Mine till the Day you die - Ela Becker - E-Book

Mine till the Day you die E-Book

Ela Becker

3,0

Beschreibung

Ein erschütterndes Ereignis stellt Mels scheinbar perfektes Leben auf den Kopf. Was folgt ist ein schwerer Kampf zurück in ein Leben, bei dem selbst der erste Schritt vor die Haustüre eine Herausforderung darstellt. Alex soll ihr Selbstverteidigungstechniken beibringen, doch dabei wirft er sie in mehr als nur einer Hinsicht um. Gerade als sie sich näher kommen, droht die Vergangenheit Mel einzuholen. Auch Alex verbirgt ein Geheimnis, von dem Mel nichts ahnt.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechszehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Epilog

Die Geschichte enthält Inhalte, die potentiell Triggern könnten. Die Triggerwarnung befindet sich hinter der Danksagung, da sie die Inhalte der Geschichte spoilern.

Ähnlichkeiten mit Personen oder Orten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt

PROLOG

Anderthalb Jahre vorher

»David!« Melissa schreckte schreiend aus ihrem Albtraum hoch. Atemlos suchte sie nach David, der eigentlich neben ihr liegen sollte. David, der ihr sonst in allen Lebenslagen Halt gab, immer für sie da war, sie jederzeit vor sämtlichen Katastrophen bewahrt hatte. Der, den sie in einem Monat heiraten wollte.

Es dauerte einige Minuten, bis ihr bewusstwurde, dass David nicht da war. Er war weder im Badezimmer noch in der Küche oder an einem anderen Ort im Haus.

Sie tastete nach ihrem Handy, das sie abends immer auf ihrem Nachttisch ablegte und schaute aufs Display. Es war noch mitten in der Nacht. Wie sollte sie jetzt wieder einschlafen?

Mel betrachtete das Hintergrundbild, das sie im letzten Urlaub von David gemacht hatte. Sie waren an einer abgelegenen Bucht in Spanien gewesen. Auf dem Bild war er gerade vom Schwimmen auf sie zugekommen. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich in den Wassertropfen, die an seinem Körper herunterliefen. Sie hatte den Anblick derart genossen, dass sie einfach ein Foto machen musste. Jetzt erinnerte Melissa das Bild an alles, was sie verloren hatte. Sie seufzte.

»Warum musste das ausgerechnet uns passieren? Jetzt bist du nicht mehr da. Kannst mich nicht mehr wecken, bringst mir kein Frühstück ans Bett. Was soll ich nur ohne deinen Morgenmuffel-Spezialkaffee machen?« Sie ließ das Handy auf die Bettdecke sinken und hing wehmütig ihren Gedanken nach. David hatte ihr den Kaffee immer dann gemacht, wenn sie morgens besonders schlecht aus dem Bett kam. Er wusste eben genau, wie er ihre Laune verbessern konnte. »Du warst mein Halt, mein Beschützer, meine Schulter zum Anlehnen. Das Haus fühlt sich so leer, so einsam und verlassen an.«

Eine Träne nach der anderen tropfte auf Mels Kissen. Während sie darüber nachdachte, wie David immer genau wusste, wie er sie zum Lachen brachte, tauchte ein Bild von ihm mit einem schelmischen Grinsen vor ihrem inneren Auge auf, bei dem seine Augen immer anfingen zu funkeln. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf Mels Lippen. Er hatte gerne einen dieser dämlichen Sprüche auf Lager, bei denen sie nie wusste, ob sie lachen oder noch wütender werden sollte. Aber bei dem Gedanken an das, was vor einer Woche passiert war, verging ihr das Lächeln jedoch schnell und Mel kam gar nicht mehr damit hinterher, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.

Einer der wichtigsten Menschen ihres Lebens war gestorben. Tot. Und sie allein war schuld daran. Sie hatte ihn umgebracht. Ausgerechnet die Person, die sie am meisten auf dieser Welt liebte.

Melissa entfuhr ein spitzer Schrei. Die Tränen wurden von einem haltlosen Schluchzen begleitet. Die Vorwürfe, die sie sich machte, zerfraßen sie von innen heraus. Sie fühlte sich, als wenn ihr Körper wie ein Glas, das auf den Boden aufschlug, in tausende kleine Teile zerbarst. Wie sollte sie sich das jemals wieder verzeihen können? Wie sollte sie mit dieser Gewissheit weiterleben?

»Mel! Pscht, ist ja gut. Ich bin da. Du bist nicht allein. « Chris bemühte sich, sie zu trösten. Er war ihrer und Davids bester Freund und der einzige Mensch, den sie im Moment überhaupt an sich heranließ.

»Ich weiß, Mel. Er fehlt uns allen.« Chris schlang seine Arme von hinten fest um ihren Körper, um ihr Halt zu geben. Er versuchte, sie mit allen Mitteln nach diesem entsetzlichen Traum zu trösten.

»Ich … Ich hatte wieder einen Albtraum. Und dann habe ich ihn gesucht. Aber er ist nicht mehr da und wird nie wieder da sein. Und das alles meinetwegen.«

»Es ist doch vollkommen normal, dass du David suchst. Du schläfst gerade die erste Nacht nach dem Unfall wieder zu Hause. Hör auf, dir die Schuld an dem zu geben, was passiert ist. Erzählst du mir von deinem Albtraum?« Chris war neben der Polizei die einzige Person, der Melissa sich wegen jener Nacht anvertraut hatte. Denn er war der einzige Mensch, den sie, seit sie im Krankenhaus aufgewacht war, in ihrer Nähe ertrug. Er war es, der ihr den nötigen Halt gegeben hatte, die Aussage bei der Polizei zu überstehen. Die Polizisten, die Mel befragten, waren mit der Aussicht auf weitere Zuhörer überhaupt nicht glücklich. Aber ohne Chris an ihrer Seite hätte Mel keinen Ton über ihre Lippen gebracht. Zu tief saß der Schock in ihren Knochen. Sie war die einzige Person, die Angaben zu den schrecklichen Geschehnissen machen konnte.

»Nein, das schaffe ich nicht. Wenn ich das aussprechen müsste, würde das alles wieder hochkommen.« Ihre Stimme zitterte und mit ihren Händen nestelte sie an der Bettdecke.

»Du musst nicht, wenn du nicht möchtest. Und falls doch, bin ich immer für dich da! Ich hoffe, das weißt du.« Chris versuchte, seine Stimme so zärtlich wie möglich klingen zu lassen und die Wut, die in solchen Situationen in ihm hochkam, zu ignorieren.

Melissa Atemzüge wurden langsam regelmäßiger. Chris legte sie vorsichtig wieder zurück auf die Matratze und zog ihr die Decke bis zum Kinn hoch, damit sie nicht fror. Er blieb eine ganze Weile auf der Bettkante sitzen, um sicherzustellen, dass die Albträume zumindest in dieser Nacht nicht erneut Mels Schlaf störten.

Langsam stand Chris auf und legte sich in das Bett im Gästezimmer. Er brauchte dringend eine Portion Schlaf. Nur einen Augenblick hatte er darüber nachgedacht, sich neben sie zu legen. Aber er hätte es nicht ertragen, auf Davids Bettseite zu liegen. Da gehörte er nicht hin. Selbst, wenn er Melissa nur Trost spenden wollte. Angespannt fuhr er sich mit beiden Händen über sein Gesicht. Der Verlust seines besten Freundes saß auch bei ihm sehr tief. Er stand genau wie Mel noch immer unter Schock und machte sich Vorwürfe. Denn, was Mel nicht wusste, war, dass sie weniger für die besagte Nacht konnte als David und er. Denn ja, er hätte Davids Tod verhindern können. Chris presste sein Gesicht in ein Kissen, um seinen Schrei zu unterdrücken, während er an seinen Haaren riss. Mel durfte das auf gar keinen Fall herausfinden. Er würde alles dafür geben, dass sein Geheimnis nicht ans Licht kam.

Gut, dass sie ihm so sehr vertraute, auch wenn das seine Schuldgefühle nur noch mehr verstärkte. Er ließ seine Haare los und legte die Hände auf seinen Hinterkopf. Er mochte Mel. Genau, wie er seinen besten Freund gemocht hatte. Wenn nicht noch ein bisschen mehr. Aber auch das durfte sie nie erfahren. Die beiden waren seine Familie, die er aus einer Dummheit heraus aufs Spiel gesetzt hatte.

EINS

»So, endlich fertig! Ich hoffe, dass der Entwurf dem Kunden gefällt.«

Mel saß an ihrem penibel aufgeräumten Schreibtisch. Sie griff nach ihrem Glas Wasser, das direkt neben ihrem Laptop auf der hellbraunen Tischplatte stand. Sie hasste Unordnung, deshalb war ihr Schreibtisch so gut wie leer, wenn man davon absah, dass sowohl der Monitor als auch ihr Laptop einen großen Teil des Platzes einnahmen. Auf ihren Kaffee und ihr Handy konnte sie allerdings nicht verzichten. Das heiße Getränk brauchte sie, um den Tag zu überstehen - ihr Blut bestand schließlich beinahe aus diesem Elixier - und mit dem Handy musste sie jederzeit erreichbar sein.

Erschöpft lehnte sie sich in ihrem gepolsterten Bürostuhl zurück. Die erste Phase ihres Projektes war nun beendet. Sie hatte den Entwurf einer Werbekampagne für ein neues Handymodell gerade an ihren Chef gesendet. Nun musste sie auf seine Rückmeldung und später auf die des Kunden warten.

Durch das Fenster direkt hinter Mels Arbeitsplatz fielen warme Sonnenstrahlen auf ihr Gesicht und kitzelten sie in der Nase. Sie hatte von ihrem Büro aus den perfekten Blick auf ihren geliebten Garten. Gedankenverloren und wehmütig sah Mel auch jetzt aus dem Fenster. Sobald die ersten Blumen den Frühling ankündigten, zog es sie nach draußen. Ihr Garten war rundherum mit Bäumen und Sträuchern eingezäunt. Ihre Privatsphäre konnte so von niemandem gestört werden.

Die Holzterrasse neben dem Haus passte mit ihrem warmen Holzton perfekt zu dem modernen Vorstadthaus, das sie zusammen mit David gebaut hatte. Mel konnte schon gar nicht mehr zählen, wie viele Grillpartys sie hier veranstaltet hatten. Sie hatten ihre Freunde und Familien immer gerne um sich herum gehabt und jede Menge schöne Erinnerungen geschaffen.

Wehmütig dachte Mel an diese Zeit zurück. Lange war es her. Seit Davids Tod hatte sie kaum noch Kontakt zu ihren damaligen Freunden. Betrübt wandte sie ihren Blick von der Terrasse ab zu ihrem weißen Rosenpavillon im unteren Teil des Gartens. Er war ihr ganzer Stolz. Von hier aus sah sie der Natur beim Erwachen zu. Es war ein Holz-Pavillon, der rundherum mit Bänken versehen war. Sie musste beim Gedanken daran, wie sie David damals fast zum Verzweifeln gebracht hatte, schmunzeln.

Sie hatten unzählige Modelle betrachtet und keines war gut genug gewesen. Bis sie mit einem befreundeten Schreiner einen Pavillon selbst entworfen und gebaut hatten. In liebevoller Kleinarbeit hatte Mel diesen mit passenden Kissen und Lichterketten dekoriert. Um die Holzbänke und die Balken hatte sie lauter rosa Rosen gepflanzt, die einen angenehmen und intensiven Duft verströmten, den sie stundenlang genoss. Im Juni, wenn ihre geliebten Rosen in voller Blüte standen, hielt sie nichts mehr im Haus. Den Platz genoss sie meist tief versunken in einem spannenden Buch. Oft vergaß sie dabei die Zeit und hörte erst auf, wenn entweder das Buch zu Ende war oder ihr Magen so laut knurrte, dass sie ihn nicht mehr ignorieren konnte. Zusammen mit ihrem Haus, das sie nach Davids Tod nur an wenigen Stellen verändert hatte, bildete der Garten ihre persönliche kleine Wohlfühloase, die sie hegte und pflegte.

Nach einem anstrengenden Tag am Schreibtisch tauchte Mel ihre Arme gerne bis zu den Ellenbogen in Blumenerde und tobte sich in ihrem Garten aus. Und trotzdem vermisste sie die Freiheit, einfach aus der Haustür zu treten und andere Eindrücke in sich aufzusaugen.

»Davon werde ich wohl noch ein wenig länger träumen müssen.« Mel seufzte wehmütig.

Sie war schon eine Ewigkeit nicht mehr am See im Nachbarort gewesen. Das Wetter war ideal für einen Ausflug dorthin.

Sie sah in den strahlend blauen Himmel rauf. »Ich habe unsere Ausflüge an den See immer so sehr genossen, David.« Mel schloss die Augen. »Weißt du noch, wie du jedes Mal ganz neugierig versucht hattest, einen Blick in den Picknickkorb zu erhaschen? Ich wusste immer genau, was du gerne isst. Deine leuchtenden Augen, wenn du die vielen kleinen Köstlichkeiten gesehen hattest, waren der Dank für meine Mühe.« Sie legte den Kopf schräg.

»Geht es dir da oben gut? Erinnerst du dich auch daran, wie wir es geliebt hatten, am See entlang zu schlendern? Erinnerst du dich an unseren Platz dort?« In Gedanken wanderte Mel zu ihrem Platz. Sie hatten die mitgebrachte Picknickdecke vor einem umgefallen Baum, dessen Äste bis ins Wasser reichten, ausgebreitet. Zusammen hatten sie die Enten beobachtet, die ganz nah bis zu ihnen heranschwammen, in der Hoffnung, etwas von den Köstlichkeiten abzubekommen. Weitere Bäume um sie herum schützten sie vor der Sonne und boten ein wenig Ruhe vor anderen Spaziergängern.

»Erinnerst du dich noch an die wunderschönen Sonnenuntergänge, die wir an dieser Stelle beobachtet hatten? An den einen, als der Himmel in sämtlichen Rottönen leuchtete und sich die letzten Sonnenstrahlen im Wasser spiegelten? Ich hatte vor lauter Bewunderung gar nicht mitbekommen, dass du vor mir auf die Knie gegangen warst. Für mich war sofort klar, dass ich deinen Antrag annehmen musste.«

Mit einem Schluchzen löste Mel sich von ihren Gedanken und Selbstgesprächen und richtete ihren Blick in den Raum hinter sich. Sie verließ ihre kleine Oase inzwischen nur noch dann, wenn ein Besuch beim Arzt anstand, zu dem Chris sie regelmäßig schleifte.

Weder für ihre Einkäufe noch zum Arbeiten musste sie das Haus verlassen. Sie bestellte ihre Lebensmittel online und ließ sie sich vor ihre Haustür liefern. Ihr Chef hatte sich darauf eingelassen, dass Mel ausschließlich von zu Hause aus arbeitete. Die Präsentationen der entsprechenden Kampagnen übernahm er für sie.

An Teammeetings nahm sie über Online-Konferenz-Programme teil. Dass das keine Dauerlösung darstellte, war Mel vollkommen bewusst. In ihrer aktuellen Situation war sie mit der Lösung aber mehr als glücklich.

All diese Maßnahmen waren nur deshalb notwendig, weil sie sich seit dem Ereignis vor anderthalb Jahren nicht mehr ohne Begleitung vor die Haustür traute. Sie bekam regelrecht Panikattacken, wenn es an der Tür klingelte. Dem Postboten und den Lieferdiensten hatte sie Abstellgenehmigungen erteilt, damit sie so wenig Kontakt wie möglich hatte.

Bevor Mel sich weiter in ihren Gedanken verlieren konnte, klingelte ihr Handy. Der Name ihres Chefs erleuchtete hell auf dem Display. Sicher hatte er vor, mit ihr den gerade gesendeten Entwurf durchzugehen, bevor er diesen dem Kunden präsentierte.

»Puh. Geschafft!« Gegen Mittag, als sie das Telefonat endlich beendet hatte, fiel Mel in ein tiefes Loch. Die schlaflosen Nächte forderten immer früher am Tag ihren Tribut. Müde rieb sie sich ihre pochenden Schläfen und begab sich in die Küche. »Jetzt brauche ich unbedingt eine Kopfschmerztablette und einen starken Kaffee, bevor die Schmerzen noch schlimmer werden.«

Sie holte die Packung aus der Schublade.

»So ein Mist!« Mel warf die leere Verpackung auf den Küchenboden und wandte sich hektisch der Schublade zu. Aber auch das Herumwühlen half nichts. Es waren keine Tabletten mehr da. Sie musste beim letzten Mal vergessen haben, neue zu bestellen.

Wenn sie jetzt keine Tablette einnahm, würde sie später an einem ausgewachsenen Migräneanfall leiden.

»Da bleibt wohl nur Chris«, sagte sie zu sich selbst.

Mit einem Seufzer griff sie nach ihrem Handy.

Hallo, mein Retter in der Not. ;-)

Ich habe mal wieder vergessen, Kopfschmerztabletten zu besorgen. Es kündigt sich eine Migräne an. Darf ich dich noch mal bitten, mir welche zu besorgen? Wenn ich sie bestelle, dauert es zu lange :(

Wie immer kam seine Antwort nur wenige Sekunden später.

Klar. Ich bin gleich bei dir.

Zum Glück konnte sich Chris seine Zeit frei einteilen und ihr kurzfristig aushelfen.

Dennoch blieb bei Mel immer ein fader Beigeschmack, wenn sie wieder einmal auf Chris‘ Hilfe zurückgriff. Sie erinnerte sich jedes Mal erneut daran, wie abhängig sie von anderen war. Ausgerechnet sie, die doch immer ihre Freiheit und Unabhängigkeit genossen hatte.

Mit ihrem Kaffee in der Hand ging Mel zurück an den Schreibtisch, um an den letzten Details der aktuellen Kampagne zu feilen. Schließlich wartete im Anschluss das nächste herausfordernde Projekt auf sie. Trotz der häufigen Müdigkeit und der vielen Kopfschmerzen machte ihr die Arbeit Spaß.

Mel trank gerade den letzten - inzwischen kalten - Schluck Kaffee, als vorsichtig an ihre Tür geklopft wurde.

»Hey! Du siehst wirklich bescheiden aus, wenn ich das mal so sagen darf.« Chris besaß schon vor dem Unfall einen Schlüssel zu ihrem Haus, was sich besonders jetzt als äußerst praktisch erwies. »Gut, dass ich nicht klingeln soll.« Chris kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

»Da du der einzige mit Schlüssel bist und auch nur angekündigt vorbeikommst, erübrigt sich das Klingeln sowieso.« Mel brachte ein mühsames Lächeln zustande.

Ihre Eltern besuchten sie nur nach vorheriger Absprache und riefen sie an, wenn sie vor der Tür standen. Mehr Besuch bekam sie nicht und alle anderen Personen ließ sie vor verschlossener Tür stehen.

Mit einem Lächeln kam der große rothaarige Mann auf Mel zu. Seine Haare wirkten heute dunkler als sonst und auch seine Sommersprossen stachen deutlicher auf seinem blassen Gesicht hervor. Er legte seine starken Arme um ihre Schultern und drückte sie fest an sich. Fürsorglich reichte Chris ihr die Tabletten und eine Wasserflasche, die er aus der Küche mitgebracht hatte.

»Ich dachte mir schon, dass du die Tabletten dringend brauchst.«

Mel machte sich eine geistige Notiz, dass sie sich am besten direkt welche auf Vorrat besorgte. So müsste sie beim nächsten Mal nicht auf Chris zurückgreifen.

»Danke. Die letzte Nacht habe ich wieder mehr wach als schlafend verbracht. Natürlich kündigt sich eine Migräne an.«

»Das habe ich mir schon gedacht, du siehst echt fertig aus. Soll ich heute Nacht hier schlafen? Oder kann ich dir sonst etwas Gutes tun?«

»Das ist lieb, aber ich komme schon zurecht. Wenn nicht immer diese Albträume wären. An denen kannst du ja leider auch nichts ändern.« Sie lächelte erschöpft.

»Ach Mel. Ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun. Aber ich bin inzwischen echt ratlos. Hilft es dir, wenn du mal wieder ein wenig aus deinem Schneckenhaus rauskommst? Ich denke, dass es Zeit wird, das Leben zu genießen. David hätte nicht gewollt, dass du dich so einigelst.« Chris machte eine kurze Pause, um seine Worte zu unterstreichen. »Versteh mich bitte nicht falsch! Das mit David ist jetzt fast anderthalb Jahre her. Seitdem hast du nicht mehr einen Schritt allein vor die Tür gesetzt. Dein ganzer Lebensmittelpunkt findet hier in diesem Haus statt. Glaubst du, das hätte er gewollt?«

»Chris. Ich weiß, dass es so nicht ewig weitergehen kann und sich etwas ändern muss. Aber ich bin einfach noch nicht so weit.« Mel sank auf ihrem Schreibtischstuhl zusammen.

»Was hält dich ab? Kommt dein Mut, vor die Tür zu gehen, einfach über Nacht zurück? Willst du weiterhin nur herumsitzen und grübeln?« Chris wedelte mit seiner Hand umher und deutete auf die Couch.

»Chris, was soll das denn jetzt? Du weißt, wie schlecht es mir damit geht. Meinst du ernsthaft, es bringt was, wenn du mich jetzt unter Druck setzt? Mir Vorwürfe machst?« Mit einem Ruck richtete sich Mel auf. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und ihre Miene wurde düster.

»Mel, ich möchte nicht mit dir streiten! Es war auch nicht meine Absicht, Druck auszuüben. Aber du musst doch auch langsam begreifen, dass es so nicht mehr weiter geht.«

»Und was soll ich deiner Meinung nach machen? So einfach mir nichts dir nichts vor die Tür gehen, oder wie?« Wütend über Chris‘ herzlosen Vortrag sprang sie vom Stuhl auf.

»So war das nicht gemeint! Ich versuche, dir zu helfen. Nur bin ich langsam auch mit meinem Latein am Ende.« Chris hob fragend seine Hände. »Hast du schon mal über einen Selbstverteidigungskurs nachgedacht?« Er nahm seine Hände wieder runter und ging einen Schritt auf Mel zu.

»Nein, habe ich nicht. Was soll mir das bringen? Ich verachte Gewalt und nach der Sache damals werde ich mich ganz sicher nicht von irgendwelchen fremden Menschen anfassen lassen. Außerdem, wie soll ich hinkommen?« Mel verschränkte ihre Arme vor der Brust.

»Ich lass dir mal eine Karte von einem Freund hier. Er unterrichtet Selbstverteidigung und wäre für den Anfang bereit, dir hier Einzelstunden zu geben. Alex ist wirklich in Ordnung. Ihm kannst du vertrauen und wenn du möchtest, kann ich bei den Stunden dabei sein.« Chris streckte Mel eine Visitenkarte hin, die sie nicht einmal beachtete. Stattdessen schaute sie mit geschürzten Lippen aus dem Fenster.

»Du hast nicht ernsthaft ohne mein Wissen mit fremden Leuten über mich geredet, oder?« Mel blickte ihren Freund mit weit geöffneten Augen an.

»Ich habe nur das erzählt, was er unbedingt wissen muss, falls du dich darauf einlässt.« Er ging einen Schritt auf Mel zu und streckte ihr die Karte immer noch entgegen.

»Chris! Was soll das? Du hast mir versprochen, niemandem davon zu erzählen. Niemandem!« Aufgebracht drehte Mel sich von Chris weg und tigerte durch den Raum.

»Mel … Jetzt beruhige dich doch bitte!« Er versuchte, ihren Arm zu fassen, Mel zog diesen schnell genug weg. Sein Griff ging ins Leere.

»Ich möchte mich aber nicht beruhigen. Ich möchte weder die Hilfe deines Bekannten noch von irgendwem sonst. Du hast mir ein Versprechen gegeben!« In sicherer Entfernung zu Chris blieb Mel stehen und sah ihn eindringlich an. »Geh jetzt, bitte.«

Mit einem Seufzen ließ Chris die Visitenkarte auf Mels Schreibtisch fallen, drehte sich um und ging zur Tür. Im Türrahmen drehte er sich ein letztes Mal zu ihr um. »Dann werde ich jetzt wohl gehen. Aber bitte denk in Ruhe darüber nach. Melde dich, wenn etwas ist.«

Er wandte sich erneut von ihr ab, um das Haus zu verlassen. Erst als sie die Haustür ins Schloss fallen hörte, ließ Mel sich zurück in ihren Schreibtischstuhl sinken. Sie legte ihre Arme auf die Schreibtischplatte und vergrub den Kopf in ihnen. Ein lautes Schluchzen entwich ihren Lippen. Die ersten Tränen liefen über die Wangen, sie hatte das Gefühl zu zerbrechen. In ihrem Inneren schmerzte jede Pore ihres Körpers. Sie fuhr sich mit ihren Händen über das Gesicht, bevor sie diese in ihren Schoß legte. Mel konnte es nicht fassen, dass Chris sie so hinterging. Sie fühlte sich Verraten und im Stich gelassen. Wütend trommelte sie mit ihren Fäusten auf der Tischkante, als sich ein Schrei aus ihrem Inneren löste.

Konnte Mel Chris weiter um Hilfe bitten? Sie hatte jedes Mal ein schlechtes Gewissen dabei. Wen sollte sie in Zukunft sonst fragen? Wenn sie ihre Eltern fragte, dann musste sie ihnen erzählen, wie es ihr wirklich ging. Das würde sie nicht übers Herz bringen. Sie machten sich sowieso zu viele Sorgen um sie. Und jemand anderes ist ihr nach dem Vorfall nicht geblieben.

Da würde Mel lieber in den sauren Apfel beißen und sich weiterhin Chris‘ Vorwürfe anhören.

ZWEI

Hoffentlich schlief Mel gleich nicht ein. Nach einer weiteren Nacht geprägt voller Albträume saß sie mit ihrem inzwischen dritten Kaffee am Schreibtisch. Der Besprechung ihrer Abteilung, an der sie über eine Liveschaltung teilnahm, konnte sie nur schwer folgen.

Webcampain, wie die Firma, für die Mel arbeitete, hieß, sollte die Außenpräsenz von Möbel Drew verbessern.

Der Möbelhersteller fiel im letzten Jahr vermehrt mit schlechten Schlagzeilen auf. Dadurch hatten sie hohe Umsatzeinbußen und einen großen Imageschaden erlitten.

Eine Werbekampange für eine neue Möbellinie und ein neuer Internetauftritt sollten das Image jetzt wieder aufbessern.

Es handelte sich um ein sehr umfangreiches, aber auch lukratives Projekt, von dem ihr Chef Mark sich viel versprach.

Mel trank einen großen Schluck Kaffee und richtete sich weiter auf, um dem Geschehen auf ihrem Bildschirm zu folgen. Das Brainstorming lief schon seit einer Stunde. Bisher hatte ihr Chef noch nicht entschieden, wer das Konzept am Ende als Projektleiter ausarbeiten würde.

Mel schrieb ihrer Kollegin Lindsay, mit der sie sich gelegentlich austauschte, um zumindest etwas auf dem Laufenden zu bleiben.

Hat Mark schon Andeutungen gemacht, wer das Projekt bekommt?

Mel hatte ihren aktuellen Auftrag fast abgeschlossen und war zudem die erfahrenste Mitarbeiterin. Sie sollte wohl langsam ein bisschen besser zuhören.

Bisher noch nicht. Aber ich bin mir sicher, dass du das Projekt zugeteilt bekommst. Schließlich hast du ein Händchen für schwierige Kunden.

An sich klang es spannend und nach einem Auftrag ganz nach Mels Geschmack. Sie liebte umfangreiche und schwierige Projekte.

Meinst du?

Sie war sich alles andere als sicher.

In der letzten Zeit hatte sich immer mehr herausgestellt, dass ihre Abwesenheit für ihre Arbeit eher hinderlich war. Besonders bei den Präsentationen der Ideen und in Abstimmungsgesprächen mit den Auftraggebern fehlte Mel. Saß sie gemeinsam mit einem Kunden in einem Raum, so nahm sie die kleinsten Regungen wahr und konnte feststellen, ob er eine Idee interessant fand oder von etwas nicht überzeugt war. Oft gab das den ausschlaggebenden Punkt, an einer Sache ein bisschen mehr zu feilen.

Sie war zwar immer über Onlineschaltungen bei diesen Terminen dabei, nahm aber über den Bildschirm nicht alles wahr, was ihr sonst nicht entging.

In letzter Zeit kamen immer mehr Nachfragen der Kundinnen und Kunden, warum ich nicht persönlich da war. Einige haben deshalb auch schon um eine andere Projektleiterin oder einen anderen Projektleiter gebeten. Ich habe in letzter Zeit eher die unbeliebten Aufträge abbekommen.

So konnte es nicht mehr lange weitergehen. Selbst Mels Kolleginnen und Kollegen wurden immer neugieriger und unzufriedener mit der Situation.

Innerlich wartete sie nur darauf, dass ihr Chef sie zurück ins Büro orderte. Sie wusste jedoch nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte. So blieb ihr im Moment nichts übrig, als besonders gute Werbekonzepte zu entwerfen und ihre Füße still zu halten. Anderenfalls sah sie ihren Arbeitsplatz in Gefahr.

Mark kann in diesem Projekt nicht auf dich verzichten. Da bin ich mir sicher.

Lindsay versuchte eindeutig, sie aufzubauen.

Als Mels Chef die Besprechung nach einer weiteren Stunde endlich beendete, verließen die Kolleginnen und Kollegen eilig den Konferenzraum. Mel wollte sich gerade verabschieden, als Mark direkt in die Kamera sah. »Melissa kannst du bitte noch einen Moment warten? Ich habe noch etwas mit dir zu besprechen.«

Mel nickte und wartete gespannt ab, bis auch der letzte Kollege den Besprechungssaal verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Beim Blick in das Gesicht ihres Chefs wuchs ihre Anspannung rapide an. Mel wurde flau im Magen und musste sich zusammenreißen. Sie spürte bereits, wie sich ihr Mageninhalt einen Weg nach oben suchte. War jetzt der Zeitpunkt gekommen?

»Mel, du bist meine beste und erfahrenste Mitarbeiterin, weshalb ich dich dringend für dieses Projekt brauche. Dafür ist aber deine Anwesenheit in der Firma notwendig.« Auch wenn Mark dabei weiterhin ruhig und gelassen vor dem Laptop saß, hörte Mel an seinem ernsten und strengen Tonfall, dass ihm dieses Gespräch ebenfalls zusetzte.

»Mark, das schaffe ich nicht. Du kennst den Grund.« Angespannt spielte sie mit ihrem Kugelschreiber, mit dem sie sich eben noch Ideen zu dem Projekt notiert hatte.

»Ich habe dir diese Lösung als vorübergehende Option eingeräumt, weil ich dich nicht verlieren wollte. Ich kann es mir nicht leisten, eine so gute Mitarbeiterin wie dich gehen zu lassen. Dieser Zustand dauert jetzt aber schon anderthalb Jahre an. Inzwischen wird es zunehmend schwerer, dein volles Potential auszuschöpfen. Deine Abwesenheit muss ich ständig erklären und rechtfertigen.« Mark richtete sich während seiner Erklärung auf, sein Tonfall wurde schärfer.

Mel konnte darauf nichts erwidern. Sie gab ihrem Chef recht. Es war nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis es zu diesem Gespräch kam. Sie selbst hatte vorhin noch darüber nachgedacht.

»Es gibt in dieser Firma zu viele gute Talente. Ich kann dich langsam nicht mehr in Schutz nehmen.«

»Ich weiß! Nur habe ich immer noch keinen Ausweg aus dieser Situation gefunden. Du bist neben Chris der Einzige, der mein Problem kennt und über den Grund Bescheid weiß.« Erneut überfiel Mel ein schlechtes Gewissen. Sie hatte ihren Eltern immer noch nichts erzählt. Sie hatten ein offenes und vertrauensvolles Verhältnis, doch ihr fehlte der Mut, ihnen das Ganze jetzt zu erzählen, wo der Vorfall schon so lange her war.

Mels Eltern fragten sie regelmäßig, warum sie nicht mehr zu ihnen gekommen sei, aber sie hatte bisher immer eine Ausrede gefunden. So belief sich der wenige Kontakt auf Telefonate oder Besuche von ihren Eltern bei ihr. Schon länger hatte Mel das Gefühl, dass sie etwas vermuteten. Solange sie sie damit nicht konfrontierten, ignorierte sie ihre Gefühle diesbezüglich.

»Mel, es ist ja nicht so, dass ich kein Verständnis für dich habe. Ich bin mir deiner Situation vollkommen bewusst. Aber mir sind die Hände gebunden.« Mark massierte sich die Schläfen.

»Ja, ich brauche dich und möchte ungern auf dich verzichten. Aber ich brauche dich zu einhundert Prozent. Mir bleibt nichts anderes übrig, als dir ein Ultimatum zu stellen.« Er sah sie eindringlich an. Mels Magen zog sich bei diesen Worten nur noch weiter zusammen.

»Wir fangen gerade erst mit dem Projekt an, das mindestens ein dreiviertel Jahr, wenn nicht sogar länger dauern wird«, sagte er leiser. »Die ersten Abstimmungen haben gerade begonnen. Die können wir wie bisher über die Bühne bringen.«

Mel sank immer weiter in sich zusammen.

»Aber spätestens in einem halben Jahr bist du bei den Konferenzen wieder körperlich anwesend. Ansonsten muss ich dich entlassen und das fände ich sehr schade. Ich schätze dich als Mensch und nicht nur als Mitarbeiterin. Das weißt du. Aber so kann es nicht mehr weitergehen.«

Mel musste hart schlucken. Ihr war zwar bewusst, dass ihre Situation problematisch war. Sie hatte auf kurz oder lang bereits mit Konsequenzen gerechnet, aber insgeheim immer gehofft, einer solchen Situation entkommen zu können.

»Da kann ich jetzt nicht wirklich etwas zu sagen. Dein Entschluss scheint festzustehen.« Mels Stimme war belegt. Krampfhaft versuchte sie, sich ihre Tränen und Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Ein schwerer Stein drückte auf ihr Herz, das Atmen fiel ihr schwer. Wieder fühlte sie sich von einem Freund verraten. Doch dieser Verrat saß nicht so tief wie der von Chris, schließlich hatte sie insgeheim mit einem solchen Ultimatum gerechnet.

»Mel, bitte nimm dir den restlichen Tag Zeit, besprich dich mit Chris. Ihr werdet sicherlich gemeinsam einen Ausweg finden.«

Damit verabschiedete sich ihr Chef. Mel blieb mit ihren Gedanken allein vor dem Laptop zurück. Fassungslos über das Gespräch und ihre scheinbar aussichtslose Situation brach sie in Tränen aus. Sie sank in sich zusammen und eine Leere machte sich in ihrem Inneren breit. Wie sollte es jetzt nur weitergehen? Wenn sie wirklich ihren Job verlor, dann könnte Mel sich auch von ihrer Oase verabschieden.

»So. Genug damit! So schwer kann das doch nicht sein!« Nach zwei Stunden, in denen sie weinend am Schreibtisch gesessen hatte, fasste Mel einen Entschluss. »So leicht gebe ich meinen Arbeitsplatz nicht auf. Ich will jetzt endlich mein Leben zurück«, sprach sie ihren Entschluss laut aus.

Zielstrebig ging sie in ihr Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Ihre geschwollenen und rot unterlaufenen Augen versuchte sie, so gut es ging mit Make-up zu verdecken.

Im Flur zog Mel sich Schuhe und Jacke an, schnappte sich ihre Handtasche und die Schlüssel. Entschlossen fasste sie nach dem Griff der Haustür.

Zögernd atmete sie tief durch und bestärkte sich in ihrem Entschluss, jetzt einfach aus der Tür zu treten und zu Chris zu gehen. Die zwei Straßen, die er entfernt wohnte, würde sie schon bewältigen.

Sie riss die Haustür auf und hob ihren Fuß, um den ersten Schritt über die Türschwelle zu setzen.

»Du schaffst das, Mel! Du musst den Fuß einfach nur auf der anderen Seite absetzen.«

Doch noch bevor sie den Fuß auf dem Boden absetzen konnte, hielt sie stockend inne.

»Uff.« Mels Magen verkrampfte sich und ihr wurde übel. Ihr Herz fing an, wild zu pochen. Ihr Hals schnürte sich zu, sie hatte das Gefühl, als bliebe ihr die Luft weg. Mels Blick, der gerade noch auf die Straße gerichtet war, wurde starr und ihr Sichtfeld verkleinerte sich immer weiter. Sie nahm alles um sich herum nur noch wie durch einen Tunnel wahr. Panisch griff sie nach der Türzarge und klammerte sich fest. Langsam ließ sie sich daran heruntersinken, ohne die Zarge loszulassen.

Verzweifelt versuchte Mel, ihre Atmung und ihren Herzschlag zu beruhigen. Aber ihre Bemühungen waren umsonst.

Weit entfernt bekam sie mit, wie jemand sie an ihren Schultern berührte und auf sie einredete. Sie verstand kein Wort von dem, was die Person zu ihr sagte. Am Rande ihres Bewusstseins meinte Mel, Chris‘ Stimme zu erkennen, bevor alles um sie herum in Dunkelheit versank.

»Was …? Wo bin ich?« Noch nicht ganz wach und ein wenig verwirrt tastete Mel um sich. Sie machte die Couch unter sich aus. »Wie komme ich hier hin? Ich wollte doch zu Chris.« Sie murmelte leise vor sich hin. Über ihr war ihre weiche Kuscheldecke ausgebreitet. Die war zwar schon alt und verwaschen, erinnerte sie aber an frühere Zeiten. Als David noch lebte, saß sie regelmäßig unter dieser Decke an ihn angekuschelt auf der Couch, während sie gemeinsam einen Film ansahen. Auf gar keinen Fall würde sie sich von ihr trennen. Das wäre undenkbar.

Als sie aufschaute, saß Chris im Sessel gegenüber. Mel blinzelte irritiert. »Was machst du denn hier?«

Gleichzeitig fragte er: »Was hattest du vor?«

Irritiert sah Mel Chris an und überlegte fieberhaft, was passiert war. Alles, woran sie sich erinnern konnte, war der Gedanke, endlich wieder leben zu wollen. Sie hatte versucht, das Haus zu verlassen. Das war ihr wohl nicht gelungen. Aber wie kam Chris hier her?

»Ich brauche erst ein Glas Wasser, bevor ich mich deinem Verhör stelle.«

Mit einem entschuldigenden Blick reichte Chris ihr das gewünschte Getränk.

»Sorry. Ich habe mir Sorgen gemacht. Mark hat mich nach eurem Meeting angerufen, da er so eine Aktion von dir schon befürchtet hatte. Als ich dich dann in deiner Haustür habe liegen sehen, hatte ich einen Schrecken bekommen.« Chris kniete sich neben sie auf den Boden. »Ich weiß, ich war derjenige, der dir gestern vorgeworfen hatte, dass du an deiner Situation nichts ändern würdest. Aber meinst du, Zwang ist der richtige Weg?« Fragend sah er sie an und nahm ihre Hand in seine. »Du hast jetzt anderthalb Jahre das Haus nicht verlassen. Dafür gibt es doch einen Grund. Meinst du, der löst sich in Luft auf und du musst einfach nur vor die Tür gehen und alles ist wieder wie früher?«

»Ich weiß, das war eine doofe Idee. Wenn ich aber meinen Job behalten will, muss ich etwas ändern. Nur fehlen mir die Ideen, wie. Mark hat dir ja sicherlich von dem Ultimatum erzählt, das er mir gestellt hat. Ich liebe meine Arbeit. Sie ist das Einzige, das noch genauso ist wie früher. Ich möchte nicht auch noch das Haus verlieren.« Mel entzog ihm ihre Hand, damit sie die Arme vor der Brust verschränken konnte. Sie hatte das Gefühl zu zerbrechen, wenn sie ihren Oberkörper nicht umklammerte.

Chris legte eine Hand auf ihre Schulter und strich ihr beruhigend über den Rücken.

»Ihm ist auch bewusst, dass du Zeit brauchst, um deine Ängste abzubauen.« Er neigte seinen Kopf leicht zur Seite. »Ich hatte dir letzte Woche Alex‘ Karte dagelassen. Hast du da wenigstens mal drüber nachgedacht? Das wäre eine Möglichkeit, erst dein Selbstvertrauen und dann dich selbst zu stärken. Danach können wir den Rest immer noch angehen.

»Ähm … Ehrlich gesagt, noch nicht, nein.« Mels Stimme wollte ihr noch nicht ganz gehorchen, mühsam richtete sie sich auf der Couch auf. »Ich habe das bisher verdrängt. Wie stellst du dir das denn überhaupt vor?« Zweifelnd sah sie Chris an und knete ihre Hände.

»Natürlich würde ich das nie von dir verlangen.« Er löste ihre Hände und nahm sie beruhigend in seine.

»Du weißt doch, ich trainiere schon lange Krav Maga. Alex ist seither mein Trainer. Mit meiner Firma sponsere ich seine Projekte. Er selbst arbeitet an einer Karriere als MMA-Fighter.« Mit sanfter Stimme versuchte Chris, Mel von seiner Idee zu überzeugen. »Solange, bis du so weit bist, zu Einzelstunden in seinen Club zu kommen. Ich wäre zumindest am Anfang bei den Trainingseinheiten dabei, damit du dich sicherer fühlst.« Er drückte ihre Hände bestimmend.

»Chris, ich weiß nicht so recht. Ich und Kampfsport? Ich verachte doch jegliche Gewalt und seitdem das mit David passiert ist, erst recht. Und jetzt soll ausgerechnet ich einen Kampfsport erlernen?« Mel wusste nicht, was sie von dieser Idee halten sollte. »Außerdem: Was soll das bringen? Meinst du, nur weil ich dann theoretisch weiß, wie ich mich wehren könnte, verliere ich meine Angst?« Sie entzog ihm erneut ihre Hände und war zu aufgebracht, als dass sie sie ruhig halten konnte. Wild fuchtelte sie mit ihnen herum. Auch Chris‘ sanfte Berührungen halfen nicht weiter.

»Geschweige denn, dass ich mich in einer solchen Situation wirklich verteidigen könnte. Ich kann nicht mal einer Fliege was antun. Dann soll ich lernen, wie ich Menschen verletzen kann?« Mel blickte ihren Freund skeptisch an.

»Angst beginnt im Kopf, Mut auch. Wenn dein Kopf also erst mal begreift, wie du dich wehren kannst, glaube ich fest daran, dass du deinen Mut wiederfindest.« Langsam begann Mels Mauer zu bröckeln.

»Außerdem ist Kampfsport weit mehr als Gewalt. Es bedeutet Kontrolle, Selbstvertrauen, Stärke … Ich könnte noch viel mehr aufzählen. Du willst doch die Kontrolle über dein Leben zurück, oder? Was hast du zu verlieren?« Chris klang dabei selbst von seinen Worten überzeugt und fast wie ein Coach für Selbstvertrauen. Mel war von seiner Ansprache fasziniert. Da konnte sie schlecht ablehnen.

»Womit habe ich einen besten Freund wie dich nur verdient? Du hast mal wieder recht. Wenn du meinst, der Schritt könnte mir ernsthaft helfen, dann lass es uns versuchen.« Mel traute ihrer Entscheidung noch nicht ganz, hatte aber durch Chris‘ Rede neuen Mut gefasst.

»Sehr schön. Ich vereinbare mit Alex einen Termin und dann fangen wir an, dein Leben wieder in die richtige Bahn zu lenken!« Damit klopfte Chris Mel auf die Schulter und stand mit einem Stöhnen vom Boden auf.

»Kann ich dich jetzt wieder allein lassen, ohne dass du irgendwelche Dummheiten anstellst? Ich muss noch ein bisschen was klären. Ich melde mich bei dir, sobald ich was von Alex gehört habe.« Er sah sie mit geneigtem Kopf an.

»Geh ruhig. Mir geht es dank dir schon bedeutend besser. Es ist mir ja vollkommen klar, dass ihr nur das Beste für mich wollt. Und jetzt ab mit dir. Ich nehme dich schon viel zu sehr in Beschlag.« Mel stand auf und scheuchte Chris mit ihren Händen weg.

Nachdem er gegangen war, ging sie zurück ins Büro, um sich die Visitenkarte und den Laptop zu holen. Neugierig überlegte sie, ob sie diesen Alex googeln sollte, entschloss sich aber dagegen.

»Ich lasse es einfach auf mich zukommen. So schlimm wird es schon nicht werden. Nachher mache ich doch noch einen Rückzieher.«

DREI

Ein paar Tage später war es so weit. Chris hatte sein Versprechen gehalten und mit Alex einen Termin zum Training in Mels Garten vereinbart. Sie war echt gespannt auf diesen Typen. Viel hatte sie von Chris nicht über ihn erfahren. Gerade bereute sie, dass sie nichts Näheres über ihn wusste.

Pünktlichkeit schien auf jeden Fall nicht seine größte Stärke zu sein. Seit einer Ewigkeit warteten sie auf Alex. Mel blickte demonstrativ auf die Uhr, doch Chris zuckte bloß mit den Schultern. »Er ist halt ein vielbeschäftigter Mann.«

Was zum Henker hatte sie sich dabei gedacht, einen fremden Mann zu sich einzuladen? Okay, genaugenommen hatte Chris das Treffen organisiert. Und da sie nicht ihr Haus verließ, musste das Training gezwungenermaßen bei ihr zu Hause stattfinden. Mel schob sich einen Keks in den Mund, obwohl sie eigentlich gar keinen Hunger hatte.

Die Idee mit dem Selbstverteidigungskurs war gut, aber warum konnte Chris ihr die Griffe nicht zeigen? Warum musste dafür extra ein Trainer kommen? Chris wusste ganz genau, wie schlecht ihr allein schon beim Gedanken daran, einen fremden Mann in ihre Komfortzone Haus zu lassen, wurde. Nur gut, dass ihr Freund sie nicht vollkommen allein ließ.

Völlig in Gedanken versunken, bemerkte Mel nicht, wie Chris schon eine ganze Weile auf sie einredete.

»Mel, jetzt reiß dich doch mal zusammen. Alex ist wirklich ein guter Trainer. Ich bin die ganze Zeit über hier.«

Bevor sie antworten konnte, dass sie weniger angespannt gewesen wäre, wenn Chris ihr wenigstens ein Foto von diesem Alex gezeigt hätte, klingelte es.

»Bleib du sitzen, ich mache schon auf.« Chris war bereits auf halbem Weg zur Haustür.

Wenig später trat er, gefolgt von einem grimmig dreinblickenden Kerl, auf die Terrasse. Er war ein ganzes Stück größer als Chris. Seine Bauch- und Brustmuskeln zeichneten sich deutlich unter seinem enganliegenden Shirt ab. Mel wurde heiß. Ihr Blick wanderte zu seinem Gesicht. Sie wollte ihm nicht zu offensichtlich zeigen, wie ihr seine Muskeln gefielen. Ihr entfuhr ein Keuchen, als sie den Cut an seiner rechten Augenbraue und seine Nase sah. Sie sah eindeutig so aus, als wäre sie frisch gebrochen, so geschwollen war sie, und sein linkes Auge leuchtete in den verschiedensten Blautönen.

Nur mit viel Mühe schaffte Mel es, einen Kommentar zu unterdrücken, bevor sie den Kerl weiter betrachtete.

Trotz all seiner Blessuren kam sie nicht umhin, festzustellen, dass er ein sehr markantes Gesicht hatte. Und erst seine Augen … Sie waren stahlgrau und musterten sie eingehend. Unter seinem Blick wurden Mels Wangen heiß, glühten immer stärker, je länger er sie ansah.

Wie sie wohl auf ihn wirkte? Sie war schon zu Schulzeiten mit David zusammengekommen, weshalb sie sich seitdem nie wieder Gedanken darüber gemacht hatte, wie sie bei anderen Männern ankam. Für sie gab es immer nur David.

»Da ist ja der Sorgenfall.« Alex‘ Kommentar hörte sich abfällig und wenig begeistert an.

»Hattest du nicht gesagt, dass das mit dem Training kein Problem sei? Du meintest, Alex mache das gerne.« Mel drehte sich zu Chris. »Hast du ihn bestochen, damit er dem Sorgenfall Privatstunden gibt?« Sie betonte das Wort Sorgenfall besonders abfällig. Ihr war klar, dass es kein wohlgemeinter Gefallen war. Chris wich ihrem Blick aus, was ihre Vermutung nur noch weiter bestärkte.

»Du hast ihm doch nicht etwa gedroht, oder?« Vielleicht hatte Chris etwas gegen Alex in der Hand. Besonders vertrauenserweckend sah der Typ nicht aus. Eher so, als wäre er gerade eben erst aus einem Boxring gestiegen, und das nicht als Sieger. Chris zuckte auf ihre Frage hin nur mit der Schulter.

Mel stand auf. Sie musste dringend mit Chris unter vier Augen reden.

»Chris? Hast du einen kurzen Moment für mich?«

Eindringlich sah sie ihn an und trat entschlossen auf ihn zu.

»Klar!«

Mit schnellen Schritten ging Melissa ins Haus. Chris folgte ihr. In der Küche angekommen, drehte sie sich wütend zu ihm um.

»Ist das dein verdammter Ernst? Der Typ sieht aus, als wäre er gerade so aus einer Kneipenschlägerei gekommen!«

»Jetzt beruhige dich doch erst einmal. Alex sieht vielleicht etwas derangiert aus, aber er ist der beste Trainer, den du dir wünschen kannst. Außerdem ist er harmlos. Ich würde nie jemanden reinlassen, dem ich nicht zu 100 Prozent vertraue und von dem ich annehmen könnte, er wäre gewalttätig.« Endlich sah Chris Mel in die Augen. In diesen konnte sie Entschlossenheit entdecken. Auch seine aufrechte und selbstsichere Haltung zeigte ihr die Überzeugung, die hinter seinen Worten steckte. Sie blieb dennoch skeptisch.

»Der Typ soll harmlos und nicht gewalttätig sein? Hast du ihn dir mal angesehen?!« Mel tigerte aufgebracht durch die Küche.

»Wenn ihr dann fertig seid, über mich zu diskutieren, würde ich gerne mit dem Training anfangen. Ich habe nicht ewig Zeit. Und nein, ich komme nicht aus einer einfachen Kneipenschlägerei. Das ist weit unter meinem Niveau.«

Mel, die nicht mitbekommen hatte, dass Alex ihnen gefolgt war, blieb abrupt stehen und sah ihn mit fassungslosem Blick an. Alex lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen und sah sie herausfordernd an.

»Was? Brauchst du Beweise? Ein Führungszeugnis oder so?«

Chris, der das Blickduell schweigend verfolgt hatte, brach in heiteres Gelächter aus.

»Ich wüsste nicht, was es da zu lachen gibt.« Mel wandte sich Chris zu und erdolchte ihn förmlich mit ihrem Blick.

Da Alex mitten in der Küchentür stehengeblieben war, hatte sie keinerlei Möglichkeit, die Flucht zu ergreifen. Verzweifelt versuchte sie, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden. Wie sollte sie jemals Vertrauen zu diesem Kerl aufbauen? Und die Notwendigkeit, ihm zu vertrauen und ihn nah an sich heranzulassen, war selbst ihr, die kaum eine Ahnung von Selbstverteidigung hatte, bewusst.