MIRA - Wer bist Du - AK Schmidt - E-Book

MIRA - Wer bist Du E-Book

AK Schmidt

4,8

Beschreibung

„Mira“ – Eine packende Liebesgeschichte, die sich in einen mitreißenden Krimi verwandelt. Colin lief das erste Mal über die Brücke. Es war dunkel, kalt und die Lichter der Häuser schimmerten nur schwach in dieser Märznacht. Er war bereits dabei umzukehren, als eine rote Reklametafel seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Mit einem mulmigen Gefühl überquerte er den Schotterparkplatz und betrat das Bordell. Nichts an diesem Ort war anmutig, verlockend oder hatte Charme. Die Frauen waren aufdringlich, keine erfüllte seine Erwartungen, nichts hielt ihn noch länger hier, bis plötzlich sie in sein Leben trat. Ihre Augen waren leer, ihre Bewegungen ohne Ziel und dennoch war sie für Colin perfekt und dafür hasste er sie. Mira hatte keine Träume, keine Erwartungen – nur den Alltag, der sie langweilte. Wozu leben, wozu sterben? Wo ist das Ziel, wenn es keinen Anfang gibt? Wie jeden Tag stand sie an der Bar dieses gottverfluchten Bordells, genervt von allem und jedem. Sie dachte, es würde sich nie etwas ändern, bis zu dem Abend, als er in ihr Leben trat. Einfach so, ohne Vorwarnung, ohne ein Wort, stellte er alles in Frage, riss sie mit sich und ließ nichts von ihr zurück.

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Inhaltsverzeichnis

Aufwachen

Der Fremde

Der Begleiter

Die andere Seite

Schatten

Vergänglich

Zurück

Wahrheit

Blinde Wut

Eine Chance

Ein einziger Tag

Erinnerung

Die Konsequenz

Loslassen

Abschied

Nachwort

1

Aufwachen

Es waren nur 500 Meter. Nur 500 Meter, die zwischen Deutschland und Polen lagen. Und nur 500 Meter Brückenlänge, die über Wohlstand und Armut entschieden. Es war keine große Entfernung, doch diese 500 Meter waren ausreichend, um einen Unterschied zu machen. Geld regierte diese Welt und beutelte ihre Sklaven. Immer in den Wintermonaten konnte ein Jeder spüren, ob es diesen Unterschied noch gab. Wenn das Zittern einen nicht einschlafen ließ und auch mehrere Lagen Strickpullover einen nicht wärmten, wenn die Scheiben von innen gefroren waren und die Wasserleitungen vereisten.

Mira kannte diese Winter nur zu gut. Sie hatte viele solcher erlebt. Glücklicherweise hatten sich die Zeiten geändert und sie im Laufe ihres Lebens gelernt, sich die Umstände zu Nutze zu machen. Was ist schon Pech, wenn man Glück nicht kennt! Mira versuchte die Vergangenheit zu vergessen, doch an diesem Abend erinnerte sie der eisige Wind an diese so eisigen Zeiten. Sie hielt einen Moment inne, zog dann die Wohnungstür hinter sich zu, drehte den Schlüssel, lief durch den Flur zum Vorderausgang, durchquerte den Garten und warf das Hoftor hinter sich zu.

Als sie auf den Sandweg einbog, bewunderte sie die Abenddämmerung zwischen den Häuserreihen. Das erste Mal seit langer Zeit war die Sonne wieder zu sehen und ging bereits am Horizont unter. Es war Ende März, die letzten Wochen waren sehr kalt gewesen und die klirrende Kälte hatte die Stadt zum Stillstand gebracht. Aber mit diesem Wochenende war der Winter endlich verbannt und der Frühling eroberte das Land zurück.

Aus einem unerfindlichen Grund ließ sich Mira von diesem Anblick verführen. Entgegen der Route, die sie sonst zur Arbeit lief, machte sie heute einen Schlenker durch die Stadt. Sie überquerte die alten Gassen, passierte die Straße mit dem groben Kopfsteinpflaster und ließ sich von den letzten Sonnenstrahlen geradewegs zur Stadtgrenze locken. Sie konnte die Brücke zwischen Deutschland und Polen bereits sehen. Ein breiter Damm trennte das Wohngebiet von dem Fluss und durch die aufgeschütteten Sandhügel und kahlen Bäume war bis jetzt nicht viel von der anderen Seite zu erkennen. Als sie den Bürgersteig auf dem Damm erklomm, wurde sie mit einer atemberaubenden Aussicht belohnt. Noch immer rauschte der eisige Wind, doch das zarte Orange am Horizont erwärmte das Gemüt und ließ die Temperaturen auf der Haut schmelzen. Die Eisdecke der Oder war endlich aufgebrochen und wurde mit ihren dicken Schollen flussabwärts gespült. Je näher sie der Brücke kam, desto heftiger peitschte der Wind gegen ihr Gesicht. Doch die Neugier, direkt von der Brücke zu blicken, ließ sie nicht aufgeben. Mit jedem Meter, den sie sich ihr näherte, wurde die Straße belebter. Zu dieser Zeit war die Stadt eigentlich schon am Rasten, doch das gute Wetter hatte die Menschen aus ihren Häusern gelockt. Es schien auf den kleinen Verkaufsmärkten viel los gewesen zu sein. Die Händler bauten ihre Stände ab, doch nicht wie sonst, hastig oder übel gelaunt. Viele pfiffen und scherzten miteinander, versperrten die Ladentüren und machten sich sicherlich bereit, den Feierabend im nächsten Wirtshaus zu begehen. Der Strom lief nach Hause oder zu Freunden, was man eben so macht, wenn die Arbeit getan ist. Doch für Mira hatte der Tag gerade erst begonnen. Wenn andere schlafen gingen, wurde sie wach, wenn sie dann ihren Heimweg antrat, hatten die gerade erst ihren Wecker ausgemacht.

Mira stöckelte mit ihren gefütterten Fellstiefeln über den Bürgersteig, der so alt und zersprungen war, dass es schwerfiel, dabei nicht zu stolpern. Sie musste sich beeilen, wenn sie noch ein paar Sekunden im Licht genießen wollte. Also balancierte sie mit den hohen Absätzen elegant über die Stolperfallen und erreichte mit zügigem Schritt das kühle Stahlgeländer.

Es hatte eine gewisse Ironie. Mira lebte schon seit vielen Jahren in dieser kleinen polnischen Grenzstadt Slubice, doch besucht hatte sie diesen Ort noch nie. Bis vor ein paar Jahren war hier noch eine fast unüberwindbare Grenze. Nur unter strengen Sicherheitsbestimmungen konnte man die DDR verlassen und in diese einreisen. Es gab damals keinen Grund, die Brücke zu besuchen, doch seit dem Fall der Mauer vor drei Jahren und der Wiedervereinigung erblühte die polnische Stadt und der Verkehr auf der Brücke nahm mit jedem Tag spürbar zu. Mira sah es auf ihrem Arbeitsweg immer nur von weitem zwischen den Häuserreihen am Ende der Gassen, wie die Autoschlangen immer länger wurden, die Deutschen, wie sie in Schwärmen die Grenzen passierten. Ja, es war überall zu sehen, dass sich etwas in dem Land regte und nicht nur dort, sondern auch hier. Die Läden wurden voller, die Menschen wohlhabender, es waren wie Zahnräder, die ineinander griffen und das Rad der Wirtschaft positiv beeinflussten.

Mira lief an den Brückenpfeilern vorbei. Ab und zu hupte ein Wagen, der zur Grenzüberfahrt anstand oder ein vorlauter Bengel bedachte sie mit einem netten Spruch. Es war nicht so, dass ihr das sonst nie passierte, doch in diesem Fall empfand sie es sogar als schmeichelhaft, weil es nicht aus einer bestimmten Situation heraus entstand. Als sie die Mitte der Brücke erreicht hatte, umschlossen ihre zierlichen Hände das Geländer, sie lehnte ihren Oberkörper über die Brüstung, legte die Ellenbogen ab und stützte den Kopf auf ihre Hände. Voller Ehrfurcht sah sie auf das Wasser nieder, wie es sich ruhig seinen Weg bahnte. Ihre langen blonden Haare tanzten im Wind. Sie beobachtete die kleinen Schiffe, welche von Zeit zu Zeit die Brücke unterquerten. Sogar einige Angler konnte man im verdorrten Schilf entdecken. Mira vergaß die Zeit und versank in Gedanken:

Ich genoss die letzten Minuten, die Wärme, die Aussicht, dann ging die Sonne unter und in der Stadt wurde es Nacht. Mein Tag begann. Ich war erst 2 Stunden wach. Ich musste eigentlich schon längst auf dem Weg zur Arbeit sein. Doch aus einem unerfindlichen Grund änderte ich meinen Weg und lief zu dieser Brücke. Ich war wie versteinert und wollte nicht weg. Ich dachte nicht an Selbstmord. Ich dachte oft darüber nach, aber in diesem Moment empfand ich es einfach nur schön, hier zu sein. Ich hatte nicht viel Zeit, aber ich konnte mich einfach nicht losreißen. Mir kam der Gedanke in den Sinn, eigentlich war es für mich doch egal, über Zeit auch nur nachzudenken, denn ändern würde sich für mich eh nichts. Ich lebte von einem Tag in den anderen. Die gleichen Regeln, die gleichen Menschen, die gleichen schlechten Gewohnheiten. Ich dachte über Ziele in meinem Leben nach. Was ich mir wünschen würde. Ich konnte mir diese Frage nicht beantworten. Ich nahm mir sogar Zeit darüber nachzudenken. Alles fühlte sich so gleichgültig an. Aber es störte mich nicht. Weil das die einzige Gabe war, die ich hatte. Gleichgültigkeit. Doch manchmal, wenn ich die Menschen um mich herum beobachtete, wie sie weinten, litten, sich freuten oder sogar liebten, war mein heimlicher Wunsch, das auch zu empfinden. Innerlich tot zu sein, zu funktionieren, war keine Befriedigung. Man fühlt, wie das Leben an einem vorbeischleicht. Ich habe mich oft gefragt, ob es jemand merken würde, wenn ich nicht mehr wäre. Meine Gedanken wurden zerrissen, als die alte Kirchenuhr auf der deutschen Seite zur vollen Stunde schlug. Es war bereits neun Uhr. Das Nichts hatte mich wieder und ich machte mich auf den Weg.

Mira lief zur polnischen Seite zurück. Der Arbeitsweg kostete sie locker noch eine halbe Stunde. Schon jetzt verfluchte sie die Wahl ihrer Schuhe. Die neuen Plateaustiefel sahen mit dem roten Mantel im Schaufenster noch unwiderstehlich aus. Doch in der Abenddämmerung erwies sich die Jacke schon bald als zu dünn und die Schuhe als unbrauchbar, um in der Dunkelheit die kaputten und unebenen Betonplatten auszugleichen. Und so stolperte sie bibbernd entlang des Damms und zog den Stehkragen ins Gesicht. Als die Sonne unterging, blieb nur noch die Kälte, die wie Frost ihren Schoß hochkroch und das wärmende Bett vermissen ließ. Es würde noch neun Stunden dauern, bis sie dahin zurückkehren würde. Also kämpfte sie sich den Weg entlang und musterte die vorbeiziehenden Häuserzeilen. Die Stadt hatte sich verändert und die neuen Shops hatten diesen kleinen Ort zusehends vereinnahmt. In Polen zahlte man für alles nur ein Viertel des Preises. Unzählige Reklamen und erleuchtete Aufschriften warben für Zigaretten, einen guten Wechselkurs oder Klamotten. Eben alles, was das Herz begehrte und das billig, billiger am billigsten. Und was vor Verkaufsgütern nicht Halt machte, übertrug sich auch auf Menschen und Dienstleistungen. Es war eben alles käuflich, solange es angeboten wurde, ganz gleich, ob legal oder nicht.

Eilig und fast eine halbe Stunde zu spät erreichte Mira das Hoftor ihrer Arbeitsstätte. Der mäßig beleuchtete Schotterparkplatz war mit diesen kleinen Steinen eine wahre Tortur für die schmalen Absätze und die größte Herausforderung der ganzen Strecke. Fast schleichend setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen und rettete sich mit einem Sprung auf die langen Betonplatten, die direkt ins Haus führten. Als Mira flüchtig über die angeleuchtete Hauswand sah, dachte sie nur bei sich, wann würde hier mal einer die Außenfassade neu machen. Außer seiner übergroßen leuchtenden Reklame sah das Haus in seiner alten, abgeblätterten Betonputzhülle ziemlich trostlos aus. Sicher war Geld da, doch die Leute kamen auch ohne repräsentative Außenfassade. Vielleicht auch gerade deshalb, denn von der Straße aus ließ sich hier kaum vermuten, was sich wirklich in diesen alten Mauern abspielte.

Als Mira die Tür öffnete, standen die Jungs schon für die Schicht bereit. Höflich grüßten sie sie, erzählten ein paar Anekdoten der letzten Nacht und ließen sie gut gelaunt den Flur passieren. Miras Nase lief, der Umschwung von der frischen Luft in diesen abgestandenen, trockenen Heizungsmief machte den Hals ganz kratzig. Als sie das Ende des Flurs erreicht hatte, sah sie auf die vertraute Tür links, die nur angelehnt durch einen Spalt gedämpfte Musik herausdringen ließ. Dann drehte sie sich um. Sie musterte die umliegenden Türen, die alle geschlossen waren und ihr verspätetes Erscheinen unbemerkt ließen. Erleichtert griff sie nach dem alten Holzgeländer und schlich über knarrende Holzstufen in das erste Obergeschoss. Durch einen alten, muffigen Gang erreichte sie eine Zimmertür, eine von vielen, die bis zum Ende des Flures durchnummeriert waren. Sie tastete nach ihrer Handtasche, zog einen Schlüssel hervor und drehte ihn im Schloss. Hektisch übertrat sie die Schwelle, sah flüchtig zur Wanduhr, schob die Tür zu und begann sich sofort für die Arbeit fertig zu machen. Ihr Arbeitsplatz war ein kleines Zimmer, kaum zehn Quadratmeter groß. Viel Platz war nicht! Es war gerade ausreichend für einen Wandschrank, eine Kommode, einen Stuhl und ein zwei Meter breites Bett, welches über die Hälfte des Raumes einnahm. Rote Satinbettwäsche und darauf drapierte schwarze Kissen waren die einzigen modernen Zierden und lenkten von der vergilbten Tapete ab. Eine kleine Lampe auf dem Fensterbrett spendete warmes Licht und ließ die unschönen Ecken im Dunkeln verschwinden.

Mira hatte schon lange nicht mehr hingesehen. Sie ignorierte den Anblick und konzentrierte sich auf das Wesentliche. Wie jeden Tag begann sie damit, ihre Kleider abzulegen und sorgsam zusammenzufalten. Sie stellte ihre gefütterten Stiefel in den Schrank und hängte den roten Mantel an einen Kleiderbügel darüber, dann setzte sie sich an ihre Schminkkommode, schob einen kleinen Kippschalter nach oben und sah durch den beleuchteten Spiegel auf die Ablage, die mit den unterschiedlichsten Lippenstiften, Make-up-Farben und billigem Schmuck bestückt war, die wie jeden Abend nur auf ihren Einsatz warteten.

Sie griff nach der Bürste, kämmte ihr langes Haar, schob ein schwarzes Band über den Ansatz und hielt damit die Mähne aus ihrem schönen Gesicht. Dann begann sie sich zu schminken. Wie eine Puppe machte sie sich zurecht, der rosafarbene Rouge auf den blassen Wangen, der glänzende Glos auf den trockenen Lippen, der schwarze Kajal umkreiste die kleinen Augen und machte sie mit den langen aufgeklebten Wimpern wach, groß und ausdrucksstark. Der dunkle Lidschatten gab ihr einen verführerischen Blick und übertünchte die müden Augenränder. Die kräftigen Farben hauchten der fahlen Haut Leben ein, ließen sie gesund und vital wirken und machten aus traurig glücklich.

Prüfend betrachtete sich Mira im Spiegelbild. Dieses kleine, unschuldige, zarte Mädchen gab es nicht mehr, nun strahlte sie eine starke Frau an, die mit ihren weißen Zähnen so verführerisch und betörend strahlte, dass sie damit jeden Mann um den Verstand bringen konnte. Zufrieden zog sie sich mit dem Stuhl zur Seite, wühlte in einer der Schubladen nach intakten Nylonstrümpfen und streifte diese über ihre Knie. Sie wechselte die Unterwäsche und tauschte ihren bequemen Bügel-BH gegen einen mit kratzender Spitze durchzogenen Push-Up und ihren geliebten Baumwollslip gegen einen einschneidenden schwarztransparenten String. Sie rückte die Bänder zurecht und bewegte ihr Becken leicht hin und her in der Hoffnung, die Unterwäsche würde dann angenehmer sitzen, doch das tat sie nicht. Genervt ging sie zum Schrank und öffnete den zweiten Flügel. Wenn schon die Unterwäsche kein Vergnügen war, so sollte wenigstens das Kleid gut sitzen. Wie so oft fiel ihre Wahl auf das kleine Schwarze. Es war zwar kurz und tief dekolletiert, aber durch das derbe Material elegant und züchtig. Langsam ließ sie den kühlen Stoff über ihre Rippen gleiten und genoss, wie sich das Kleid um ihre Taille schmiegte und leicht über die Beckenknochen nach unten fiel. Für einen Moment hielt sie vor dem Spiegel inne und bewunderte sich in ihrer Silhouette. So würde sie sicher niemand als Prostituierte erkennen, doch die Korsage war Pflicht und so kramte sie einen breiten Ledergürtel aus dem Wandschrank und zog die Riemen so weit fest, bis sich eine sanduhrförmige Figur abzeichnete. Als sie den Flügelschrank zustieß, seufzte sie. Ihr Blick fiel auf die ätzenden High-Heels. Kaum jemand konnte sich vorstellen, was es bedeutete, neun bis zehn Stunden auf diesen Dingern zu verbringen und dennoch nett zu lächeln, obwohl bereits die Sohlen glühten und die Zehen wie Ballons angeschwollen waren. Aber was sollte sie machen, es gehörte zu ihrer Arbeitsausrüstung und durfte eben nicht fehlen. Sie schlüpfte durch den Schaft in die engen Schuhe und richtete sich um zehn cm größer stöhnend auf. Geschafft! Noch einmal stellte sie sich vor den Spiegel und zupfte das Kleid kritisch in alle Richtungen. Sie wusste, dass sie genau beäugt wurde. Alles was zählte, war ihr Aussehen und so war es richtig und so sollte es sein.

Plötzlich sprang die Tür auf. Lorna, ihre beste Freundin und Kollegin, kam ins Zimmer gestürmt und stieß dabei schwer definierbare Freudenschreie aus. Wie ein Maskottchen tänzelte sie um das Bett und machte ohrenbetäubenden Krach. Mira konnte sich das Lachen nicht verkneifen, doch aus Angst vor Ärger legte sie Lorna die Hand auf den Mund. Unerwartet machte die einen Satz zurück und zauberte eine Sektflasche hervor, welche sie heimlich hinter ihrem Rücken mit sich trug. Nach kurzem Schütteln ließ sie den Korken los und Mira rettete sich gerade noch aus der Schussbahn. Ein lauter Knall, und der Sekt sprudelte in Strömen aus der Flasche. Mira quiekte ganz aufgedreht, nahm zwei Gläser aus dem Schrank und ließ sie von Lorna großzügig befüllen. Ganz gerührt nahm sie ihr Glas und dachte bei sich, dass es doch ganz schön war, wenn sich wenigstens einer daran erinnerte. Tränen der Freude schossen in ihre Augen und lächelnd sah sie dabei zu, wie Lorna prostend das Glas empor schwang.

„Auf dich mein Schatz. Du alter Rentner... och... ich hab dich so lieb. Und deshalb möchte ich dir heut anlässlich deines 25ten Geburtstages dieses Geschenk machen.“

Überrascht nahm Mira ein kleines Paket entgegen. Als sie es auspackte, war sie sichtlich ergriffen. Sie drückte Lorna an sich und schüttelte ungläubig den Kopf. Unter all dem Geschenkpapier verbarg sich ein großer Bilderrahmen. Darin hatte Lorna aufwendig eine wunderschöne Collage zusammengestellt. Es waren die einzigen Bilder von ihrer gemeinsamen dreijährigen Vergangenheit. Mira war überwältigt und fiel ihr dankbar um den Hals. Lorna schnaubte, versuchte sich gegen die aufsteigenden Tränen zu wehren und winkte grinsend ab.

„Einen Mann kann ich dir leider nicht schenken, aber den brauchst du auch nicht, du hast ja mich!“

Lorna lächelte und drückte Mira erst jetzt an sich, vorher hätte sie bestimmt gleich losgeheult und wäre gar nicht mehr im Stande gewesen, noch etwas zu den Bildern zu sagen. Beide steckten die Köpfe zusammen und hingen über derer Erinnerungen, dokumentiert in unscharfen Fotos. Lorna schmunzelte und wies mit dem Finger auf einen Mann.

„Kannst du dich noch an den Typen erinnern. Boah, hatte der mich um den Finger gewickelt. Ich hab ewig auf den gestanden. Eine Nacht geil gefickt und dafür ein Jahr Herz-Schmerz.“

Mira lachte und stieß ihr neckisch in die Seite.

„Ja, das lag aber wohl eher an dem Zeug, das er dir in dein Getränk gemischt hatte. Bei deiner Ausdauer ist es ein Wunder, dass du so lange konntest. .... Hey, zeig, sieh dir mal das Foto an! Mein Gott, das hast du noch. Das war an meinem zweiten Arbeitstag, hier, mit dir zusammen.“

Lorna nickte zustimmend und lachte hell auf.

„ Ich weiß! Erinnerst du dich, wir waren so besoffen, dass du mir das ganze Klo voll gekotzt hast!“

Mira versteckte sich hinter einem Kissen. Die Geschichte war ihr immer noch sehr peinlich. Doch verstecken war nicht, Lorna riss ihr das Kissen weg, gab ihr einen liebevollen Kuss auf die Wange und wurde etwas melancholisch.

„Ich bin echt froh, dass du hier bist. Ohne dich wäre diese Scheiße nicht zu ertragen. Manchmal wünschte ich, ich wäre wie du. Fast jeder Typ steht auf dich und du lässt das so cool an dir abprallen. Ich renne jedem hinterher, der nur einmal nett zu mir war…. Davon mal abgesehen, solltest du langsam in den Ruhestand gehen. So viel Geld, wie du schon verdient hast, da müsstest du doch langsam ausgesorgt haben?“

Mira gab Lorna einen kleinen Klaps auf den Hinterkopf.

„ Du wirst mich nicht so schnell los!“

Dann füllte sie sich das Glas erneut, nahm einen großen Schluck und wirkte etwas betrübt, auch wenn sie lächelte.

„Lorna, heut feiern wir uns, ok! Lass uns runter an die Bar gehen und für den schlechtesten Umsatz des Jahres sorgen. Sollen sich die Typen doch einen runterholen. Mit uns ist heut nicht zu rechnen!“

Mira trank das Glas aus und zerrte Lorna hinter sich her. Sie stolzierten mit großem Gelächter auf ihren hohen Absätzen die Holztreppe hinunter und erreichten den Flur nach einem kleinen Sprung von der letzten Stufe. Durch die Tür, aus der vorhin noch ruhige Musik gedrungen war, dröhnten nun lautere Töne. Mira öffnete sie zögernd und hielt kurz inne. Es war jeden Abend das gleiche Gefühl, die gleiche Situation. Ein roter Vorhang verhinderte einen ersten Blick, nur die Musik strömte durch ihren Körper und ließ die Neugier in ihr pulsieren. Dieser Vorhang hatte etwas Magisches und war gleichzeitig das Glanzstück des Hauses, ein Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit und diente bis vor ein paar Jahren noch einem Theater. Heute war der Stoff ausrangiert und wurde als Sichtschutz genutzt, sein starkes Material ließ die Kälte draußen und die Hitze im Zimmer. Doch von seinen Qualitäten ganz abgesehen, hatte dieser Vorhang auch etwas Symbolisches. Es fühlte sich an, als würde man eine Bühne betreten. Die Unruhe davor machte einen ganz aufgewühlt, nie wusste man, was einen erwartete, wer auf einen wartete. Erst wenn sich dieser Vorhang hob, begann die Show. Die Freier waren das Publikum und die Nutten ihre Attraktion. Dieser Vorhang war ein stiller Zeuge, besiegelte tragische Momente und brachte glückliche Ereignisse hervor. Ja, in diesem Vorhang steckte mehr, als er zu Beginn verbergen würde, er machte das Warten zur Spannung und den Eintritt in das Milieu zu etwas Sonderbarem.

Mira atmete tief durch, drückte die übereinandergelegten Stoffteile auseinander und sog die Luft im Raum ein. Kalter Zigarettenrauch durchströmte ihre Lungen, Wärme umschloss ihre frierenden Schultern und ließ in ihr ein Gefühl von Gemütlichkeit aufsteigen. Als der Vorhang hinter ihr zufiel, galt ihr erster Blick immer der linken Seite. Sie sah sich prüfend um und ließ keine Ecke unbeobachtet. Hier warteten ihre Freier gierig auf durchgesessenen und wild durcheinander gewürfelten Couchen darauf, lechzend beachtet und angesprochen zu werden. Auf sie fiel nur sparsames Licht und ließ sie mit ihrer Feigheit unerkannt. Bunte Leuchtstrahler wechselten sich im Sekundentakt ab und brachten etwas Diskoflair in den so unbeliebten Bereich, ließen tanzend die Stimmung lockern und das aufeinander zugehen erleichtern. Noch waren die Sitzecken unbesucht, noch die Tische leer! So hatte sie es am liebsten, wenn es einfach nur ruhig war. Ihre Augen schwenkten zur rechten Seite hinüber. Die Bar war das Herzstück des Hauses. Hier fanden sich alle ein, hier wurde jeder Abend begonnen und ebenso jeder Abend beendet. Die Theke war lang und zog sich über den ganzen rechten Bereich, bis hin zur Eingangstür. Sie war eine Einzelanfertigung aus Buche, mühsam zusammen gezimmert und mit zwei Podesten und einer Tanzstange ausgestattet. Alles in allem entsprach die Einrichtung der eines klassischen Bordellinventars, einfach und zweckmäßig.

Lorna und Mira klackerten mit ihren hohen Absätzen über die Fliesen und stürmten die Theke. Alle anderen Mädchen saßen bereits hübsch aufgereiht wartend auf den Barhockern und verfolgten kritisch ihr reges Treiben. Mira hatte Spaß dabei, ihre zickigen Kolleginnen zu provozieren und grölte über den Tresen:

„Hey…. Hallo…Wodka…. Los… für alle…Gib mir gleich die ganze Flasche! “

Ihr Wunsch wurde erfüllt und heizte die Stimmung an. Ausgelassen lagen sich die beiden Mädchen in den Armen, tanzten nach den Liedern aus der Stereoanlage und ließen es sich einfach nur gut gehen. Sie feierten, als gäbe es keinen Morgen und bemerkten nicht, wie sich der Gastraum langsam mit dem ach so ungeliebten Klientel füllte. Mira war es egal. Sie hatte endlich wieder Spaß und wollte verdrängen, warum sie hier war. Auch wenn sich der Tag auf dem Kalender änderte, die Gesichter, die sie umgaben, taten es nicht. Es waren jeden Tag dieselben. Aus allen Schichten kamen ihre Freier: der Rechtsanwalt nach dem Feierabend, der Kneiper, welcher wieder sein bester Kunde war und die letzten Einnahmen verprasste, Touristen, die die schnelle, billige Nummer suchten, Familienväter, die ihre perversen Neigungen zu Hause nicht ausleben konnten, der Sozialfall, der wochenlang für diesen Tag gespart hatte und der noch jungfräuliche Spätpubertierende, der noch nie mit einer Frau geschlafen hatte. Sie alle waren gerne Gast hier und fast alle kamen von der anderen Seite des Ufers. Sie alle hatten eines gemeinsam, das Verlangen nach Sex und Liebe.

Wieder betrat ein Mann den Raum. Doch er war anders. Er bewegte sich anders, er beobachtete anders und er schien eher ungern hier zu sein. Seine dunklen, kinnlangen Haare fielen ihm ins Gesicht. Seine hellen Augen sahen sich peinlich berührt um. Nervös nahm er in einer dunklen Ecke Platz und wäre am liebsten unsichtbar gewesen. Er trug an seinen Handgelenken enge Lederbänder, mit denen er unruhig spielte. Die schwarze Lederjacke und die enge Jeans zeigten einen schlanken Mann. Er war jung, vielleicht Ende 20. Die Ecke, die er sich ausgesucht hatte, war so gewählt, dass man ihn nur mit Mühe erkennen konnte. Der Mann beobachtete heimlich und blieb von den Frauen auch lange unentdeckt. Mira hatte von diesem Mann keine Notiz genommen. Wenn sich der schwere Vorhang hob, schaute sie schon lange nicht mehr hin, wen sie heute befriedigen musste. Es waren Schwänze ohne Gesichter. An ihrem Geburtstag war es ihr einmal mehr egal. Sie blinzelte auf die Uhr und konnte es kaum fassen, dass sie nach 2 Stunden schon betrunken war. Sie war ganz ungezähmt, brüllte umher, rief nach dem Barkeeper und wünschte die Gläser erneut aufgefüllt. Sie grölte aus Leibeskräften, bis durch einen Seitenhieb ihre Stimme versagte. Lorna wurde ängstlich und drehte sich zu ihr.

„Sei still, verdammt. Juri kommt!“

Mira verstummte. Sie drehte sich um und atmete schwer, lehnte sich vom Tresen zurück und versuchte sich in eine Ecke zu drängen. Ihr Blick fiel schüchtern nach unten, dabei nippte sie an ihrem Glas, wandte sich zu Lorna und begann mit ihr zu flüstern.

Juri war der Hausherr, der Zuhälter, der Spielverderber. Er war ein Mann von großer Statur und erschien durch seine übertrainierte Muskulatur, die selbst die Winterjacke nicht verbergen konnte, beeindruckend und gleichermaßen bedrohlich. Sein Haar war kurz geschoren und sein Blick kalt. Sein dunkler Bart und seine grellblauen Augen waren so furchteinflößend, dass es für Gäste ausreichend war, Ehrfurcht zu zeigen. Niemand wagte es, sich gegen ihn und seine Regeln aufzulehnen, niemand wollte negativ auffallen. Doch Mira hatte langsam diese Regeln satt. Sie wollte und konnte diesen Respekt nicht mehr aufbringen, womit sie Juri allmählich gegen sich aufbrachte. Er stand schon eine Weile im Raum und beobachtete sie. Für Juri zählte jeder Pfennig. Doch den konnte er nur verdienen, wenn seine Frauen arbeiteten, dem Gast einen gewissen Glanz verkauften. Nicht, wenn sie sich wie aufgescheuchte Hühner bewegten und an der Flasche hingen. Denn wer will schon eine Alte vögeln, die einem fast ins Gesicht kotzt. Mit diesem Satz hatte er Mira schon des Öfteren nach Sauf- und Drogeneskapaden klar gemacht, dass er sie hier im Vollrausch nicht sehen wollte. Sein Wort war Gesetz und wer dieses nicht beachtete, wurde bestraft. Juri griff nach Miras Arm. Sie war regungslos, sah Lorna flehend an, dann spürte sie, wie er mit dem anderen Arm ihre Taille fasste. Sie nahm einen Schluck und stellte das Glas ab, als wäre diese Situation reine Routine und eine Alltäglichkeit. Sie hatte keine Zeit mehr, ein Wort zu sagen. Lorna versuchte noch, die Hand nach ihr auszustrecken, doch Juri zerrte sie vom Barhocker, packte sie am Schopf, drückte sie nach unten und schleifte sie wie ein Vieh mit sich.

„So, mein Schatz, zu deinem Geburtstag habe ich was ganz besonderes für dich. Das soll mein Geschenk für dich sein.“

Er drückte ihren Hinterkopf Richtung Tür und Mira sah resigniert an den Mädchen vorbei. Sie fügte sich ohne Gegenwehr ihrem Schicksal und verließ mit Juri still den Raum. Es war wie ein stummer Film, der ablief, sie hörte ihn nicht, versuchte sich auf die dumpfe Musik im Hintergrund zu konzentrieren und den Schmerz vom Herausreißen ihrer Haare zu verdrängen. Denn so, wie er sie im Nacken packte, seine Finger wie eine Zange zusammendrückte, sie hinter sich herschleifte, war es schließlich noch eine zarte Berührung, verglichen mit dem, was nun folgen würde.

Der Mann in der dunklen Ecke war schockiert. Er kritzelte die ganze Zeit in einem kleinen schwarzen Buch. Für einen Moment musste er es aus den Händen legen. Er sah sich um. Würde denn niemand aufstehen, um dieser wehrlosen Frau zu helfen? Doch die Menschen unterhielten sich einfach weiter. Sie registrierten sehr wohl, wie schroff der Typ mit der jungen Frau umging, ihr scheinbar etwas Schlimmes antat, dennoch regte sich niemand. Der Mann war hin und her gerissen. Sollte er vielleicht einschreiten? Erneut sah er sich um, doch all diese finsteren Gesichter gaben ihm das Gefühl, sich besser nicht einzumischen und so lehnte er sich angespannt zurück in den Sessel und war nervöser als zuvor. Nochmal sah er sich prüfend um. Statt sich über dieses Mädchen Gedanken zu machen, sprachen die Menschen einfach routiniert weiter, als hätte es diese Szene nie gegeben. Die Situation wühlte ihn auf und ließ ihn über das Verlassen dieses Etablissement nachdenken. Er war gerade erst gekommen, war noch nicht einmal 5 Minuten hier, ein hektisches Verlassen wäre zu auffällig, also entschied er sich, damit zu warten. Er versuchte sich abzulenken und öffnete wieder sein Buch.

Eine der Bardamen servierte Getränke am Nachbartisch. Beim Abkassieren entdeckte sie diesen stillen Typen und konnte von da an nicht mehr die Augen von ihm lassen. So etwas Attraktives sah man hier selten! Sie lief zu ihm herüber und erkundigte sich höflich nach seinem Getränkewunsch. Doch statt sie anzusehen, blickte er auf den Tisch, nahm erschrocken die Karte und zeigte mit dem Finger auf einen Gin Tonic. Uninteressiert an ihrer Person, nahm er wieder sein Buch zur Hand und fuhr mit seinem Schreiben fort. Die Dame war etwas irritiert. Sie dachte vielleicht an ein kleines Spiel, das er mit ihr trieb, lächelte und orderte seine Bestellung. Nach nur einer Minute kehrte sie mit dem Gin zurück und hoffte nun auf etwas mehr Aufmerksamkeit, denn ihre war bereits geweckt. Er war heiß, gutaussehend und sicherlich noch nicht oft im Puff. Die Kellnerin war plötzlich ganz aufgekratzt und verlor keine Zeit, ihm ihr Interesse klar zu offenbaren. Als sie sein Getränk auf den Tisch stellte, schob sie sich an ihm vorbei und drückte ihren großen Busen in sein Gesicht. Der junge Mann war schockiert und wich reflexartig zurück. Seine Reaktion war zwar sonderbar, aber heizte ihr Temperament nur noch mehr an und so wich sie zurück und dachte einen Moment nach. Ihr wurde bewusst, dass es sich bei ihm nicht um den notgeilen Ficker handelte, der sich mit seiner Verschlossenheit nur interessant machen wollte, sondern eher um den ruhigen Softie, der einfühlsamer Worte bedurfte. Was auch immer, er war geil und verdammt gut aussehend. Sie musste ihn einfach für sich gewinnen! Also fing sie an, von Diesem und Jenem zu erzählen. Sie plapperte und plapperte. Doch entgegen ihrer Erwartung drehte sich der junge Mann mit seinem Stuhl weg. Kein Wort, keine Reaktion, das Einzige, was seine volle Aufmerksamkeit bekam, war dieses kleine schwarze Buch. So ehrgeizig die Dame zu Beginn auch schien, umso deprimierter verstand sie nach ihrem zweiminütigen Monolog, dass sie hier heut nicht zum Ziel kommen würde. Beleidigt stoppte sie im Satz, drehte sich um und kehrte zurück an den Tresen. Wütend über dieses rüpelhafte Verhalten verlor sie keine Zeit, gegen diesen arroganten Typen Stimmung zu machen und ihn so ungewollt ins Gespräch zu bringen. Schnell machte die Geschichte unter den Damen die Runde. Der junge Mann hatte gehofft, sich mit seiner ablehnenden Haltung die Frauen vom Hals zu halten, doch das Gegenteil war der Fall. Nur kurze Zeit später fühlte sich die Nächste motiviert, ihn für sich zu gewinnen. Eine nach der anderen blitzte ab. Keine war ihm scheinbar gut genug. Die Damen rauften sich die Haare. Was war mit diesem Kerl falsch? War er pleite, stumm, vielleicht nur einen Hoden, ein krummer Schwanz, denn am Äußeren konnte es ja augenscheinlich nicht liegen.

Schließlich weckte er Lornas Interesse. Auch an ihr ging die Aufregung unter den Mädels nicht spurlos vorbei. Sie fing an, den Mann zu beobachten, wie er auf sein kleines Buch starrte und den Blicken der vorbeilaufenden Frauen auswich. Wie ein Schuljunge wippte er aufgeregt hin und her. Die Nervosität war ihm anzusehen. Lorna hatte seit Stunden unaufhörlich getrunken und war stark angeheitert. Die paar Männer, die sich derweil im Zimmer aufhielten, schienen sich heut schwer zu tun. Keiner wollte sie an diesem Abend. Sie nippte an ihrem Glas Sekt, welches mit dem Mund nur noch schwer zu treffen war, stützte mit der Hand gelangweilt ihren Kopf und rutschte dabei fast vom Stuhl. Die Neugier packte sie und so dachte sie darüber nach, wie man sich wohl am besten in den Mittelpunkt rücken könnte. Sie richtete sich auf und versuchte sexy am Tresen zu posieren. Sie gab alles. Schwang das Becken nach rechts, huch, fast weggerutscht, schwang das Becken nach links und der Barhocker kippelte. Sie war wie der Tempel der Lust, ließ ihre Haare wild um das Gesicht tanzen, doch zwischen all den Strähnen war er kaum noch zu erkennen und als sie aufsah, schien es noch nicht einmal so, dass er überhaupt Notiz von ihr nahm. Als wäre nichts geschehen, notierte er artig weiter in seinem schwarzen Buch und blieb regungslos. Doch so schnell gab Lorna nicht auf. Sie wechselte den Standort, schüttelte ihren ganzen Körper durch, hielt sich am Barhocker fest und kreiste mit ihrem Becken, bis ihr schwindlig wurde. Wieder warf sie die Haare zurück, doch nichts, kein Blick, keine Reaktion, keine veränderte Sachlage. Das war doch nicht zu fassen! Es musste funktionieren. Wenn nicht bei ihr, bei wem dann? Die Herausforderung spornte sie an, so schnell wollte sie sich nicht geschlagen geben. Der Tonträger wechselte und romantische Musik lief vom Band. Lornas Blut geriet in Wallung. Sie wandelte mit lasziven Bewegungen in Richtung dunkler Ecke. Immer bedacht auf den Takt, kreiste ihr Becken erotisch nach den Klängen der Melodie, ihre Füßen schwebten über die Tanzfläche und auch wenn das Gleichgewicht nur schwer zu halten war, sie mal mehr, mal weniger zu einer Seite driftete, versuchte sie dennoch, ihn mit ihrem Tanz zu umgarnen und ganz für sich zu gewinnen. Als der Mann aufsah, erinnerte ihr Zappeln aber eher an einen besoffenen Seemann als an eine anmutige Frau. Er versuchte sich seinen Blick nicht anmerken zu lassen und starrte weiter auf sein Buch. Noch immer wollte Lorna nicht aufgeben, sie behielt Kurs, segelte über die Fliesen und lief mit voller Kraft voraus. Als sie ihn fast erreicht hatte, drehte er sich mit seinem Stuhl zur Seite. Lornas olympischer Gedanke war geweckt. Schüchterne Jungs waren hier heiß begehrt. Meistens waren diese Typen noch Jungfrauen und fügsam im Bett. Die, die wussten, wo es langgeht, waren oft kein Geschenk. Sie gaben sich keine Mühe und gebrauchten die Frauen im Bordell wie ihre Leibeigenen, die ihren Anweisungen Folge zu leisten hatten, abgestumpft und ohne Gefühl. Lorna hasste diese Typen. Für keine dieser finsteren Gestalten hätte sie sich so viel Mühe gegeben. Doch dieser Mann hatte das gewisse Etwas, was ihren Forschungsdrang belebte. Sie pirschte sich langsam an seinen Sessel heran und begann ihren Privat-Dance. Sie kniete sich vor seinen Schoss und leckte sich die Lippen. Der junge Mann war ganz verstört von so viel Aufdringlichkeit, seine Mimik war gar angewidert. Er sprang auf und wechselte den Platz. Dieses Schauspiel wurde ihm unerträglich. Er umschloss sein Buch fest mit seinen Händen, hütete es wie einen Schatz, sah schüchtern zu Boden und hoffte, dass sie endlich gehen würde. Lorna verharrte noch wenige Sekunden kniend vor dem Sessel, bis sie verstand, dass er sie genauso wenig wollte wie alle anderen. Sie richtete sich mühevoll auf und torkelte zurück zum Tresen.

Als sie ging und sich zurück an die Bar stellte, beruhigte er sich. Der Abend, die ganze Situation, diese lästigen, aufdringlichen Weiber waren nichts für ihn. Er spürte, dass er hier nicht finden würde, wonach er suchte. Er wäre schon lange gegangen, doch seine Beklemmung hemmte ihn, einfach nur aufzustehen und das Bordell zu verlassen. Er wollte den richtigen Moment abpassen. Nach fast zwei Stunden sah er die Zeit gekommen und kramte nach Geld in seiner Jackentasche. Verstohlen sah er sich um, vergessen war das Mädchen, verdrängt war dieser Abend. Er wollte nur noch weg!

Es war nun schon zwei Stunden her, dass Juri Mira mit sich geschleift hatte und es gab immer noch keine Spur von ihr. Die Sache mit dem Typen in der Ecke war für Lorna schon längst wieder vergessen, ihre Gedanken galten nur noch Mira. Nervös tippelte sie mit den Fingern auf dem Tresen und drehte sich immer reflexartig zum Vorhang, wenn sich dieser hob. Sie hatte große Angst um ihre beste Freundin. Juri war gewalttätig und brutal. Doch Mira rührte er so gut wie nie an. Immer war er gnädig mit ihr gewesen. Doch heute war es anders als sonst. Es schaukelte sich schon seit Wochen hoch. Juri und Mira waren stark miteinander verbunden. Sie liebten und hassten sich, waren mal zusammen und dann wieder auseinander. Doch getrennt waren sie letztlich nur räumlich. Mira war für ihn etwas Besonderes, jemand auf den er ein ganz besonderes Augenmerk legte. Sie war sein und damit unantastbar. Ihr rebellisches Wesen, ihre Willensstärke, ihr ungezügeltes Temperament ließen ihn leiden. Es war jeden Tag ein Kampf, den beide austrugen. Jeden Tag testete Mira ihre Grenzen und wollte aus dieser Verbindung ausbrechen. Die letzten Jahre hatten an ihr gezehrt und den Glauben an Liebe und Gemeinsamkeit versiegen lassen. Sie begann sich aufzulehnen und zog sich immer weiter zurück. Jedes Wort, jeder Streit spaltete beide und ließ Juri verzweifeln. Es machte ihn zu einem Tyrannen und drängte ihn mittlerweile zu solch drastischem Handeln. Nichts würde er unversucht lassen, um sie zu unterdrücken und gefügig zu halten. Der Preis war hoch, doch Mira war bereit ihn zu zahlen, für das Stück Freiheit. Sie hatte nichts zu verlieren, das wusste sie, aber auch er. Scheinbar war Juris einziges Druckmittel Miras Angst, oder sogar ihr Leben. Ob er soweit gehen würde? Lornas Gedanken drehten sich im Kreis und die Frage machte sie panisch.

Endlich! Der Vorhang hob sich. Mira kam allein zurück. Fast zitternd auf den Beinen lief sie zurück zum Tresen und geradewegs in Lornas ausgebreitete Arme. Ihr Haar war gekämmt, ihr Makeup frisch aufgelegt. Doch ihre Augen waren glasig und verrieten, dass selbst der schönste Lidstrich den inneren Schmerz nicht überschminken konnte. Lorna war entsetzt, sie hatte Mira noch nie so erlebt. Ihr Gesicht schien kraftlos, doch sie wollte sich den Abend nicht verderben lassen, Schwäche zeigen, sich brechen lassen und wenn er sie noch 1000 Mal vergewaltigen würde, das könnte Juri nicht schaffen. Mira hatte Mühe, sich deutlich zu artikulieren. Ihre Augen schauten ohne Ziel, ihre Stimme war schwach, ihre Hände zitterten und ihre Umwelt nahm sie nur verschwommen war. Sie versuchte das Geschehene zu überspielen, suchte Halt am Tresen, wollte nicht auffallen und einfach weiter machen.

Und während Mira versuchte durchzuatmen, erst mal für sich zu sein, blieb ihre Rückkehr auf der anderen Seite nicht unbemerkt. Der junge Mann, der sonst alles ignorierte, beobachtete sie ganz genau. Er steckte das Geld zurück in die Tasche und sah ihr heimlich nach. Was mit ihr geschah, machte ihn betroffen und zwang ihn zu bleiben. Aus irgendeinem Grund konnte er seinen Blick nicht von ihr wenden. Ihre Art, wie sie sich bewegte, wie sie gezwungen lächelte, wie sie ermattet ihren Kopf hob, fesselte ihn auf seinen Platz. Nervös nippte er an seinem Glas, in dem nur noch der Boden bedeckt war und blätterte zur Tarnung in der Karte.

Lorna strich Mira einfühlsam über die Wange, sie spürte, wie es in ihr brodelte. Sie wollte wissen, was passiert war, was er ihr angetan hatte, doch Mira wollte nicht länger reden, nicht länger wie ein Kind getröstet werden. Lornas fürsorgliche Art nervte sie sogar. Vergewaltigt zu werden, ist an sich eine schlimme Sache. Doch auch darin findet man eine Art Routine. Viel schwieriger ist es, wenn man sich damit selbst konfrontiert oder durch andere konfrontiert wird. Erst dann klaffen die seelischen Wunden auf und es wird einem bewusst, was mit einem wirklich geschah. Mira wollte nicht weinen, sie wollte nicht denken, sie wollte einfach nur unsichtbar sein und ihr Lachen wiederfinden. Es war ihr Geburtstag, ihr Tag, den wollte sie sich verdammt nochmal nicht kaputt machen lassen, von niemandem und auch nicht von Juri. Glücklicherweise fand sich ein Päckchen LSD in ihrer Handtasche. Lorna versuchte tröstend auf sie einzureden, ihr ein paar Sätze zu entlocken, doch Mira wurde das zu viel und so ließ sie ihre Freundin einfach stehen, rannte zur Tür hinaus und verschwand auf der Toilette.

Im Flur dröhnte immer noch die laute Musik. Mira warf die Badezimmertür zu und atmete tief durch. Stille. Endlich… Nichts war zu hören, außer das Schlagen ihres Herzens. Sie ging vorsichtig zum Waschbecken und starrte in den Spiegel. Sie begutachtete ihre traurigen Augen, ihre hagere Statur. Lange hatte sie sich schon nicht mehr so zerbrechlich gefühlt. Sie erschauerte fast vor dem, was sie da sah, was aus ihr geworden war. Für einen kurzen Moment spürte sie die Wahrheit, den Kummer. Doch dann legte sich der ersehnte Mantel Ignoranz über ihr Bewusstsein. Es war Zeit sich zu betäuben und das alles auszublenden. Sie genehmigte sich ein Näschen und inhalierte den wohltuenden Nebel. Es juckte in der Nase, die Augen tränten. Jetzt hieß es nur noch warten, bis das Gift wirkte, ihr den inneren Frieden wiedergab und das ersehnte Stück Gleichgültigkeit. Sie stellte sich mit dem Rücken zur Wand und glitt zu Boden. Sie stierte auf die Fliesen und war ganz fasziniert, als diese irgendwann zu schwimmen begannen. Es war so schön mit anzusehen, wie sich der weiße Belag mit den schwarzen Silikonfugen vermischte und zu einer wolkenähnlichen Masse wurde. Mira lächelte, war amüsiert, sie stellte sich vor, sie würde auf einer Wolke sitzen und über den Himmel fliegen. Langsam waren die Sorgen vergessen und jede Form von Wut und Ärger löste sich wahrlich in Luft auf. Sie lächelte zufrieden und rappelte sich auf. Sie wollte endlich feiern, wieder raus, am Trubel teilhaben und lief zur Tür hinaus.

Für Mira waren es auf der Toilette nur Sekunden, für den jungen Mann eine gefühlte Ewigkeit. Nach einer viertel Stunde betrat eine lebensfrohe, total überdrehte Mira den Raum. Sie konnte kaum noch sprechen, so benebelt war sie. Sie sprang umher und tanzte sich frei. Ihre künstlich erzeugte Laune war vereinnahmend. Lorna kannte den Grund, die damit verbundene Schwäche, dennoch ließ sie sich anstecken. Sie war es müde Mira deshalb zu belehren. Als wäre nichts gewesen, machten beide dort weiter, wo sie zweieinhalb Stunden zuvor aufgehört hatten. Mira feierte, lachte und ließ sich von der Musik treiben.

Der junge Mann war ganz angetan, konnte die Augen nicht von ihr lassen. Seine Flucht war vergessen, genauso der Grund seiner Einkehr. Er lehnte sich zurück in den Sessel und behielt die Getränkekarte als Tarnung vor seinem Gesicht. Er glaubte, nun würde sich für ihn niemand mehr interessieren, seine Beobachtungen unentdeckt bleiben, augenscheinlich wirkte es so, doch er irrte. Lorna hatte ihn nicht aus den Augen gelassen, verfolgte seine stierenden Blicke in Miras Richtung und verstand schnell, dass dieser Kerl wohl doch noch seine Wahl treffen würde. Sie schmunzelte und ihr war klar, Mira war es, die er begehrte, Mira hatte das, wonach er suchte. Wenn ihn irgendjemand heute Nacht erobern würde, dann könnte nur sie es schaffen.

Die Stimmung war gut und Mira wieder bester Laune. Lorna ließ sich zu einer kleinen Intrige hinreißen und fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn sie Mira an seinen Tisch schicken würde. Die Frage machte sie ganz neugierig. Hämisch berichtete sie von ihrer Begegnung mit diesem stillen Kerl, dem keine gut genug war. Sie erzählte, was zuvor geschehen war und stachelte Mira an, es ebenfalls zu versuchen. Die verstand kaum ein Wort, ihr war es egal. Zu Lornas Vergnügen wollte sie es versuchen. Sie begann sich nach diesem eigenartigen Typen umzuschauen. Ihre Blicke trafen sich und der junge Mann fühlte sich ertappt. Er schien unangenehm berührt und sah die Zeit gekommen, das Bordell zu verlassen. Mira starrte ihn an. Aus Reflex drehte er sich weg. Er sah sich um, legte das Geld auf den Tisch und richtete seinen Blick zur Ausgangstür. Er war so in Gedanken vertieft, einen geeigneten Fluchtweg zu finden, dass er ihr Herannahen nicht bemerkte. Plötzlich fühlte er, wie zwei Hände auf seine Schultern fassten. Er konnte sie riechen, sie spüren. Eine Hand ließ seine Schulter los, streichelte seine Wange, sie war ganz kühl und zitterte. Diese Nähe war zu viel, so unerwartet! Er sprang auf und lief eilig zur Tür. Er hätte sie fast umgeworfen. Mira schreckte zurück und blieb wankend hinter dem Sessel stehen. Dieser verrückte Typ schien ganz aufgebracht. Wutentbrannt warf er den schweren Vorhang beiseite, stieß die Tür auf und ließ sie donnernd hinter sich zufallen. So etwas hatte Mira noch nie erlebt. Normalerweise war klar, um was es hier bei einem Besuch ging, aus welchem Grund sich ein jeder hierher verirrte. Doch diese Reaktion war neu und ließ Mira grübeln. Wer war er? Warum war er hier? Ihre Gedanken wurden durch das Aufschreien der Frauen abgelenkt. Wie die Hühner gackerten sie alle durcheinander und auch Lorna hatte ihren Spaß. Vielleicht war auch etwas Schadenfreude mit dabei, denn wer hätte gedacht, dass gerade Mira es schaffte, ihn in die Flucht zu schlagen, schließlich war sie das beste Pferd im Stall oder etwa doch nicht? Als Mira den Tresen erreichte, empfing sie einen lobenden Schlag auf die Schulter.

„…. Mira, du bist unglaublich…. Bei jeder hat er sich weggedreht, oder den Platz gewechselt… aber du hast ihn wahrlich aus dem Bordell gejagt… Was hast du getan? Ihn übereifrig in die Wange gezwickt? …. Großartig!“

Mira ließ sich vom ohrenbetäubenden Gelächter anstecken und diente für gute Stimmung gern als Tollpatsch. Mit überdrehter Laune ließen sich die letzten Stunden bis zum Feierabend überdauern und den herannahenden Morgen losgelöst erwarten. Die Frauen beendeten ihre Schicht und verabschiedeten sich bis zum nächsten Abend. Vergessen war der Schreck, vergessen war der Mann. Keine sprach mehr darüber und jede trat ihren Heimweg an.

Mira überquerte den Schotterparkplatz und lief durch den eisigen Wind. Jetzt, wo sie allein war, kam ihr die Situation wieder in den Sinn. Sie hatte kaum noch eine Erinnerung daran, wie er aussah. Das Einzige, was immer noch greifbar war, war seine Nervosität, seine Angst, als sie ihn berührte. Sein Geruch, sein welliges Haar, seine weiche Haut. Diese Begegnung war ohne Frage sonderbar! Der Morgen dämmerte und Mira fühlte die Müdigkeit, mit der sie sich nach Hause schleppte. Die letzten Treppenstufen nahmen ihr die Puste, schlaftrunken warf sie die heimische Tür zu, streifte die Schuhe ab und ließ sich erschöpft in ihr Bett fallen. Wieder ein Tag geschafft!

2

Der Fremde

Der nächste Tag brach an. Es war Dienstag. Mira erwachte und fühlte jetzt erst, was gestern geschehen war. Nur langsam ließen sich die schweren Lieder öffnen. Ihr Kopf schien auseinander zu platzen. Nur mit Mühe konnte sie sich aufrichten. Sie fasste sich zwischen die Beine und fühlte, wie das alte Blut ihre Schamlippen verklebt hatte. Ihr Unterleib schmerzte und das machte es nicht einfacher aufzustehen. Die blauen Flecke an Brustkorb und Beinen waren unübersehbar. Es fiel ihr schwer, die ersten Schritte zu tun. Sie setzte zitternd einen Fuß vor den anderen und suchte dabei immer wieder Halt an der Wand. Langsam erreichte sie das Badezimmer. Der erste Blick in den Spiegel war erschütternd. Ihre Wimperntusche war verlaufen, ihr Gesicht ganz aufgequollen, die Augen rot und düstere Schatten legten sich darum. Sie fühlte an ihrem Hals entlang. Leichte Würgemale waren wie eine Kette um ihren Nacken gelegt. Mira wollte darüber nicht nachdenken. Sie drehte den Spiegel beiseite und kletterte mit großer Anstrengung in die Dusche. Sie wusch sich sehr lange. Aber so sehr sie sich auch einseifte, dieser Schmutz an ihr wollte einfach nicht abgehen. Als sie fertig war, sah sie zur Uhr. Sie hatte sich zu viel Zeit gelassen. Nun musste sie die Maske wieder auftragen, die sie mit so viel Mühe versucht hatte abzustreifen. Jede Bewegung war eine Tortur. Dennoch versuchte sie alles, wie gewöhnlich, vorzubereiten. Sie legte die schmutzigen Kleider zum Einweichen in die Wanne und mischte etwas Spülmittel bei. Dann ging sie in die Küche, schnitt das Brot in Scheiben, belegte es mit Käse und Wurst, brühte dazu etwas Tee auf, nahm eine Schmerztablette und aß am Fensterbrett zu Abend. Der Tag war verregnet und die Dämmerung setzte ein. Die Tablette begann endlich zu wirken und die Unterleibsschmerzen wurden schwächer. Mira schauderte vor dem Gedanken, heute Abend wieder ran zu müssen. Aber genau das war Juris Strafe. Es war nicht der Schmerz der Vergewaltigung, der einen zerriss, sondern der, wenn die Wunden versuchten zu heilen, es aber nicht konnten, weil sie immer wieder aufgerissen wurden. Mira nahm fettige Creme und trug sie gewissenhaft zwischen ihren Beinen auf. Dann zog sie sich eine Jeanshose an, ein einfaches Shirt, ihre flachen Lieblingsstiefel und einen weißen Pullover.

Sie fühlte sich nur dann gut, wenn sie das Haus wie eine gewöhnliche Frau verließ. Sie legte viel Wert darauf, so normal wie möglich auszusehen und nicht sofort als Prostituierte erkannt zu werden. Obwohl sie selten jemandem auf dem Weg zum Bordell begegnete, gab es ihr dennoch ein gutes Gefühl, ein Teil der normalen Gesellschaft zu sein. Eilig machte sie sich fertig und verließ pünktlich das Haus. Erst als sie den Schotterparkplatz überquerte, war sie die Prostituierte und eine von ihnen, die, wie Mira, jeden Tag pünktlich ab 21 Uhr in ihrer Arbeitskleidung auf ihre Freier warteten. Die, die wie sie, sich jeden Tag betäubten und dieses Leben über sich ergehen ließen.

Auch heute waren sie alle pünktlich und standen am Tresen zu ihrer nächsten Schicht bereit. Alle waren da, nur Juri fehlte. Diese Reaktion war typisch für ihn. Mira wusste, er schämte sich für die gestrige Nacht, agierte im Rausch seiner Wut. Er war zu feige, sich zu entschuldigen, zu feige, mit ihr zu sprechen. Er hoffte, seine Abwesenheit würde seine Tat in Vergessenheit bringen und Mira wach rütteln. All die Jahre war es immer dasselbe. Er schlug sie und Mira entschuldigte sich dafür, er vergewaltigte sie und sie flehte ihn an, bei ihr zu bleiben, er betrog sie und sie suchte die Fehler bei sich. Doch die Enttäuschung und der Schmerz nahmen ihr Stück für Stück die Liebe und übrig blieben nur noch Groll und Wut. Mittlerweile war es ihr egal. Sie hatte sich zu oft entschuldigt. Sie war ihm nichts mehr schuldig und auch wenn er versuchte, das zu verdrängen, wusste er es tief in seinem Herzen. Mira wollte nicht mehr an die Vergangenheit denken. Generell fiel das Denken heute sehr schwer. Sie fühlte sich kraftlos und schwach. Kein Tag, um zu rebellieren! Ihr einziger Gedanke war, etwas zu finden, womit sie die Nacht überstehen konnte und etwas, was die pochenden Schmerzen betäubte.

Im Bordell waren die neuen Mode-Drogen zwar noch nicht so der Renner, zumal Juri das streng ablehnte, doch vor ein paar Monaten hatte einer der neuen Türsteher Mira mal probieren lassen und es war himmlisch. Welch faszinierende Wirkung so eine kleine Pille haben kann, wie berauschend ein Pulver einen auf eine andere Wolke mitnimmt und alles gleich viel einfacher und erträglicher erscheinen lässt. Mira liebte diesen Rausch und hatte sich viel zu schnell daran gewöhnt. Sie musste vorsichtig sein, weder die Jungs noch sie durften dabei erwischt werden. Aber wie es immer so im Leben spielt, gerade das, was verboten ist, macht zu viel Spaß. Als Mira auf der Suche nach etwas zum Ziehen war, wurde sie bitter enttäuscht, als sie ihr Versteck hinter dem Schubfach aufdeckte. Sie hatte die Ration für eine Woche innerhalb von zwei Tagen aufgebraucht.

„Verdammt!“, murmelte sie und fühlte Panik in sich aufsteigen. Wie sollte sie die Nacht überstehen, bereits jetzt begann ihre Hand zu zittern. Dieses Unbehagen prickelte auf der ganzen Haut und beschleunigte ihren Puls. Entnervt drückte sie die Schublade zu. Sicher ließ sich noch was auftreiben und so lief sie zu einem der Türsteher, der schon ´ne Weile auf sie stand. Mira wusste, wen sie zu fragen hatte. Jo war das jüngste Mitglied der Mannschaft und zwinkerte Mira cool und lässig zu. So eine Gefälligkeit unter Kollegen gehörte zum guten Ton und kostete Mira lediglich fünf Minuten auf der Toilette. Etwas Handbetrieb, ein zufriedenes Lächeln im Tausch für ein Päckchen Glück - und der Deal war perfekt. Offiziell sollten die Jungs ja den Mädchen die Drogen abnehmen, aber hey, Türsteher waren auch nur Menschen mit Bedürfnissen. Außerdem machte es sie verschwiegen und zu Verbündeten. Gut versteckt stopfte sich Mira das Päckchen sicher in ihren Stiefel und kehrte mit einem Lächeln in ihr Zimmer zurück. Der Abend war gerettet und endlich keine Schmerzen mehr.

Gut gelaunt gesellte sie sich pünktlich um 9 Uhr zu den Frauen am Tresen. Zur Einstimmung wurde das bestellt, womit der gestrige Abend geendet hatte. Der Korken der Sektflasche knallte und Mira genehmigte sich einen großzügigen Schluck. Der Abend war ruhig, die Gäste ließen auf sich warten und so leerte Mira schnell ihre erste Flasche und erreichte den gewünschten Pegel. Die Nacht zog sich schleppend, dennoch hatte Mira gegen 01:00 Uhr bereits zwei Stammkunden verarztet.

Zum einen Heiko, ein treuer Gast. Er war anspruchslos und benötigte nicht viel. Etwas streicheln und reden, dann bumsen, wie er es nannte und wieder reden. Er war ein lieber Kerl, gab immer großzügig Trinkgeld und wollte letztlich nur eine enge und liebevolle Umarmung. Sein Dialekt war für Mira zwar schwer zu verstehen, aber ein höfliches Nicken und eine gut gemeinte Streicheleinheit über seine Wange waren für ihn ausreichend, um ihn zufrieden zu stellen und glücklich zu verabschieden.

Hingegen war Jens eher der anspruchsvolle Typ und ein Schrecken für jede Prostituierte. Nicht weit hinter der deutschen Grenze gehörte ihm ein Fitness-Studio. Sicher waren diese Hormone schuld, dass er vögelte wie ein Karnickel. Er war ein Koloss von einem Mann, ausdauernd und unersättlich. Mira hatte es schon im Gefühl, dass er sie heute besuchen würde. Es dauerte fast eine Stunde bis er endlich kam. Welch eine Qual! Dieser Schrumpfhoden hatte dicke Pickel auf dem Rücken und auch sonst schien sein Muskelpaket ähnlich lächerlich wie der eines “Michelin-Männchens“. Mira beobachtete ihn manchmal, wie er ackerte, sein Becken eilig hin und her bewegte und dabei schwitzte, als hätte man ihm einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet. Dauernd tropften seine Schweißperlen auf ihren Körper. Mira lächelte immerzu gezwungen und suchte trotzdem nur die Uhr. Hinzu kam heute das Problem mit ihren Unterleibschmerzen, die sich langsam wieder bemerkbar machten. Während Jens fickte wie ein Stier und sich durch Miras professionelles Stöhnen bestätigt fühlte, versuchte Mira, unbemerkt immer wieder Gleitcreme nachzuschmieren, um Schlimmeres zu verhindern. Für einen Moment musste sie sich das Lachen verkneifen. Sie fragte sich, was wohl passieren würde, wenn die Creme aufgebraucht wäre? Würde sie dann leuchten wie ein Glühwürmchen? Sie grinste. Im nächsten Moment durchzog sie ein stechender Schmerz, der sich durch all ihre Glieder bahnte. Die Wunde war wieder aufgerissen. Glücklicherweise kam Jens im gleichen Moment. Mira beeilte sich, ihre blutende Muschi schnell wegzuschieben, damit er nicht sah, was wirklich passiert war. Er stöhnte und keuchte und lag auf dem Rücken, wie ein abgestochenes Schwein. Mira war froh, dass es endlich zu Ende war und ärgerte sich gleichzeitig, dass sie wegen diesem dämlichen Rammbock das ganze Bett komplett neu beziehen durfte. Freundlich wartete sie, bis er sich angezogen hatte und bezahlte. 150 Mark zog er großkotzig aus seinem “Armani“-Ledertäschchen und fand sich noch so cool. Mira umschmeichelte ihn mit einem Lächeln und gab ihm zur Verabschiedung einen Kuss. Es war wie eine Visitenkarte und das Versprechen, dass er wieder zu ihr kommen musste.

Wenn die Tür ins Schloss fiel, der Gast sich auf dem Flur entfernte, dann fühlte Mira die Erschöpfung. Es fiel ihr schwer sich zu motivieren, sich für den nächsten Gast bereit zu machen, die Kleider wieder anzulegen. Drogen und Alkohol waren ihre täglichen Begleiter und eine große Stütze in diesem Geschäft. Ohne sie war ein Tag kaum durchzustehen. Der Gedanke an diese Form von Erlösung brachte sie zurück an den Tresen, zurück zu den Frauen und zurück zu ihren Freiern. Das Päckchen Glück hielt sie dabei immer fest in ihren Händen.

Nachdem sich Mira die Treppen hinuntergequält hatte, saßen schon die nächsten Gäste bereit. Genervt betrat sie den Gastraum und starrte zur Uhr. 1:00 Uhr morgens und die Zeiger wollten sich einfach nicht weiter drehen. Es war ihr kaum noch möglich, sich körperlich auszublenden, ohne dabei komplett abzustürzen. Das Laufen ging erneut in ein Torkeln über und das war noch die angenehme Variante, statt vor Schmerzen gekrümmt durch die Bar zu stolpern. Mira wollte allen zeigen, wie leicht sie die vergangene Nacht wegsteckte. Ihr verlorener Blick schweifte durch den Raum. Alles war verschwommen. Der CD-Spieler wechselte die Scheibe. Die Takte dröhnten durch die Bässe, ihr Lieblingssong wurde angestimmt und ließ ihre Verfassung für einen Moment vergessen.

“Like a Prayer“ von Madonna erhellte ihr Gesicht und auch Lorna horchte auf. Ungehalten zerrte sie Mira mit sich und stellte sich mit ihr auf das Tanzpodest. Die Musik dröhnte durch ihren Kopf, der Bass ließ ihren Körper vibrieren, ihr Herz schlug schneller. Sie griff nach Lorna, hielt sich an ihr fest und tanzte mit ihr im gleichen Rhythmus. Beide sangen aus Leibeskräften textsicher jedes Wort mit, lachten, kreischten und hatten einfach nur Spaß. Die Scheinwerfer ruhten auf ihnen und gaben das Gefühl, als hätten sie den Raum für sich allein, den Rest im Dunkel erstickt. Als wären sie einfach nur zum eigenen Vergnügen hier gewesen und niemand würde von ihnen etwas erwarten. Die letzten Takte verklangen und der CD-Mix spielte den nächsten Madonna-Klassiker. Ein Song, der nicht besser passen würde: „Justified my love“.

Mira und Lorna nahmen sich in die Arme, tanzten erotisch und eng umschlungen miteinander, hielten sich an der Tanzstange fest und waren nur auf sich konzentriert. Die langsame Melodie hatte etwas Erotisches, etwas, was den ganzen Raum durchzog. In diesem Moment fühlte sich Mira nicht als Nutte, sondern als begehrenswerte Frau. Sie schob sich aus Lornas Armen und drehte sich um die Stange, schwang dabei ihr Bein herum und ließ sich kopfüber nach unten gleiten. Als sie die Augen öffnete, war sie außerhalb des Lichtkegels und sah nun desillusioniert auf die gierigen Blicke der Freier nieder, die auf ihren Körper starrten und sich mit ihren hungrigen Händen nach ihr verzehrten. Mira wich den ausgestreckten Armen, zog sich an der Stange hoch und drehte sich zur Tür.

Und da stand er! Sie hatte sein Gesicht am gestrigen Abend nicht richtig gesehen. Aber diese braunen, langen Haare, die Lederjacke, seine Statur, es gab keinen Zweifel daran. Er, der wegen einer Berührung gestern noch fluchtartig das Bordell verlassen hatte, stand nun wieder hier und sah zu ihr auf. Ihre Blicke trafen sich, seine scheuen Augen drehten sich weg. Er fühlte sich ertappt und sah zu Boden. In dem Moment bewegte sich der Scheinwerfer und blendete Mira. Es ließ ihr keine Ruhe, sie wollte wissen, wo er saß und was das gestern sollte? Sie kletterte vom Podest und wollte ihn zur Rede stellen. Als sie auf seinen Platz sah, knallte die Eingangstür. Sein Getränk stand noch unangetastet auf dem Tisch und daneben lag das Geld dafür. Sie lief zum Tisch, suchte nach einem Hinweis, einer Spur, irgendetwas, was Aufschluss über den Mann gab. Nichts! Dann rannte sie zum Fenster, schob den lichtdichten Vorhang beiseite und presste ihre neugierige Nase gegen das Fensterglas. Niemand war zu sehen. Mira dachte selten über einen Kunden nach. Eigentlich nie! Doch dieser Typ schien anders als die Anderen. Seine Auftritte waren mehr als merkwürdig. Zurück unter den Frauen, war der Mann mal wieder im Gespräch. Einigen Damen war er ebenfalls aufgefallen. Mira sagte nichts dazu, schließlich hatte sie ihn nun schon zum zweiten Mal in die Flucht geschlagen. Den Hohn ersparte sie sich heute. Der Rest des Abends verlief ruhig. Juri blieb dem Bordell fern, was die Arbeit entspannt machte und auch sonst gab es keine weiteren Vorkommnisse. Mira konnte den Feierabend kaum erwarten. Die Schmerzen wurden stärker und der Körper ließ sich nicht länger betäuben. Mit letzter Kraft schleppte sie sich nach Hause. Sechs Uhr, die Schicht war erledigt, die Erschöpfung nicht länger zu ignorieren. Die Nacht war vollbracht und ein neuer Tag begann.

Es war Mittwoch. Der Morgen verlief ähnlich schrecklich wie der gestrige. Mira quälte sich aus dem Bett, wusch sich, aß zu Abend und machte sich für die Arbeit fertig. Für einen Moment dachte sie daran, einfach dem Bordell fernzubleiben. Der Raubbau an ihrem Körper durch die letzten Tage war heute besonders spürbar. Unglücklicherweise war der nächste Tag ein Feiertag in Deutschland und daher heut besonders viel los. Mira wusste, dass Juri ein Fehlen von ihr nicht dulden würde. Und wenn er sie bis zum Bordell schleifen müsste, er würde sie suchen, bis er sie findet und bis zum Morgengrauen ackern lassen. Mit Schrecken dachte sie an die letzten Feiertage. Die Männer benahmen sich wie Tiere. Sie gegrabschten alles, was sie in die Hände bekamen, ließen sich volllaufen und vergaßen jede gute Erziehung. Mit einem mulmigen Gefühl packte sie ihre Tasche, verließ ihre Wohnung und machte sich auf den Weg. Als sie über den Schotterparkplatz lief, schüttelte sie fassungslos den Kopf. Schon jetzt stand eine Vielzahl unbekannter Autos auf dem Parkplatz, also waren bereits Gäste eingetroffen, dabei war es noch nicht einmal 20:30 Uhr! Der Abend begann jetzt schon scheiße und Mira war genervt.