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"Miss Julia ist eine der wunderbarsten Figuren seit Jahren!" Fannie Flagg
Die reizende und resolute Miss Julia nimmt die Dinge lieber selbst in die Hand, als ihre Untermieterin Hazel Marie eines Nachts nicht nach Hause kommt. Die Polizei findet dieses Verhalten bei einer jungen Frau nicht sonderlich besorgniserregend. Miss Julia hingegen schon - vor allem, als sie am nächsten Tag einen seltsamen Anruf von Hazel Marie erhält, der nach einigen Sätzen abrupt unterbrochen wird. Kurzerhand beauftragt Miss Julia einen Privatdetektiv mit der Suche nach der verschwundenen Frau. Was natürlich nicht heißt, dass die energische alte Dame nicht auch selbst Nachforschungen anstellt ...
Weitere gemütliche Kriminalromane mit Miss Julia:
Band 1: Miss Julia und das unerwartete Erbe.
Band 3: Miss Julia und ein Strauß voller Überraschungen.
Band 4: Miss Julia und die Reise ins Glück.
Dieser Wohlfühlkrimi ist in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Die seltsame Entführung" erschienen.
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
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Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Danksagung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Miss Julia und das unerwartete Erbe
Miss Julia und ein Strauß voller Überraschungen
Miss Julia und die Reise ins Glück
»Miss Julia ist eine der wunderbarsten Figuren seit Jahren!« Fannie Flagg
Die reizende und resolute Miss Julia nimmt die Dinge lieber selbst in die Hand, als ihre Untermieterin Hazel Marie eines Nachts nicht nach Hause kommt. Die Polizei findet dieses Verhalten bei einer jungen Frau nicht sonderlich besorgniserregend. Miss Julia hingegen schon – vor allem, als sie am nächsten Tag einen seltsamen Anruf von Hazel Marie erhält, der nach einigen Sätzen abrupt unterbrochen wird. Kurzerhand beauftragt Miss Julia einen Privatdetektiv mit der Suche nach der verschwundenen Frau. Was natürlich nicht heißt, dass die energische alte Dame nicht auch selbst Nachforschungen anstellt ...
eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung.
Ann B. Ross ist die Autorin von mittlerweile mehr als zwanzig Romanen über Miss Julia, „die Miss Marple der Südstaaten“. Als ihre drei Kinder erwachsen waren, nahm Ross ein Studium an der Universität von North Carolina auf, wo sie im Anschluss Literatur- und Geisteswissenschaften lehrte. Mit ihrem erfolgreichen ersten Roman über Miss Julia begann ihre Vollzeitkarriere als Autorin von lustigen Landhauskrimis. Zahlreiche Bücher von Ross standen bereits auf der erweiterten New-York-Times-Bestsellerliste und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Ob sie etwas Gutes geschrieben hat, erkennt die Autorin nach eigenen Angaben daran, dass sie »vor Lachen vom Stuhl fällt«.
Ann B. Ross lebt in Hendersonville, North Carolina. Website der Autorin: http://www.missjulia.com/.
Ann B. Ross
Miss Julia und die seltsame Entführung
Aus dem amerikanischen Englisch von Sylvia Strasser
Digitale Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2001 by Ann B. Ross
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Miss Julia Takes Over«
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2005/2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Die seltsame Entführung«
Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven © Hackman / depositphotos
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7325-8552-6
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Für Delin
Meinen herzlichen Dank an Special Agent Chris Smith vom North Carolina State Bureau of Investigation dafür, dass er mir seine Zeit geopfert, mich fachkundig beraten und mich außerdem noch einen Nachmittag lang mit aufregenden Geschichten aus seinem Polizistenalltag unterhalten hat. Danken möchte ich auch Steve Barkdohl, dem Geschäftsführer der Andy Petree Racing, Inc., der mich herumgeführt und mein Auto abgeschleppt hat; des Weiteren Larry Parmalee, einem früheren NASCAR-Fahrer, der heute künftige Rennfahrer unterrichtet, sowie John Lampley, einem langjährigen Sportwagenfahrer, dessen Lieblingsstrecke der North Carolina Speedway ist. Alle diese Rennsportexperten führten mich in eine mir bis dahin praktisch unbekannte Sportart ein und machten einen Rennsportfan aus mir. Ein herzliches Dankeschön auch an Greg Rummans, der sich meine Ideen anhörte und an den richtigen Stellen lachte.
Ein Unglück kommt selten allein, sagt man. Und wenn dieses Sprichwort auf jemanden zutraf, dann auf mich! Ich hatte allmählich wirklich das Gefühl, hinter jeder Ecke lauere ein neues Problem.
Ich klappte mein Scheckheft zu und legte es in die Schreibtischschublade zurück. Ich war viel zu kribbelig, um still sitzen und meine Kontoauszüge durchsehen zu können. Der Wind, der ums Haus pfiff, trug nicht gerade dazu bei, mich zu beruhigen. März, dachte ich fröstelnd. Also ich könnte getrost auf diesen launischen Monat verzichten. Und dabei hatte er gerade erst angefangen!
Ich trat ans Fenster und schaute in den grauen Morgen hinaus. Ein einsamer Krokus hatte sich durch die Eisschicht entlang der Hecke gekämpft. Ein poetischeres Gemüt hätte darin vielleicht ein Symbol der Hoffnung oder ein ermutigendes Vorzeichen gesehen. Ich hingegen wunderte mich lediglich, dass die Wühlmäuse überhaupt eine einzige Blumenknolle übrig gelassen hatten.
Ich wandte mich um, ging zum Kamin und regulierte die Gasflamme in den künstlichen Holzscheiten. Ich hatte die Heizung installieren lassen, nachdem in einem Schneesturm wieder einmal der Strom ausgefallen war. Gerüstet sein ist alles, sage ich immer. Aber kein Mensch konnte auf eine derartige Flut von Problemen, Sorgen und Unannehmlichkeiten vorbereitet sein, wie sie derzeit über mich hereinbrach. Hätte im Kamin ein richtiges Feuer gebrannt, würde ich vor lauter Frustration gegen den Holzstoß getreten haben!
Lillian steckte den Kopf durch die Pendeltür und rief: »Gehen Sie vor dem Essen zu Mr. Sam oder danach? Ich frage nur, damit ich weiß, wann ich den Tisch decken soll.«
»Ich werde überhaupt nicht rübergehen. Das würde ich im Moment nicht ertragen. Himmel noch mal, Lillian, wo steckt sie bloß?« Entnervt warf ich die Hände in die Luft. »Außerdem hab ich sowieso keinen Appetit!«
Lillian schüttelte den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften. »Das Essen ist aber schon fertig, und Sie müssen schließlich was essen!«, sagte sie in ihrer herrischen Art. »Ich weiß auch nicht, wo sie sich rumtreibt, und deshalb finde ich, es wird Zeit, etwas zu unternehmen.« Bei diesen letzten Worten sah sie mich vielsagend an.
Ich verstand: Sie meinte, es wurde Zeit, dass ich endlich etwas unternahm. Sie drängte mich, seit sie um sieben gekommen war, während ich immer noch hoffte, Hazel Marie würde jeden Augenblick auftauchen und eine plausible Erklärung dafür parat haben, dass sie die ganze Nacht weggeblieben war. Ich muss schon sagen, es ist eine echte Belastung, wenn alle nur dastehen und darauf warten, dass ich die Dinge in die Hand nehme. Aber Lillian war schon so lange bei mir, dass sie sich gar nichts dabei dachte, mir zu sagen, was ich zu tun hatte. Normalerweise ging das meiste von dem, was ich mir von ihr anhören musste, zum einen Ohr rein und zum andern wieder raus. An diesem Tag jedoch nicht.
»Gehen Sie rüber zu Mr. Sam, dann hören Sie, was er dazu meint«, fuhr sie fort. »Er rechnet sowieso damit, dass Sie kommen.«
»Was soll er schon tun können? Sein Bein ist praktisch bis zum Allerwertesten eingegipst! Geschieht ihm ganz recht. Was muss er sich auch mitten im Winter in den Fluss stellen und Forellen angeln!«
»Es ist nun mal passiert, da hilft alles Grummeln nichts mehr. Kommen Sie, holen Sie Ihren Mantel, Sie müssen sich was überziehen!«
Ich schnalzte gereizt mit der Zunge und folgte Lillian in die Küche. »Trotzdem geschieht es ihm ganz recht, dass er jetzt die Folgen für seine Unvernunft zu tragen hat!«
Lillian schüttelte tadelnd den Kopf. »Mr. Sam möchte doch nur, dass sie sich die Krankenschwester anschauen, die sein Doktor ihm aufschwatzen will. Fahren Sie rüber, und muntern Sie ihn ein bisschen auf! Der Ärmste ist doch praktisch hilflos.«
Ich stand unschlüssig herum und schaute zu, wie sie eine Pfanne vom Herd nahm. Es passte mir nicht, dass ich meine Zeit mit Sam Murdoch vertrödeln sollte. Als ob ich nicht genug eigene Probleme gehabt hätte! Zum einen jammerte mir LuAnne Conover die Ohren voll wegen Leonard und ihrer unglücklichen Ehe, die meiner Meinung nach sowieso nie eine Bilderbuchehe gewesen war. Und dann war da noch die Sache mit Bruder Vernon Puckett, Hazel Maries Onkel. Ich hatte an diesem Morgen mit eigenen Augen gesehen, wie er in seinem zweifarbigen Cadillac auf den Kirchenparkplatz direkt gegenüber gefahren war. Und jetzt frage ich Sie, was kann ein selbst ernannter Fernsehprediger wie Puckett mit einem im Priesterseminar ausgebildeten Geistlichen wie Larry Ledbetter gemeinsam haben? Nun, ich werde es Ihnen sagen: Beide würden ihren rechten Arm für das Anwesen geben, das ich von meinem unlängst verstorbenen Mann, Wesley Lloyd Springer, geerbt habe. Aber dank Sam und der Gesetzgebung von North Carolina befand sich das Haus fest in meiner und Little Lloyds Hand.
Am meisten beunruhigte mich jedoch das Verschwinden von Hazel Marie Puckett, Little Lloyds Mutter. Ich war halb wahnsinnig vor Sorge. Ich hatte bereits jedes Krankenhaus im Umkreis angerufen und gefragt, ob eine attraktive Vierzigjährige mit professionell blondierten Haaren und einem Armband voller Glücksbringer eingeliefert worden sei. Zumindest wusste ich jetzt, wo sie nicht war.
Lillian drehte sich zu mir um. »Was stehen Sie noch hier rum? Anstatt auf Ihrer Unterlippe rumzukauen, sollten Sie lieber zu Mr. Sam gehen und ihn fragen, was wir wegen Miss Hazel Marie unternehmen sollen.«
»Ich weiß nicht so recht, Lillian. Der Arzt hat gesagt, er darf sich nicht aufregen. Da kann ich ihn doch nicht mit meinen Sorgen belästigen!«
Ich klopfte nervös mit der Fußspitze auf den Boden und dachte darüber nach, dass Sam Murdoch jedes Mal, wenn ich ihn brauchte, etwas Unvorhergesehenes und in meinen Augen ziemlich Egoistisches tat. Was hatte er denn gemacht, als ich mich nach Wesley Lloyds plötzlichem Ableben mit Testamenten, Rechnungen, so genannten Finanzberatern und geldgierigen Predigern hatte herumschlagen müssen und obendrein noch den unehelichen Sohn meines verstorbenen Mustergatten am Hals hatte? Er war in den Ruhestand gegangen! Zu einer Zeit, da ich seinen juristischen Rat dringender denn je gebraucht hätte! Und jetzt war es genau das Gleiche: Ich konnte Sam nicht von meinen Problemen erzählen, sondern würde den Mund halten müssen, damit er sich nur ja nicht aufregte!
Ach, komm schon, sei nicht so ungerecht, schalt ich mich sofort. Immerhin hatte Sam die Sache mit den beiden Testamenten, die Wesley Lloyd hinterlassen hatte, in Ordnung gebracht und dafür gesorgt, dass weder Little Lloyd noch ich am Hungertuch nagen mussten. Ganz im Gegenteil!
Und Sam war es auch, der mir Binkie Enloe als seine Nachfolgerin empfohlen hatte. Die junge Rechtsanwältin konnte es nicht nur mit jedem ihrer altehrwürdigen Kollegen in der Stadt aufnehmen, sondern war sogar noch besser als die meisten von ihnen. Kann ich etwas dafür, dass sie und Deputy Coleman Bates nicht im Traum daran denken, ihre Beziehung zu legalisieren? Über solche Dinge rege ich mich schon lange nicht mehr auf. Solange sie meine Steuerangelegenheiten zu meiner Zufriedenheit regelt und mich berät, wie es sich gehört, werde ich kein Wort über ihr Privatleben verlieren. Außer einer gelegentlichen kleinen Bemerkung.
»Lillian«, sagte ich und langte nach meinem Mantel, »ich habe mich redlich bemüht, mir keine Sorgen wegen Hazel Marie zu machen. Ich weiß, ich weiß!« Ich hob die Hand, um ihren Einwand im Keim zu ersticken. »Du findest, es geht mich nichts an, aber solange sie hier in meinem Haus wohnt – was ich ihr in meiner Herzensgüte erlaubt habe, wie ich hinzufügen möchte –, fühle ich mich einfach verantwortlich für sie. Deshalb denke ich, ich habe ein Recht zu erfahren, wo sie ist, zumal wenn sie die ganze Nacht fortbleibt. Ich behaupte ja nicht, dass sie etwas Verbotenes tut«, fügte ich nach einer Pause hinzu. »Ich meine, etwas Kriminelles. Ach, ich weiß auch nicht, was ich meine.« Mir war plötzlich eingefallen, dass Hazel Marie weiß Gott wie lange mit meinem Mann in Sünde gelebt hatte, und das war ja schließlich auch etwas Verbotenes.
»Die Sache ist doch die«, fuhr ich fort. »Pastor Ledbetter unterweist sie im Katechismus, weil sie Presbyterianerin werden will anstatt einer dieser Füße waschenden Baptisten oder was immer sie vorher war, und jetzt treibt sie sich die ganze Nacht mit einem Mann herum, dessen Familie niemand kennt. Das wird sich herumsprechen, Lillian, und dann werden sich die alten Knacker vom Kirchenältestenrat womöglich weigern, ihr einen guten Leumund auszustellen. Da spielt es auch keine Rolle, dass sie so etwas noch nie gemacht hat oder dass der Mann, mit dem sie zusammen ist, ein Angestellter der Kirche ist, wenn man Wilson T. Hodge so nennen kann.« Ich rümpfte unwillkürlich die Nase.
Pastor Ledbetter war auf die glorreiche Idee gekommen, einen Auswärtigen damit zu beauftragen, die Kirchengemeinde zum Spenden zu animieren, weil er den von mir erhofften größeren Beitrag für sein Familienfreizeitzentrum nicht bekommen hatte. Sie wissen schon, jenes, das ich seiner Ansicht nach mit meiner Erbschaft hätte finanzieren sollen. Ich verzichtete jedoch auf seine »christliche Führung in finanziellen Dingen« – als Teil einer solchen betrachtete er das Anliegen nämlich, mit dem er keine drei Tage nach Wesley Lloyds Beerdigung an mich herangetreten war. Aber ich durchschaute ihn! Brauchte ich vielleicht eine Turnhalle, eine Aschenbahn oder einen Basketballplatz? Wer brauchte überhaupt so etwas, wo man doch nur in den Christlichen Verein junger Männer eintreten musste, um solche Einrichtungen nutzen zu können? Wie oft, frage ich Sie, würde ich in dieses Freizeitzentrum gehen, um einen Ball zu dribbeln oder Gewichte zu stemmen? Eben!
Plötzlich kam mir ein deprimierender Gedanke. »Was soll ich bloß dem Jungen sagen, wenn er aus der Schule kommt?«
»Ja, daran hab ich auch schon gedacht«, meinte Lillian. Sie lehnte sich an die Küchentheke. »Ich habe gehofft, seine Mama würde vorher zurückkommen oder wenigstens anrufen und Bescheid sagen, wann sie wieder da ist. Jetzt ist bald Mittag, und sie hat immer noch nichts von sich hören lassen. Erst dachte ich, nun ja, lass sie ein bisschen Spaß miteinander haben – Sie wissen schon, was ich meine, Miss Julia. Aber davon sollten sie jetzt eigentlich genug gehabt haben.« Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr an der Wand.
»Sollte man annehmen«, pflichtete ich ihr bei. »Wie lange dauert es, zu Abend zu essen und sich einen Film anzusehen, selbst wenn sie dafür nach Asheville gefahren wären? Sie hatten mehr als genug Zeit für die Dinge, die anständige Leute abends so machen. Und dabei denke ich nicht an das, woran du denkst. Die ganze Nacht und den halben Vormittag sind sie schon weg! Ich hab Angst, dass ihnen etwas passiert ist, Lillian. Es sieht Hazel Marie überhaupt nicht ähnlich, einfach wegzubleiben. Und Wilson T. Hodge ist ebenfalls wie vom Erdboden verschluckt. In seiner Wohnung ist er nicht – ich habe bestimmt schon ein dutzend Mal angerufen! Und in der Kirche, wo er um diese Zeit eigentlich sein sollte, ist er auch nicht.«
Lillian schüttelte seufzend den Kopf. »Der Kleine wird außer sich sein, wenn er nach Hause kommt und seine Mama ist immer noch nicht da! Er weiß doch genau, dass sie gar keine kranke Freundin hat, um die sie sich kümmern muss.«
»Was hätte ich ihm denn sonst sagen sollen? Du weißt doch, dass ich nicht lügen kann, und etwas Besseres fiel mir heute Morgen nicht ein. Hätte ich ihm sagen sollen, seine Mutter verbringt die Nacht mit einem Mann, mit dem sie nicht verheiratet ist? Das hat sie mit dem Vater des Jungen lange genug getan! Aber das braucht der Kleine nicht zu wissen, dafür ist er noch viel zu jung.«
Ich hielt inne und lehnte den Kopf müde gegen den Türrahmen. »Ach Gott, Lillian!« Ich war maßlos enttäuscht. Ich hatte meinen guten Namen und meinen Ruf aufs Spiel gesetzt, als ich die Geliebte meines Mannes und ihren damals neunjährigen Sohn, der dieser Liaison entstammte, bei mir aufgenommen hatte. Ein ganzes Jahr lang hatte ich versucht, positiv auf Hazel Marie einzuwirken, ihr ein Vorbild zu sein, aber offenbar hatten meine Bemühungen nichts gefruchtet. »Ich habe wirklich geglaubt, sie hätte ihren liederlichen Lebenswandel endgültig aufgegeben. Ich habe gedacht, ich hätte ihr gezeigt, wie man sein Leben auf anständige Weise leben kann, und jetzt muss ich feststellen, das alles umsonst war!«
»Woher wollen Sie das so genau wissen? Vielleicht haben sie bloß eine Reifenpanne.«
Ich winkte unwillig ab. »Sogar ich weiß, dass es nicht so lange dauert, einen Reifen zu wechseln! Und ein Anruf kostet sogar noch weniger Zeit!« Ich straffte die Schultern. Ich sah mich in meinem ersten, nicht gerade positiven Eindruck von Wilson T. Hodge bestätigt. Hazel Marie hatte wirklich einen seltsamen Geschmack, was Männer anbetraf – Wesley Lloyd Springer mit eingeschlossen. Wilson T. Hodge war mir vom ersten Moment an suspekt gewesen, aber ich versuchte dennoch, mich für Hazel Marie zu freuen. Ich sah ihn vor mir, wie er in meinem Wohnzimmer gestanden und sich für meinen Geschmack viel zu dicht an mich herangedrängt, gelächelt und mir Komplimente für mein Haus, meine Einrichtung und meine eigene Wenigkeit gemacht hatte. Und währenddessen hatte er sich mit einem beringten Finger ständig über sein Schnurrbärtchen gestrichen. Solchen Leuten traue ich nicht über den Weg. Außerdem hatte er dünne Lippen!
Selbst wenn ich nichts über seine Tätigkeit gewusst hätte, würde ich ihm nicht getraut haben. Meiner Meinung nach war es nicht richtig, jemandem gutes Geld dafür zu bezahlen, dass er noch mehr Geld auftrieb. Mit dem ganzen System kann doch etwas nicht stimmen, wenn Christen mit allen Tricks dazu verleitet werden müssen, mehr zu spenden, als sie sich leisten können, damit etwas gebaut werden kann, das sie überhaupt nicht brauchen! Allein schon aus diesem Grund hatte ich mich gegen die Verpflichtung von Wilson T. Hodge ausgesprochen. Allerdings vergeblich: Er war trotzdem eingestellt worden.
»Vielleicht haben sie einen Unfall gehabt«, sagte Lillian. »Womöglich ist das Auto von der Straße abgekommen und im Briar Creek gelandet, und kein Mensch hat es bisher entdeckt!«
»Mal den Teufel nicht an die Wand, Lillian!«, rief ich erschrocken. »Außerdem habe ich die Highway Patrol für alle Fälle schon verständigt. Abgesehen davon führt der Briar Creek so wenig Wasser, dass man nicht einmal ein Gokart darin versenken könnte, von einem richtigen Auto ganz zu schweigen. Nein, da muss irgendetwas anderes passiert sein. Wenn ich nur wüsste, was?«
Ein Windstoß rüttelte an den Fenstern. Ich band mir einen Wollschal um und sagte: »Dann werd ich mich mal auf den Weg machen.« Ich schnappte Handtasche und Autoschlüssel. »Ich bin bald wieder da. Ruf mich an, falls Hazel Marie in der Zwischenzeit kommen sollte. Aber mach ihr keine Vorwürfe, hörst du?«
»Wofür halten Sie mich? Als ob ich mit dieser netten Person schimpfen würde!« Sie wandte sich ab, faltete den Spüllappen zusammen und hängte ihn über den Wasserhahn. »Es reicht, wenn Sie das ständig machen.«
Ich verdrehte entnervt die Augen und öffnete die Hintertür. Meinen Mantel fest um mich gerafft, zog ich im eisigen Wind den Kopf ein und eilte zur Garage. Als ich einen flüchtigen Blick zum Kirchenparkplatz hinüberwarf, hielt ich erschrocken inne und schnappte unwillkürlich nach Luft.
Ich machte auf dem Absatz kehrt, riss die Tür auf und rief: »Lillian, weißt du, was der Kerl gemacht hat?«
Sie guckte mich verständnislos an. »Wer denn?«
»Na, dieser Prediger! Dieser Vollidiot von einem Prediger! Komm, das musst du dir ansehen!«
Sie ging um die Küchentheke herum und schlappte in ihren ausgetretenen Schuhen zur Tür. »Was ist denn jetzt wieder passiert?«, brummelte sie vor sich hin.
Draußen zeigte ich zur anderen Straßenseite hinüber. Lillian schob den Kopf vor und blinzelte. Genau gegenüber meiner vorderen Veranda war ein riesiges, rechteckiges Areal mit Pfosten und Schnüren abgesteckt worden. Auf jedem Pfahl flatterte ein kleines orangerotes Fähnchen.
»Sieh dir das an! Weißt du, was das bedeutet?«
Lillian schüttelte den Kopf. »Ich seh’s, aber verstehen tu ich’s nicht.«
»Dann werd ich es dir erklären. Er will dieses verflixte Freizeitzentrum dorthin bauen!« Ich packte sie am Arm und zog sie ein Stück weiter. »Die Markierung verläuft genau am Gehweg entlang, siehst du das? Weißt du, was das heißt?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich mir den Tod holen werde, wenn ich noch länger hier rumstehen muss!«
»Schau mal genau hin! Wenn dort, wo die Schnur verläuft, das Gebäude errichtet wird, werden wir künftig vorne raus auf eine hässliche Ziegelmauer gucken!«
»Aber da ist doch noch die Straße dazwischen.«
»Das ist mir völlig egal! Er setzt mir diesen Backsteinklotz direkt vor die Nase! Ich sag dir, Lillian, das macht er aus purem Trotz! Weil ich mich geweigert habe, ihm dieses Zentrum zu finanzieren, rächt er sich, indem er mir den Blick verbaut und mich von meiner Kirche isoliert!« Ich kochte vor Wut. Wäre der Pastor mir in diesem Moment über den Weg gelaufen, ich hätte ihm mit Freuden den Hals umgedreht! »Das kann er nicht mit mir machen! Der wird mich kennen lernen, dieser nachtragende Mensch! Das werden sie mir büßen, alle miteinander – der Pastor, der Ältestenrat und die Gemeindemitglieder, das sag ich dir!«
Lillian sah mich zweifelnd an. »Sie gehören selber aber auch dazu, vergessen Sie das nicht.«
Ich wandte mich abrupt ab und stürmte in Richtung Garage davon. »Mir wird schon was einfallen, verlass dich drauf. Notfalls trete ich aus der Gemeinde aus! Ich fahr jetzt zu Sam, ich muss unbedingt mit ihm reden, und das wird kein erfreuliches Gespräch! Und wenn er sich dabei aufregt, kann ich das auch nicht ändern. Mir egal, was der Arzt gesagt hat!«
Ich stellte den Wagen vor Sams Haus ab, einem großen, weißen Haus mit deckenhohen Fenstern, die von grünen Fensterläden eingerahmt wurden. Ich stieg aus und stürmte den Plattenweg hinauf. In mir gärte es immer noch, und ich war entschlossen, Sam aufzufordern, etwas gegen unseren Pastor und seine hinterhältigen Methoden zu unternehmen.
Als ich über die breite Veranda ging, öffnete James die Tür. »Mr. Sam ist im Wohnzimmer«, sagte er und trat zur Seite.
Im gleichen Moment drang Gelächter von dort in die Diele heraus: In das tiefe, dröhnende Lachen von Sam mischte sich das hellere, beinah ansteckende einer Frau. Anscheinend ging es Sam schon sehr viel besser!
»Wer ist denn da bei ihm?«, fragte ich. »Ist das etwa schon diese Krankenschwester?«
James nickte. »Ja, Ma’am. Sie ist schon vor einer ganzen Weile gekommen. Sie tut Mr. Sam wirklich gut.«
»Ja, das hör ich«, versetzte ich pikiert. Ich reichte ihm Mantel und Schal. »Sie brauchen die Sachen nicht aufzuhängen, ich bleib nicht lange.« Ich wandte mich ab.
In dem offenen Türbogen zum Wohnzimmer blieb ich wie angewurzelt stehen. Der Anblick, der sich mir bot, ließ mich meine eigenen Sorgen schlagartig vergessen. Im Kamin loderte ein Feuer, das den hohen Raum mit seinen Bücherwänden und Ledermöbeln angenehm erwärmte. Sam saß in dem bequemen Sessel am Kamin, sein Gipsbein auf einem Polsterhocker. Eigentlich war alles, wie es sein sollte, sah man einmal davon ab, dass Sam halb nackt und vornübergebeugt dasaß und eine lockenköpfige junge Frau auf eine für mich nicht erkennbare Weise seinen Rücken bearbeitete.
»Julia!«, rief Sam, als er mich sah. Seine Stellung musste nicht sonderlich bequem sein, doch das schien ihm nichts auszumachen. »Komm doch rein! Ich möchte dir diesen Engel der Barmherzigkeit vorstellen. Das ist Etta Mae Wiggins. Miss Wiggins, das ist Mrs. Julia Springer.«
»Freut mich«, sagte Miss Wiggins, ohne auch nur eine Sekunde in ihrer Tätigkeit innezuhalten. Sie wandte mir das Gesicht zu und lächelte. Es war ein süßes, von blonden Locken eingerahmtes Gesicht, das noch einmal so hübsch gewesen wäre, wäre es nicht so angemalt gewesen. Sie hatte einen von diesen weißen Overalls an, die sich heutzutage bei Krankenschwestern leider großer Beliebtheit erfreuen, obwohl sie den meisten überhaupt nicht stehen. Diese junge Frau jedoch sah blendend darin aus – sofern man Kleidung, die wie eine zweite Haut anliegt, schön findet!
»Miss Wiggins«, sagte ich mit einem knappen, förmlichen Nicken in ihre Richtung, damit klar war, dass ich nicht die Absicht hatte, mich an ihren neckischen Spielchen zu beteiligen. »Lassen Sie sich durch mich nicht stören. Sam, du hast mich gebeten rüberzukommen, weil du hören wolltest, ob ich es für notwendig halte, einen mobilen Pflegedienst zu engagieren, aber wie ich sehe, hast du deine Entscheidung bereits getroffen.«
»Allerdings, das hab ich. Aber komm doch rein und setz dich.« Er streckte die Hand nach mir aus.
Unter anderen Umständen hätte ich sie sofort ergriffen. Sam gehörte zu den Männern, bei denen man sich unwillkürlich geborgen fühlt. Das lag wahrscheinlich an seiner stattlichen Figur und seinen weißen Haaren. Er wirkte richtig distinguiert. Das Einzige, was mich an ihm störte, war der Schalk, der in seinen blauen Augen blitzte – ich bin nämlich von Natur aus ein ernster Mensch.
»Ich freue mich, dass du da bist«, fuhr er fort. »Miss Wiggins massiert mir gerade den Rücken. Du glaubst nicht, wie gut das tut! Aber setz dich doch, Julia, setz dich doch!«
Ich ließ mich widerstrebend auf der Kante des Sofas neben seinem Sessel nieder. So nah an seinem entblößten Oberkörper fühlte ich mich gar nicht wohl.
Wiggins, dachte ich und schaute zu, wie sie ein paar Tropfen eines blumig duftenden Öls (nach einem Arzneimittel roch das nicht!) in die Hand gab, in beiden Händen verteilte und mit ihrer Rückenmassage fortfuhr. Ich kannte ein paar von den Wiggins’. Das heißt, ich hatte von ihnen gehört, wie jeder in Abbot County. Die Familie war genauso berühmt-berüchtigt wie die Pucketts, von denen Hazel Marie eine löbliche Ausnahme war.
Miss Wiggins beugte sich vor und flüsterte Sam etwas ins Ohr. Sam wollte sich schier ausschütten vor Lachen. In Gegenwart eines anderen zu flüstern – also da hörte sich doch alles auf! Und Sam war genauso unhöflich, weil er mich an dem Scherz nicht teilhaben ließ.
Ich stand abrupt auf. »Dann werde ich euch nicht länger stören bei eurer Massage. Es wäre wirklich nett gewesen, wenn du mich angerufen hättest, Sam, dann hätte ich mir den Weg bei diesem Wetter sparen können.«
»Bleib hier, Julia! Du bist doch gerade erst gekommen. Ich möchte, dass du Etta Mae ein bisschen näher kennen lernst. Sie ist genau das, was der Arzt mir verordnet hat! Dank ihrer Hilfe geht es mir schon bedeutend besser.«
Das war ja wohl die Höhe! Diese kleine Gans war gerade mal seit vielleicht einem Stündchen da, und schon schien er völlig vergessen zu haben, wer sich seit seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus aufopferungsvoll um ihn gekümmert hatte: ich! Und wie kam er dazu, sie beim Vornamen zu nennen? Seit wann herrschte zwischen Pflegerinnen und Patienten ein so vertraulicher Ton? Das sah Sam überhaupt nicht ähnlich. Normalerweise behandelte er Frauen jeden Alters mit der höflichen Distanziertheit eines echten Südstaatengentleman. Was hatte diese junge Frau nur mit ihm angestellt? Kaum war sie im Haus, zog er sich halb aus, lachte und alberte herum und ließ es geschehen, dass sie ihn am Rücken und unter den Armen und auf der Brust berührte und ihm irgendwelche Dinge ins Ohr flüsterte! Das war doch kein Benehmen für eine Krankenschwester!
»Miss Wiggins«, sagte ich streng, »haben Sie sich das gebrochene Bein schon angesehen? Haben Sie den Sitz des Gipses überprüft? Was ist mit dem quälenden Juckreiz? Was gedenken Sie zu tun, damit Sam nachts besser schlafen kann?«
»Oh, machen Sie sich deswegen keine Sorgen, ich kümmere mich schon darum«, erwiderte sie. Mit einem wissenden Lächeln fügte sie hinzu: »Heute Nacht wird Mr. Sam schlafen wie ein Baby, dafür sorge ich schon.« Sie massierte seinen Hals mit geradezu unanständig zärtlichen Bewegungen. »Nicht wahr, Sie lieber süßer Schatz, Sie?«
Mir fiel die Kinnlade herunter. Ich starrte Sam an. Doch anstatt diese Miss Wiggins auf die eiskalte, schneidend höfliche Art zurechtzustutzen, auf die er sich so gut verstand, grinste er mich nur an, als wollte er sagen: Siehst du, Julia?
Ich hatte genug gesehen. Ich wandte mich abrupt zum Gehen. Wenn eine solche Behandlung zum Service eines mobilen Pflegedienstes gehörte, dann vielen Dank! Ich schäumte vor Wut, weil sich Sam derart von dieser Person einwickeln ließ.
Es lag auf der Hand, dass er weder Zeit für meine Sorgen noch irgendein Interesse daran hatte.
»Falls du später etwas brauchen solltest, lass es mich wissen«, rief ich über die Schulter zurück. »Obwohl ich bezweifle, dass ich irgendetwas für dich tun kann.«
»Julia, warte!« Sam richtete sich auf und griff nach seinem Hemd. Miss Wiggins half ihm hinein und knöpfte es ihm dann auch noch zu. Als ob er das nicht selber könnte! Er hatte sich das Bein gebrochen, nicht die Hand. »Warte doch, Julia, wir hatten gar keine Zeit zum Reden.«
»Ich komme ein andermal wieder. Wenn du nicht so beschäftigt bist. Wie oft werden Sie denn vorbeikommen, Miss Wiggins?«
»Sooft Mr. Sam es wünscht«, flötete sie leichthin. »Er braucht nur zu pfeifen, und schon bin ich da.«
Ich hätte ihr eine runterhauen können. Und Sam auch, weil er in ihr Gelächter einstimmte. Sie war vor ihn hingetreten, und er sah mit funkelnden Augen zu ihr auf, als sie ihm die Haare zu bürsten begann.
»Wir werden Sie richtig fein machen, und dann werden alle Frauen in der Stadt vor Ihrer Tür Schlange stehen«, versprach sie und beugte sich dabei so weit über ihn, dass sie ihm ihren Busen praktisch ins Gesicht drückte.
Das war mehr, als ich ertragen konnte. »Das hört sich ja fast so an, als ob Sie jetzt ständig hier wären«, sagte ich spitz. »Warum ziehen Sie nicht gleich bei ihm ein?«
»Das würde ich sofort, wenn er mich ließe!«, antwortete sie.
Ich war nicht zuletzt deshalb so sauer, weil alles, was sie zu mir sagte, in Wirklichkeit Sam galt. Und ihm gingen ihre Worte runter wie Butter, das sah ich ihm an. Miss Wiggins glättete ihm die Brauen und besaß die Frechheit hinzuzufügen: »Welche Frau mit auch nur einem Funken Verstand würde sich diesen gut aussehenden Mann nicht schnappen und ihn mit aller Kraft festhalten?«
Sam hatte wenigstens den Anstand zu erröten, aber geschmeichelt fühlte er sich natürlich trotzdem. Diese junge Person, die seine Tochter hätte sein können, schmierte ihm Honig um den Bart, dass es eine Schande war, und er merkte es noch nicht mal! Wenn schamloses Flirten heutzutage zu den Aufgaben einer Krankenschwester zählte, war es wirklich weit mit diesem Beruf gekommen!
Falls Sam jemanden brauchte, der ihm Komplimente machte – der ihn also belog, denn was waren Komplimente anderes als Lügen? –, würde ich das genauso gut, wenn nicht sogar besser können. Und es würde ihn keinen Cent kosten. Aber der Teufel sollte mich holen, sollte ich je so tief sinken!
»Julia«, sagte Sam und lehnte sich zurück, nachdem Miss Wiggins ihm auch die Strickjacke zugeknöpft und eine Wolldecke über die Beine gebreitet hatte, »komm, setz dich eine Minute her zu mir. Du hast doch was auf dem Herzen!«
»Ach, das kann warten, bis du ein wenig von deiner kostbaren Zeit erübrigen kannst«, erwiderte ich im gleichen unbekümmerten Ton wie Miss Wiggins. Was die konnte, konnte ich schon lange! »Es geht nur um so unwichtige Dinge wie das Freizeitzentrum, das Pastor Ledbetter mir direkt vor die Nase setzen will, und um Bruder Vern, der seine Nase in Sachen steckt, die ihn nichts angehen, und um LuAnne Conover, die Leonard nach über vierzigjähriger Ehe verlassen will, und um Hazel Marie, die die ganze Nacht weggeblieben ist, und kein Mensch weiß, wo sie steckt! Aber da du zu krank bist, um auch nur einen Gedanken an die Nöte anderer verschwenden zu können, möchte ich dich wirklich nicht damit belästigen!«
»Hazel Marie Puckett?«, fragte Miss Wiggins. Ich bedachte sie mit einem eisigen Blick. Sich ungefragt in die Unterhaltung anderer einzumischen war ja wohl das Letzte! Doch sie fuhr ungerührt fort: »Ich kenne Hazel. Die Ärmste hat wirklich eine schwere Zeit hinter sich. Ich hab gehört, dass sie und ihr süßer kleiner Junge jetzt bei Ihnen wohnen. Wie geht’s ihr denn so?«
Da ich nicht die geringste Lust hatte, über Hazel Marie zu diskutieren (zumal es mein Ehemann war, der ihr in ihrer »schweren Zeit« Gesellschaft geleistet hatte), schürzte ich nur die Lippen. Ich war drauf und dran, diese neugierige Person zu ignorieren. Was ich jedoch nicht fertig brachte, da ich nun einmal ein höflicher Mensch bin. »Wie es ihr im Augenblick geht, weiß ich nicht, weil sie wie gesagt nicht nach Hause gekommen ist. Aber ansonsten ganz gut, denke ich.« Ich wandte mich Sam zu. »Sie ist mit diesem Wilson T. Hodge unterwegs, und du weißt ja, was ich von dem halte.«
»Sie ist eine erwachsene Frau, Julia, ich wüsste nicht, was du tun kannst.«
»Ich mach mir Sorgen um sie, Sam. Sie ist noch nie eine ganze Nacht einfach weggeblieben, und das sollte sie auch nicht, auch wenn sie diesen Mann zu heiraten beabsichtigt. Sie muss doch an ihren Sohn denken.«
Miss Wiggins hatte die Augen aufgerissen, so weit die blaue Farbe auf ihren Lidern das zuließ, und schaute von einem zum andern. »Das sieht Hazel Marie aber gar nicht ähnlich«, sagte sie. »Der Junge ist doch ihr Ein und Alles.«
»Nun ängstigen Sie Julia doch nicht noch mehr, Etta Mae«, tadelte Sam, als ob ich ein kleines Mädchen wäre, dem man beruhigend den Kopf tätscheln muss. »Hazel Marie weiß, dass Little Lloyd bei dir gut aufgehoben ist, Julia. Warum sollte sie sich um ihn sorgen? Vielleicht ist sie mit Wilson T. auf und davon, um sich heimlich irgendwo trauen zu lassen, weil ihnen der Rummel um die Hochzeit, die du für die beiden planst, zu viel ist. Ich würde mir keine Gedanken machen, wenn ich du wäre.«
»Du bist aber nicht ich!«, versetzte ich unwillig. »Und versuch bloß nicht, mir den schwarzen Peter zuzuschieben! Mir ist es völlig egal, ob sie heimlich heiratet. Ich möchte nur wissen, wo sie jetzt gerade ist, und sonst gar nichts!«
»Sie kommt bestimmt bald nach Hause, du wirst sehen. Sagen Sie, Etta Mae, Sie haben mir doch versprochen, Sie hätten noch etwas ganz Besonderes für mich?«
»Oh ja, in der Küche. Ich hab Ihnen Tee von meiner Grandma mitgebracht! Wenn Sie den getrunken haben, werden Sie sich garantiert zwanzig Jahre jünger fühlen. Nicht, dass ein Mann wie Sie das nötig hätte! Möchten Sie auch eine Tasse, Miss Julia? Es ist genug da.«
»Nein, danke. Ich muss jetzt gehen, ich habe noch einiges zu tun.« Und zwar Besseres, als hier herumzuhocken und Tee zu trinken, hätte ich am liebsten hinzugefügt, aber sarkastisch zu sein, liegt mir nun einmal nicht.
»Ich wünschte, du würdest noch ein wenig bleiben«, sagte Sam, sah dabei aber Miss Wiggins nach, die aus dem Zimmer huschte.
»Wünschen allein genügt nicht«, stieß ich zwischen den Zähnen hervor, während ich in die Diele eilte, meinen Mantel schnappte und das Haus verließ.
Der Wind hatte sich ein wenig gelegt, aber es war kälter geworden. Ich blieb einen Augenblick auf der Veranda stehen, wickelte mir den Schal um den Hals und versuchte, meine Fassung wiederzugewinnen. Es schien, als wiederholte sich die Geschichte. Erst hatte sich Wesley Lloyd in eine jüngere Frau verguckt und jetzt Sam. Lag es in der Natur des Mannes, eine anständige, rechtschaffene, loyale Frau einfach links liegen zu lassen, sobald eine dumme kleine Gans ihm schöne Augen machte? Ich verscheuchte diese Gedanken energisch, ich wollte nicht wieder die alten Wunden aufreißen, die mir von Hazel Marie zugefügt worden waren. Dank meiner Bemühungen war sie ja ein anderer Mensch geworden. Aber eben hatte es mir schon einen Stich versetzt, mit ansehen zu müssen, wie leicht ein Mann um den Finger zu wickeln war. Sogar ein so kluger Kopf wie Sam. Wenn nicht einmal er im Stande war, hinter die Fassade aus Make-up zu gucken und das neckische Getue, das Herumscharwenzeln und Schmeicheln zu durchschauen, dann gab es wirklich keine Hoffnung mehr!
Na schön. Jetzt wusste ich Bescheid. Ich konnte Sam genauso wenig trauen wie Wesley Lloyd. Ein Glück, dass ich es noch rechtzeitig herausgefunden hatte, und nicht erst, wenn schon die ganze Stadt über mich lachte.
Ein Windstoß fegte über die Veranda, und ich zog meinen Mantel fester um mich. Trotz der Kälte war mir innerlich heiß vor Wut. Ich ärgerte mich nicht zuletzt über mich selbst, weil ich beinah zum zweiten Mal in meinem Leben einen kompletten Narren aus mir gemacht hätte.
Ich straffte die Schultern. Dann würde ich die Dinge eben selbst in die Hand nehmen müssen. Wie üblich.
»Grad im Moment hat sie angerufen!« Mit diesen Worten empfing mich Lillian, die in der Hintertür stand, als ich nach Hause kam.
»Ist sie noch dran?« Ich riss mir die Handschuhe herunter, warf sie auf den Küchentisch und eilte zum Telefon neben dem Kühlschrank.
»Nein, Ma’am, sie hat gleich wieder aufgelegt.« Lillian knetete aufgeregt die Hände, deshalb befürchtete ich das Schlimmste.
»Und? Was hat sie gesagt? Ist alles in Ordnung? Ihr ist doch hoffentlich nichts passiert, oder?«
»Nein … ja … das heißt, ich weiß es nicht. Sie hat einfach wieder aufgelegt, Miss Julia! Mittendrin. Sie wollte grad was sagen, und dann sind wir unterbrochen worden. Und dann hab ich bloß noch den Summton gehört.«
»Was genau hat sie gesagt? Lillian! Was sie gesagt hat, will ich wissen!« Ich funkelte das Telefon böse an, als könnte ich es durch die Kraft meiner Gedanken zum Klingeln bringen.
Lillian ließ sich auf einen Stuhl fallen und tupfte sich mit einem Schürzenzipfel die Augen trocken.
»Ach, Lillian, das war doch nicht so gemeint! Tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe. Ich glaube, ich mache mir doch mehr Sorgen, als ich mir eingestehen will.«
»Es ist nicht wegen Ihnen«, sagte sie. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und stützte dann den Ellbogen auf den Tisch. »Ich hab nur solche Angst um Miss Hazel Marie, weil sie so verängstigt klang.«
Ich atmete tief durch, schälte mich aus meinem Mantel und zog dann einen Stuhl zu ihr hinüber. »So, und jetzt erzählst du mir ganz genau, was sie gesagt hat. Wort für Wort.«
»Warten Sie.« Lillian fixierte einen Punkt irgendwo in der Ferne und spielte geistesabwesend mit ihrer Schürze. »Das Telefon klingelt. Ich geh ran und sag: ›Hier bei Mrs. Springer‹, und Miss Hazel Marie sagt: ›Lillian, gib mir bitte Miss Julia, schnell, beeil dich!‹ Genau so hat sie’s gesagt: ›Schnell, beeil dich.‹«
»Oh Gott«, murmelte ich.
»Ja, und ich sage: ›Sie ist nicht da, sie ist zu Mr. Sam gefahren.‹ Und bevor ich zu ihr sagen kann: ›Sie kommt bestimmt bald wieder‹, oder: ›Rufen Sie doch bei Mr. Sam an‹, fällt sie mir ins Wort: ›Sag ihr, ich brauch Hilfe‹, sprudelt sie hervor. ›Sag ihr, ich bin beim big –‹
Und dann hörte es sich an, als ob sie den Hörer fallen gelassen hätte, und dann kam nur noch der Summton.«
»›Sag ihr, ich brauch Hilfe‹? Du bist sicher, dass sie das so gesagt hat?«
»So sicher, wie ich hier sitze. ›Sag ihr, ich brauch Hilfe.‹ Und dann: ›Ich bin beim big …‹ Was sie wohl damit gemeint hat?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Aber sie steckt ganz offensichtlich in Schwierigkeiten, und das hat sie nur diesem Wilson T. Hodge zu verdanken! Ich habe gleich gesagt, mit dem Kerl stimmt was nicht. Wer so fromm und hochanständig daherkommt, dem ist nicht zu trauen!«
»Ja, es ist wirklich schlimm heutzutage«, pflichtete Lillian mir bei. »Nirgendwo ist man mehr sicher. Man setzt einen Fuß vor die Tür, und schon wird man von einem dieser Ufos entführt, die überall herumfliegen.«
»Lillian, um Gottes willen! Hazel Marie ist ganz bestimmt nicht von einem Ufo entführt worden. Sei ein bisschen realistischer.« Ich sprang auf und begann in der Küche auf und ab zu wandern. »Wir müssen etwas unternehmen! Wir können ihren Hilferuf doch nicht einfach ignorieren!« Ich wirbelte herum. »Du bist ganz sicher, dass sie ›ich bin beim big …‹ gesagt hat?«
»Natürlich bin ich mir sicher! Ich weiß doch, was ich gehört habe, und ich höre noch sehr gut. ›Sag ihr, ich bin beim big …‹, hat sie gesagt, und dann war die Leitung tot. Keine Ahnung, was sie damit gemeint hat. Vielleicht den großen Baseballplatz bei der Highschool? Der ist groß genug, dass ein Ufo landen könnte, ohne dass es irgendjemand merkt.«
Ich verdrehte die Augen. »Lillian, verschon mich mit deinen Ufos!« Ich trat an die Spüle und schaute zum Fenster hinaus. Der Wind wirbelte Schneeflocken im Garten herum. »Was könnte sie damit gemeint haben?«, murmelte ich versonnen. »Das große Kino in Asheville drüben? Nein, vergiss es. Dort sind sie sicher schon längst nicht mehr. Ein großes Haus? Ein großes Geschäft? Von wo mag sie angerufen haben? Von einer Telefonzelle aus vielleicht? Weißt du, ob es an der Straße nach Asheville öffentliche Telefone gibt? War im Hintergrund irgendetwas zu hören? Verkehrslärm oder so etwas?«
»Nein, überhaupt nichts. Es war so still, dass ich einmal die Anhänger an ihrem Armband klimpern hörte. Da fällt mir was ein, Miss Julia. Sie hat ganz leise gesprochen, so, dass ich sie gerade noch verstanden hab. Und ganz schnell. Sie ließ mich überhaupt nicht zu Wort kommen.«
Ich schlug entschlossen mit beiden Händen auf die Spülsteinkante. »Gut. Ich werde auf der Stelle zu Deputy Bates gehen und ihn bitten, nach ihr zu suchen.«
Ich warf mir abermals den Mantel über und schnappte meine Schlüssel. »Er hat doch jetzt tagsüber Dienst, oder?«
»Ja. Miss Binkie ist ganz glücklich darüber, weil er jetzt abends zu Hause ist.«
»Zu Hause«, grummelte ich. »Sein Zuhause ist in diesem Haus im oberen Stock, wo er sich ein Zimmer gemietet hat. Ach, was soll’s, lassen wir das. Ich werde jetzt ins Büro des Sheriffs fahren. Sollen es die doch in die Hand nehmen. Unter meiner Leitung, versteht sich.«
»Und was ist mit dem Essen? Sie haben seit dem Frühstück nichts mehr zwischen den Zähnen gehabt!«
»Ich kann jetzt nichts essen, Lillian. Ich bin viel zu nervös. Iss du nur, ich richte mir was, wenn ich wieder da bin. Bleib in der Nähe des Telefons, falls sich Hazel Marie noch einmal meldet.«
»Keine Sorge. Ich werde mich mit meinem Teller direkt neben den Apparat setzen.«
Ich eilte zur Garage, ohne auch nur einen einzigen Blick zum Kirchengrundstück und Pastor Ledbetters Absteckungen hinüberzuwerfen. Eins nach dem andern, sagte ich mir, als ich rückwärts auf die Straße stieß. Den Prediger würde ich mir vornehmen, sobald Hazel Marie wieder wohlbehalten zu Hause wäre.
Da es vor dem Gerichtsgebäude keinen einzigen freien Parkplatz für Bürger gab, die die Hilfe des Sheriffs benötigten, stellte ich meinen Wagen auf einem für Einsatzfahrzeuge reservierten Platz ab. Schließlich befand ich mich im Einsatz für eine vermisste Person!
Der Wind riss an meinem Mantel, als ich die Treppe zu dem Gebäude hinaufstieg, in dem sich auch das Büro des Sheriffs befand. Ich hielt mich an dem Eisengeländer fest und trat vorsichtig auf, weil ich fürchtete, die ausgetretenen Betonstufen könnten vereist sein. Ausnahmsweise wünschte ich, ich hätte pelzgefütterte Stiefel an statt der Halbschuhe mit den glatten Ledersohlen.
Ich schloss sorgfältig die Tür hinter mir – ich weiß schließlich, was sich gehört – und eilte zu dem in der Wand eingelassenen Glasschiebefenster. Dahinter saß eine uniformierte Frau mit einem Pferdeschwanz an einem Schaltpult, an dem lauter Lämpchen blinkten. Sie trug einen dieser Kopfhörer mit einem Mikrofonbügel daran, damit sie die Hände frei hatte.
»Ich möchte zu Deputy Coleman Bates. Sagen Sie ihm bitte, Mrs. Julia Springer muss ihn dringend sprechen.«
Sie blickte auf und schenkte mir ein kurzes, professionelles Lächeln. »Tut mir leid, er hat einen Einsatz. Er müsste in etwa einer Stunde wieder zurück sein. Vielleicht kann Ihnen jemand anders helfen?«
»Nein, ich muss Deputy Bates sprechen.« Ich klopfte nervös mit der Fußspitze auf den Boden. Dass er bei einem Einsatz war, gefiel mir überhaupt nicht. »Könnten Sie ihn vielleicht anrufen und ihm sagen, dass ich hier bin und dass es sich um einen Notfall handelt?«
»Es tut mir leid, Ma’am, aber bei seinem Einsatz handelt es sich auch um einen Notfall. Sie können aber gern hier warten. Sobald ich ihn erreichen kann, werde ich ihm sagen, dass Sie hier sind.«
Ich wollte nicht unhöflich sein – mit Unfreundlichkeit erreicht man nämlich gar nichts –, aber am liebsten hätte ich sie gepackt und tüchtig geschüttelt! Ich drehte mich um und begann in dem kleinen Warteraum unruhig auf und ab zu gehen. Ich kann Ihnen sagen, es ist schon allerhand, was man unseren Gesetzeshütern und den Leuten, die sie schützen und denen sie dienen sollen, zumutet! Nicht eine einzige Zeitung oder Illustrierte lag in dem schrankgroßen Zimmerchen aus. Ich hätte in meinem Zustand freilich sowieso nichts lesen können, aber dennoch war es eine Schande! An einer Wand standen drei Metallstühle; einer war verbogen. Nach einer Weile hielt ich es nicht mehr aus. Ich war überzeugt, Deputy Bates würde alles stehen und liegen lassen, wenn er wüsste, was passiert war, und mir zu Hilfe kommen. Ich eilte an das Schiebefenster zurück.
»Haben Sie schon was von ihm gehört?«, fragte ich und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Holzleiste.
»Nein, Ma’am. Die Beamten vor Ort haben alle Hände voll zu tun.«
»Und wenn Sie ihm einfach nur sagten, dass ich hier bin?«, versuchte ich es abermals.
»Tut mir leid, Ma’am, aber das geht nicht. Möchten Sie nicht doch mit einem anderen Officer sprechen?«
»Nein, danke. Das heißt …« Ich zögerte. Ich holte tief Luft und fuhr tapfer fort: »Lieutenant Peavey ist nicht zufällig da, oder?«
»Doch, schon, er leitet den Einsatz von Deputy Bates. Aber ich weiß nicht recht …«
»Fragen Sie ihn. Fragen Sie ihn bitte, ob er Zeit für mich hat. Mrs. Julia Springer. Er kennt mich. Er hat letztes Jahr in diesem Entführungsfall, in den ich mit hineingezogen worden bin, ermittelt. Oder nein, erinnern Sie ihn lieber nicht daran. Sagen Sie ihm nur, dass ich ihn unbedingt sprechen muss, bevor ein Unglück passiert.«
Sie sah mich stirnrunzelnd an, schob dann die Glasscheibe zu und begann an den Knöpfen und Stöpseln zu hantieren.
Anscheinend erinnerte sich Lieutenant Peavey tatsächlich noch an mich, denn kurz darauf kam ein Deputy zur Anmeldung und bat mich, ihm zu folgen. Wir gingen durch einen schmalen Flur, der zu den Diensträumen des Sheriffs führte. Deputys, Männer und Frauen, kamen aus den Büros zu beiden Seiten des Flurs. Die meisten nickten mir freundlich, aber zerstreut zu.
Vor einer geschlossenen Tür blieben wir stehen. Mein Führer klopfte, öffnete und ließ mich eintreten. Und dann stand ich dem Mann gegenüber, den ich letztes Jahr, als ich gemeinsam mit Lillian und Hazel Marie Little Lloyd aus Bruder Verns Fängen rettete, belogen hatte, und zwar ohne jede Gewissensbisse. Die Umstände hatten es erfordert, und ich würde es jederzeit wieder tun. Ich hoffte nur, er hatte nicht herausgefunden, welche Rolle ich damals in der Angelegenheit gespielt hatte.
Es war ein düsterer, trüber Tag, der Wind brachte Schnee und die Temperaturen lagen nur knapp über dem Gefrierpunkt, aber der Lieutenant hatte doch tatsächlich seine spiegelnde Sonnenbrille auf! Vielleicht hatte er was an den Augen. Wie auch immer – der Anblick meines Spiegelbilds auf seinen Brillengläsern brachte mich derart aus der Fassung, dass ich fast vergessen hätte, was ich eigentlich wollte. Zumal ich auch nicht mehr daran gedacht hatte, wie groß er war, wie wortkarg und wie argwöhnisch in seinem ganzen Gebaren. Wäre ich eine Kriminelle gewesen, hätte ich nicht von Lieutenant Peavey verhört werden wollen!
Ich machte einen Schritt auf seinen Schreibtisch zu. »Lieutenant Peavey, mein Name ist …«
»Ich weiß, wer Sie sind.« Er lächelte nicht und verzog auch sonst keine Miene. »Was kann ich für Sie tun?«
»Also es ist so: Meine Freundin Hazel Marie Puckett steckt ganz offensichtlich in Schwierigkeiten, aber ich weiß nicht, was das für Schwierigkeiten sind oder wo sie ist oder wie ich ihr helfen könnte.«
»Puckett«, sagte er. Sonst nichts. Nur Puckett – als ob das alles sagte.
»Wissen Sie, sie heißt zwar Puckett, aber sie ist keine«, fuhr ich schnell fort, bevor er irgendwelche unliebsamen Schlüsse zog. »Ich meine, sie hat nichts mehr mit ihnen zu tun, sie wohnt ja bei mir mit ihrem kleinen Sohn. Erinnern Sie sich an ihn? Er war doch von seinem Großonkel, diesem Vernon Puckett, entführt worden. Sie haben nach ihm gesucht, aber dann tauchte er plötzlich wieder auf, und seitdem wohnt er mit seiner Mutter bei mir. Na ja, und gestern Abend ist sie mit diesem Wilson T. Hodge ausgegangen, diesem Mann aus Charlotte, der die Spendenaktion für die Kirche ins Leben gerufen hat, Sie wissen schon … Das heißt, Sie sind kein Presbyterianer, deshalb wissen Sie es vielleicht nicht … Egal. Jedenfalls ist sie nicht nach Hause gekommen, und das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich und …«
»Ich erinnere mich an diesen Entführungsfall letztes Jahr.«
»So? Na ja, die Sache ist abgeschlossen, es wäre schön, wenn Sie sie nicht wieder aufrühren würden, weil das, was jetzt passiert ist, nicht das Geringste damit zu tun hat. Bitte, Lieutenant Peavey, Sie müssen mir helfen.«
»Nehmen Sie doch Platz.«
Ich ließ mich dankbar auf einen Holzstuhl fallen, der dringend ein Kissen oder irgendeine Polsterung gebraucht hätte. Der Lieutenant griff hinter sich und nahm einen Vordruck aus einem offenen Regal. Er legte das Blatt vor sich auf den Schreibtisch und sagte:
»Sie wollen also Vermisstenanzeige erstatten.«
Ich atmete erleichtert auf und nickte. »Genau das will ich.«
»Dann brauche ich Einzelheiten. Name der vermissten Person, Geburtsdatum, genaue Anschrift, Nummer der Sozialversicherung, wo sie sich zuletzt aufgehalten hat, wann sie zuletzt gesehen wurde.«
Als ich anfing, ihm alles über Hazel Marie zu erzählen, stellte ich fest, wie wenig ich im Grunde von ihr wusste.
»Ich werde Ihnen die gewünschten Informationen besorgen, Lieutenant. Wissen Sie, ich war so in Sorge, dass ich gar nicht an diese Dinge gedacht habe, als ich mich auf den Weg hierher machte. Sie müssen nach ihr suchen! Ich weiß, dass sie in Schwierigkeiten ist. Das hat sie selbst gesagt.«
»Sie haben mit ihr gesprochen?« Er hörte auf zu schreiben und richtete seine spiegelnden Brillengläser auf mich. »Wann war das?«
»Nicht ich. Lillian hat mit ihr gesprochen. Meine Haushälterin. Hazel Marie hat vor einer knappen halben Stunde angerufen. Ich war nicht da. Ich war drüben bei … egal, das tut nichts zur Sache. Jedenfalls hat sie Lillian gebeten, mir zu sagen, sie bräuchte Hilfe. Sie muss bei irgendeinem großen Gebäude oder etwas Ähnlichem sein, aber wir wissen nicht, wo. Das herauszufinden dürfte für Sie doch kein Problem sein.«
Lieutenant Peavey faltete den Vordruck langsam zusammen. »Mrs. Springer, wenn sie sich vor einer halben Stunde bei Ihnen gemeldet hat, kann sie nicht als vermisst gelten. Eine Vermisstenanzeige kann erst nach vierundzwanzig Stunden erfolgen, es sei denn, es liegt der begründete Verdacht auf ein Verbrechen vor, und mir scheint, das ist hier nicht der Fall.«
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. »Soll das heißen, Sie können – oder wollen – nichts unternehmen? Lieutenant, ich sage Ihnen, Miss Puckett steckt in ernsthaften Schwierigkeiten! Sie hat am Telefon geflüstert, so als ob sie Angst hätte, jemand könnte sie hören, und dann wurde das Gespräch unvermittelt unterbrochen. Sie ist in Gefahr, glauben Sie mir!«
»Sie ist offensichtlich nicht verletzt, ein Verbrechen liegt auch nicht vor …«
»Woher wollen Sie das wissen? Sie könnte sehr wohl Opfer eines Verbrechens geworden sein! Lieutenant Peavey, was muss eigentlich passieren, damit die Polizei einschreitet?«
Er schaute mich einen Moment lang an. Das nahm ich jedenfalls an. Genauso gut hätte er über meinen Kopf hinweg an die Wand starren können. »Wir haben unsere Vorschriften, Mrs. Springer, und an die müssen wir uns halten. Informieren Sie uns, wenn sich ein neuer Sachverhalt ergibt oder wenn Miss Puckett nach vierundzwanzig Stunden immer noch nicht aufgetaucht ist. Im Augenblick kann ich Ihnen nur raten abzuwarten. Aber ich kann Sie beruhigen: In neun von zehn Fällen tauchen vermisste Personen früher oder später von ganz allein wieder auf. Warum gehen Sie nicht einfach nach Hause und warten dort auf sie? Lassen Sie es mich wissen, wenn ich Ihnen noch irgendwie helfen kann.«
Er erhob sich zu seiner vollen, recht beachtlichen Größe und gab mir damit zu verstehen, dass das Gespräch beendet war.
»Aber sie braucht Hilfe!«, beharrte ich mit fast weinerlicher Stimme. »Ich kann doch nicht einfach tatenlos zu Hause herumsitzen, während sie vielleicht in Lebensgefahr schwebt!«
Ein angedeutetes spöttisches Lächeln, das mich zur Weißglut brachte, spielte um seinen Mundwinkel, als er sagte: »Nun, Sie können ja einen Privatdetektiv engagieren.«
Ich stand auf und musterte ihn mit einem eisigen Blick. »Genau das werde ich auch tun! Es scheint wirklich sinnvoller zu sein, jemanden nicht über meine Steuergelder, sondern direkt zu bezahlen. Danke, dass sie Ihre Zeit geopfert haben, Lieutenant, auch wenn sie recht knapp bemessen war. Dann werde ich die Sache eben selbst in die Hand nehmen.«
Damit rauschte ich hocherhobenen Kopfes hinaus. Ich trug die Nase so hoch, dass ich mich prompt im Gebäude verirrte und nach dem Ausgang fragen musste.
»Hat sie noch einmal angerufen?«, waren meine ersten Worte, als mich ein Windstoß praktisch ins Haus hineinwehte. Ich schlug die Tür hinter mir zu, schälte mich aus dem Mantel und hängte ihn an einen Kleiderhaken.
Lillian, die direkt unter dem Wandtelefon in der Küche saß, schüttelte den Kopf. »Nein, das Telefon hat kein einziges Mal geklingelt. So, jetzt, wo Sie wieder da sind und selber rangehen können, brauch ich ja wohl nicht länger wie festgenagelt hier zu sitzen.« Sie stand auf und ging zum Herd. »Setzen Sie sich, ich mach Ihnen was zu essen. Was wird die Polizei unternehmen?«
»Nur einen Teller Suppe, Lillian, das reicht. Ich weiß nicht mal, ob ich die runterkriege. Und was die Polizei angeht, so werden sie gar nichts unternehmen. Nicht das Geringste. Weil sie sich an ihre Vorschriften halten müssen. Pah! Ich kann dir gar nicht sagen, wie es in mir aussieht, Lillian!«
Sie drehte sich zu mir um, einen Topf in der einen und eine Campbell-Suppendose in der anderen Hand. »Soll das heißen, sie werden nicht nach der armen Miss Hazel Marie suchen? Das sieht Deputy Bates aber gar nicht ähnlich.«
»Deputy Bates war nicht da. Er ist bei einem Einsatz und für Leute wie mich nicht zu sprechen. Ich war bei Lieutenant Peavey. Sagt dir der Name irgendetwas?«
»Doch nicht etwa der Lieutenant Peavey, der uns damals am liebsten hinter Schloss und Riegel gebracht hätte?«
»Genau der. Und er hat sich nicht verändert, glaub mir! Keine Spur von Mitgefühl oder Hilfsbereitschaft. Er könne leider nichts für uns tun, hat er gemeint. Ich solle doch einen Privatdetektiv engagieren. Und ich denke, das werde ich auch.«
»Worauf warten Sie dann noch?«
»Das Dumme ist, ich kenne keinen. Man kann sie schließlich nicht im Laden kaufen. Möchte wissen, wo ich so einen Privatdetektiv finde«, sagte ich nachdenklich. »Und woher weiß ich, dass er etwas von seinem Job versteht?«
»Warum fragen Sie nicht Deputy Bates? Ich wette, der kann Ihnen weiterhelfen. So, und jetzt setzen Sie sich erst mal hin und ruhen sich ein wenig aus. Sie sind ja ganz aufgelöst. Sie werden Miss Hazel Marie keine Hilfe sein, wenn Sie nicht besser auf sich Acht geben! Das Essen ist gleich fertig.«
»Du hast Recht. Ich muss mich am Riemen reißen. Aber ich sag dir, Lillian, es macht mich ganz krank, dass alle mir einreden wollen, es sei alles in bester Ordnung und ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen!«
»Das sag ich ja gar nicht. Ich sage nur, Sie sollen sich in Ruhe überlegen, was getan werden muss, und es dann anpacken.«
»Lillian, das ist der beste Rat, den ich seit langem bekommen habe!« Ich richtete mich entschlossen auf. »Ich will nur noch schnell ein paar Anrufe erledigen, bis das Essen fertig ist. Ich werde dafür sorgen, dass Deputy Bates keinen Schritt machen kann, ohne dass jemand ihm sagt, Julia Springer habe angerufen!«
Zuerst rief ich Binkie im Büro an und bat sie, dem Deputy auszurichten, er möge sich umgehend bei mir melden. Als sie mich mit der Bemerkung, Hazel Marie werde bestimmt jeden Moment nach Hause kommen, beruhigen wollte, fiel ich ihr ins Wort: »Das mag schon sein, Binkie, aber ich möchte für alle Fälle ein paar Vorkehrungen treffen.«
Danach rief ich bei Binkie zu Hause an. Obwohl ich Anrufbeantworter hasse, sprach ich eine Nachricht darauf, nur für den Fall, dass Deputy Bates vor ihr heimkommen sollte (ich wusste, dass er einen eigenen Schlüssel hatte). Und zu guter Letzt wählte ich die Nummer des Sheriffs und bat ein weiteres Mal darum, Deputy Bates auszurichten, er möge sich unverzüglich mit mir in Verbindung setzen. Irgendwo würde ihn meine Nachricht schon erreichen!
Danach setzte ich mich lustlos vor den Teller Suppe, den Lillian mir hingestellt hatte. Ich zerbrach mir den Kopf, was ich Little Lloyd sagen sollte, wenn er aus der Schule kam. Er würde doch nach seiner Mutter fragen. Wie in aller Welt sollte ich dem Jungen erklären, dass sie spurlos verschwunden war?
Ich legte den Löffel wieder hin und stand auf. »Ich kann jetzt nichts essen, Lillian. Ich kann hier nicht herumsitzen und nichts tun! Ich werde noch wahnsinnig! Weißt du was? Ich fahr los und hol den Jungen von der Schule ab.«
»Es ist noch zu früh.«