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Michael und Gregor werden von ihrer kleinen Schwester getrennt und geraten in ein Arbeitslager für Kinder. Aber sie haben Glück im Unglück. Durch puren Zufall werden sie, nicht in ein Lager gesteckt, sondern bei einem mürrischen Mann aufgenommen, dem die beiden Brüder zur Hand gehen müssen. Es gibt nicht genug zu essen und sie schlafen draußen bei den Tieren. Dennoch können Michael und Gregor sich nicht beschweren, es war schließlich Krieg. Eines Tages jedoch wendet sich das Blatt erneut und die Brüder müssen aufs Neue um ihr Leben bangen. Teil 2 der bewegenden Geschichte über den Jungen, der an das Gute glaubte. Leserstimmen: »Das ist die Geschichte, die sich unsere Großeltern nicht trauen zu erzählen.« »Ein herzzerreißendes Buch, das mich völlig gefesselt hat! Ich konnte es gar nicht mehr aus der Hand legen.« »Diese Kriegsverbrechen dürfen nie in Vergessenheit geraten. Danke dafür!«
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Seitenzahl: 291
ISBN: 978-3987562280
© 2022 Kampenwand Verlag
Raiffeisenstr. 4 · D-83377 Vachendorf
www.kampenwand-verlag.de
Text: Noah Fitz
Umschlagfotos: Tomsickova Tatyana / Shutterstock,
Gordan / Shutterstock
Korrektorat: Jasmin Kraft
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
KAPITEL 1 Konstantin
Wa…wartet au…auf mich!«
Michael riss zu Tode erschrocken den Kopf herum. Anitas Hand zuckte zusammen und zerquetschte beinahe seine Finger.
»O Gott!«, flüsterte Gregor nach Luft schnappend. Bei der Erscheinung torkelte er rückwärts und fiel hin, als er auf dem glitschigen Boden ausrutschte. Die Augen weit aufgerissen, so als habe er den Leibhaftigen persönlich auf sich zukommen sehen, flüsterte er schnell ein Vaterunser.
Michael erstarrte. Seine vor Schreck geweiteten Augen tränten. Auch er fürchtete sich vor dem, was er sah – Konstantin. Der Junge, den sie im Gras hatten liegengelassen, er lief auf sie zu.
Irgendwo krachte es erneut. Das Donnergrollen zerriss die grauen Wolken. Der blaue Himmel schimmerte für einen kurzen Augenblick durch den entstandenen Riss hindurch, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Die riesigen Tropfen versiegten, ein greller Lichtstrahl zerschnitt die Wolken endgültig, trotzdem zitterte Michael am ganzen Körper.
Konstantin? Wie war das möglich? Ist er wie Jesus von den Toten auferstanden? Der Gedanke jagte wie ein eisiger Schauer durch seine Glieder.
Gregor stotterte unverständliche Zeilen eines Gebets, das Michael nicht kannte, Anita stieß ein ersticktes Schnauben aus.
»Wa…wa…wartet!« Konstantins Stimme klang nicht mehr so laut. Doch sein Lächeln wurde immer breiter.
»Sing, Konstantin, sing! Konstantin, du sollst singen! Sing!« Michael wurde mit jedem Wort lauter, bis er aus vollem Halse schrie: »Sing, sing, SING!« Er begann wie ein Wahnsinniger zu lachen.
Konstantin lachte jetzt auch, breitete seine Arme aus und rannte auf sie zu. Er humpelte auf einem Bein, stolperte, flog vornüber, rappelte sich auf und sang ein Lied über die Engel.
Anita kreischte vor Freude, Gregor saß einfach nur da, er gab sich Mühe, das Gesehene zu verarbeiten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, als ihre Stimmen heiser und die Hälse trocken waren, packte Michael den Jungen bei den Schultern und sah ihn durchdringend an. Sein Atem ging schwer, auch Konstantin schnaufte. Tränen benetzten seine Augen.
»Wie ist das möglich, Konstantin?«
Konstantins Augenbrauen fuhren leicht in die Höhe, er verstand scheinbar die Frage nicht, unentschlossen schaute er jetzt zu Anita, die dümmlich grinste, dann zu Gregor, der immer noch im hohen Gras saß und die ganze Situation abwartete.
Der Himmel klärte sich wieder, sodass sie von der Sonne gewärmt wurden.
»W…w…w…was m…meinst d…du?«, stotterte Konstantin mit krächzender Stimme und schluckte mit schmerzverzerrtem Gesicht.
»Die Schlange! Du wurdest doch von der Schlange gebissen.« Michael war sich nicht mehr sicher, ob er das Ganze nicht nur träumte, doch die Schmerzen in seiner Brust und an seiner Hand schienen mehr als real zu sein. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ein riesiges Insekt auf seinem Handrücken saß. Gierig trank es sein Blut, und der Hinterleib färbte sich dunkel. Michael klatschte mit seiner Linken auf den Blutsauger, von dem nichts als ein roter Fleck blieb, der einem Tintenklecks ähnelte.
Michael hob den Kopf und wartete auf eine plausible Erklärung.
Allmählich hellte sich Konstantins Gesicht auf. Zwei makellos weiße Zahnreihen blickten durch seine aufgeplatzten Lippen, die zu einem Lächeln wurden. »Das war keine Schlange«, sang der Junge mit heller Stimme.
Michael bekam erneut eine Gänsehaut.
»Ich hatte nur einen A…Anf…Anfall.« Auf einmal klang er sehr müde, seine Mundwinkel sanken erneut nach unten. Er schien beschämt zu sein.
»Was für ein Anfall?«, meldete sich Anita. Sie klang besorgt, so wie es ein kleines Mädchen nur sein kann, ehrlich und voller Fürsorge.
»M…m…manchmal, w…w…wenn ich mich s…sehr arg erschrecke, dann b…be…bekomme ich keine Luft und s…se…sehe dann wie to…to…tot aus, aber d…da…dann wache ich auf und alles ist wie…wieder gut.«
»Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, du Arsch!« Gregors Augen funkelten zornig. Er stand auf und warf einen Erdbrocken nach ihm, der Konstantin mitten auf die Brust traf. Der zerfiel jedoch und rieselte als Staub zu Boden.
»Tu…tu…tut mir leid«, flüsterte Konstantin, während er den schmutzigen Fleck auf seinem Hemd verrieb.
»Aber mich kümmert es einen Sch…Scheiß, w…wa…was d…du d…da s…sa…sagst. Verpiss dich einfach!«, schrie Gregor und äffte Konstantin dabei mit affektiert piepsiger Stimme nach.
Konstantins fast schon mädchenhaft weiche Züge, sein schlanker Körperbau, die beinahe durchsichtige weiße Haut sowie das ständige Stottern boten für Gregor genug Angriffsfläche, um den schüchternen Jungen zu necken, das wusste Michael. Aber jetzt waren all diese Gedanken unwichtig.
»Hat dich also diese Schlange erschreckt? Und dann bist du gestorben? Ich meine umgefallen«, stellte Anita fest.
»Nein, ein Wassergeist«, fuhr Gregor dazwischen.
»Wirklich?« Ihr Blick wurde ernst. Sie schaute ihren Bruder und Konstantin abwechselnd an.
»Aber ich habe niemanden dort gesehen. War er so schrecklich? Wie hat er ausgesehen?« Ihre kindliche Naivität ließ sie noch an Wunder und übernatürliche Wesen glauben. »Ich habe mal eine Hexe gesehen, die kam in der Nacht, wirklich. Sie hat mich gewürgt. Stimmt’s, Michael, du hast sie auch gesehen.«
»Das war Gregor«, unterbrach Michael sie schnippisch.
»Lasst uns lieber weitergehen. Nicht, dass Stepan auf uns wartet. Er ist schlimmer als jeder Flussgeist.«
»Genau«, stimmte Gregor zu und klopfte Konstantin auf den Rücken. »Warum ist dein großer Zeh so rot?«
Konstantin rieb immer noch an seinem Hemd. »Habe mich an einem Stein angesch…schlagen.«
Jetzt lachten alle losgelöst. Für einen kurzen Augenblick waren die bevorstehenden Strapazen vergessen. Sie kreischten beinahe vor Erleichterung. Der Himmel klärte sich, sodass das hellblaue, fast wolkenlose Firmament über ihnen schwebte, die warmen Sonnenstrahlen schienen auf ihre Gesichter und wärmten ihre Seelen.
Als ihr ausgelassenes Gelächter heiser, ihre Augen nass und ihre Münder trocken geworden waren, schallte eine Stimme zu ihnen herüber. Zuerst von Weitem – jemand rief einen Namen – dann kamen die Schreie immer näher. Die Rufe verlangten nach einem von ihnen.
KAPITEL 2Das Erwachen
Zuerst drangen nur vereinzelte Laute an sein Ohr, wie Fetzen schnappte er die Worte auf, die für ihn keinen Sinn ergaben. Sie fluteten seinen zerschundenen Geist. Alexander hörte Stimmen, viele. Menschen schrien, keuchten, fluchten, schimpften und flehten den Allmächtigen an, dem Ganzen ein Ende zu setzen.
»Du vermaledeite Schlampe, lass mir mein Bein«, brüllte jemand aus vollem Hals. Seine Stimme war die eines sehr verzweifelten Manns.
Alexander versuchte, seine Lider zu heben, doch alles, was er zustande brachte, war ein flüchtiges Zucken mit dem rechten Zeigefinger. Ein Gefühl der Angst kroch wie ein Wurm unter seine Haut, immer tiefer, bis in sein Herz, das wie wild gegen die Rippen schlug.
Bin ich in der Hölle angekommen?, fragte er sich selbst, dass niemand der Anwesenden hier sein Erwachen bemerkte, zumindest nicht sofort. Er fröstelte, seine rechte Schläfe brannte, als habe ihm jemand einen glühenden Draht durch die Schädeldecke gejagt. Die sengende Hitze ließ Alexander erschaudern, er schwitzte und fror gleichermaßen. Verzweifelt versuchte er, sich an das Letzte zu erinnern, ehe die Welt von der Schwärze verschluckt wurde, an den Augenblick, bevor er in das tiefe Loch der Hölle gestürzt war. Was ist passiert? Welches Ereignis hatte ihm die Erinnerung genommen? Die Albträume hafteten an ihm wie heißer Teer, der sich nur samt der Haut abreißen ließ. Einmal hatte er erlebt, wie ein Mann mit heißem Wasser übergossen wurde. Es war ein Unfall, der Mann starb qualvoll, die Haut schälte sich von ihm ab wie erkaltetes Wachs, das Fleisch darunter war blutig und knallrot. Genauso brannte jetzt auch sein Kopf. Das Pochen wurde unerträglich, seine Schädeldecke drohte zu explodieren. Er wollte schreien, doch alles, was er zustande brachte, war ein zischendes Keuchen, so, als würde er ersticken. Sogar seine Lippen weigerten sich, sich zu bewegen. Am meisten fürchtete er, bei klarem Verstand begraben zu werden, um unter der Erde qualvoll zu verenden. Das würde passieren, wenn er nicht bald aufwachte. Die Gedanken wurden zu heißen Nadeln und brannten sich schmerzlich in sein Gehirn.
»Ich glaube, der kommt langsam zu sich. Jemand sollte Scherenkind hierher beordern, er hatte diesbezüglich eine strikte Anweisung erteilt«, brummte eine ihm unbekannte Stimme. Alexander konnte den tiefen Bariton des Mannes sehr gut und deutlich hören, er überschattete alle Geräusche, die nicht nur menschlicher Natur waren.
Ein metallisches Klimpern schallte wie eine helle Glocke. »Du da!«, fuhr die Stimme jemanden an, vermutlich den Tollpatsch, der die Schüssel fallen ließ. »Heb das hier sofort auf und lauf schnell in die Werkstatt zur großen Mühle, dort verlangst du nach Andrej Koslow, hast du mich verstanden?« Der Mann klang, als spräche er mit einem, der schwer von Begriff war.
»Jawohl!«, entgegnete eine andere männliche Stimme, die jedoch viel höher und um einige Jahre jünger klang. Sie musste einem jungen Mann, vielleicht einem Kind gehören, dachte Alexander. Also bin ich nicht in der Hölle gelandet. Könnte ich mich doch nur an den einen verdammten Augenblick erinnern, der mein Gedächtnis wie ein Lichtschalter ausgeknipst hat.
Heiße Tränen zwängten sich unter seinen Wimpern hervor, unbeirrt kullerten sie über seine weiße Haut, die wie Pergament über sein Gesicht gespannt war. Dabei hinterließen sie schimmernde glänzende Linien. Alexander öffnete seine aufgeplatzten Lippen leicht.
»Trinken«, hauchte er ein einziges Wort, um erneut in den tiefen Schlaf eines Sterbenden zu versinken.
KAPITEL 3Wiedersehen und Trennung
I…ich glau…glaube, das i…ist mei…meine Ma…Mama«, stotterte Konstantin. Mit kreidebleicher Miene schaute er seine Freunde ungläubig an, so als suche er nach einer Bestätigung. Er war aus ihm unbekannten Gründen von ihr getrennt worden. Jetzt schien sein Leben erneut eine Wendung zu nehmen.
Die Kinder standen schweigend herum, denn keiner wusste, was sie ihm sagen sollten. Da drehte sich Konstantin in die Richtung, aus der er die Rufe vermutete. Eine Silhouette schimmerte in der Ferne, die von zwei weiteren begleitet wurde. Erst jetzt wurde den Kindern klar, dass sie vom Weg abgekommen waren und sich die ganze Zeit von der Scheune entfernt hatten, anstatt sich ihr zu nähern.
»M…Ma…Mama!«, schrie Konstantin – die Stimme vor Freude zittrig und fremd. »Mama, ich bin hier!« Ohne sich umzuschauen, lief er auf seine Mutter zu, stolperte, fing sich jedoch. Strauchelnd und nur knapp einem Sturz entgehend, bahnte er sich den Weg durch das hohe Gras. Endlich sah seine Mutter ihren Sohn auf sich zulaufen. Sie zögerte kurz, dann lief auch sie mit erhobenen Armen auf ihr Kind zu. Sie trafen wie zwei Wellen aufeinander und verschmolzen zu einer einzigen. Die Frau drückte ihr Kind fest an sich und ging in die Knie. Mit vor Freude zittrigen Händen vergrub sie ihr Gesicht an der schmalen Brust des Jungen. Beide weinten.
Michael verspürte bei dem Anblick einen stechenden Schmerz in der Brust. Auch seine Geschwister starrten mit tränenden Augen auf Konstantin. Wie gern würden auch Gregor und Anita sich von ihrer Mutter in den Arm nehmen lassen, nur war ihre Mama nicht mehr bei ihnen. Michael schluckte den Zorn und die Bitterkeit mit stoischer Haltung herunter. Seine Hand suchte die von Anita. »Kommt, wir müssen gehen, sonst gibt es Ärger«, flüsterte er kaum hörbar. Anitas dünne Finger waren eiskalt, als sie sich um seine Hand schlossen.
Gregor zog an einem Grashalm und steckte sich das zarte Ende in den Mund. Der Stängel wippte in seinem rechten Mundwinkel, als er darauf zu kauen begann, dann spie er ihn mit angewidertem Gesicht wieder aus. »Schmeckt nach Kuhpisse«, schimpfte er.
Anita schmunzelte. »Kuhpisse«, wiederholte das Mädchen das böse Wort, dabei verzog sie ihren Mund zu einem kecken Lächeln, in das Michael mit einfiel. Als er Anita anblickte, war die Traurigkeit in ihren Augen nicht mehr zu sehen, sie glänzten vor Freude. Sie zog mit ihrer freien Hand an einem Grasbüschel, zupfte einen Halm heraus, kaute kurz darauf und sagte dann: »Das schmeckt wirklich nach Kuhpisse.«
Gregor trat nach einem Stein und schritt den beiden voraus.
»Michael, du musst es auch probieren, das schmeckt wirklich nach Kuhpisse«, kicherte Anita. Sie hielt ihm einen anderen Halm vor die Lippen.
»Ich glaube es dir«, nuschelte er nur, ohne den Versuch zu starten, ihrer Bitte nachzugehen. Seine Schwester öffnete die Lippen, kräuselte den Mund zu einem verzerrten Strich und schüttelte dann den Kopf.
Michael zog Anita hinter sich her.
»Warum schmeckt das Gras eigentlich nach Kuhpisse?«, wollte sie dann von ihm wissen.
»Weil Kuhpisse nach Gras schmeckt«, entgegnete er ein wenig zu barsch. Ihm ging die Fragerei auf die Nerven, trotzdem war er froh darüber, dass sie nicht mehr an ihre Mutter dachte und sich ihre Laune besserte. Er selbst schweifte in Gedanken aber immer wieder zu seiner Mama ab. Wo sie jetzt sein könnte, beschäftigte ihn auch sehr.
Sie hatten Konstantin eingeholt. Gemeinsam liefen sie auf die anderen Begleiter zu. Konstantins Mutter flüsterte ihm die ganze Zeit über etwas zu.
»Wann werdet ihr endlich Vernunft annehmen und unseren Anweisungen folgen?«, schimpfte der große Mann mit der Glatze, als die Kinder sich samt Konstantins Mutter den beiden Männern angeschlossen hatten.
Sie alle, außer der Frau, starrten mit gesenkten Köpfen zu Boden, ohne sich ihrer Schuld bewusst zu sein. Aber einem Erwachsenen zu widersprechen waren sie nicht gewohnt, außerdem hatten sie Angst vor weiteren Rügen und Bestrafungen, die folgen konnten, falls sie sich nicht fügten.
Michael umfasste die Münze von Igor, die um seinen Hals hing. Zaghaft knetete er sie mit seinen Fingern, dabei bewegte er stumm die Lippen.
»Warum seid ihr so schmutzig?«, wollte Stepan von ihnen wissen. Seine Miene war von Zornesfalten durchzogen. Nun schien er noch grimmiger und furchteinflößender dreinzublicken als zuvor.
»Wir haben gedacht, Konstantin ist gestorben, danach hat Gregor gesagt, er wird ihn tragen, aber Konstantin war zu schwer, wir wollten ihn aber nicht begraben, dann ist er wieder aufgewacht und war nicht mehr tot«, plapperte Anita drauf los.
Stephans Stirn legte sich in Falten, als er seine buschigen Augenbrauen hob. Seine Augen wurden zu zwei schmalen Schlitzen, er konnte Anita nicht folgen. Er schüttelte heftig den Kopf und fuhr sich mit der rechten Hand ungläubig über die Glatze. »Was? Ich verstehe kein einziges Wort. Ihr sollt so sprechen, dass ich euch auch verstehen kann – ihr deutschen Kinder«, entfuhr es ihm. Seine Stimme klang wie ein Donnergrollen. Anita zuckte zusammen und suchte hinter Michaels Rücken Schutz.
»Er wurde von einer Schlange gebissen«, hörte Michael seine Schwester flüstern, nun auf Russisch.
Konstantins Mutter schnappte mit einem Keuchen nach Luft, mit sorgenvollem Blick sah sie ihren Sohn fragend an.
»Ich ha…ha…hatte wieder einen A…A…Anfall«, erklärte Konstantin.
»Mir reicht es jetzt langsam! Ich hab die Faxen dicke. Ihr geht alle mit, ab heute werdet ihr unserem Schmied zur Hand gehen, und damit meine ich euch drei …«
»Und Onkel Fjodor?«, unterbrach ihn Michael. Als ihm bewusst wurde, dass er sich erneut ungefragt eingemischt hatte, biss er sich sofort auf die Zunge.
Zornesröte stieg dem Mann ins Gesicht. »Fjodor Iwanowitsch gehört die Holzfabrik, für die ihr bald jeden Tag in den Wald gehen werdet. Wie gesagt, damit meine ich euch alle drei. Und nun schweigt, keiner sagt mehr ein Wort. Ihr da«, er deutete mit seinem großen Zeigefinger auf die beiden Brüder, »ihr macht mir keinen Ärger mehr, habt ihr Bengel mich verstanden?« Er sprach langsam, jedes Wort glich einer Drohung, seine Hand öffnete und schloss sich mehrmals zu einer Faust.
Die Kinder stimmten dem Mann mit ängstlichen Mienen stumm zu, wie auch die Frau, die heftig mit dem Kopf nickte, dann presste sie ihren Sohn fest an sich.
Der große Mann, dessen Gesicht jetzt eine dunkelrote Farbe angenommen hatte, strich sich energisch über den kahlen Schädel, der von tiefen Furchen zerklüftet war. Er schien mit der ganzen Situation überfordert zu sein.
Er ist schwer von Begriff, dachte Michael.
»Ihr beiden«, fuhr der Mann mit gepresster Stimme fort, mit dem Finger deutete er auf die beiden Brüder, »und du, Stottermaul«, er machte einen Schritt auf Konstantin zu, packte ihn am Kragen und riss ihn aus der Umklammerung der verängstigten Frau, »ihr geht mit Nikolai zum Pferdestall. Das Mädchen kommt mit mir, die Frau auch, ihr könnt hoffentlich nähen und backen.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schubste er den leichenblassen Konstantin in Michaels Richtung, im Vorbeilaufen packte er Anita am Handgelenk und zerrte sie mit sich.
Noch bevor sich jemand widersetzen konnte, stellte sich Nikolai vor die drei Jungs und tätschelte mit seiner linken Hand das auf Hochglanz polierte Holz seiner Schrotflinte, die er über seiner rechten Schulter trug. Dabei entblößte er eine Reihe krummer Zähne.
»Kommt, wir haben noch viele Bäume zu fällen«, sagte er mit breitem Grinsen.
Michael folgte seiner Schwester mit traurigem Blick, auch sie schaute sich nach hinten um, dabei stolperte sie ständig über ihre eigenen Füße, weil sie der Mann an ihrem Arm zog.
»Los jetzt, genug der Sentimentalitäten, ihr müsst euch euer Essen verdienen.« Der dürre Mann schubste Gregor und zwang auch Michael zum Gehen. »Eure Schwester wird ja nicht zum Schafott geführt, wenn sie einigermaßen mit einer Harke oder einer Hacke umgehen kann, so wird sie den anderen Frauen auf dem Feld zur Hand gehen. Los jetzt, sonst knallt es – aber gewaltig. Onkel Fjodor duldet keine Schmarotzer. Und Emil ist ein sehr guter Mann, ihr müsst Gott danken, dass ihr so viel Glück hattet, vielleicht könnt ihr von ihm das eine oder andere lernen. Auch wenn ihr es nicht verdient habt.« Er zog den Rotz die Nase hoch und spie den schleimigen Klumpen auf den nassen Boden. »Los, los.« Nikolai schubste die Jungen einen nach dem anderen in eine bestimmte Richtung. Sie widersetzten sich nicht mehr.
Mit gesenkten Köpfen folgten die Jungen einem Weg, der zwei tiefe Furchen aufwies, die von großen Wagenrädern stammen mussten, und sich in weiten Bögen durch die Landschaft schlängelten.
»Dieser Weg führt direkt zum Hof und führt aus dem Wald. Ihr werden ihn nicht nur einmal am Tag bis hin zu den Baumfällarbeiten beschreiten müssen. Aber nicht einfach so, natürlich. Ihr werdet die Baumstämme zur Holzfabrik schleppen.« Michael schaute den Drachenjäger, der keiner war, fragend an.
»Wisst ihr, wie man mit den Bullen umgeht?«
Die beiden Brüder zogen ihre Stirne kraus, nur Konstantin nicht, der weinte stumm und winkte seiner Mutter ununterbrochen hinterher, auch wenn sie kaum mehr zu sehen war.
Michael warf einen letzten Blick über die Schulter. Die Gruppe wurde zu einem kleinen Fleck in der Landschaft. Nichts als verschwommene Silhouetten waren von ihnen geblieben.
»Wohin bringt er meine Schwester?«, wollte Michael wissen, seine Stimme klang fest, obwohl er am ganzen Körper zitterte.
»Zu den Frauen, wohin denn sonst?«, entgegnete Nikolai genervt. »Kommt, ihr bekommt einen Happen zu essen, danach geht es in den Wald, wir brauchen Holz. Das mit den Bullen bekommt ihr auch noch gezeigt. So dumm kann keiner sein, der nicht mit einem Bullen einen Baumstamm ziehen kann. Kommt jetzt!«, fuhr er die Jungen an und verpasste Gregor einen Klaps auf den Hinterkopf.
Gregor duckte sich, als der sehnige Mann erneut zu einem Schlag ausholte. Diesmal fuhr dessen Hand ins Leere, er fluchte gedämpft und verpasste Konstantin einen Arschtritt, weil der am nächsten war.
KAPITEL 4Am Pferdestall
Wer von euch ist der Älteste?«
Michael, Gregor und Konstantin zuckten mit den Schultern. Ihre Blicke waren auf den Boden gerichtet. Die Luft roch nach Heu, Pferdemist und Schweiß. Die drei Jungs standen in einer Reihe vor einem großen Tor. Die Stimme gehörte zu einem Mann, dessen Bart grau war und ihm bis an den dicken Bauch reichte. Er trug nur eine schmutzige Leinenhose, die von einem Bändel statt eines Gürtels gehalten wurde. Sein nackter Oberkörper war behaart, wie bei einem Bergmenschen – so stellte Michael sich dieses Sagenwesen immer vor. »Wie heißt du?«, fragte der Mann Gregor und zog genüsslich an seiner Pfeife. Eine Rauchwolke quoll dabei aus seinen beiden Nasenlöchern.
»Du sollst antworten, wenn du gefragt wirst, Bengel«, ertönte die unangenehme Stimme von Nikolai. Er gab Gregor einen saftigen Arschtritt, sodass er nach vorne stolperte und auf die Knie in eine Pfütze fiel.
Ein alter Mann mit riesigem Bauch und krausem schulterlangem Haar, grummelte unverständliche Worte in seinen Bart hinein. Er schüttelte den Kopf, ging auf Gregor zu und half ihm auf die Füße.
»Wenn du noch einmal einen von den Jungen anfasst, werde ich dir dein Gewehr sonst wohin stecken«, sagte der alte Mann mit ruhiger Stimme an Nikolai gewandt. Seine trüben Augen wurden dunkel, und Nikolai machte einen Schritt nach hinten.
»Komm, steh auf, Junge. Ich heiße Onkel Emil, und wie heißt du?«
»Gregor«, flüsterte der Junge mit gesenktem Kopf.
»Und du?« Onkel Emil zeigte mit dem Mundstück seiner Pfeife auf Michael.
»Michael Berg, wir sind Brüder.«
»Alle drei?« Die buschigen Augenbrauen fuhren nach oben. Er klopfte Gregor sachte auf die Schulter. Seine Füße, die in Gummistiefeln steckten, schmatzen laut, als er zwei Schritte auf den eingeschüchterten Konstantin zumachte. »Ich glaube, der da ist nicht euer Bruder, der hat ganz andere Gesichtszüge.« Onkel Emil lächelte dabei.
Auch Konstantin versuchte es mit einem Lächeln, ließ es aber bei dem Versuch bleiben.
Michael schluckte schwer. War dieser alte Herr wirklich ein gutmütiger Mensch wie Igor, oder hatte er andere Absichten und spielte ihnen nur etwas vor?
»I…ich bi…bi…bin …« Dann brach Konstantin ab.
Onkel Emil zog die Stirn kraus und verharrte mitten in der Bewegung. Das Mundstück seiner Pfeife schwebte dicht vor seinen Lippen in der Luft. Er stand jetzt ganz nah bei den Jungen und schaute sie abwechselnd an. Sein Blick sprang von Konstantin zu Michael und wieder zurück.
»Frierst du, oder bist du etwa ein Stotterer?«
»I…ich … ich« Mehr bekam Konstantin nicht heraus.
Er war sehr aufgeregt, darum war sein Stottern jetzt noch schlimmer, stellte Michael fest. »Wenn er singt, dann stottert er nicht«, flüsterte Michael und verfluchte sich selbst für sein vorlautes Mundwerk.
Statt einer Rüge erschallte lautes Lachen. Onkel Emils Bauch hüpfte dabei. »Was? Ich habe so etwas bisher nie gesehen, davon gehört habe ich auch noch nicht. Was hast du mir hier für Wesen angeschleppt, Nikolai?« Er machte einen tiefen Zug und nickte Konstantin aufmunternd zu, während er den Rauch ausblies. »Sing mir mal was vor«, ermutigte er Konstantin und strich sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen. »Du, Nikolai, du kannst wieder gehen, ich komme mit den Bälgern schon irgendwie klar. Jetzt geh schon.«
Nikolai murmelte etwas Unverständliches, drehte sich um und ging.
Konstantin schaute auf seine nackten Füße, die in der schlammigen Pfütze bleich wie zwei tote Fische schimmerten.
»Jetzt geniere dich nicht, ich fresse keine kleinen Knirpse«, ermutigte ihn Onkel Emil aufs Neue. »Nur keine Hemmungen. Ich komme mir jetzt sowieso vor, als befände ich mich in Gegenwart eines außergewöhnlichen Kindes. Kannst du mich denn auch verstehen? Oder stotterst du etwa auch beim Denken?« Er klang ernst. Die Pfeife wippte in seinem Mund.
Ganz langsam hob Konstantin den Kopf. Seine Brust wurde breiter, als er einen tiefen Atemzug machte, und dann sang er wieder das Lied über die Engel. Zuerst ganz leise, doch mit jeder Strophe wurde seine Stimme heller, die Worte ergreifender.
Onkel Emil verstand kein einziges Wort, trotzdem hörte er angespannt zu. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, vom dicken Rauchnebel umhüllt war sein Gesicht ernst und nachdenklich.
KAPITEL 5Alexander
Alexander gab undeutliche Laute von sich. Seine Stimme klang schwammig, seine Augenlider flatterten wie die Flügel einer Motte. Er sah in dem immer wiederkehrenden Traum erneut seine Freunde. Andrej, wie er sterbend auf die Knie fiel, Elkin, der Zigeuner – dessen Kopf von einer Kugel getroffen wurde. Die beiden reckten ihre Hände, die nichts als Krallen waren, an denen ihre Haut in Fetzen herabhing. Sie schrien, lippenlose Münder mit faulen Zähnen riefen seinen Namen: Alexander, Alexander!
»Lasst mich los, lasst mich los«, murmelte er. Er blinzelte und schaute sich ängstlich um, als er für einen Augenblick aus seinem Delirium aufwachte, um erneut in einem tiefen Schlaf zu versinken. Er sah ein hübsches Gesicht dicht vor seinen Augen, wollte etwas sagen, nur seine Zunge war viel zu dick. Wieder schwanden seine Kräfte, er stürzte abermals in die Dunkelheit, die Krallen der Toten zerrten an ihm, packten seine Füße und zogen ihn ins Erdreich.
Alexander spürte nicht den nassen Lappen auf seiner Stirn, auch hörte er nicht die beruhigenden Worte der jungen Frau, die sich um ihn kümmerte, und er nahm auch nicht die Anwesenheit von Achim Scherenkind wahr. Alexander wanderte an einem Abgrund entlang. Eine verlorene Seele, gefangen zwischen zwei Welten.
Der Kopfschuss war tödlich gewesen, doch Alexander weigerte sich, zu sterben. Er kämpfte weiter, wollte leben, er musste zurück zu seiner Familie. Es war jetzt seine Pflicht, sich um seine Mutter und seine Geschwister zu kümmern, nachdem der Vater von ihnen gegangen war. Es war seine Aufgabe, sein Kreuz, das er zu tragen hatte. Unsägliche Wut strömte durch seine Glieder, selbst in dem Zustand, in dem er sich befand, wollte er sich an den Männern rächen, die ihm sein früheres Leben genommen hatten. Er trachtete nach Vergeltung. Auge um Auge, so stand es in der Bibel, dem heiligen Buch der Christen. Sein Atem ging stoßweise, seine Finger verkrampften sich, zerrten an dem weißen Laken. Blut lief aus seiner Kopfwunde, doch er lebte, und allein das zählte.
Alexander sah einen hellen Schein in der Ferne, die Hoffnung war noch nicht gestorben. Das strahlende Flackern wuchs zu einer Flamme an, der Glaube wurde von Wut genährt, die in seiner Brust kochte.
KAPITEL 6Im Stall
Onkel Emil betrachtete den Jungen einen Augenblick lang nachdenklich. »Worum geht es in diesem Lied?« Er wartete.
Konstantin schwieg.
Der ältere Mann nahm die Pfeife aus dem Mund und strich sich mit dem Handrücken über die Lippen.
Gregor machte überhaupt keine Anstalten, sich zu Wort zu melden, er stand neben Michael und gab ihm einen leichten Schubs mit dem Ellenbogen.
Michael gab den Sinn des Textes in kurzen, abgehackten Sätzen wieder. Onkel Emil hörte interessiert zu, dabei klopfte er den verbrannten Tabak aus der Pfeife heraus, indem er mit dem Kopf der Pfeife gegen seine Handfläche schlug. Der Pfeifenkopf war an den Rändern angebrannt. Das Mundstück schien aus einem Knochen gefertigt zu sein.
Michael schwieg, als er mit der Übersetzung der Worte fertig war. Mit einem nach innen gekehrten Blick sah er zu, wie die Asche von der schwieligen Hand auf die schlammige Erde rieselte. Onkel Emil räusperte sich, klopfte seine Handflächen sauber, steckte die Pfeife in seine Hosentasche und schlussfolgerte: »Also werden die Menschen später zu Engeln.« Er zwinkerte den Jungs aufmunternd zu.
»Was passiert mit unserer Schwester?« Michaels Blick klärte sich.
Die Frage kam so unverhofft, dass der alte Mann zuerst nicht begriff, was der blonde Junge von ihm wollte und von welcher Schwester jetzt überhaupt die Rede war.
»U…und mei…mei…meiner Mu…Mutter?«, fügte Konstantin hinzu. Auch er sah den Mann fragend, ja fast schon flehentlich an.
»Die kommen zu den Frauen, die haben es gut bei Fjodor Iwanowitsch. Er hat eine kleine Weberei, dort sind ein paar gesunde Hände jederzeit gut zu gebrauchen. Na kommt, folgt mir, bevor ihr hier Wurzeln schlagt. Ich gebe euch etwas zu essen, nicht, dass eure Bäuche noch am Rückgrat festwachsen.« Er drehte sich um und lief zu einem Haus, das unweit der Scheune am Waldrand stand.
Michael begriff nicht sofort, was Onkel Emil mit ›am Rückgrat festwachsen‹ gemeint hatte. Aber er vermutete, dass es sich auf ihre eingefallenen Bäuche bezog. Sofort begann sein Magen zu knurren und auch aus Gregors Bauch konnte er ein blubberndes Rumoren wahrnehmen.
»Setzt euch hier auf die Treppe.« Onkel Emil deutete auf die drei hölzernen Stufen, die zum Haus führten, er selbst verschwand hinter einer schiefen Tür, deren Angeln wie tausend Mäuse quietschten.
»Glaubst du, er meint es wirklich ernst?«, ertönte Gregors Stimme.
»Ich ho…ho…hoffe es«, stotterte Konstantin.
Michael saß in der Mitte, sodass er sich ducken musste, als Gregor dem anderen Jungen eine Kopfnuss verpasste. »Mit dir redet doch keiner. Wegen dir müssen wir jetzt unser Essen teilen. Wärst du mal lieber wirklich von der Schlange gebissen worden«, fuhr Gregor Konstantin an, verstummte jedoch jäh, als dumpfe Schritte hinter der Tür lauter wurden, und dann ging sie schon auf.
»Macht mal Platz, ihr Bälger«, sagte Onkel Emil und stellte einen tönernen Krug, der mit einem weißen Tuch bedeckt war, auf die nackte Erde. Er hüstelte und gab jedem der Kinder einen blechernen Becher in die Hand. Dann griff er zur Karaffe. Er ging zuerst zu Konstantin. »Halte den Becher gerade, Stotterjunge«, wies er den Jungen ungeduldig an. Der stotternde Bub hielt den Becher mit beiden Händen fest umklammert. »So ist es richtig«, lobte ihn Onkel Emil. Vorsichtig goss er allen nacheinander etwas von der frischen Milch ein. »Trinkt langsam, und lasst auch etwas für mich übrig«, ermahnte er sie, umfasste mit beiden Händen den halbleeren Krug, stellte das irdene Gefäß auf die oberste Stufe und verschwand erneut im Haus.
Als Michael einen ersten Schluck von der warmen Milch nahm, gingen damit furchteinflößende Assoziationen einher – die Kuhmilch erinnerte ihn an sein Zuhause, sie schmeckte nach lang vergessenen Tagen aus der scheinbar unwirklichen Welt seiner Vergangenheit. Als er erneut daran nippte, war sie bitter. Michael bildete sich ein, die Stimme seiner Mutter zu hören, und wie sie lachte. Dann strich sie ihm über das Haar. Er zuckte zusammen, denn die Hand war nicht die seiner Mutter …
»Na, schmeckt euch die Milch?«
Michael blinzelte die sich anbahnenden Tränen weg, als er die nicht ganz unangenehme Stimme von Onkel Emil hinter sich vernahm. Der nicht sehr große Mann, der aber trotzdem von stattlicher Statur war, zwängte sich an den drei Jungs vorbei. Er ging zum Holzstapel, der links vor dem Eingang aufgestapelt war, nahm mit der rechten Hand ein größeres Holzscheit und stellte es hochkant vor den verdattert dreinschauenden Kindern auf. In der Linken hielt er ein Bündel, das er jetzt vorsichtig auseinanderwickelte. Michael trank schnell den Rest seiner Milch leer und hielt den Alubecher mit beiden Händen fest umschlossen vor seiner Brust.
Als das weiße Leinentuch auseinandergefaltet wurde, erblickten sie einen dunklen Brotlaib, dessen Kruste schwarz und aufgesprungen war. Es duftete betörend. Der Gedanke ans Essen ließ ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Michael schluckte. Mit leuchtenden Augen starrte er auf das Brot. Onkel Emil griff an seinen rechten Stiefel und holte ein großes Messer heraus, das in ein schmuddeliges Tuch eingewickelt war. Die Klinge glänzte, als er das Messer ausgewickelt und von beiden Seiten an seinem Hosenbein abgestreift hatte.
Die Kruste knackste. Krümel breiteten sich auf dem weißen Tuch aus, der Duft nach Frischgebackenem war allgegenwärtig. In schmerzlichem Starren verharrten die Kinder, ihr ganzes Augenmerk galt dem Messer, das sich durch den Laib fraß. Als die erste Scheibe abgeschnitten war, wagte sich keiner der drei, sich zu rühren – sie waren wie hypnotisiert.
»Wie heißt du nochmal?«, wollte Onkel Emil wissen.
»Konstantin, er heißt Konstantin«, sagte Gregor schnell und schluckte mehrmals.
»Hier, nimm und iss, aber pass auf, dass kein Krümel auf dem Boden landet.«
Konstantin blickte sich um.
Michael packte den Jungen am Arm und schubste ihn grob nach vorne, worauf dieser strauchelte, sich jedoch schnell wieder fing, weil Michael ihn am Hemd festhielt. »Streck deine Arme aus, du Idiot«, flüsterte Michael gehetzt.
Konstantin zögerte. Schließlich faltete er die Hände zu einer kleinen Schüssel und hielt sie Emil dicht vor der Brust haltend hin. Einem Bettler gleich stand er da.
Onkel Emil legte ihm die Scheibe in die Hände. Anstatt zurückzugehen, ging der kleine Bub auf die Knie und biss in das weiche Brot. Seine Happen wurden schneller, er stopfte sich den Mund voll und verschluckte sich dabei.
»Nicht so hastig«, ermahnte ihn Onkel Emil. Knurrend beugte er sich nach vorne, mit der flachen Hand schlug er Konstantin dreimal auf seinen schmächtigen Rücken.
Gregor brummte einige Schimpfwörter. »Ich habe Hunger, verdammt«, nuschelte er auf Deutsch, sodass Onkel Emil ihm einen fragenden Blick zuwarf.
»In meiner Gegenwart wird russisch gesprochen«, sagte er ruhig, kratzte sich mit der Messerspitze am Bart und schnitt eine zweite Scheibe ab. »Jetzt du.« Er deutete mit dem Kinn in Michaels Richtung.
Michael hörte seinen Bruder erneut fluchen.
»Verdammte Scheiße«, brummte Gregor mit schmollendem Gesichtsausdruck und vor der Brust gekreuzten Armen.
»Noch so ein Wort, und du bekommst heute nichts, Gregor.« Bei diesen Worten wurde Gregor kleiner.
Michael stand mit krummem Rücken vor dem Mann und streckte seine beiden Hände nach vorne. Das Brot fühlte sich auf seinen Handflächen weich und ein wenig feucht an. Michael ging wieder zurück zur Treppe. Er biss nicht in die Scheibe hinein, er wartete, bis auch sein Bruder ein Stück Brot in seinen Händen hielt, erst dann machte er einen kleinen Bissen. Nichts in seinem Leben hatte je besser geschmeckt als dieses graue, weiche, nach Hefe und frischem Korn duftende Brot. Er ließ den Klumpen auf seiner Zunge zergehen.
Onkel Emil strich die Krumen in seine Hand und ließ sie in seinem Mund verschwinden. Den Rest des Brotes wickelte er erneut ein. Das Messer verschwand wieder in seinem rechten Stiefel. Krächzend stand er auf, machte drei Schritte auf den Krug zu, nahm ihn und trank die Milch leer.
»Nachdem ihr gegessen habt, holt ihr Wasser aus dem Bach«, sagte er. »Die Eimer stehen im Stall. Die Tiere müssen getränkt werden.« Mit der rechten Hand wischte er sich über den Bart. Das Bündel mit dem Brot hielt er unter dem linken Arm. »Das Fass am Tor muss später auch voll Wasser sein, danach kommt ihr wieder zu mir, ich zeige euch dann, was ihr noch zu tun habt. Der Tag ist lang, aber nicht lang genug. Bis zum Herbst seid ihr meine Leibeigenen, habt ihr mich verstanden?«
Die Kinder nickten stumm. Gregor und Konstantin hatten das Brot verschlungen, Michael nicht, er hielt ein kleines Stückchen in der linken Hand, die er zur Faust geballt hatte.
Onkel Emil hatte es bemerkt. Nur an den Augen konnte Michael erkennen, dass Onkel Emil ihn anlächelte. »Du hast es doch nicht etwa für deine Schwester aufgehoben?«
Michael nickte kaum merklich.
»Sie wird schon nicht verhungern, noch nicht. Wir wissen zwar nicht, wie lange der Krieg andauern wird, dennoch, du musst zu Kräften kommen, du bist ein Mann und brauchst mehr Brot als eine Frau. Der Winter kann hart werden, darum müssen wir jetzt dafür Sorge tragen, dass es uns in der kalten Jahreszeit an nichts fehlt. Iss dein Brot auf, das ist ein Befehl.«
Die letzten Worte klangen überhaupt nicht wie ein Befehl, eher wie eine Bitte.
Onkel Emil schüttelte den Kopf und stampfte in die Hütte hinein.
»Wenn du es nicht essen willst …«, begann Gregor, doch Michael stopfte sich den Klumpen in den Mund und starrte seinen Bruder auffordernd an. Beide grinsten breit. Gregor schlug Michael leicht gegen die Schulter.
»Arschloch«, schimpfte er immer noch grinsend und schaute sich schnell um, weil ihm bewusst wurde, dass er erneut deutsch gesprochen hatte. Doch von Onkel Emil war keine Spur zu sehen.
»Ich habe Durst. Kommt, wir holen Wasser.« Gregor ließ seinen Blick über den Hof schweifen. Michael machte das Gleiche. Er sah einen Zaun, der gerichtet werden musste, einen großen Stall mit riesiger angebauter Scheune, einen Geräteschuppen, eine Hütte, die etwas abseits stand, davor befanden sich ein Tisch und zwei Bänke. Und überall ragten spitze Baumkronen von Nadelbäumen heraus.