Mischa - vertrieben - Noah Fitz - E-Book

Mischa - vertrieben E-Book

Noah Fitz

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Beschreibung

Johannsfelden (Roter Oktober) Russland an der Wolga. Oktober 1941 - Nun steht sie da und kann ihr Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Johanna muss zusehen, wie ihr geliebtes Zuhause in Flammen aufgeht. Mit ihren Kindern Gregor, Michael (genannt Mischa) und Anita wird sie aus ihrer Heimat vertrieben. »Schnell! Packt eure Sachen und verschwindet von hier! Die kommen, um euch zu holen!« Ihnen bleibt nicht mehr als ein Koffer. Sie wissen nicht, was mit ihnen passiert. Zusammen mit anderen Deutschen werden sie zum Bahnhof eskortiert, um später brutal in Viehwaggons nach Sibirien abtransportiert zu werden. So beginnt Teil 1 von »Mischa - vertrieben« der bewegenden Geschichte über den Jungen, der an das Gute glaubte. Leserstimmen: »Das ist die Geschichte, die sich unsere Großeltern nicht trauen zu erzählen.« »Ein herzzerreißendes Buch, das mich völlig gefesselt hat! Ich konnte es gar nicht mehr aus der Hand legen.« »Diese Kriegsverbrechen dürfen nie in Vergessenheit geraten. Danke dafür!«

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Seitenzahl: 345

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ISBN: 9783987566561

© 2022 Kampenwand Verlag

Raiffeisenstr. 4 · D-83377 Vachendorf

www.kampenwand-verlag.de

Text: Noah Fitz

Covergestaltung: Franziska Buhl, Kampenwand Verlag

Umschlagfotos: Tomsickova Tatyana / Shutterstock, Gordan / Shutterstock, Golubovy / Shutterstock

Korrektorat: Jasmin Kraft

KAPITEL 1

Johannsfelden(Roter Oktober),Russland an der Wolga,Oktober 1941

Als der erste Schnee liegen blieb, veränderte sich das Leben vieler Deutscher in Russland. Johanna Berg holte ihre Tochter Anita wie jeden Tag, außer Sonntag, vom Kindergarten ab. Michael, ihr dreizehnjähriger Sohn, begleitete sie.

Er kam gerade von der Schule und war strahlender Laune. Heute hatte er eine gute Note bekommen und wollte unbedingt seiner Schwester davon erzählen. Eigentlich waren diese Neuigkeiten nur ein Vorwand, Michael wollte nämlich vor allem die neue Erzieherin sehen. Ihr Name war Elena, sie war jung und hübsch, und sie lächelte immer so schön, wenn sie ihn erblickte. Michaels Herz machte dabei Riesensprünge, und ihm wurde bei dem Anblick sehr warm ums Herz.

Johanna nahm ihren Sohn bei der Hand, sie mussten sich beeilen. Michael schien wie so oft in Gedanken versunken, auf seinem Gesicht lag ein undefinierbares Grinsen.

Nachdem das rotwangige kleine Mädchen angezogen war und Johanna sich von der netten jungen Dame verabschiedete, stand Michael wie angewurzelt da. Als er endlich aus der Starre erwachte, schlug er vor, den Hof vom Schnee zu befreien. Elena bedankte sich höflich und zeigte auf den grauen Himmel. Die dicken Wolken hingen schwer über dem Dorf und streuten unzählige große Flocken auf die friedliche Siedlung. »Ich denke, deine Anstrengung wird verlorene Liebesmüh sein, denn wenn sich das Wetter nicht ändert, versinken wir wieder bis zur Hüfte im Schnee.« Sie lachte fröhlich und zwinkerte dem Jungen freundlich zu.

Johanna lächelte und verabschiedete sich schnell, Michael entblößte zwei Reihen weißer Zähne und stammelte ein leises »Auf Wiedersehen«. Seine Wangen glühten, die Augen glänzten vor Verlegenheit. Dann beeilten sich die drei, nach Hause zu kommen, denn dort warteten zwei weitere Kinder, und das Mittagessen musste noch fertig zubereitet werden.

»Kommt, Kinder! Vielleicht kommt Papa heute heim«, ermunterte Johanna ihre Kinder. Die aufkeimende Hoffnung brannte in ihrer Brust wie ein kleines Feuer. Sie wollte diese Aussicht nicht verlieren, denn mehr war ihr nicht geblieben.

Draußen kreiselten wieder die Schneeflocken und vollführten einen anmutigen Tanz, bis sie zu Boden fielen und sich dort zu Schneebergen türmten. Die weiße Schicht knirschte laut unter ihren Füßen.

»Was ist Partisanen?«, wollte Anita auf dem Nachhauseweg wissen.

»Dafür bist du noch zu klein«, entgegnete Michael. Er beugte sich schnell nach vorne, griff tief in das weiße Pulver und knetete daraus eine Kugel. Schon flog der Schneeball und traf das kleine Mädchen am Rücken. Anita kicherte und versuchte umständlich, eine Kugel zu formen, die aber immer wieder auseinanderfiel und als Klumpen an ihren Fäustlingen haften blieb.

Johanna verfolgte das Spiel der beiden amüsiert, die Eile war vergessen. Ab und zu bekam auch sie eine Schneewolke ins Gesicht, wenn Anitas Schneebälle andere Flugbahnen nahmen als beabsichtigt. Die Kinder plapperten fröhlich miteinander, stapften vergnügt über die vom Schnee verwehten Wege und machten Schneeengel. Völlig erschöpft, aber glücklich, erreichten sie ihr kleines Haus.

Davor stand Gregor mit vor der Brust verschränkten Armen und Schmollmund. »Wo wart ihr so lange?«

Johanna zerzauste mit geröteter Hand sein dunkles Haar und trat ein. Sie wies die beiden vom Schnee bedeckten Kinder an, sich vor der Tür auszuziehen und ihre Anziehsachen abzuklopfen. Michael und Anita taten wie ihnen geheißen. Gregor hielt einen Brief von ihrem ältesten Sohn Alexander in den Händen. Johanna griff nach dem Kuvert, als er damit vor ihrer Nase herumwedelte.

»Aber lies bitte laut vor«, sagte Gregor mit gespielter Ernsthaftigkeit. In wenigen Sätzen berichtete Alexander, dass es ihm an nichts fehle. Johanna überflog den kurzen Text mehrmals und legte das gefaltete Blatt zu seinen anderen Briefen auf die Fensterbank. Viele waren es nicht. Aber bald würde Johanna wieder aufatmen können, wenn ihr Sohn endlich nach Hause kam. Sie freute sich schon jetzt darauf und zählte die Tage bis zu seiner Entlassung aus der Armee.

Alexander war der ganze Stolz ihrer Familie, ein schlaksiger junger Mann von zwanzig Jahren. Blond, blauäugig, von schmaler Statur, voller Lebensfreude und stets gut gelaunt. Er diente an der Grenze zu Litauen dem russischen Land als Soldat. Seine Dienstpflicht lief im Sommer aus, danach, so hatte er seinem Vater versprochen, würde er wieder nach Hause kommen.

Vor sechs Monaten hatte er seine Familie besuchen dürfen. Da war Roman noch bei ihnen gewesen. Sie saßen alle beisammen und hörten ihrem ältesten Sohn und Bruder gespannt zu. Michael und Gregor verfolgten das Ganze mit offenen Mündern. Damals schon sprach Alexander von einer sehr angespannten Atmosphäre, und darüber, dass seine Kameraden ihn immer öfter einen Verräter und Faschisten schimpften. »Wir sind aber zu fünft, wir halten zusammen«, erklärte er seiner Mutter mit einem Augenzwinkern, als sie anfing zu weinen. Alexander war schon immer ein Optimist gewesen.

»Was sind Faschisten?«, fragte der stets wissbegierige Michael stirnrunzelnd.

Johanna fehlten die Worte. Schweigend strich sie ihm über den blonden Schopf. Sie wusste nicht, wie sie ihrem Kind das am besten erklären sollte. Michael hatte vor wenigen Wochen sein dreizehntes Lebensjahr vollendet.

»Das sind die Deutschen, die den Krieg angefangen haben und jetzt alle Menschen in Europa erschießen«, erklärte Gregor mit finsterer Miene. Er war schon vierzehn und ging seit fast sieben Jahren zur Schule. Jeden Tag mussten er, sein jüngerer Bruder Michael und zwanzig weitere Kinder bei Wind und Wetter zu Fuß acht Kilometer ins Nachbardorf laufen, um die dortige Schule zu besuchen. »Wir sind auch deutsch«, entgegnete Anita mürrisch.

»Was du nicht sagst, du kleines Mädchen«, äffte Gregor sie mit übertrieben piepsiger Stimme nach.

»Ich bin schon sechs«, begehrte das kleine Mädchen trotzig auf und streckte ihm ihre spitze Zunge heraus. Darauf, dass sie schon sechs Jahre alt war, war Anita besonders stolz. Mit ernster Miene band sie es jedem auf die Nase, wenn sie nach ihrem Alter gefragt wurde – und wenn nicht, tat sie es trotzdem.

Gregor schnaubte verärgert und verzog genervt das Gesicht. Alle seine Geschwister, außer Alexander, waren blöd und nervig, vor allem aber Anita. Sie war ihm ein ständiger Klotz am Bein, beschwerte er sich bei seiner Mutter. Johanna gab sich Mühe, den Hausfrieden zu wahren, und schlichtete die Auseinandersetzungen zwischen den Kindern, wo sie konnte. Leider gelang ihr das nicht immer. In solchen Momenten vermisste sie ihren Mann am meisten.

Als Gregor seine Schwester an den Zöpfen packen wollte, ermahnte sie ihn, drohte ihm sogar eine Strafe an. Erst als sie sagte, dass er ohne Essen ins Bett gehen müsse, ließ Gregor von Anita ab. Zornig kreuzte er seine Arme vor der Brust und schmollte. Anita bekam von ihrer Mutter einen leichten Klaps auf den Hinterkopf, als sie ihm erneut frech ihre Zunge herausstreckte.

»Die Rote Armee wird alle Faschisten dem Erdboden gleichmachen«, brummte Gregor. »Das hat unser Lehrer gesagt«, fügte er mit noch finsterer Miene hinzu.

»Sind wir auch Faschisten, Mama?«, fragte Anita mit ängstlichen Augen. Ihr Kinn zitterte, als würde sie frieren.

»Nein, Kind, sind wir nicht.« Johannas Stimme klang kehlig und rau. Ihr Mann Roman war vor fünf Tagen von russischen Soldaten abtransportiert worden. Sie kamen in der Nacht, klopften an die Tür und verlangten, dass er ihnen folgte. Roman tat wie ihm geheißen, verabschiedete sich nur mit einem raschen Kuss von ihr, die Kinder schliefen bereits. Er sagte, er müsse mit den Männern etwas besprechen, aber Johanna wusste, dass er log.

Roman kehrte nicht wieder zurück. Manche munkelten, er sei ein Krimineller und gehe krummen Geschäften nach, indem er das Korn an die deutschen Soldaten verkaufe. Und die anderen, die mit ihm in einem Laster abtransportiert wurden, wären seine Komplizen gewesen. Ein Klüngel von deutschen Verrätern, so wurden sie beschimpft. Andere sagten, sie hätten unweit ihres Dorfes Schüsse gehört. Johanna glaubte ihnen, denn sie waren allesamt erfahrene Jäger, die einen Gewehrschuss sehr wohl vom Axtschlag der Holzfäller unterscheiden konnten. Wassilij, einer von den Jägern, war Romans Stellvertreter als Bürgermeister. Er klopfte eines Abends betrunken an ihre Tür und erzählte Johanna unter Tränen, er habe mit eigenen Augen gesehen, wie Roman erschossen worden war.

»Was? Verschwinde aus meinem Haus und hüte deine Zunge, Wassilij. Bevor du so einen Unfug verbreitest, solltest du lieber schlafen gehen.«

Wassilij beharrte jedoch auf seiner Behauptung. Er weinte und ermutigte sie zur Flucht, solange sie noch Zeit zum Packen hätte. Sie hörte nicht auf ihn. »Scher dich doch zum Teufel, du Säufer«, schimpfte sie stattdessen und schickte ihn nach Hause, drohte ihm eine Tracht Prügel mit dem Schürhaken an, den sie in ihren Händen hielt.

»Sei keine Närrin, Johanna. Fahr zu seinen Eltern. Dein Mann kommt nie wieder zurück. Ich habe ihn schon vor Monaten gewarnt, aber er war ein ergebener Kommunist. Er glaubte an die Menschenrechte und an Lenins Worte. Wir sind alle gleich, an diesem Traum hat er bis zur letzten Stunde festgehalten.« Auf einmal sah Wassilij noch trauriger aus. Der Glanz in seinen Augen war eisig. Sie befürchtete, dass er die Wahrheit sagte, aber sie wischte die Zweifel mit einer energischen Handbewegung beiseite. In dieser Nacht hörte sie nur auf ihr Herz und unterdrückte die lautstarke Warnung ihres Verstandes.

»Schlaf dich aus«, sagte sie mit Tränen in den Augen und schob ihn aus der Tür.

»Du tust dir und deinen Kindern keinen Gefallen, wenn du hierbleibst. Viele Deutsche sind schon aus unserem Dorf geflohen. Denk an meine Worte, deiner Kinder wegen.« Er torkelte in die Dunkelheit hinaus, der mit Splitt durchsetzte Schnee knirschte unter seinen Stiefeln wie Glasscherben.

Auch vier andere Männer kamen nicht mehr nach Hause. Sie hatten sich für die Rechte der Deutschen in Russland eingesetzt. Immer mehr Häuser standen nun leer, nachdem die Familien nur mit dem Nötigsten auf Karren verladen worden waren und für immer verschwanden. Keiner wusste, wohin die Menschen gebracht wurden. Oft wurden die Räumungsaktionen in tiefster Nacht durchgeführt. Wie schon Jahre zuvor im Sommer 1937, als die über ein Jahr anhaltende Repression viele Deutsche das Leben gekostet hatte. Die große Säuberung nannten die Russen die vom NKWD durchgeführte Operation. Sie kamen im Schutz der Dunkelheit, zerstörten Häuser, verschleppten Männer und Frauen, nahmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest war, raubten und plünderten. Alles, was blieb, waren Leid und unheilbare Wunden an Leib und Seele der deutschen Bevölkerung, aber auch anderer ethnischer Gruppen in der grenzenlosen Sowjetunion. Die Übergriffe dauerten nur wenige Stunden. Am nächsten Tag waren die betroffenen Familien wie vom Erdboden verschluckt. Das herrenlose Nutzvieh wurde von den Kolchosen übernommen, die restlichen Habseligkeiten rissen sich skrupellose Nachbarn unter den Nagel.

Michaels nächste Frage schreckte Johanna aus ihren Erinnerungen auf. Er wollte das Thema nicht ruhen lassen. »Was sind wir dann?« Seine Augen funkelten.

Johanna wischte sich mit ihrem Handrücken eine verirrte Träne ab. Sie spürte, wie in ihrem Innern ein Gefühl des Zorns aufstieg. Was würde aus ihrer Familie werden, wenn ihr Mann ihren täglichen Gebeten und aller Hoffnung zum Trotz nicht nach Hause kommen sollte? Wenn eine Familie keinen Mann im Haus hatte, war sie dem Untergang geweiht. So hart und zugleich einfach war das Leben nun mal. Eine Frau mit fünf Kindern war machtlos gegen die Kapriolen des Schicksals.

»Aber wir sind doch auch Deutsche«, bohrte Michael nach und riss sie aus ihren sorgenvollen Gedanken. Seine Finger zupften am Ärmel ihres Kleides. Er war schon immer sehr schüchtern und in sich gekehrt gewesen, aber auch hartnäckig und sehr intelligent. Stets wollte er alles wissen und den Lauf der Dinge begreifen. Besonders dann, wenn er um seine Familie bangen musste.

Johanna machte sich oft Sorgen um ihn. Er war anders als die anderen Kinder. Manchmal befürchtete sie, dass ihr Junge nicht ganz normal war. Selten spielte er mit Gleichaltrigen und Klassenkameraden, was in dem kleinen Dorf oft für Gesprächsstoff sorgte. Die alten Tratschweiber zerrissen sich nicht selten die Mäuler darüber, dass Michael ein Sonderling war. Stets in Gedanken versunken, grübelte er über Dinge nach, die nicht einmal einem Erwachsenen in den Sinn gekommen wären.

Sein älterer Bruder Gregor war in dieser Hinsicht einfacher gestrickt. Sich den Kopf zu zerbrechen wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Er spielte lieber fangen, stritt sich mit den Nachbarskindern oder schlug sich die Nase blutig.

Die beiden Brüder zankten sich oft. Sie waren von Grund auf verschieden. Gregor mit seinem dunklen Haar und den kastanienbraunen Augen war ganz der Vater, Michael kam eher nach seiner Mutter. Sein strohblondes Haar und die hellgrauen Augen verliehen ihm die Züge eines Engels, dachte Johanna. Wäre er nur nicht so aufbrausend und stur, was seine Ansichten betrifft, ging es ihr durch den Kopf. Michael hielt sich normalerweise aus allen Konflikten heraus, versuchte, alles zu regeln, ohne sich zu prügeln. So war er nun mal. Ein kleiner Erwachsener, dachte Johanna und strich mit ihren Fingern sanft sein blondes Haar zurecht.

Einmal hatte er sie gefragt, warum sie nicht in Deutschland lebten, obwohl sie Deutsche waren. Warum er zwei Sprachen beherrschte, und Nikolai Bobrow, der drei Jahre älter war als er, nicht mal eine richtig sprechen konnte. Auch, warum sie jetzt auf einmal als Verräter und Feinde der Sowjetunion beschimpft wurden. Johanna erzählte ihm die Geschichte über die Volkswanderung, dass die Deutschen schon seit mehreren Generationen in Russland lebten, und dass die russische Zarin Ekaterina die Zweite eigentlich eine deutsche Prinzessin gewesen war. Und dass sie auch diejenige war, die das deutsche Volk zu dieser Reise ermutigt hatte.

»Jetzt hat sich die Situation verändert. In Europa herrscht Krieg, weil Deutschland andere Länder überfällt«, versuchte Johanna ihrem Sohn so schonend wie möglich beizubringen, warum die ganze Welt sich gegen sie gewendet hatte.

»Bekommen wir jetzt Ärger, weil die Deutschen unschuldige Menschen töten?«, hatte Michael mit zittriger Stimme gefragt. Seine hellblauen Augen waren voller Sorge gewesen, als er zu seiner Mutter aufsah. Johanna suchte nach Worten.

»Aber wir töten doch niemanden, du Dummkopf«, entgegnete Gregor wichtigtuerisch.

»Ich bin kein Dummkopf!«, schrie Michael beleidigt und begann zu weinen. Er hasste es, wenn er als Dummkopf bezeichnet wurde, vor allem von seinem Bruder. Gregor wusste das und nutzte jede Gelegenheit, um Michael damit zu ärgern. Seinen Bruder als Idioten hinzustellen, machte dem ungeduldigen Gregor Spaß.

Michael legte seine dünnen Arme auf die Tischkante, vergrub das Gesicht darin und schluchzte lautlos. Nur sein zuckender Rücken verriet, dass er weinte. »Ich möchte, dass Papa nach Hause kommt«, flüsterte er. Seine Stimme klang dumpf und kläglich. »Er weiß alles, er ist Bürgermeister von Johannsfelden.«

War Bürgermeister, korrigierte Johanna in Gedanken und fuhr herum, als die kreischende Stimme des Babys durch das ganze Haus hallte.

»Jetzt hast du Anja geweckt«, schimpfte Gregor und verpasste Michael eine Kopfnuss. Gregor war zwar älter als Michael, aber Letzterer hatte trotz aller Friedfertigkeit keine Angst, sich zu wehren. Niemals. Auch das machte Johanna Angst. Wenn sein Temperament mit ihm durchging, konnte ihn niemand mehr beruhigen. Genau wie jetzt. Mit seiner kleinen Faust schlug er seinem Bruder heftig auf die Nase, präzise wie ein Schmiedehammer.

Gregor presste seine rechte Hand flach auf das schmerzverzerrte Gesicht. In hellem Rot schimmerndes Blut quoll durch seine wulstigen Finger.

Johanna packte die beiden am Kragen und stellte sie in die Ecke. Dem verletzten Gregor wusch sie mit einem Handtuch die immer noch blutende Nase und wies ihn mit ernster Miene an, den Kopf in den Nacken zu legen.

»Willst du dich nicht bei deinem Bruder entschuldigen?«, wollte sie von Michael wissen, und er immer noch mit gesenktem Kopf in der Ecke stand.

Der schüttelte nur den Kopf und murmelte: »Er hat es verdient.«

Gregor saß mit seiner Schwester am Tisch und aß. Er schaute voller Erwartung zu seiner Mutter und rieb sich die immer noch gerötete Nase. Er war zwar ebenso aufbrausend, aber nicht so nachtragend und entschuldigte sich ziemlich schnell für seine Taten. Michael nicht.

Johanna strich ihrem Sohn über das blonde Haar und schickte ihn schweren Herzens ohne Abendessen ins Bett. Er trottete mit bleiernen Schritten davon, den Kopf immer noch eingezogen, die Hände zu Fäusten geballt.

* * *

Die Deutschen kamen immer näher. Alexander hatte Angst davor, gegen sein eigenes Volk kämpfen zu müssen. Wie würde er reagieren, wenn er plötzlich einem deutschen Soldaten gegenüberstand? Waren sie wirklich so brutal und unmenschlich? Verbrannten sie ihre Feinde tatsächlich bei lebendigem Leib? Auch ihn, wenn er in ihre Hände geraten sollte?

Seine Befürchtungen erwiesen sich als grundlos. Er würde nicht gegen die Deutschen kämpfen – es kam viel schlimmer. Sie kamen wie Diebe in der Nacht. Grobe Hände packten ihn, und plötzlich war er ein Gefangener. Die schweren Stiefel trafen ihn hart in den Bauch. Alexander wusste nicht, ob er sich wehren sollte. Die hämischen Fratzen seiner falschen Kameraden schimmerten blass im schwachen Licht. Jemand hielt ihm eine Petroleumlampe dicht vors Gesicht. Alexander schloss demütig die Augen.

»Jetzt bist du fällig, du Verräter! Wir wissen was du getan hast – du hast uns an die Faschisten verraten«, zischte eine Stimme hinter dem flackernden Licht. Alexander roch eine Alkoholfahne. Sein malträtierter Körper wurde an den Armen gepackt und weggeschleift, nachdem er mit dem Gewehrkolben einen heftigen Schlag gegen die Schläfe bekommen hatte. Erst am nächsten Morgen kam er mit brummendem Schädel wieder zu sich.

Voller Genugtuung verkündeten seine einstigen Waffenbrüder ihm und anderen deutschstämmigen Soldaten eine grausige Botschaft. Alexander saß immer noch gefesselt in einem Schuppen und hörte sich mit gesenktem Kopf an, was ihn in den nächsten Tagen erwartete, falls er heute nicht erschossen wurde. Sie sagten, dass er und die anderen allesamt deutsche Schweine und Verräter seien. Darum würden sie auch wie Tiere nach Sibirien verfrachtet. In Tierwaggons, so, wie es Verrätern eben gebührte, zusammen mit den Schweinen, schrien sie ihm lauthals lachend hinterher, als er mit hinter den Rücken gebundenen Händen abgeführt wurde. Wie ein Verbrecher.

Zur Feier des Erfolgs, die Verräter endlich losgeworden zu sein, erlaubte der russische Kommandeur seinen sowjetischen Soldaten und treuen Mitgliedern der roten Partei, die Säuberung ihrer Reihen mit Schnaps zu begießen. Sie prosteten ihren früheren Kameraden zu. Unter den Aussätzigen waren nicht nur Deutsche vertreten. Juden und litauische Partisanen teilten sich dasselbe Schicksal. Sie stellten sich am Gleis entlang in einer Linie auf, die Köpfe zwischen den Schultern eingezogen. Entwaffnet, degradiert und entehrt warteten die Männer auf weitere Befehle. Der Zug hielt mit durchdringendem Pfeifen und Schnauben. Die Waggons waren nichts anderes als auf die Schnelle zusammengezimmerte Holzcontainer.

Scham und Abscheu vor sich selbst ließen Alexander sich innerlich schmutzig fühlen, als habe jemand seine Seele herausgerissen und mit schweren, nach Kuhmist stinkenden Stiefeln in den Dreck getreten.

Unter Schmährufen und Tritten wurden Alexander und viele andere willkürlich in den Waggons zusammengepfercht und zu Tausenden in Richtung Osten abtransportiert. Wer die höllische Fahrt überlebte, würde in den kalten Weiten des sibirischen Waldes zur Zwangsarbeit verdammt sein. Sie waren Verräter, Fahnenflüchtige, Juden, Faschisten, der letzte Abschaum der menschlichen Rasse. Alexander focht jetzt einen anderen Krieg aus – den Kampf ums nackte Überleben.

Um der Situation zumindest den Anschein von Legalität zu verleihen, durften Alexander und seine Leidensgenossen vor ihrer Abreise noch einen Abschiedsbrief an die Familie schreiben. Allerdings befürchtete er, dass der nie bei seiner Mutter ankommen würde. Trotzdem glomm ein kleiner Funken Hoffnung ihn ihm auf. Dieses schwache Leuchten in seiner Brust spendete ihm die Wärme und Kraft, nicht aufzugeben. Alexander kauerte am Boden, breitete den Fetzen Papier auf einem flachen Stein aus und schrieb mit zittriger Hand wenige Worte nieder. Die Grafitmine hinterließ unsicher wirkende Linien auf dem karierten Blatt Papier. Alexander hatte nicht viel Zeit zum Überlegen, er schrieb, dass es ihm gut ginge und er nicht mehr kämpfen müsse.

Die Briefe wurden eingesammelt und in einen Sack gesteckt. »Hoffentlich hat keiner seine Adresse vergessen«, bemerkte der Mann mit dem Jutesack sarkastisch. Seine Stimme troff vor Schadenfreude.

»Und jetzt alle einsteigen! Im Schnellschritt«, kommandierte ein älterer Mann. »Komm, Junge, mach, dass du einsteigst«, sagte er zu Alexander, der dem falschen Briefträger nachschaute. Als sie fast allein dastanden, griff er Alexander unter den Arm und half ihm auf die Beine. »Meine Enkelin ist auch so jung wie du. Wie heißt du denn?«

»Alexander«, flüsterte er.

»Der Sieger, der Ruhmreiche. Ich heiße Wladimir. War Lehrer, jetzt muss ich an die Front …« Plötzlich räusperte sich der betagte Mann und schob Alexander grob Richtung Zug. »Schneller. Komm, beweg deine Füße«, befahl er schroff. Alexander begriff den Grund für den Stimmungswechsel sofort. Der selbst ernannte Briefträger schlurfte an ihnen vorbei und stierte die beiden misstrauisch an. Als Alexander in den Waggon stieg, sah er aus dem Augenwinkel, wie der Sack in hohem Bogen zu vielen anderen auf einen Karren geworfen wurde.

»Die Hoffnung darf niemals erlöschen«, sagte ein schwarzhaariger Mann mit krummer Nase, die leicht bläulich schimmerte. Er saß neben Alexander, den schmalen Rücken an die Bretter gelehnt. Dieser Mann war kein Soldat. Er trug keine Uniform. Sein Gesicht wirkte leicht asymmetrisch. Die linke Gesichtshälfte war stark angeschwollen, das Augenlid spannte sich über dem Augapfel wie eine überreife Pflaume. Alexander schaute ihn skeptisch an und irgendwie gab ihm dieser Anblick Kraft. Der stoische Trotz des Fremden schürte seine Wut aufs Neue und fachte sie zu einer unauslöschlichen Flamme an. Alexander nickte dem Mann kaum merklich zu. Sein Nachbar erwiderte die Geste mit einem Augenzwinkern – mit dem intakten rechten Auge. Trotzdem verzog er schmerzerfüllt das Gesicht.

KAPITEL 2

Die Enteignung und der lange Marsch

Mama, warum nehmen die Männer unsere Kuh mit?«, fragte Michael erstaunt, als er auf einem Schemel vor dem Fenster stand und die uniformierten Männer beobachtete, die ihre Kuh verluden. Seine Augen waren tellergroß.

»Weil wir sie nicht mehr brauchen«, log Johanna. Ihre Stimme bebte. Die Gerüchte waren zur bitteren Realität geworden. Die Deutschen werden nach Sibirien umgesiedelt, tuschelten ihre Nachbarn. Familie Berg erhielt im Lebensmittelladen kein Brot mehr, keine Eier, auch kein Fleisch.

Die Verkäuferin Galina Ivanovna meinte: »Liebe Johanna – euch darf ich nichts mehr verkaufen.« In ihren Augen glitzerten Tränen. Sie nahm Johannas rechte Hand in ihre warme, weiche Hand und zog sie fest an ihren fülligen Körper. »Warum? Warum geschieht das?« Johannas Stimme brach und Galina ließ sie los, fasste sich an die Brust, tat einen tiefen Atemzug und verschwand im Nebenzimmer, um gleich darauf mit zwei Laiben Brot und ein paar Eiern zurückzukehren. Schnell wickelte sie alles in Zeitungspapier und schob Johanna durch einen Hinterausgang nach draußen. »Mehr kann ich nicht für dich tun«, verabschiedete sie sich und zog die schwere Tür laut hinter sich ins Schloss.

Eier hatten sie schon seit drei Tagen nicht mehr gegessen, ihr Nachbar Fedor hatte alle ihre Hühner eingefangen und in seinem Hühnerstall versteckt. Jetzt, da ihre Kuh weg war, würden sie auch keine Milch mehr haben. Johannas Finger zitterten, als sie das schwarze Brot in etwas Milch einweichte. Was sollte sie ihren Kindern in den nächsten Tagen zu essen geben? Gedankenversunken schaute sie aus dem Fenster. Die Brotkrumen schwammen in der Schüssel und lösten sich in kleine braune Flocken auf.

Erschrocken zuckte sie zusammen, als die Tür scheppernd aufflog. Im Rahmen stand Ivan Petrow, ein Freund ihres Mannes, aber auch Johanna kannte den großgewachsenen Mann mit den markanten Zügen schon lange. Sie waren noch Kinder gewesen, als er hinter einer Scheune heimlich ihren ersten Kuss gestohlen hatte. Ivan mochte sie immer noch, das wusste Johanna. Obwohl auch er verheiratet und mit vier Kindern gesegnet war, waren seine Gefühle für sie nie erloschen. Tamara, seine Frau, sei immer kränklich und tauge als Hausfrau nur wenig, hatte er ihr einmal erzählt, als sie sich nach der Arbeit auf dem Nachhauseweg begegnet waren. Seitdem mied sie seine Gegenwart nach Möglichkeit. Sie wollte ihrem Mann keinen Anlass zur Eifersucht geben. Gerüchte wucherten schneller als jedes Unkraut, vor allem, wenn es um Liebesbeziehungen ging. Johanna schwelgte oft in den Erinnerungen an ihre Jugend. Nicht selten überlegte sie, was wohl aus ihr geworden wäre, wenn sie sich damals für Ivan entschieden hätte.

Jetzt stand er mit puterrotem Gesicht vor ihr. Eine kalte Windbö wirbelte eine Schneewolke herein, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Seine schweren Stiefel polterten laut auf den hölzernen Dielen.

»Sie kommen! Pack deine Sachen, Johanna, nimm die Kinder und verschwinde von hier.« Er keuchte schwer, völlig erschöpft und außer Atem schnappte er nach Luft.

»Wer kommt?« Mehr brachte die erschrockene Frau nicht heraus.

»Die Soldaten! Jede Kolchose wird nach Deutschen durchsucht. Sie werden euch …« Er begann lautlos zu weinen. Johanna traute ihren Augen kaum. Der große starke Ivan weinte?

Seine schwieligen Hände, riesig wie Schaufeln, packten sie grob an den Schultern und pressten ihren schmalen Körper fest an sich. »Meine Johanna, meine kleine Johanna, ich hätte dich damals heiraten sollen.« Dabei küsste er sie sanft auf die Wange, sah ihr tief in die Augen und sagte: »Beeilt euch, ich bringe euch hier weg.« Es war nur ein Flüstern, trotzdem dröhnten seine Worte markerschütternd laut in ihren Ohren.

Ivan half Johanna beim Zusammenpacken. Nur das Nötigste wurde in eine Tagesdecke gesteckt. Die zu Tode erschrockenen Kinder standen mehr im Weg, als dass sie hilfreich waren, trotzdem war Johanna dankbar, dass auch sie beschäftigt waren und die eine oder andere Habseligkeit mit einpackten. Als das Bündel voll war, zogen sie gemeinsam die Kinder an. Michael wunderte sich, warum er auf einmal zwei Mäntel, drei Paar Socken und zwei Hosen anziehen musste. Auch Gregor sah verdutzt drein, als er sich die ganzen Sachen überstreifen musste – sogar die Jacke seines Vaters.

»Ich kann mich gar nicht bewegen«, jammerte Anita, wurde aber ignoriert. Die Ärmel des Mantels, den sie trug, berührten fast den Boden. Ivan stülpte ihr eine dicke Pelzmütze über den Schopf und bugsierte sie und ihre Brüder nach draußen.

»Schnell, Johanna! Die werden bald da sein!«, drängte Ivan die verzweifelte Mutter zur Eile. »Gregor, lauf zu mir nach Hause und warte dort bei den Pferden! Du auch, Michael!«, schrie er die Kinder mehr aus Verzweiflung als in böser Absicht an.

Johanna hatte in den ganzen vierzig Jahren ihres Lebens noch nie so viel Angst gehabt wie jetzt. Nicht einmal bei den beiden Fehlgeburten nach Alexander hatte sie so sehr um ihr Leben gebangt. Meine Hände zittern wie die eines Säufers, ärgerte sie sich über sich selbst und versuchte vergeblich, sich zu beruhigen. Sie verzweifelte beinahe an dem dicken Schal, in den sie ihre Kleinste einwickeln wollte. Johannas Blick verschwamm, Tränen verschleierten ihre Sicht. Anja war erst drei Monate alt. »Ein Kind der Liebe«, sagte Roman, als sie ihm mehr als zwölf Jahre nach Michaels Geburt eröffnet hatte, dass sie erneut schwanger war. Im Dorf wurde hinter vorgehaltener Hand darüber getuschelt und gelacht, dass sie in ihrem Alter immer noch mit ihrem Mann schlief. Eine Weile schämte sich Johanna dafür, und als sie hochschwanger war, verließ sie kaum mehr das Haus. Die giftigen Blicke der gehässigen alten Weiber verfolgten sie, selbst wenn sie bloß im Hof die Wäsche aufhängte oder die Latrine aufsuchte.

Ihren Beruf als Lehrerin hatte sie aufgeben müssen. Johannas Vater war Schuldirektor gewesen, ihre Mutter Deutschlehrerin, und beide waren damals sehr stolz auf sie, als sie ihnen verkündet hatte, sie arbeite jetzt auch als Lehrerin. Die Freude ihrer Eltern verpuffte allerdings schlagartig, nachdem Johanna sie darüber in Kenntnis gesetzt hatte, wo sich die Schule befand. Zum Glück dauerte die Verstimmung nicht sehr lange.

»Die Schule ist klein und das Dorf ruhig und beschaulich«, berichtete sie den aufgebrachten Eltern. Sie würde sie regelmäßig besuchen – niemals würde sie ihre Mutter und ihren Vater im Stich lassen – und wäre immer für sie da, versicherte sie. Die beiden ließen ihre einzige Tochter schweren Herzens ziehen. Wie Johanna versprochen hatte, hielt sie den Kontakt aufrecht und wurde nicht von ihren Eltern verstoßen. Als der erste Enkelsohn zur Welt kam, war die Enttäuschung schnell vergessen gewesen.

Nun waren ihre Eltern seit mehr als fünf Jahren tot, beide starben im selben Jahr. Ihr Herz war von Trauer und Schmerz erfüllt, als sie an die Vergangenheit dachte. Jetzt musste sie fliehen, war mit vier Kindern ganz allein. Johanna knotete mit letzter Kraft das wärmende Gewebe um das schreiende Kind. Der Schal aus Kaninchenflaum sollte Anja vor der eisigen Kälte schützen können. Sie durfte nur nicht in die Windeln machen, dachte sie mit einem schiefen Grinsen. Warum mussten sie überhaupt von hier weg? Warum tat man ihnen das alles an? Sie hatten doch schon immer hier gelebt, mit achtzehn war sie damals hierhergezogen. Das Dorf Johannsfelden gab es schon seit der Zeit von Katharina der Zweiten, lange vor der Oktoberrevolution. Wegen der kommunistischen Ideale war aus Johannsfelden später »Roter Oktober« geworden, aber die Menschen waren die Gleichen geblieben. Nach dem Großen Terror kamen die Russen ins Dorf, vorher war das kleine Örtchen rein deutsch gewesen.

Johannas Augen tränten. Vor Angst, Verzweiflung und Wut zitterte sie am ganzen Körper, als würde sie frieren. Wer gab diesen Menschen das Recht, sie wie Hunde zu vertreiben, ihr Hab und Gut zu stehlen? Sie waren doch immer gesetzestreue Bürger gewesen. Bei diesen Gedanken erschien eine Zornesfalte auf ihrer geröteten Stirn.

Das Gespräch mit Wassilij fiel Johanna ein. Die schlimmste Nachricht ihres Lebens – ihr Mann Roman sei erschossen worden. Auch jetzt nahm sie den Alkoholdunst wahr, wie in der Nacht, als Wassilij vor ihrer Haustür gestanden hatte. Sie warf Ivan einen Blick zu, dem alten Freund, der ihr helfen wollte – auch er war betrunken. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie sich seine Lippen bewegten. Tonlos, als spräche er durch eine Fensterscheibe. Blind vor Tränen nahm sie ihr jüngstes Kind auf den Arm und drehte sich langsam zu ihm um. Ivan stand dicht hinter ihr. Erst jetzt hörte sie seine Worte, roch den selbstgebrannten Schnaps in seinem Atem.

»Ich glaube, es ist alles zu spät.« Sein Gesicht war aschfahl geworden, die Augen blutunterlaufen. Sein Flüstern vermischte sich mit anderen Stimmen. Männer! Johanna lief zum Fenster und lugte auf den Hof hinaus, wo die Unruhestifter herumbrüllten. Allesamt unbekannte Gesichter. Ihr Geschrei wurde von aufgeregten Rufen unterbrochen. Johanna konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ihr war, als höre sie Frauen weinen.

Jemand rief: »Ihr Hurensöhne!«

Das Getuschel der Schaulustigen steigerte sich zu einem Stimmengewirr aus Flüchen und Verwünschungen. Die Dorfbewohner, die immer alles zu wissen glaubten und jede Lüge für bare Münze nahmen, hatten sich nun vor dem schiefen Zaun ihres Hauses versammelt. Ein einzelner Gewehrschuss fiel und das Geschrei erstarb. Plötzlich herrschte Totenstille.

Johanna erstarrte. Sämtliche Muskelstränge verkrampften sich, ein dicker Kloß in ihrem Hals hinderte sie am Atmen. Sie drehte sich zu Ivan um, der das Ganze mit ernster Miene verfolgte.

Sie werden noch viele Tagen damit verbringen, sich die Mäuler darüber zu zerreißen, was Familie Berg wohl verbrochen hat, war der einzige Gedanke, der durch ihren Kopf irrte. Erst der Mann, dann die Frau und ihre ungezogenen Kinder. Alexander war ihren Geschichten nach schon längst zu den Deutschen übergelaufen. Johanna warf erneut einen kurzen Blick durch das beschlagene Fenster. Endlich konnte sie sich aus der Starre lösen, doch bevor sie irgendetwas tat, hielt sie einen Lidschlag lang inne. Wartete. Ihr Blick war immer noch auf den Hof gerichtet. Sie blinzelte, hoffte, alles wäre nur ein böser Traum. Erst jetzt konnte sie die Fremden richtig sehen. Sie beobachtete, wie die Männer zielstrebig über ihren Hof liefen. An ihrer Körperhaltung erkannte sie die Absicht des unangekündigten Besuchs. Einer der drei Männer, sein Rücken war verwachsen und zu einem auffälligen Buckel gekrümmt, trat nach dem Hund, der sich den Eindringlingen in den Weg stellte. Die viel zu kurze Kette hinderte den Schäferhund daran, die Männer wirklich anzugreifen. Als er nicht aufhörte zu bellen, schoss der verkrüppelte Mann dem armen Tier in den Kopf. Johanna biss auf ihre Faust, um den aufsteigenden Schreckensschrei zu unterdrücken. Der arme Hund winselte und schnappte in der letzten Sekunde seines Lebens nach seiner rechten Pfote. Sein Körper zuckte konvulsiv, dann erschlaffte er und blieb im kalten Schnee liegen. Der dampfende Fleck unter dem Kadaver wurde mit jeder Sekunde größer und färbte den Schnee leuchtend rot.

Als die polternden Schritte von schweren Stiefeln im Flur zu hören waren, und ein kalter Hauch von Tabak und Alkohol die uniformierten Männer ankündigte, sah Johanna Ivan erneut ins Gesicht.

Für einen Moment kniff er seine stahlgrauen, von vielen kleinen Fältchen gesäumten Augen zusammen. Dann wandte er sich von ihr ab und sprach mit eisiger Stimme: »Ich konnte sie noch rechtzeitig aufhalten, Genossen. Sie war gerade im Begriff, samt ihren Kindern zu fliehen. Als ehrlicher Bürger und Kommunist sehe ich mich dazu verpflichtet, euch die Verräterin zu übergeben, damit sie ihrer gerechten Strafe zugeführt werden kann.« Wie ein Reibeisen dröhnte seine Stimme durch das kleine, jetzt überfüllte Haus. Ivan hatte schon immer eine Art an sich gehabt, die ihn von anderen Menschen unterschied, doch dieser heuchlerische Opportunismus war Johanna neu. Erstauntes Gemurmel brandete auf. Die Männer schienen verdutzt.

Johanna war so schockiert, sie konnte ihre Fassungslosigkeit nicht verbergen. Beinahe hätte sie ihre greinende Tochter fallen lassen. Alles um sie herum wirkte wie von einem grauen Schleier bedeckt. Wie Spinnweben legte sich die grausige Wirklichkeit über sie und blieb an ihrer Seele kleben. Das Geschehen glich einem Albtraum. Johanna hoffte mit der ganzen Zuversicht einer zutiefst verzweifelten Seele auf eine friedliche Lösung. Das Ganze muss ein Irrtum sein. Ivan verabschiedete sich mit einem unverbindlichen Winken von den drei bewaffneten Männern und ging mit gesenktem Kopf hinaus. Johanna sah ihm stumm hinterher. Nie wieder würde sie irgendjemandem vertrauen, schwor sie sich in diesem Augenblick.

Wie es schien, hatte sich inzwischen das ganze Dorf vor ihrem Haus versammelt. Wenn alle anwesend sind, kann das Spektakel ja beginnen, dachte sie mit einem Hauch von Sarkasmus. Alle gierten nach dem bisschen Hab und Gut, das sie sich all die Jahre mit Blut, Schweiß und Tränen erarbeitet hatten. Wie die anderen angeblichen Vaterlandsverräter wurde auch ihre Familie eskortiert und auf einen Schlitten geladen, vor den ein alter Klepper gespannt war. Sie waren nicht die Ersten, dämmerte es Johanna. Die Pferdeschlitten waren nicht leer. Johanna wurde abgeführt, wie ihr Mann seinerzeit, nur konnte sie ihre Kinder nicht in der Freiheit zurücklassen. Sie weinte lautlos, gab sich Mühe, tapfer zu sein. Sie spürte, wie ihre beiden Söhne nach ihren Armen griffen und ihr stumm folgten. Anita ging neben Michael und hielt seine Hand.

Die Familien Traubenwein und Buchweizen saßen schon mit ihren bunten Bündeln in den Wagen und warteten. Die Pferde waren unruhig, weiße Dampfwolken stiegen von ihren Nüstern in die kalte Luft auf. Johanna sah insgesamt drei der klapprigen Gefährte an dem schiefen Zaun vor ihrem Haus stehen. Wie in Trance lief sie darauf zu, sie nahm nur Bruchstücke des Geschehens um sie herum wahr. Sie achtete nicht darauf, wer ihr in den Schlitten half oder wer ihr Bündel zu den anderen warf. Alles, worauf sie achtgab, waren ihre Kinder. Immer wieder huschten ihre Augen besorgt über die blassen, ängstlichen Gesichter.

Als der Tross eben aufbrechen wollte, veränderte sich die Atmosphäre gravierend. Die Luft knisterte regelrecht, wie vor einem Sturm. Alle schienen zum Zerreißen angespannt. Plötzlich begann sich die Menge der Schaulustigen in Bewegung zu setzen. Hier und da erklang eine aufgebrachte Stimme und wurde sofort von einem lauten Warnruf übertönt. Johannas Verstand klärte sich allmählich. Die Umwelt gewann wieder an Konturen. Sie ließ ihren Blick schweifen, nahm zum allerletzten Mal das Bild ihres Hauses in sich auf. Eine weiße Rauchwolke stieg zum Himmel empor, sie hatte vergessen, den Topf vom Feuer zu nehmen. Jetzt war die Suppe bestimmt schon verbrannt, dachte sie bei sich. Wie der Rauch aus dem Schornstein verflüchtigte sich auch ihr bisheriges Leben, die glücklichen Tage schienen nur noch eine vage Erinnerung. Sollte doch auch das Haus in Flammen aufgehen. Die Russen hatten kein Recht, sich einfach so ihres Heims zu bemächtigen. Sie ließ von den Gedanken an ihr Zuhause ab, maß dem Ganzen keine Bedeutung mehr bei und konzentrierte sich stattdessen auf die aufgebrachten Menschen, die einst ihre Freunde und Nachbarn gewesen waren. Immer lauter murrten die empörten Stimmen, aber das Dröhnen in ihrem Kopf ließ nach, sie nahm ihre Umgebung wieder deutlicher wahr. Der Unmut breitete sich unüberhörbar unter den Anwesenden aus. Sie spürte, dass gleich etwas Schreckliches passieren würde. Johanna drückte ihre Kinder noch enger an sich. Plötzlich schrie eine Frau: »Lasst ihn nicht vorbei!« Diese Stimme war Johanna wohlvertraut. Aljona, ihre Nachbarin.

Erst als sich die Menge widerwillig teilte, wurde ihr klar, warum die Proteste immer lauter wurden. Wassilij kam auf die Schlitten zu. Trotzdem mischte sich keiner ein. Niemand wagte, sich ihm in den Weg zu stellen, geschweige denn, ihn anzugreifen. Jeder, der auch nur ein Fünkchen Verstand besaß, wusste, was Wassilij mit demjenigen anstellen würde, der ihn von seinem Vorhaben abbringen wollte.

Wassilij hatte mächtig Schlagseite. Die nackte Wut brannte in seinen Augen. Schon von Weitem grölte er, beschimpfte die drei Fremden aufs Äußerste, er riss an ihren Gewehren und zog Johanna und ihre Kinder wieder von dem Schlitten. Er verfluchte die Kommunisten und ihre Methoden. Seine Eltern seien von der Roten Armee enteignet und umgebracht worden, brüllte er die Männer an, die diese unerwartete Wendung in eine regelrechte Schockstarre versetzt hatte. Er hätte in einem Waisenheim aufwachsen müssen, hätte niemanden außer seiner Frau und seinen Kindern, schrie er. »Meine Eltern wurden von den Kommunisten erschossen, direkt vor meinen Augen, bloß weil mein Vater sich gewehrt hat. Nur hatte er damals kein Gewehr bei sich – ich aber schon«, lallte er kaum verständlich.

Wassilij war so betrunken wie noch nie. Seine Frau war auch eine Deutsche, sie saß ebenfalls in einem der Schlitten, stellte Johanna mit Entsetzen fest. Ihre gemeinsamen Kinder sollten mit ihrer Mutter verschleppt werden. Sie weinten und schrien, streckten die kleinen, von der Kälte roten Hände nach ihrem Vater aus, da bemerkte die Frau, dass eines ihrer Kinder fehlte.

Langsam kam wieder Bewegung in die Menge. Der Zank zwischen den Schaulustigen eskalierte zu einem handgreiflichen Streit und endete schließlich in einer brutalen Rauferei. Frauen wurden an den Haaren gepackt, Männer trugen blutige Kratzer auf Armen und Wangen davon. Zwei von ihnen lagen am Boden. Einige Vernünftigere versuchten dazwischenzugehen, um die Kämpfenden zu trennen, mussten aber letzten Endes ohnmächtig zusehen, wie das Ganze in eine Massenschlägerei ausartete.

Dann fiel ein Schuss. Johanna konnte in der darauffolgenden Stille ihren eigenen Atem hören. Der Anstifter des ganzen Tumults war Konstantin, Wassilijs Sohn. Er hielt das doppelläufige Jagdgewehr seines Vaters in der Hand und richtete es auf die Fremden. Seine Brust hob und senkte sich schwer. Das ursprünglich weiße Leinenhemd hing in schmutzigen Fetzen von seinem knochigen Oberkörper. Er hatte sich mit der Waffe seines Vaters im Wald versteckt. Konstantins Augen waren rot und verquollen. Von dem Lauf stieg eine dichte Wolke auf. Johanna roch das Schießpulver. Aus dem Augenwinkel sah sie einen der Männer zuckend zu Boden fallen. Er hatte die ganze Zeit etwas abseits neben dem ersten Pferd gestanden. Jetzt lag er im Schnee. Seine Beine traten im Todeskampf ziellos auf die kalte Erde und gegen die Pferdeschlitten. Das Weiß unter ihm färbte sich rot. Der Körper zuckte ein letztes Mal, bevor er erschlaffte, schließlich lag der Mann still. Es war der Bucklige, stellte Johanna mit kaltherziger Genugtuung fest.

Für einen Augenblick herrschte Grabesstille, die durch einen zweiten Schuss verjagt wurde wie ein scheues Tier. Gleich darauf sackte Konstantin zusammen. Mit einem großen Loch in der Brust lag der junge Mann in seinem Blut. Die Menschen warfen sich erschrocken zu Boden. Der nächste Schuss ließ nicht lange auf sich warten, und Wassilij folgte seinem Sohn in den Tod, weil er nicht wie die anderen Deckung gesucht hatte. Er wollte zu seinem toten Sohn hinüberlaufen. Nach nur drei Schritten traf die Kugel seinen Rücken. Er taumelte weiter und schaffte es noch, sich über seinen Sohn zu werfen, bevor alles Leben aus seinem Körper wich. Schreiend und fluchend rappelten sich die Dorfbewohner auf, um sich in alle Himmelsrichtungen zu zerstreuen wie eine Meute feiger Hunde.

Krähen umkreisten das kleine Dorf wie eine schwarze Wolke und verfluchten dessen Bewohner mit ihrem kehligen Krächzen, das aus Hunderten von Schnäbeln in einer Kakofonie auf die Fliehenden niederprasselte. Johannas Kehle zog sich zusammen. Nur mit Mühe konnte sie sich bei Sinnen halten, war einer Ohnmacht nah. Mit all ihrer Kraft hielt sie an ihrem Leben fest, »der Kinder wegen«, wiederholte sie die Worte wie ein Gebet. Nur ihre Lippen bewegten sich, ihre Stimme versagte. »Nur meiner Kinder wegen«, flüsterte sie immer und immer wieder.

Die Massenpanik dauerte mehrere Minuten an, erst dann hatten die bewaffneten Männer die Situation wieder unter Kontrolle. Rücken an Rücken standen sie paarweise nebeneinander und sondierten die Umgebung auf weitere potenzielle Gegner. Alles blieb ruhig, niemand wagte, die Männer erneut anzugreifen. Keiner der Einwohner wollte riskieren, das Schicksal der Deutschen zu teilen. Immer noch aufgebracht und auf alles gefasst lösten sich die Männer aus ihrer Formation. Der Bucklige wurde auf einem der Anhänger aufgebahrt, die anderen beiden Toten ließ man wie angeschossenes Wild blutüberströmt im schmutzigen Schnee liegen. Vater und Sohn im Tod vereint.

Die Schreie von Wassilijs Frau Regina, die die Exekution ihrer zwei liebsten Männer hautnah hatte miterleben müssen, waren verstummt. Ihre vor Entsetzen geweiteten Augen huschten zwischen den beiden reglosen Körpern hin und her, sie schüttelte den Kopf, so als wolle sie das Geschehen nicht wahrhaben. Sie konnte die grausige Tatsache nicht akzeptieren, ihren Mann und ihren Sohn nie mehr in den Arm nehmen zu können – nicht einmal jetzt, um sich für immer von ihnen zu verabschieden.

»Bitte helft den beiden auf. Kann jemand meinen Sohn aufheben? Er wird sonst krank, er hat eine schwache Lunge. Er wird sich noch eine Lungenentzündung holen. Bitte, helft ihm doch«, krächzte sie mit vom Schreien heiserer Stimme.

Keiner rührte sich.

»Die Hunde werden sich um deinen Sohn kümmern. Jetzt schweig, sonst holst du dir selbst noch eine Lungenentzündung, Weib«, herrschte sie einer der Männer barsch an.