie vorsichtig werden lassen – schließlich zählt für Reiche nur das Geld und irgendwann wird er an ihr das Interesse verlieren. Nichtsdestotrotz ist Candy auf eine nie gekannte Weise von Sid fasziniert und auch sie lässt ihn nicht kalt. Wie aber sollen die beiden es schaffen, ihre Liebe zu erhalten? Immerhin will Sid bald zurück nach Fuerteventura. Und dann ist da noch Candelas siebenjähriger Sohn. Kann sie Mateo eine solche Veränderung zumuten? Eine Millionärsstory, die so gar nichts mit Aschenputtels Traum zu tun hat, trotzdem glitzert und zu Tränen rührt.

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Inhaltsverzeichnis

Ilse

Tage wie diese

Kaiserwetter

Der Anruf

Gut Witthöft

Für immer

Küchenhilfe

Räuberleiter

Danke!

Unsere Gruft

High Society

Der Kieselsteinweg

Reiches Söhnchen

Bitte nicht

Heilige Rosen

Mein Plan

Bierchen?

Gefühlschaos

So viel

Rosenbeete

Urlaub?

Drachen

Kolibris

Mama

Entscheidung

Himmelfahrt

Koffer packen

Angekommen

Wellenspiel

Gespräche

Unsicherheit

Meine Idee

Erwachen

Schwärmerei

Nasenküsse

Costa

Unser Weg

Beschlüsse

Letzter Abend

Liebesnektar

Hamburg

Allein

Garten

Wolkenfrei

Überraschung

Mateos Idee

Entscheidung

Glitzerwasser

Aufregung

Wunschträume

One-Way-Ticket

Glücksschweinchen

Millionär wider Willen

- Gestrandet in Hamburg -

Von:

Kerry Greine

&

Ben Bertram

Alle Rechte vorbehalten!

Nachdruck, Vervielfältigung und Veröffentlichung - auch auszugsweise - nur mit schriftlicher Genehmigung der Autoren!

Im Buch vorkommende Personen und die Handlung dieser Geschichten sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.

Text Copyright © Kerry Greine & Ben Bertram, 2017

Impressum:

Text:

Kerry Greine

Lehmstich 3

21423 Winsen

und

Ben Bertram

Stellauer Straße 30 B

25563 Wrist

E-Mail:

[email protected]

Covergestaltung:

Sabrina Dahlenburg

www.art-for-your-book.weebly.com

Korrektorat:

SW Korrekturen e.U.

[email protected]

Ilse

Während ich in der brütenden Mittagssonne in meinem Auto saß und hoffte, dass sich der Stau vor mir schnell auflöste, wanderte mein Blick immer wieder zu der Uhr auf dem Armaturenbrett. 12:53 Uhr. Eigentlich sollte ich in spätestens zwanzig Minuten zurück auf dem Gutshof sein, wo ich arbeitete, aber das konnte ich mir wohl abschminken. Selbst ohne Stau hätte ich mindestens 25 Minuten gebraucht, und ich musste vorher noch die letzte Hofkiste mit Obst und Gemüse ausliefern, die sich hinten im Lieferwagen befand.

Mit Blick auf den Verkehr überlegte ich, was heute los sein könnte. An einem Donnerstag um diese Uhrzeit waren die Straßen hier normalerweise frei. Gab es irgendwo etwas umsonst? Oder wo wollten die Leute alle hin? Hatte ich irgendetwas verpasst, dass die Autos auf diese Strecke umgeleitet wurden? War irgendwo eine Baustelle? Ein Unfall? Oder war womöglich mal wieder eine alte Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden worden, die entschärft werden musste? All das wären Möglichkeiten gewesen. Vielleicht war aber auch einfach nur das Wetter schuld.

Immerhin hatten wir heute knapp 30 Grad und strahlenden Sonnenschein – was in Hamburg Ende April schon mehr als ungewöhnlich war. Wahrscheinlich hatte die halbe Einwohnerschaft beschlossen, das Wetter zu nutzen. Viele hatten sicher früher Feierabend gemacht und waren auf dem Weg an den Elbstrand, der von hier nicht weit entfernt lag. Ich konnte es verstehen. Ich hätte mich auch am liebsten in den Sand gelegt, die Möwen und Schiffe beobachtet und einfach den Tag genossen. Mit dem leisen Plätschern der Wellen im Hintergrund mal nichts tun müssen und die Gedanken schweifen lassen.

Stattdessen musste ich arbeiten, mich in einem Lieferwagen durch Hamburgs überfüllte Straßen quälen und Hofkisten ausliefern. Zum Glück war das nur einmal in der Woche meine Aufgabe und ich hatte ansonsten andere Sachen zu tun bei der Arbeit.

Langsam schob sich die Wagenkolonne vorwärts. Noch ungefähr hundert Meter, dann musste ich von der Hauptstraße abbiegen, um zur Villa der von Globedanz’ zu kommen, meiner letzten Auslieferung für den heutigen Tag. Blankenese, wo diese Villa sich befand, war so gar nicht meine Gegend. Natürlich sahen die Häuser der Reichen und Schönen wirklich schick aus, aber wohnen wollte ich hier nicht. Diesen Teil meines Lebens hatte ich weit hinter mir gelassen, und ich wollte nie wieder dahin zurück. Nein, meine kleine Wohnung war alles, was ich brauchte.

Endlich konnte ich aus der Schlange ausscheren und mich auf die Abbiegespur einordnen. Gleich würde ich da sein. Innerlich überlegte ich bereits, ob es irgendwelche Schleichwege gab, auf denen ich Blankenese wieder verlassen konnte, falls es nachher noch immer so voll wäre. Ich hatte keine Lust, mich erneut in diesen Stau einzureihen.

Seufzend stellte ich den Motor aus, als ich vor dem Lieferanteneingang der Villa stand. Als ich ausstieg, spürte ich die heiße Sonne, die auf meinen nackten Armen brannte. Schnell lud ich die Sackkarre aus dem hinteren Teil des Lieferwagens und hob die schweren Kisten darauf. Die Klimaanlage des Wagens funktionierte nicht, und wenn das Obst und Gemüse noch länger im überhitzten Wagen blieb, würde es Schaden nehmen. Das konnte und wollte ich nicht verantworten. Immerhin war das Gut, für das ich arbeitete, für seine gute Qualität bekannt und hatte einen Ruf zu verlieren.

Einen Ruf, der sich nicht nur auf das Geschäft, sondern wahrscheinlich auch auf unsere sozialen Projekte auswirken würde. Das war der Teil, der mir ganz besonders am Herzen lag. Mein persönliches Steckenpferd und einer der Hauptgründe, warum ich diesen Job vor anderthalb Jahren begonnen hatte.

„Hallo, Candela. Haben Sie alles dabei, was wir bestellt haben?“, begrüßte mich Ilse, die Haushälterin der von Globedanz’, die in diesem Moment aus der Tür trat.

„Ja, es dürfte nichts fehlen. Aber schauen Sie gern noch mal durch. Diese Woche war es ja doch um einiges mehr als sonst.“ Ich brachte die Kisten direkt in die Küche und hievte sie auf die breite Arbeitsfläche.

„Wir haben eine große Feier am Wochenende. Herr von Globedanz feiert seinen Geburtstag.“ Strahlend erzählte Ilse mir, welche Torten sie für ihren Arbeitgeber backen wollte und was es zu essen geben würde. Man sah genau, wie sehr sie ihren Job liebte, sie ging in ihrer Tätigkeit als Haushälterin der Villa völlig auf und war mit Leib und Seele dabei. Ich kannte sie mittlerweile, seit ich auf dem Gut angefangen hatte zu arbeiten, und im Laufe der letzten anderthalb Jahre war sie mir ein wenig ans Herz gewachsen. Wenn ich hier war, bekam ich immer einen Kaffee, und während Ilse meine Lieferung durchschaute, plauschten wir ein bisschen. Ich wusste mittlerweile so einiges über diese alteingesessene Anwaltsfamilie.

„Kommt der jüngere Sohn denn auch? Oder lässt er sich wieder nicht blicken?“, fragte ich und lehnte mich mit meinem Kaffeebecher in der Hand gegen die Arbeitsfläche. Obwohl ich unter Zeitdruck stand, versuchte ich, mich zu entspannen. Ich musste eh warten, bis Ilse fertig war. Warum sollte ich deswegen nervös oder sogar genervt sein? Da sah ich die Zeit, die ich hier herumstand, doch lieber als eine kleine Auszeit an.

„Nein, Siegfried wird bestimmt nicht kommen. Ach, Candela, das ist so schade! Ich meine, ich weiß, sein Vater und er haben sich schon vor Jahren überworfen, aber irgendwie hatte ich immer gehofft, er würde eines Tages zurückkehren und sich mit seinem Vater versöhnen. Doch das wird wohl nicht geschehen. Die beiden sind solche Sturköpfe! Keiner von ihnen ist bereit, den ersten Schritt zu gehen.“

„Meinen Sie denn, Herr von Globedanz würde das überhaupt wollen? Dass sein Sohn zurückkehrt?“, fragte ich nach. Obwohl ich mit dieser Oberschicht nichts mehr zu tun hatte und auch nie wieder etwas zu tun haben wollte, war ich doch neugierig. Es war ein bisschen wie eine wöchentliche Soap im Fernsehen. Man wusste nie, was als Nächstes geschah, und wollte wissen, wie es weiterging. Gerade die Geschichte mit dem verstoßenen Sohn interessierte mich. Zeigte sie mir doch, dass auch wohlhabende Leute ihre Probleme hatten, die mit Geld nicht zu lösen waren. Dass ich damals, als ich selbst noch eine reiche Ehefrau gewesen war, kein Einzelfall war. Dass die menschlichen Abgründe auch vor der Oberklasse nicht haltmachten.

Nachdenklich nahm Ilse einen der großen Blattsalate aus der Kiste und schaute mich an.

„Ich weiß es nicht. Nein, vermutlich würde der alte Herr ihm die Tür vor der Nase zuknallen. Aber trotzdem … Ich meine, sie sind eine Familie. Da sollte man zusammenhalten. Auch wenn Siegfried schon immer anders war als der Rest. Es muss doch eine Möglichkeit geben, dass die zwei sich wieder vertragen.“

Ich spürte, wie sehr dieses Thema Ilse auf der Seele lag. Was auch irgendwie kein Wunder war. Sie war bereits seit Jahrzehnten bei der Familie von Globedanz angestellt und hatte die beiden Söhne des Hauses aufwachsen sehen. Sie hatte mir mal erzählt, dass es ihr beinahe das Herz gebrochen hatte, als Siegfried vor ein paar Jahren ausgewandert war. Für sie war er fast wie ein eigener Sohn, ebenso wie sein Bruder. Allerdings hatte ich den Verdacht, dass Siegfried der Freigeist es ihr noch ein wenig mehr angetan hatte als sein angepasster Bruder.

Ich hingegen war zwiegespalten. Natürlich dürfte ich mir eine eigene Meinung eigentlich nicht erlauben, immerhin kannte ich ihn nicht. Aber allein die Vorstellung, seine Familie zu verlassen und sich trotzdem von deren Geld ein schönes Leben zu machen, war für mich nicht nachvollziehbar. Ich war mit meinen Eltern immer eng verbunden gewesen und hatte sie gern um mich gehabt. Leider lebten sie schon seit ein paar Jahren nicht mehr, aber sie fehlten mir noch immer jeden Tag.

„So, ich bin fertig. Es ist alles dabei und es sieht mal wieder himmlisch aus. Vielen Dank!“ Ilse hob eine der leeren Kisten von der Arbeitsfläche und stellte sie zurück auf die Sackkarre. „Wegen nächster Woche melde ich mich noch einmal bei Ihnen, wenn ich den Essensplan durchgesprochen habe.“

„Das ist super! Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Kochen und Backen.“ Ich verabschiedete mich von Ilse und verließ die Villa.

Kaum im Wagen wanderte mein Blick wieder zu der Uhr auf dem Armaturenbrett. 13:34 Uhr. Ich war wirklich viel zu spät, die Schule meines Sohnes war längst aus.

Schnell wählte ich die Nummer meiner Arbeitskollegin über die Freisprecheinrichtung, dann fädelte ich mich in den Verkehr auf der Straße vor der Villa ein.

„Hey, Jule. Ist Mateo schon da?“, fragte ich, als meine Kollegin abgenommen hatte.

„Hi! Na, war es so voll? Ja, Mateo isst gerade. Wann, meinst du, bist du hier? Er hat bereits nach dir gefragt.“

Abschätzend warf ich einen Blick auf die Hauptstraße, auf der vorhin noch der Stau gewesen war. Wie auch immer das so schnell sein konnte, er hatte sich anscheinend aufgelöst.

„Ich hab im Stau gestanden. Wie es aussieht, wollen bei diesem Wetter alle an die Elbe. Aber jetzt ist es leerer. Ich dürfte also spätestens in einer halben Stunde da sein.“

„Alles klar, ich sage es ihm.“ Dankbar verabschiedete ich mich von Jule und sah zu, dass ich zurück zum Gut kam.

Tage wie diese

Ich habe alles richtig gemacht!, waren meine Gedanken, als ich an diesem Morgen, am 1. Mai, bereits sehr früh am Strand saß und die kleinen Wellen beobachtete, wie sie zu mir ans Ufer kamen. Es wirkte fast ein wenig, als wollten sie mich begrüßen.

In meiner alten Heimat war heute Feiertag, und die Menschen genossen diesen Tag sicher ebenso, wie ich es tat. Der Unterschied zwischen den Leuten aus dem hektischen Hamburg und mir lag ganz woanders. Während ich jeden meiner Tage auskostete und mich darüber freute, meine Arbeit machen zu dürfen, quälten sich Unmengen andere Menschen mit ihrem sogenannten Alltagstrott herum. Sie beschäftigten sich mit Dingen, die ihnen nicht gefielen. Sie gingen einer Arbeit nach, die sie lediglich des Geldes wegen machten, und sie führten Beziehungen, nur um eine Beziehung zu führen.

Bei mir verhielt es sich anders. Ich liebte nicht nur mein Leben, sondern auch meine Arbeit.

Und Frauen? Ja, Frauen gab es in meinem Leben. Zum Glück bot sich als Inhaber einer kleinen Surfschule häufiger mal die Möglichkeit für einen schönen Abend, der nicht selten zu einer heißen Nacht wurde. Nein, an einer festen Beziehung war ich keinesfalls interessiert.

Warum ich überhaupt auf dem Zettel hatte, dass wir heute den 1. Mai hatten, war ganz einfach. Mein Vater hatte Geburtstag. Es war sein einundsechzigster Geburtstag, was nun wirklich kein besonderer Anlass für eine fette Feier war. Diese Feier hatte es schließlich vor einem Jahr gegeben. Zu seinem runden Geburtstag hatte er eine Party veranstaltet, auf der sogar der Erste Bürgermeister Hamburgs gewesen sein soll. Die komplette Prominenz war vertreten, und ganz sicher war dieser Tag bis ins kleinste Detail perfekt organisiert gewesen, damit die Erste Reihe Hamburgs noch in vielen Jahren von meinem Vater und seinem Sechzigsten reden würde. Sicherlich war mein großes Brüderchen an diesem Tag voll in seinem Element gewesen. Ich sah ihn förmlich vor meinen Augen, wie er die prominenten Gäste mit einem Diener und einem Händeschütteln begrüßte. Karl Friedrich von Globedanz war genau das Gegenteil von mir. Er war der perfekte Nachfolger für die alteingesessene Anwaltskanzlei meines Vaters. Mein Bruder liebte es, gemeinsam mit seiner Frau Ellen auf solche Events zu gehen. Zu gehen? Nein, man ging nicht einfach nur hin. Man präsentierte sich dort!

Ich mochte diese Art von Feiern, Veranstaltungen, Empfängen, oder was gerade anlag, nicht. Allerdings war das nicht der Grund, warum ich letztes Jahr nicht nach Hamburg geflogen, sondern hier in meinem kleinen Örtchen Playa de Sotavento auf Fuerteventura geblieben war. Klar gab es den sechsten runden Geburtstag meines Vaters. Doch ich hatte tatsächlich keine Zeit. Meine Surfschule feierte am selben Tag ihr fünfjähriges Bestehen. Da konnte und durfte ich nicht fehlen. Außerdem war der Kontakt zu meinem Vater seit heute vor sechs Jahren auf das Nötigste beschränkt. Beschränkt? Nein, nicht nur das. Seit genau einem Jahr war er sogar abgebrochen.

Die Eröffnung meiner Surfschule hatte ich damals extra auf den fünfundfünfzigsten Geburtstag meines Vaters gelegt. Es sollte ein Dankeschön für ihn sein, da er trotz allem, was zwischen uns vorgefallen war, noch immer mein Vater war. Außerdem wollte ich ihm beweisen, dass ich durchaus ein Geschäftsmann sein konnte, nur auf meinem eigenen Gebiet und nicht als renommierter Anwalt. Es sollte ein besonderes Geburtstagsgeschenk an meinen Vater sein und vielleicht mein letzter Versuch, etwas zu kitten, was nicht mehr zu kitten war. Wir waren einfach zu verschieden.

Genau aus diesem Grund ging meine Idee vollkommen in die Hose. Obwohl ich am Tag der Feierlichkeiten meinen Vater angerufen hatte, ihm sogar voller Stolz einige Bilder geschickt hatte, wurde ich mal wieder enterbt, und ich konnte mein Flugticket, das ich für drei Tage später gebucht hatte, stornieren. Ich sollte direkt am Geburtstag oder gar nicht erscheinen.

Enterbt wurde ich, obwohl meine Eltern wussten, dass ich sowieso kein Geld von ihnen haben wollte. Dass ich nicht auf diese Kreise stand, zu denen ich dann gehören würde. Diese Hautevolee war nicht mein Ding. Außerdem hätte dieses Erbe natürlich mit einem Job in der Kanzlei meines Vaters in Verbindung gestanden. Ja, es wäre ein Erbe mit Bedingungen. Bedingungen? Nein, ein Erbe mit einem Erpressungsversuch.

Ich wollte keine Verbindung mehr zu der Kanzlei, die ich bereits als Achtklässler gehasst hatte. Damals hatten wir Praktikumswochen in der Schule gehabt und ich Glückspilz hatte einen der begehrten Plätze in Hagenbecks Tierpark ergattert. Ein Traum war für mich in Erfüllung gegangen. Alle Klassenkameraden, nein, alle Schulkameraden waren neidisch auf mich und ich lief stolz wie Bolle durch die Gegend. Als ich am nächsten Tag meinem Vater mit stolzgeschwellter Brust den Brief vom Tierpark präsentierte, zerriss er diesen einfach. Seine Worte hallten noch heute durch meinen Gehörgang.

„So was macht ein von Globedanz nicht. Wir sind zu etwas anderem berufen. Dein Praktikum machst du in unserer Kanzlei.“

Ein Widerspruch wurde nicht akzeptiert. Schon damals war es so und es hatte sich bis heute nicht geändert. Anstatt im Tierpark arbeiten zu dürfen, war ich für Fotokopien und Ablage zuständig gewesen. Ich durfte keine Tiere streicheln, dafür wurde mir aber ständig von irgendwelchen spießigen Angestellten meines Vaters der Kopf getätschelt. Im Zoo hätte ich Spaß gehabt und bestimmt häufig gelacht. In der Kanzlei schien es ein Lachverbot zu geben und gesiezt wurde ich auch. Sogar von meinem Vater! Er meinte, dass es zwischen Freizeit und Beruf einen Unterschied gab. Einen Unterschied, den wir als Familie von Globedanz den anderen Angestellten vorleben mussten. O ja, ich kannte seine Sätze noch ganz genau!

Zum achten Mal wurde ich dann heute vor einem Jahr verbal enterbt. Diesmal sogar angeblich unwiderruflich, wobei ich mir die Frage stellte, wofür die sieben Male davor gewesen waren. Ich hoffte, dass ich von diesem Tage an nichts mehr von diesem Erbe hören würde.

Immerhin waren diese Worte zugleich die letzten Worte, die ich von meinem Vater bis heute gehört hatte.

„Dann habe ich nur noch einen Wunsch. Melde dich niemals wieder bei mir. Du bist enterbt!“ Laut und wütend hatte mein Vater diese Worte ins Telefon geschrien. Ganz deutlich vernahm ich sie, genau wie das anschließende Klicken. Ein Geräusch, das mir klarmachte, dass mein Vater unser Telefonat beendet hatte. Als ich eine Minute danach erneut anrief, wurde ich einfach weggedrückt. Ebenso eine Stunde später und am nächsten Tag.

Okay, das Kapitel Familienzugehörigkeit zur Familie von Globedanz war allem Anschein nach endgültig abgehakt. Von diesem Tag an gab es keine Menschen mehr, die mich mit Siegfried ansprachen. Was selbstverständlich kein großer Verlust war, da mir der Name Sid sowieso um einiges lieber war. Jeder nannte mich so. Jeder bis auf meine Familie.

Innerlich lachte ich auf, als mir auffiel, dass ich meine Mutter gedanklich nicht zur Familie gezählt hatte. Sie war die Einzige, zu der ich immerhin noch sporadisch Kontakt hatte und die mich in unseren heimlichen Telefonaten mittlerweile ebenfalls Sid nannte.

An Tagen wie dem heutigen war es nicht einfach, ohne seine Eltern klarzukommen. Nicht nur, dass ich sie an Geburtstagen, Weihnachten und anderen besonderen Tagen vermisste, ich hätte auch nur zu gern meine Freude über meinen Surfschul-Geburtstag mit ihnen geteilt. Selbstverständlich hätte ich ebenso gerne nach meinem Handy gegriffen und meinem Vater zum Geburtstag gratuliert. Doch wozu? Er würde sowieso einfach auflegen oder nicht rangehen.

Langsam stand ich auf und bereitete das Equipment für den heutigen Tag vor. Viele Urlauber waren auf der Insel, wodurch meine Kurse noch besser belegt waren als sonst. Dank der unzähligen Touristen hier konnte ich mir sogar eine Angestellte leisten. Silly war nun schon im zweiten Jahr bei mir beschäftigt, und obwohl sie eine waschechte Spanierin war, brachte sie die typisch deutschen Tugenden mit. Pünktlich und verlässlich war sie, und so konnte ich durchaus mal ein paar Tage freimachen, um sie an einer anderen Bucht in meinem Jeep zu verbringen und den ganzen Tag zu surfen. Selbstverständlich waren meine Ziele immer die Buchten mit der coolsten Brandung und den höchsten Wellen.

Ja, ich lebte meinen Traum und es fühlte sich wie Freiheit an. Wie eine Freiheit, die ich in Hamburg nicht ausleben durfte. Hier war ich der Mensch, der ich von klein auf hatte sein wollen. Auf Fuerteventura gab es keinen Siegfried. Es gab lediglich Sid, und nichts auf der Welt könnte dafür sorgen, dass ich wieder nach Hamburg zurückkehren würde. Was sollte ich dort? Mich mit meinen Eltern zoffen? Meinem Bruder sagen, was für ein Spießer er war? Oder mich zum neunten Mal enterben lassen?

„Hier bin ich ICH! Hier bin ich frei!“, rief ich laut und fügte in Gedanken hinzu: Und anrufen, um dir zum Geburtstag zu gratulieren, werde ich nicht. Bei mir meldest du dich ja auch nicht. Keiner von euch hält es für nötig, zu fragen, wie es mir geht.

Manchmal war ich tatsächlich etwas enttäuscht von meiner Familie. Ja, manchmal tat es sogar weh. Besonders an Tagen wie diesen.

Aber so war es nun mal. So hatte ich es mir ausgesucht. Nein, so hatte ich es mir gewünscht, da es nicht anders funktionierte.

Kaiserwetter

In Hamburg herrschte noch immer allerschönstes Kaiserwetter. Die Sonne lachte jetzt bereits seit Tagen vom blauen Himmel und kein Wölkchen trübte ihr Strahlen.

Es war viel zu schön, um den ganzen Tag in meiner kleinen 2,5-Zimmer-Wohnung zu hocken, daher schnappte ich meine große Tasche und packte Badesachen ein. Ich wollte den heutigen Feiertag im Freibad oder am Elbstrand verbringen, auch wenn ich befürchtete, dass beides völlig überfüllt sein würde. Als ich noch ein kleines Picknick hergerichtet und zwei Flaschen Wasser eingesteckt hatte, ging ich über den Flur zum Zimmer meines Sohnes. Da ich wusste, dass er auf mein Klopfen eh nicht antworten würde, trat ich einfach ein.

„Mateo, Schatz. Lass uns ein bisschen rausgehen. Das Wetter ist so toll.“ Mein siebenjähriger Sohn schaute von dem Buch auf, in dem er gerade konzentriert gelesen hatte. Es war ein Buch über die alten Römer, wie ich dem Buchcover entnehmen konnte.

Nachdenklich schob er sich die Brille auf der Nase hoch und sah kurz aus dem Fenster. „Nein, ich mag nicht. Ich möchte lieber lesen.“

Innerlich seufzte ich auf. Die ersten Jahre seines Lebens hatten ihn geprägt und zu dem gemacht, der er war. Ein Stubenhocker, der lieber mit der Nase in seinen Büchern hing, als mit anderen Kindern zu spielen. Ein Kind, das immer ein Außenseiter war und es wohl auch bleiben würde. Mateo spielte kein Fußball wie die anderen Jungs aus seiner Klasse. Er hatte Angst vor Tieren und fand es furchtbar, Schmutz an den Händen oder Klamotten zu haben. Selbst anderthalb Jahre nach der Trennung von meinem Mann hatte ich es noch nicht hinbekommen, Mateo zu dem zu machen, was er eigentlich sein sollte. Ein glückliches, lachendes Kind. Ich hatte das Gefühl, mit einem kleinen Erwachsenen zusammenzuleben, und das Einzige, wozu ich es geschafft hatte, ihn zu nötigen, war ein Schwimmkurs im letzten Jahr. Vielen Dank auch, Frank! Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete, als ich an meinen Exmann und Mateos Vater dachte. Ihm war es zu verdanken, dass mein Kind war, wie es jetzt war.

„Ach komm! Nur für ein paar Stunden“, versuchte ich meinen Sohn zu überreden. Seufzend klappte er das Buch zu, stand auf und kramte in seinem Kleiderschrank nach einer Badehose. Nein, er war kein Kind, dem man klare Ansagen machen musste, und ich glaubte, ich hatte noch nie in seinem Leben ernsthaft mit ihm schimpfen müssen. Mateo war still und angepasst – und damit so ziemlich das Gegenteil von mir. Trotzdem wusste ich, dass mehr in ihm steckte. Dass er nicht so sein wollte. Manchmal beobachtete ich ihn, wenn er anderen Kindern beim Toben zuschaute. Ich konnte an seinem Gesicht sehen, wie gern er einfach mitmachen würde. Wie gern er mit ihnen über die Wiese rennen, „Cowboy und Indianer“ spielen oder Steine im See flitschen lassen würde. Aber er schaffte es leider nicht, über seinen eigenen Schatten zu springen. Stattdessen verschloss er sich. Allmählich wusste ich nicht mehr, was ich noch machen sollte, wie ich ihm helfen konnte.

Still saß Mateo in meinem alten Golf neben mir, als wir zum Elbstrand fuhren und uns dort einen Parkplatz suchten. Er sagte noch immer nichts, als wir den Weg zum Strand hinuntergingen. Erst als ich eine Stelle gefunden hatte, wo wir ein wenig Platz für uns und unsere Decke hatten, blieb ich stehen und schaute zu ihm hinab.

„Hier vielleicht?“, fragte ich und Mateo nickte. Dann half er mir, die Decke auszubreiten. Ich hatte mich noch nicht einmal meiner Shorts und meines Tops entledigt, da saß er schon und hatte bereits wieder das Buch über die alten Römer in der Hand.

„Warum hast du das denn mitgebracht? Du willst doch hier nicht etwa lesen? Ich hab unser Beachballspiel und einen Wasserball eingepackt. Wollen wir nicht spielen?“, fragte ich hoffnungsvoll.

„Nein, ich kann kein Ball spielen. Außerdem will ich mich nicht schmutzig machen.“ Es war wirklich zum Verzweifeln! Das war doch kein normales Verhalten eines Siebenjährigen! Am liebsten hätte ich geheult, und während mein Sohn sich in sein Buch vertiefte, schoss mir mein Ex wieder durch den Kopf.

Es war kein Wunder, dass Mateo so war. Schließlich hatte er die ersten fünfeinhalb Jahre seines Lebens nichts anderes gekannt. Wut kochte in mir hoch. Nicht genug damit, dass Frank mich während unserer Ehe in einen goldenen Käfig gesperrt hatte, nein, er hatte mir sogar verboten, mit Mateo rauszugehen. Den ganzen Tag über mussten wir im Haus bleiben, durften höchstens in den eigenen Garten. Spielen war im Garten jedoch nicht drin. Seine teuren Rosen hätten ja Schaden nehmen können. Daher gab es für Mateo weder eine Schaukel noch einen Sandkasten oder Ähnliches. Wenn wir draußen spielen wollten, mussten wir heimlich Sachen aus seinem Kinderzimmer mitnehmen. Bekam Frank das allerdings mit, gab es einen Einlauf an uns beide, der sich gewaschen hatte. In den Kindergarten durfte Mateo nicht gehen, da Frank Sorge hatte, dass er dort auf die – seiner Meinung nach – falschen Kinder treffen könnte. Immerhin hätte er einen Ruf zu verlieren. Als Vorstandsmitglied einer Bank hatte er nicht nur ein gewisses Ansehen in Hamburg, er hatte auch mehr als genug Geld.

Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass man Glück nicht kaufen kann. Jahrelang hatte ich mich damit herausgeredet, dass meine Unzufriedenheit ausschließlich an mir liegen würde. Mir fehlte es ja an nichts. Teurer Schmuck, Markenkleidung, mehrere Luxusurlaube im Jahr. Ich hatte doch mehr, als ich brauchte.

Erst als es beinahe zu spät war, wurde mir bewusst, dass Geld noch lange keine Liebe macht. Denn das war es, was Frank komplett gefehlt hatte. Liebe. Auch meine Liebe zu ihm war über die Zeit mehr und mehr abgeklungen.

Da hatte ich den Entschluss gefasst, mich von ihm zu trennen, und egal, was in den letzten anderthalb Jahren geschehen war, ich hatte es keinen Tag bereut.

Mein Blick wanderte zu meinem Sohn. Er hatte das Buch noch immer vor der Nase, doch über den Brillenrand hinweg sah er auf den Strand. Ein sehnsüchtiger Ausdruck lag in seinen Augen und ich folgte seiner Blickrichtung. Ein Geschwisterpärchen spielte an der Wasserlinie. Der Junge war ungefähr in Mateos Alter und seine Schwester vielleicht zwei Jahre älter. Die beiden spritzten sich gegenseitig mit dem kalten Elbwasser nass und ihr Quietschen war bis zu unserem Platz zu hören. Sie hatten sichtlich Spaß. Wieder schaute ich auf meinen Sohn und mein Herz wurde ganz eng. Wie sehr würde ich ihm wünschen, dass er auch so herzhaft lachen könnte. Doch das Einzige, was er schaffte, war ein leichtes Lächeln – weil Frank es immer so verlangt hatte. Mateo durfte nie laut kreischend durchs Haus toben – er hatte sich still zu beschäftigen. Er durfte keine Pommes mit den Fingern essen – es gab bei uns keine Pommes, und mit den Fingern aßen nur Asoziale, so Franks Meinung.

„Mama, können wir bitte gehen?“ Mateos traurige Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

„Wir sind doch erst eine gute Stunde hier. Wollen wir nicht noch ein bisschen bleiben?“, versuchte ich ihn zu überzeugen.

„Okay.“ Mein Kind widersprach nicht, aber ich erkannte, wie unwohl er sich fühlte. Er rollte sich herum und legte sich auf den Bauch, das Buch vor der Nase und die Brille korrekt ausgerichtet. Mir war klar, er hatte dichtgemacht. Sich abgeschottet gegen den Schmerz, den er empfand, wenn er den anderen Kindern beim Spielen zuschaute.

Eine weitere Stunde später gab ich auf und wir packten unsere Sachen. Es war erst früher Nachmittag, wir hätten also noch stundenlang bleiben können, doch es machte keinen Sinn. So hatte ich mir den heutigen Feiertag nicht vorgestellt. Aber ich wollte mein Kind natürlich nicht quälen.

„Okay, wollen wir vielleicht aufs Gut fahren? Jule hat bestimmt ein Stück Kuchen für uns“, sagte ich zu Mateo, als wir im Auto saßen. Über den Rückspiegel konnte ich sehen, wie er mit den Schultern zuckte. „Können wir“, war seine knappe Antwort. Dann schaute er aus dem Fenster und schwieg. Ich nahm es als Ja und machte mich auf den Weg zu meiner Arbeitsstelle. Meine Kollegin Jule wohnte direkt auf dem Gut, da sie dort als Verwalterin angestellt war. Für mich war sie nicht nur eine Kollegin und hatte mir nach der Trennung von Frank mehr als einmal geholfen. Auf Jule konnte ich mich verlassen, sie hatte immer einen Rat oder Ausweg, wenn ich nicht weiterwusste. Außerdem backte sie die besten Kuchen in ganz Hamburg.

Der Anruf

Als ich heute Mittag meine ersten Surfkurse hinter mir hatte und mich mit einer Flasche Wasser gegen den Stamm einer Palme lehnte, hatte ich, neben einem Block und einem Stift, auch mein Handy dabei. Gerade hatte ich einen Kurs gegeben, zu dem ich jetzt planen musste, wie ich mit ihnen weitermachte. Es waren genau die Schüler, denen ich bei den normalen Handhabungen nicht mehr behilflich sein musste, die aber noch nicht gut genug für die nächsthöhere Stufe waren. Nach den nächsten beiden Kurseinheiten dieser Gruppe musste ich eine Aufteilung vornehmen. Einige waren bereit für schwerere Aufgaben, während andere weiter am Halsen und Wenden arbeiten mussten. Wie jedes Mal bereitete es mir Schwierigkeiten, meinen Kursbesuchern zu sagen, dass sie noch nicht so weit waren, um mit den anderen zusammen in die nächste Schwierigkeitsstufe zu gelangen. Irgendwie hatte ich dabei immer das Gefühl, versagt zu haben. Dass es an mir lag, dass einige Teilnehmer nicht so gut wie die anderen waren. Natürlich war es Quatsch. Schließlich lernten einige einfach schneller oder waren ein wenig begabter als andere. Silly sagte es mir jedes Mal wieder und eigentlich wusste ich es selbst. Trotzdem fühlte es sich beschissen an.

Mein Block lag neben mir, während ich auf dem Stift kaute und überlegte, welchen Surfschüler ich in welche Gruppe stecken sollte.

Ach Scheiße! Aber ich habe ja noch etwas Zeit, die Schüler neu einzusortieren.

Ich ließ den Kugelschreiber auf meinen Block fallen und amüsierte mich über mich selbst. Silly hätte für diese Entscheidung höchstens zehn Sekunden benötigt. Selbstverständlich wusste ich auch, wer wohin gehörte. Doch mein Gewissen spielte mal wieder nicht mit.

Kurz saß ich einfach nur da und genoss die Ruhe, die mich in diesem Moment umgab. In einer Stunde würde ich bereits den nächsten Kurs geben. Einen Anfängerkurs, um den sich Silly augenzwinkernd mit den Worten: „Ich glaube, da habe ich schon einen Termin zur Wassergymnastik“, gedrückt hatte. Klar war ich ihr Chef, auch wenn ich dieses Wort nicht mochte. Aber Silly war halt nicht für die Anfängerkurse geschaffen. Ihre Geduld war begrenzt, was noch ziemlich positiv ausgedrückt war. Sie konnte einfach nicht verstehen, weshalb einige Menschen unbedingt einen Surfkurs belegen mussten, obwohl sie sehr viel besser beim Hallenhalma aufgehoben gewesen wären.

Als mich eine Art Schnarren aus meinen Gedanken holte, wusste ich zunächst nicht, wodurch dieses Geräusch kam. Erst als ich zur Seite sah, erkannte ich, dass mein Handy dafür verantwortlich war. Es lag auf meinem Block und war nur auf Vibration geschaltet.

Deutlich konnte ich auf dem Display erkennen, dass es mein Bruder war, der gerade bei mir anrief. Um zu erfahren, was er von mir wollte, musste ich nicht ans Handy gehen, da Karl Friedrich mir ganz bestimmt keinen schönen Maifeiertag wünschen wollte. Ich hatte mich bisher nicht bei meinem alten Herrn gemeldet, um ihn zu seinem Ehrentag zu beglückwünschen. Sicherlich fühlte sich mein Bruder aus diesem Grund dazu berufen, mich an das heutige Datum zu erinnern. Da ich weder meinem Vater gratulieren noch irgendeine unnötige Grundsatzdiskussion mit Karl Friedrich führen wollte, ignorierte ich den Anruf einfach.

Ich konnte es mir sparen, zum tausendsten Mal darüber zu reden, dass ich doch Verständnis für meinen Vater haben musste. Dass ich endlich mein Lotterleben aufgeben und mich in der Familienkanzlei einbringen sollte.

Allein daran, dass mein Bruder dies immer wieder sagte, erkannte ich, dass er von unserem Vater gesteuert wurde. Niemals würde Karl Friedrich auf die Idee kommen, den Wunsch zu haben, dass ich mit ihm zusammen in der Kanzlei arbeiten sollte. Wir hätten einen Dauerstreit, da wir schon im Umgang mit den Mitarbeitern grundverschiedene Philosophien hatten.

Was mach ich mir da jetzt eigentlich einen Kopf drüber? Ich bin sowieso achtfach enterbt und der Familien-Loser. Ich mache mein Ding und die führen ihr Leben. Ihr Leben, in das ich nicht hineinpasse, waren meine Gedanken, während ich aufstand, um mir einen Kaffee zu kochen. Auf dem Weg zu meiner kleinen Hütte, die neben einem Schreibtisch und der eingebauten Küchenzeile noch Platz für Surfbretter und anderes Equipment bot, begleitete mich meine Mutter. Leider nur in meinen Gedanken.

Meine Ma fehlte mir sehr. Ich wusste, dass sie Verständnis für mich hatte, dieses lediglich meinem Vater gegenüber nicht aussprechen oder zeigen durfte. Zu sehr stand sie unter seinem Pantoffel. Seit meine Eltern sich kannten, war meine Mutter seine stille Begleitung. Sie war eine Ehefrau, wie es sie früher viel zu häufig gegeben hatte und von denen es heutzutage zum Glück nur noch sehr wenige gab. Leider war meine Mutter jedoch eine von den wenigen.

Als der Kaffee fertig war, betrat Silly die Hütte.

„Du hast ihn wohl gerochen?“ Lachend drückte ich ihr den Becher in die Hand, der eigentlich für mich gedacht war.

„Jep. Habe ich. Gibst du mir die Milch?“

„Soll ich vielleicht noch für dich umrühren?“ Mit einem leicht ironischen Grinsen sah ich Silly an.

„Ach nö. Das geht schon.“ Augenzwinkernd antwortete sie und wollte gerade irgendetwas sagen, als mein Handy erneut zu vibrieren begann. Schnell legte ich es auf ein Handtuch, damit die Geräuschkulisse etwas leiser wurde.

„Willst du nicht rangehen?“, fragte sie und deutete mit dem Kopf auf das Telefon.

„Lieber nicht.“

„Warum nicht? Störe ich? Soll ich nach draußen gehen?“ Silly wollte sich direkt auf den Weg machen.

„Nein. Bleib hier. Es ist mein Bruder.“ Leise seufzte ich auf.

„Dein Bruder? Was will der denn? Bestimmt nicht zum sechsten Jahrestag deiner Surfschule gratulieren.“ Silly kannte meine Familiengeschichte und war daher erstaunt darüber, dass ausgerechnet Karl Friedrich heute anrief.

„Nein. Es ist ja noch ein besonderer Tag.“

„Sorry! Daran hab ich eben nicht gedacht. Dein Vater hat B-Day. Stimmt’s?“ Zerknirscht, weil sie es nicht auf dem Zettel hatte, schaute Silly zu mir auf.

„Jep.“

„Willst du nicht …“ Weiter kam Silly nicht, da ich sie unterbrach:

„Nein. Unsere Zeit ist vorbei. Es macht einfach keinen Sinn.“

„Aber …“ Silly stoppte und sah mich an.

„Aber was?“

„Egal.“ Silly zuckte mit den Schultern und schaute zu den Surfbrettern hinüber, die ordentlich an der Wand aufgereiht waren.

„Sag schon.“ Fordernd sah ich sie an.

„Irgendwann wirst du deinen Paps nicht mehr anrufen können. Vielleicht ärgerst du dich dann darüber, dass du es heute versäumt hast“, sagte sie leise, trotzdem verstand ich genau, was sie damit meinte.

„Mein Vater wird mindestens hundert Jahre alt. Da wird es noch genügend Möglichkeiten geben. Zumindest, wenn ich es wollte. Allerdings will ich es nicht. Glaub mir, es ist das Beste für die ganze Familie.“ Mein Blick war in meinen Kaffeebecher gerichtet. Klar tat es mir manchmal weh, den Kontakt mit meiner Familie fast komplett abgebrochen zu haben. Leider ging es jedoch nicht anders.

Langsam stellte ich meinen Becher auf die Tischplatte und verließ das Haus. In wenigen Minuten würde der nächste Kurs starten, und ich hatte noch einiges vorzubereiten.

Nachdem ich diesen Surfkurs hinter mich gebracht und mit den Mädels und Jungs viel gelacht hatte, stand ich am Strand und blickte auf das Meer. Ganz allein war ich und so konnte ich meine Gedanken einfach treiben lassen. Natürlich war ich erneut beim Geburtstag meines Vaters. Sollte ich doch anrufen? Musste ich es nicht sogar, da er immerhin mein Vater war? Selbst wenn ich es nicht für ihn tun wollte, hatte ich nicht die Pflicht, es für meine Mutter zu machen? Vielleicht auch ein klein wenig für – besser gesagt gegen – mein schlechtes Gewissen?

Hatte Silly mit ihren Worten womöglich recht?

Irgendwann wirst du deinen Paps nicht mehr anrufen können. Vielleicht ärgerst du dich dann darüber, dass du es heute versäumt hast.

Sehr deutlich und wie eine Art Echo hallten sie durch meinen Gehörgang. Womöglich hatte ich ja sogar Glück und niemand ging an das Telefon. Dann hätte ich auf den Anrufbeantworter sprechen können und wäre so um das direkte Aufeinanderprallen mit meinem Vater herumgekommen.

Was bin ich nur für ein Feigling! Oder ist es die Vernunft?

Ich amüsierte mich über meine eigenen Gedanken. Tatsächlich hatte ich keine Ahnung, ob es meine Feigheit oder meine Vernunft war, die mich zu diesen Überlegungen trieb.

„Was soll’s!“, sagte ich zu mir selbst und machte mich auf den Weg zu meiner Hütte, in der noch immer mein Handy auf dem Handtuch lag. Nachdem ich es in die Hand genommen und den Bildschirmschoner weggedrückt hatte, staunte ich nicht schlecht. Sieben Anrufe in Abwesenheit und alle von meinem Bruder. Da meine Mailbox nie eingeschaltet war, konnte Karl Friedrich keine Nachricht für mich hinterlassen. Stattdessen erkannte ich, dass eine WhatsApp von ihm eingegangen war.

Guten Tag Siegfried, bitte melde dich. Es ist ausgesprochen wichtig. Viele Grüße Karl Friedrich

Ein Grinsen bildete sich auf meinen Lippen. Mein Bruder hatte mir eine Nachricht geschickt, und niemand, der sie las, würde auf die Idee kommen, dass dies eine Nachricht zwischen Brüdern sein könnte.

Auch Silly schmunzelte, nachdem ich ihr die WhatsApp vorgelesen hatte.

„Das ist echt witzig.“ Erschrocken über ihre Worte sah sie mich an und sagte anschließend: „Also nein. Eher traurig! Ich kann gar nicht glauben, dass ein Verhältnis unter Geschwistern so neutral sein kann.“

„Leider … Weißt du was? Ich rufe jetzt meinen Vater an und gratuliere ihm zum Geburtstag.“ Ja, ich hatte meine Entscheidung getroffen. Ich musste es einfach versuchen.

„Das finde ich gut. Aber du machst es nicht meinetwegen, oder?“

„Nein.“ Vehement schüttelte ich den Kopf.

„Wegen deines Bruders?“, hakte Silly nach.

„Auch nicht. Ich mache es, um ganz ehrlich zu sein, ausschließlich für meine Mutter. Obwohl sie es niemals sagen würde, weiß ich, dass sie es sich wünschen würde.“ Mit dem Handy in der Hand wollte ich die Hütte verlassen, um allein zu sein, während ich mit meinem Vater sprach. Aber bereits nach zwei Schritten blieb ich stehen und sah auf das Display.

„Was ist, Sid? Willst du es doch nicht machen? Bitte, tu es.“

„Karl Friedrich ruft schon wieder an.“ Hilflos sah ich Silly an. Mit meinem Bruder zu reden, hatte ich keine Muße. Warum sollte ich mir jetzt irgendwelche Vorträge anhören? Vor allem, da ich unseren alten Herrn in diesem Moment anrufen wollte.

„Geh ran, Sid“, sagte Silly energisch, und ich folgte ihrem Rat, der fast wie ein Befehl war.

Mit einem „Moin nach Hamburg“ begrüßte ich meinen Bruder.

Gut Witthöft

Wie ich es mir gedacht hatte, freute Jule sich wahnsinnig, dass wir spontan bei ihr vorbeikamen. Obwohl sie mit Ende dreißig mehr als zehn Jahre älter war als ich, war Jule in den letzten anderthalb Jahren zu meiner besten Freundin geworden.

Als ich mich damals von meinem Mann getrennt hatte, wusste ich nicht, wo ich hinsollte. Ich hatte keinen Job und keine vernünftige Wohnung für mich und mein Kind. Mateo und ich haben in einer Einzimmerwohnung gewohnt, was natürlich auf Dauer kein Zustand war. Ich hatte zwar nach meinem Realschulabschluss eine Ausbildung zur Bürokauffrau gemacht, war jedoch schon damals mit Frank zusammen gewesen. Kaum hatte ich meinen Abschluss in der Tasche, hatten wir geheiratet, und kurz darauf war ich mit Mateo schwanger. Seitdem war ich nur noch Hausfrau und Mutter gewesen. Vorzeigeehefrau und Franks Statussymbol in der Hamburger Gesellschaft.

Der Zufall war mir damals zu Hilfe gekommen. Mateo war auf eisglatter Straße ausgerutscht und hatte sich das Knie aufgeschlagen. Jule war es, die sich um uns gekümmert hatte. Nachdem Mateo versorgt war, bedankte ich mich bei ihr mit einem Kaffee in einer nahe gelegenen Bäckerei. Dort kamen wir ins Gespräch, und sehr bald merkten wir, wie gut wir uns verstanden. Sie hatte damals schon auf diesem Gut als Verwalterin gearbeitet und brauchte dringend Unterstützung. So kam ich zu diesem Job, den ich wirklich liebte. Ich verdiente hier nicht viel, aber ich war glücklich. Außerdem hoffte ich, dass auch Mateo von meinem Job profitierte und es irgendwann schaffte, aufzutauen.

„Hilfst du mir beim Kaffeekochen und den Kuchen zu holen?“, fragte Jule meinen Sohn, nachdem sie uns begrüßt hatte. „Ich glaube, ich hab noch Schokomuffins da.“

„Okay“, antwortete Mateo nur und folgte Jule ins Haus, aber an seinem zarten Lächeln konnte ich erkennen, wie sehr er sich freute. In diesem Punkt war er wie jedes andere Kind. Er liebte Kuchen, und ganz besonders Jules Schokomuffins hatten es ihm angetan. Während Jule mit Mateo in die Küche ging, setzte ich mich auf die große Holzterrasse und ließ meinen Blick über das Anwesen schweifen.

Es war so wunderschön und idyllisch. Auch wenn ich hier arbeitete, war es immer ein wenig Urlaub, auf Gut Witthöft zu sein. Das Gut bestand aus einem Haupthaus, in dem sich die Büros der Verwaltung und die Aufenthaltsräume befanden und mehrere kleinere verteilt liegende Gebäude und Stallungen. Die Landwirtschaft war der Hauptteil, auf dem das Ganze hier aufgebaut war und zum Teil finanziert wurde. Im Hauptgebäude wurde für die Arbeiter jeden Tag frisch gekocht und gemeinsam gegessen. Auf den Ländereien, die zum Gut gehörten, wurde saisonales Gemüse in allerbester Bio-Qualität angebaut und in Hofkisten verkauft und ausgeliefert.

Doch es gab noch mehr. Mein eigentliches Steckenpferd war nicht die Landwirtschaft. Sie war nicht der Grund, warum ich meinen Job so liebte. Der Träger des Guts Witthöft war ein reicher Hamburger Kaufmann. Er hatte dieses Idyll hier vor vielen Jahren gekauft, um sich für benachteiligte Kinder und Jugendliche einzusetzen. Das war es, wofür mein Herz schlug, der soziale Bereich des Guts. Jeden Nachmittag kamen nach der Schule Gruppen von Kindern, die in irgendeiner Form Probleme hatten. Manche lebten bei Eltern, die Alkoholiker waren, einige waren vernachlässigt, andere wiederum litten an Essstörungen oder anderen psychischen Erkrankungen, die auch schon Kinder betrafen. Wir arbeiteten eng mit dem Jugendamt zusammen, um Kindern hier das zu bieten, was sie zu Hause oftmals nicht hatten. Sie sollten Erholung bekommen und Kind sein dürfen.

Dafür hatten wir vor einiger Zeit ein paar Ponys angeschafft, auf denen die Kinder reiten konnten. Der Umgang mit den Tieren half ihnen so sehr, dass wir das Programm erweiterten und einen kleinen Streichelzoo mit Ziegen, Meerschweinchen und Kaninchen anlegten. Der See, der sich auf dem Gut befand, wurde im Sommer zur Badeanstalt. Hier wurden Flöße gebaut, und im Herbst bastelten wir mit ihnen Drachen, die wir auf den abgeernteten Feldern steigen ließen.

Jule war die gute Seele des Projekts. Obwohl sie keine eigenen Kinder besaß, lag ihr der soziale Bereich des Guts am Herzen. Sie behauptete immer, sie brauche keine eigenen Kinder, alle, die hierherkamen, seien ein wenig ihre. Ja, und genau das lebte sie auch. Sie war jederzeit da, egal, was jemand brauchte. Jule schaffte, fast alles zu organisieren, hatte stets ein offenes Ohr, eine Schulter zum Anlehnen oder ein Pflaster für verschiedenste kleinere und größere Verletzungen. Die Vormittage verbrachte sie meist mit mir im Büro, doch die Nachmittage gehörten ganz den Kindern.

Ich liebte und bewunderte sie sehr für das, was sie hier erschaffen hatte.

„So, Mateo. Jetzt trinken wir Kaffee, und danach kannst du ja mal schauen, was die Kaninchen machen. Ich habe noch reichlich Salat und Möhrchen. Bringst du sie ihnen?“, fragte Jule, als sie mit meinem Sohn zurückkehrte und den Kaffeetisch deckte.

„Kann ich machen.“ Mateo stellte die Platte mit den Muffins auf den Tisch und setzte sich zu mir.

Während wir unseren Kuchen aßen, unterhielten wir uns entspannt, und ich erzählte Jule von unserem Besuch am Elbstrand. Als Mateo aufgegessen hatte, gab Jule ihm einen großen Korb mit Gemüse für die Kaninchen und Meerschweinchen und er zog von dannen.

Nachdenklich schaute Jule ihm nach.

„Ob er sich wohl heute trauen wird, sie zu streicheln?“ Ich wusste genau, was sie meinte. Sie kannte meinen Sohn und wünschte sich ebenso sehr wie ich, dass er es endlich schaffte, über seinen eigenen Schatten zu springen. Es war nicht so, dass er die Tiere nicht mochte. Stundenlang hockte er vor den Ausläufen und beobachtete sie. Der sehnsuchtsvolle Ausdruck in seinen Augen sprach Bände und das Zucken, das ihm manchmal durch die Finger fuhr, zeigte, welch innere Kämpfe er ausfocht. Er würde so gern, aber er traute sich nicht.

„Nein, ich glaube nicht. Ach, Jule, was soll ich nur machen? Vorhin am Strand war es auch so. Er hat seine Nase ins Buch gesteckt und sich nicht bewegt. Zwischendurch hat er andere Kinder beim Spielen beobachtet, als er dachte, ich bekomme es nicht mit. Er sah so traurig aus. Es bricht mir fast das Herz, aber ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann“, erzählte ich ratlos.

Über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg schaute Jule mich an, während sie einen Schluck trank.

„Ich glaube, ihm fehlt eine männliche Bezugsperson. Jemand, der mal ein kleiner Junge gewesen ist. Der ihm helfen kann, ihn an die Hand nehmen. Jemand, der versteht, was es heißt, ein Junge zu sein.“

„Aber ich verstehe ihn doch. Und ich versuche, ihn an die Hand zu nehmen und ihm all das zu geben und zu zeigen.“ Ich war wirklich verzweifelt. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und Tränen stiegen mir in die Augen.

Beruhigend strich Jule mir über den Arm. „Das weiß ich ja, Schatz. Und Mateo weiß es sicherlich auch. Aber manchmal reicht Mutterliebe einfach nicht aus. Jungs brauchen Männer, und was sein Vater getan hat, kann man nun wirklich nicht als männliche Erziehung bezeichnen. Er hat ihn gedrillt und zu dem gemacht, was er ist.“

Seufzend nickte ich. Ja, vielleicht hatte sie recht. Aber woher sollte ich eine männliche Bezugsperson für Mateo hernehmen?

„Hat sein Vater sich eigentlich mal wieder gemeldet? Gibt es da etwas Neues? Hat deine Anwältin was erreichen können?“ Ich wusste, worauf Jule anspielte. Kurz nach unserer Trennung hatte Frank seinen Job bei der Bank aufgegeben und sich als Unternehmensberater selbständig gemacht. Schon länger hatte er davon gesprochen, beruflich kürzerzutreten, und nach unserer Trennung hatte er seinen Wunsch in die Tat umgesetzt. Allerdings war es letztlich auf Anraten seines Anwalts geschehen. Da unsere Trennung nicht gerade friedlich abgelaufen war und ihm der Bezug zu seinem Kind komplett fehlte, wollte er so viel Geld wie möglich einsparen und es uns nicht – wie er es sagte – in den Rachen werfen.

Da er durch eine große Erbschaft mehr als genug Rücklagen hatte und das Haus, in dem er lebte, abbezahlt war und ihm gehörte, hatte er sich zur Ruhe gesetzt. Die Unternehmensberatung war nur ein Alibi-Job, in den er nicht sonderlich viel Zeit und Energie steckte. Doch das hatte für ihn den Erfolg, dass er für Mateo nur den Mindestunterhalt und für mich gar nichts mehr zahlen musste. Seit Monaten hatte ich darum gekämpft, aber mittlerweile war klar, ich hatte verloren.

„Nein, sein Sohn ist ihm doch egal. Ich bekomme jeden Monat das Geld, und damit ist er der Meinung, er ist raus aus allen Verpflichtungen. Und was den Unterhalt angeht, sagt meine Anwältin, hätten wir keine Chance. Aber weißt du was? Ich will sein Geld gar nicht. Obwohl es immer knapp ist bei uns, wir kommen klar.“

Nachdenklich nickte Jule.

„Ja, kann ich verstehen. Soll er doch an seiner Kohle ersticken! Vielleicht ist es besser so.“

Mateo tauchte zwischen den Bäumen auf und schnell wechselten wir das Thema. Er musste von dem ganzen Stress, den ich mit Frank hatte, nichts mitbekommen. Es belastete ihn so schon genug, dass sein Vater sich nicht für ihn interessierte. Denn egal, was Frank ihm mit seinen Erziehungsmethoden angetan hatte, mein Mutterinstinkt sagte mir, dass Mateo noch häufig an ihn dachte.

Für immer

Er ist was?

Ich hatte meine Worte, die ich vor zwei Tagen erschrocken ins Telefon gesprochen hatte, noch immer in meinem Kopf. Zunächst glaubte ich, mich verhört zu haben. Dann hatte ich die kurze Hoffnung, dass Karl Friedrich bei unserem Telefonat einen schlechten Scherz gemacht hatte. Allerdings verwarf ich diese Hoffnung sofort, da mein Bruder kein Mensch war, der Scherze machte. Außerdem war es ein Thema gewesen, worüber man sowieso keine Witze machte. Trotzdem konnte es einfach nicht sein. Niemals war es möglich, dass ich meinen Bruder vor zwei Tagen am Telefon richtig verstanden hatte.

Leider war es dennoch so. Mein Vater war an seinem 61. Geburtstag an einem Herzinfarkt gestorben. Daher saß ich jetzt in einem Flugzeug, das mich in meine ehemalige Heimat, die schon lange nicht mehr mein Zuhause war, brachte. Silly kümmerte sich in der Zwischenzeit um meine Surfschule, und ich wusste, dass sie bei ihr in guten Händen war. Die Beerdigung würde am fünften Mai stattfinden, und es war so geplant, dass ich zwei Tage danach wieder auf Fuerteventura sein würde.

Alles, was mir blieb, waren Erinnerungen und ein plötzlich auftretendes schlechtes Gewissen, da wir in den letzten Jahren so gut wie keinen Kontakt mehr gehabt hatten.

Dass wir keinen Kontakt gehabt hatten, war genau der richtige Weg. Ich wusste es, und doch fühlte es sich, jetzt, wo er nicht mehr am Leben war, furchtbar an. Es ging mir mies, und immer wieder kamen in mir die Gedanken auf, dass ich ein schlechter Sohn für ihn gewesen war.

Am meisten Angst hatte ich jedoch davor, heute Nachmittag, wenn ich in Hamburg gelandet war und mein Bruder mich vom Flughafen abgeholt hatte, meiner Mutter unter die Augen zu treten. Ich liebte sie sehr, und doch hatte ich mich um sie, bedingt durch die Entfernung, viel zu wenig gekümmert. Nicht, dass sie Hilfe von mir benötigt hätte. Sie war fit wie ein Turnschuh, hätte sich jedoch über Besuche von mir gefreut. Telefonate waren halt leider etwas anderes als Gespräche, bei denen man sich in die Augen sah. Außerdem waren es Telefonate, die weder mein Vater noch mein Bruder mitbekommen durften. Meine Mutter wollte sich die leidigen Diskussionen mit den beiden ersparen, wofür ich vollstes Verständnis hatte.

Immer wieder stellte ich mir während des Fluges die Frage, die mir seit dem Anruf meines Bruders durch den Kopf ging.

Habe ich mich in den letzten Jahren richtig verhalten?

War ich zu egoistisch gewesen, als ich mich dafür entschieden hatte, mein Ding durchzuziehen? Hätte ich nicht irgendetwas anderes machen können? Auch in Hamburg hätte es ganz bestimmt viele Möglichkeiten gegeben, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Wenn ich dortgeblieben wäre, hätte sich vielleicht das miese Verhältnis zu meinem Vater normalisiert. Womöglich wären wir wieder zusammengewachsen. Also nicht nur mein Vater und ich.

---ENDE DER LESEPROBE---