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Der Gärtner ist nicht immer der Mörder, manchmal ist er auch die Leiche. Das wird Rentnerin Angela spätestens klar, als ihr Mops die Leiche des Gärtners auf dem Klein-Freudenstädter Friedhof in der beschaulichen Uckermark entdeckt. Kopfüber steckt der Tote in der Erde, nur die Beine ragen heraus. Die Mordverdächtigen sind allesamt in zwei verfeindeten Bestatter-Familien zu finden. Da gibt es einen dubiosen Geschäftsführer, eine spröde Buchhalterin, eine sensible Trauerrednerin, einen Satanisten sowie einen kultivierten Steinmetz. Mit Letzterem teilt Angela nicht nur ihre Liebe zu Shakespeare, der ältere Herr sieht auch noch aus wie ein ehemaliger französischer Filmstar. Wird Angela dem rauen Charme dieses Mannes verfallen? Und was sagt ihr Gatte Achim dazu? Der zweite Fall der Meisterdetektivin Miss Merkel stellt die Ex-Bundeskanzlerin auch privat vor kniffelige Probleme.
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Seitenzahl: 392
David Safier
Roman
Der Gärtner ist nicht immer der Mörder, manchmal ist er auch die Leiche. Das wird Rentnerin Angela spätestens klar, als ihr Mops die Leiche des Gärtners auf dem Klein-Freudenstädter Friedhof in der beschaulichen Uckermark entdeckt. Kopfüber steckt der Tote in der Erde, nur die Beine ragen heraus. Die Mordverdächtigen sind allesamt in zwei verfeindeten Bestatter-Familien zu finden. Da gibt es einen schmierigen Unternehmer mit dubiosen Praktiken, eine sensible Trauerrednerin, einen geschäftstüchtigen Satanisten sowie einen kultivierten Steinmetzen. Mit Letzterem teilt Angela nicht nur ihre Liebe zu Shakespeare, der ältere Herr sieht auch noch aus wie ein ehemaliger französischer Filmstar. Wird Angela dem rauen Charme dieses Mannes verfallen? Und was sagt ihr Gatte Achim dazu?
Der zweite Fall der Meisterdetektivin stellt die Ex-Bundeskanzlerin auch privat vor kniffelige Probleme.
David Safier, 1966 geboren, zählt zu den erfolgreichsten Autoren der letzten Jahre. Seine Romane, darunter «Mieses Karma», «Jesus liebt mich», «Happy Family» und «Muh», erreichten Millionenauflagen. Auch im Ausland sind seine Bücher Bestseller. Als Drehbuchautor wurde David Safier unter anderem mit dem Grimme-Preis sowie dem International Emmy (dem amerikanischen Fernseh-Oscar) ausgezeichnet. David Safier lebt und arbeitet in Bremen, ist verheiratet, hat zwei Kinder und einen Hund.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2022
Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung any.way Barbara Hanke und Cordula Schmidt
Coverabbildung Oliver Kurth
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01080-2
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Für Marion, die Liebe meines Lebens.
Für meine wundervollen Söhne Ben und Daniel,
ich liebe euch und bin stolz auf euch.
Für Max, du hast uns so viel Freude bereitet.
Und für meine verstorbenen Eltern,
ich habe nie aufgehört, euch zu lieben.
«Schlaf, Kindlein, schlaf, der Laschet ist ein Schaf», sang Angela dem kleinen Baby vor, das in dem geblümten Kinderwagen vor ihr lag, «der Söder ist ein Trampeltier, was kann die arme Angela dafür …»
Der Kleine schloss endlich die Äuglein, und Angela war erleichtert, dass sie ihren Gesang nun einstellen konnte, während sie die Karre über das hell strahlende Pflaster des Marktplatzes von Klein-Freudenstadt ruckelte. Es reichte schon, dass die Bewohner des kleinen Örtchens sie neugierig betrachteten – mit ihrer um den Bauch gebundenen Blazerjacke und der Bluse, die unter den Ärmeln schon leicht verschwitzt war –, da mussten sie sich nicht auch noch über ihren schiefen Gesang mokieren. Angela war sich ihrer Schwächen nur allzu gewahr. Sie wusste, dass sie keine flammende Rednerin war, und hatte daher stets vermieden, flammende Reden zu halten. Sie wusste auch, dass ihr schulterlange Haare nicht standen, und ging deshalb alle vier Wochen zum Friseur (obwohl sie sich an ihren neuen Friseur Silvio und dessen Hang zum Tratsch erst noch gewöhnen musste – gegen ihn war die Bild-Zeitung regelrecht diskret). Vor allen Dingen aber wusste sie, dass sie nicht gut singen konnte. Seit jenem Tag in der sechsten Klasse, an dem ihre Musiklehrerin Frau Pühn sie gebeten hatte: «Angela, sei so gut und sing beim Kanon nicht mehr mit, du bringst alle anderen aus dem Konzept.» Ihr Ehemann Achim hatte ihren Gesang zwar immer freundlich als ‹originell› bezeichnet, doch als sie letztens unter der Dusche Du hast den Farbfilm vergessen mitschmetterte, hatte sie gehört, wie er die Tür zu seinem Arbeitszimmer schloss. Nun aber lag vor ihr im Kinderwagen das einzige Wesen auf dieser ganzen globalisierten Welt, das ihren Gesang zu mögen schien: der kleine Adrian Ángel. Seine Mutter Marie hatte ihn mit seinem Zweitnamen nach Angela benannt, zum Dank dafür, dass sie ihr bei der Geburt beigestanden hatte und den Mord an seinem Vater, dem Freiherrn Philipp von Baugenwitz, aufgeklärt hatte. Und dieser kleine Engel war eine Schwäche von Angela. Aber was für eine schöne! Jedes Mal, wenn sie ihn ansah, wurde ihr warm ums Herz. Ach Quatsch, nicht nur ums Herz. Ihre ganze Seele wurde erwärmt! Seine Nähe erfüllte sie so sehr wie ihre größten Triumphe in der Politik. Nur eben völlig anders. Fühlten sich so großmütterliche Gefühle an?
Nie hätte Angela gedacht, dass sich ihr Leben in Klein-Freudenstadt so entwickeln würde. Weder in den glücklichen Momenten noch in den eher langweiligen, die sie auch kannte. Angela hatte nun mal Zeit, um mit dem Kinderwagen spazieren zu gehen, weil sie sonst nichts zu tun hatte. Der Politik hatte sie abgeschworen und den Garten ihres Fachwerkhäuschens in den letzten Monaten mehrfach umgegraben. Ihr neues Hobby, das tägliche Kuchenbacken, hatte sie einstellen müssen. Die beiden Obdachlosen von Klein-Freudenstadt, die stets mit den Reststücken versorgt wurden, hatten schon Dinge gestöhnt wie: «Och, bitte heute mal nicht, ich krieg meine Hose nicht mehr zu.» Oder auch: «Könnten Sie zur Abwechslung nicht mal einen Burger braten?»
Wenn sie es recht bedachte, hatte Angela sich seit ihrer Pensionierung nur dann so richtig lebendig gefühlt, als sie in dem Mordfall ermittelt hatte. Doch wie oft würde in einer Kleinstadt schon eine solche Bluttat geschehen? Klein-Freudenstadt in der Uckermark war ja nicht Cabot Cove aus der Serie Mord ist ihr Hobby. In dem Dorf in Maine wurden jede Woche ein bis drei Menschen niedergemetzelt, und somit wurde ganz nebenbei das Problem der CO2-Emissionen auf originelle Art durch Populationsreduzierung gelöst. Obwohl Angela genau wusste, dass es nicht anständig war, sich weitere Morde in Klein-Freudenstadt zu wünschen, ertappte sie sich bei dem Gedanken, dass ihr ein neuer Fall definitiv Freude bereiten würde.
Sie lächelte kurz bei der Vorstellung, als sie mit dem Kinderwagen an den Marktständen vorbeischuckelte. Am Käsestand türmte sich ein stinkender Rotschmiere-Käse auf dem Tresen, über den selbst Schweizer sagen würden: ‹Damit kann man Kühe einschläfern.› Angela schämte sich für ihren moralisch verwerflichen Wunsch nach neuen Leichen. Tadelnd sagte sie zu sich selbst: «So ein Wunsch ist nicht in Ordnung.»
«Na», ertönte eine Stimme, «führen wir jetzt schon Selbstgespräche?»
Angela erschrak: Sie hatte offenbar ihren Gedanken laut ausgesprochen. Das war ihr bisher nur einmal passiert, bei ihrer ersten Begegnung mit Donald Trump, als ihr leise herausgerutscht war: «Der ist ja noch oranger als im Fernsehen.» Gut, dass der Dolmetscher damals geistesgegenwärtig ihren Satz mit ‹Orange is her favorite color!› übersetze.
Es musste, dachte Angela, die Kombination aus Hitze und Langeweile sein, die sie dazu brachte, Selbstgespräche zu führen. Das durfte ihr nicht noch mal passieren. Schon gar nicht vor der Frau, die sie eben angesprochen hatte. Es war die Latzhose tragende Frau vom Obststand, die zugleich stellvertretende Kreisvorsitzende der AfD war. Mit ihr verband Angela also rein gar nichts, außer gegenseitiger Abneigung und der Tatsache, dass sie den gleichen Vornamen hatten. Schnell wollte sie vorbeigehen, als die Obstverkäuferin etwas Überraschendes hinzufügte: «Ich möchte mich gerne bei Ihnen entschuldigen!»
Angela konnte sich nicht vorstellen, dass sie gemeint war, und drehte sich nach einer weiteren Person um.
«Ich habe schon Sie gemeint.»
«Und wofür wollen Sie sich entschuldigen?» Angela kam mit dem Kinderwagen näher.
«Jedenfalls nicht dafür, dass ich Ihre Politik kacke fand», grinste die Frau feixend.
«Hätte mich auch überrascht.»
«Oder dass ich mit Vorliebe über Ihre Frisur lästere.»
«Sie tun was?» Angela war empört. Sie mochte ihre Frisur. Sogar sehr!
«Zusammen mit Silvio.»
«Mit Silvio?»
«Dem Friseur.»
«Ich weiß, wer Silvio ist.» Angela hatte Mühe, ihren Zorn zu verbergen. Insbesondere auf den Betreiber des Salons Haar Kreativ. Was fiel ihm ein, über sie zu lästern? Nur weil sie stets seine Vorschläge ablehnte, ihr einen neuen Look zu verpassen, der ‹frischer›, ‹moderner› und ‹fashionista› sein sollte. Er hatte sogar das Wort ‹verführerisch› benutzt. ‹Verführerisch›! Es war ja nun wirklich nicht so, dass sie als verheiratete Frau ihres Alters in diesem Leben ständig einen Mann verführen wollte! Und jetzt lästerte er auch noch hinter ihrem Rücken wie die Ministerpräsidenten der Bundesländer in der Coronakrise? Beim nächsten Besuch in seinem Salon würde nicht nur er ihr den Kopf waschen, sondern sie auch ihm!
«Wenn Sie es wissen», grinste die Obstverkäuferin, «warum fragen Sie dann, wer Silvio ist?»
«Ich frage mich, warum ich mich überhaupt mit Ihnen unterhalte.»
«Weil ich mich wirklich entschuldigen will.»
«Dann tun Sie das doch auch.»
«Es fällt mir schwer», druckste Obst-Angela herum.
«Wäre mir gar nicht aufgefallen.»
«Sie haben meinen Lebensunterhalt gerettet. Hätten Sie den Mord an Philipp nicht aufgeklärt, wäre das Schloss an den amerikanischen Investor verkauft worden, und ich hätte nicht mehr das Land pachten können, um meinen Hof zu bewirtschaften. Aber dank Ihnen kann ich weitermachen.»
«Sie sollten Marie danken.» Eigentlich war der kleine Adrian Ángel der Erbe des Familienvermögens, das bis zu seiner Volljährigkeit von seiner Mutter Marie verwaltet wurde. Marie, die vor ein paar Monaten noch Hartz IV bezogen hatte, zeigte keinerlei Interesse an einem Verkauf des Anwesens. Angela wusste, dass es der Obstverkäuferin vermutlich noch schwerer fiel, Marie gegenüber ihren Dank auszudrücken, denn Marie war eine Schwarze und die AfD-Frau nun mal keine Vorkämpferin für die Rechte von Minderheiten.
«Auch das werde ich tun», sagte Obst-Angela und klang dabei überraschenderweise aufrichtig. «Aber erst mal bedanke ich mich bei Ihnen dafür, dass Sie den Mord aufgeklärt haben. Und ich entschuldige mich dafür, dass ich Sie für eine lächerliche Hobby-Detektivin gehalten habe. Sie sind nämlich eine verdammt gute Ermittlerin.»
Angela kämpfte sehr damit, nicht geschmeichelt zu lächeln – und verlor diesen Kampf.
«Wenn es wieder einen Mord gibt, werde ich Ihnen garantiert helfen. Versprochen!»
«Ich glaube nicht, dass es hier in absehbarer Zeit noch mal einen Mord geben wird», antwortete Angela und ertappte sich dabei, wie eine kleine Stimme in ihr sagte: Man soll die Hoffnung nie aufgeben.
«Wohl nicht», grinste die Obstverkäuferin. Und Angela vermutete, dass es der Frau genau deswegen so leichtfiel, ihre Hilfe anzubieten. «Warum schieben Sie eigentlich den Kinderwagen alleine herum? Wo sind denn Ihr Mann, Ihr Hund und Ihr Gorilla?»
Mit ‹Gorilla› meinte sie Angelas Personenschützer Mike. Angela hatte ihn davon überzeugen können, dass sie auch mal alleine durch den Ort gehen konnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich irgendwelche Attentäter nach Klein-Freudenstadt verirren würden, war nun mal nicht allzu groß. Statt bei Angela zu sein, schraubte Mike gerade das neue Kinderbettchen für Baby Adrian Ángel zusammen. Und er kümmerte sich auch um ihren Mops. Der war auf den Namen Putin getauft worden, aber nach den jüngsten Ereignissen fand Angela den Namen nicht mehr angemessen für einen charakterlich einwandfreien Hund. Außerdem hätte sie auch keine Freude mehr daran gehabt, den ganzen Tag "Putin, mach Platz!" oder "Putin, lass das!" zu rufen. Damit es nicht tage- oder gar wochenlang dauerte, bis der kleine Kerl auf einen neuen Namen hörte, wählte sie einen aus, der lautmalerisch ähnlich klang: Pupsi.
Angela hatte den Hund nicht mitgenommen, da er auf Spaziergänge in der Sommerhitze genauso wenig stand wie Peter Altmaier auf Treppensteigen. Außerdem reagierte Pupsi eifersüchtig, wenn Angela sich dem Baby zu sehr zuwandte. Einmal, als Angela dem kleinen Adrian besonders lange vorgesungen hatte, hatte Pupsi aus Protest sogar in die Wohnzimmerecke ein Häufchen gemacht. In dem Augenblick wurde ihr klar, wie eifersüchtig ihr Mops war, auch wenn Mike ganz leise vor sich hingemurmelt hatte: «Könnte auch am Gesang liegen.» Seitdem gab Angela ihrem kleinen ‹Hasemasen›, wie sie Pupsi nannte, besonders lange Kuscheleinheiten, damit er sich nicht vernachlässigt fühlte.
Und ihr Ehemann? Nun, der war gerade auf seiner jährlichen, dreiwöchigen Wandertour in den Pyrenäen mit seinem alten Studienkollegen Tommy. Angela vermisste ihren Achim so langsam. Auch dies war neu für sie: Früher, als sie in der ganzen Welt unterwegs gewesen war, hatte stets sie ihren Mann in Berlin zurückgelassen. Er hatte sich nie beschwert, aus Höflichkeit hätte er es aber ruhig ab und an mal tun können, dann hätte sie nicht zwischendrin den Verdacht gehegt, es passe ihm ganz gut in den Kram, dass sie so viel weg war und er sich seinen Passionen wie der Quantenchemie, der Rockmusik der 60er-Jahre und dem Scrabble-Spiel widmen konnte. Jedenfalls nahm Angela sich vor, jetzt ebenfalls nicht zu murren, obwohl sie sich schon ein wenig einsam fühlte, wenn sie nachts so ganz allein im Bett lag. Es wurde Zeit, dass Achim wieder nach Hause kam. Aber leider würde das noch eine Woche dauern.
«Alles in Ordnung?», fragte Obst-Angela, erstaunlicherweise ohne jede Gehässigkeit. Dennoch wollte Angela ihr keinen Einblick in ihre private Gefühlswelt geben. Daher antwortete sie: «Das ist nur die Hitze.»
«Heute ist es klüger, im Schatten zu bleiben. Am besten zu Hause bei geschlossenem Fenster und mit einem Gin Tonic auf Eis.»
«Der Kleine schläft aber beim Spazierengehen immer ein.»
«Und seine Mama braucht ihren Schlaf?», fragte die Frau, wieder ohne auch nur einen Ansatz von Gehässigkeit.
«Und wie.»
«Gehen Sie auf dem Friedhof spazieren. Die großen Bäume dort spenden Schatten.»
«Danke für den Hinweis.»
«Gern geschehen.»
Die beiden Frauen lächelten sich unsicher an. Sie mochten sich natürlich immer noch nicht, aber sie konnten sich nun schon ein kleines bisschen besser leiden. Angela verabschiedete sich mit einem «Bis bald», halb in der Erwartung, als Antwort ein «Hoffentlich nicht» zu hören, aber die Marktfrau sagte ebenfalls «Bis bald».
Der Friedhof lag hinter der Kirche, auf die Angela nun zusteuerte. Dabei zuppelte sie am Sonnenschutz des Kinderwagens, obwohl das schlafende Baby im Schatten lag, aber sicher war sicher. Angela betrachtete verzückt das kleine Wunder des Lebens, wie sich der kleine Brustkorb hob und senkte. So zart. So zerbrechlich. Und im wahrsten Sinne des Wortes liebenswert – wert, geliebt zu werden.
In diesem Augenblick, als sie in die kleine Gasse neben der St.-Petri-Kirche bog, ahnte Angela noch nicht, dass sie gleich auf eine Person treffen würde, die sie am nächsten Morgen auf ebenjenem Friedhof tot auffinden würde. Und sie ahnte ebenfalls nicht, dass sie vorher einem attraktiven Mann begegnen würde, der sie über Silvios Vorschlag hinsichtlich einer ‹verführerischen› Frisur neu nachdenken ließ. Aber vor allen Dingen ahnte sie nicht, dass das liebenswerte, schlafende Baby schon bald in höchste Gefahr geraten würde.
Natürlich war Angela schon mal auf dem St.-Petri-Friedhof gewesen. Klein-Freudenstadt konnte man schließlich innerhalb von eineinhalb Stunden komplett begehen. Die meiste Zeit würde ein Spaziergänger dabei auf dem besagten Friedhof verbringen, denn dieser war überraschend groß. Offenbar machte sich hier niemand die Mühe, alte Gräber auszuheben, um Platz für neue zu schaffen. Lieber baute man einfach an, denn wenn es in der Uckermark von etwas genug gab, dann war das Platz. Im Schatten der Bäume atmete Angela auf. Dieser Friedhof war wirklich ganz besonders schön. Wenn sich tatsächlich einmal ein Großstädter hierherverirren sollte, würde er vielleicht sagen: «Hier möchte ich tot über dem Zaun hängen.»
Der Friedhof bestand aus zwei Haupt- und dreizehn Nebenwegen, schätzungsweise tausend Gräbern, darunter drei Mausoleen und einer kleinen von Efeu umrankten Kapelle mit wunderschön bemalten Glasfenstern. Sogar einen kleinen See gab es hier, an dessen Rundweg Gräber aus der Kaiserzeit standen. Überall wuchsen Rhododendren, Azaleen und Rosensträucher, und darüber wölbten sich die ausladenden Zweige der alten Kastanienbäume. Angela hatte das Gefühl, dass es hier mindestens fünf Grad kühler war – was immer noch über 32 Grad bedeutete. Im Vorbeigehen betrachtete sie die Grabsteine. Die Gräber am Anfang des Friedhofs stammten aus früheren Jahrhunderten, bei fast allen stellte Angela fest, dass die Menschen damals recht jung starben. Schlucken musste sie, als sie den Grabstein eines Kindes namens Juliana Blume passierte, die vom 11.12.1712 bis zum 3.3.1719 gelebt hatte. Damit war sie deutlich kürzer auf der Welt gewesen, als Angela regiert hatte. Sie seufzte, so viele Kinder sind früher vorzeitig verstorben. Wie ungerecht es war, in welche Zeit und an welchen Ort man geboren wurde.
Um sich abzulenken, sah Angela hoch zu den Baumwipfeln, durch die die Sonnenstrahlen funkelten und auf deren Ästen niedliche Vögel mit roten Bäuchen saßen. Waren es Rotkehlchen? Oder Gimpel? Achim hätte das im Gegensatz zu ihr gewusst. Hach, jetzt vermisste sie ihn nicht nur nachts, wenn sie allein im Bett lag, sondern auch schon tagsüber.
Sehnsüchtig dachte sie an ihren Achim, jedenfalls bis zu dem Augenblick, als sie auf einem der Nebenwege einen Mann auf einer Bank sitzen sah. Der Mann saß ganz entspannt da mit überkreuzten Beinen und hatte sie noch nicht bemerkt. Er war vollkommen in ein Buch vertieft. Sie kniff die Augen zusammen und spähte auf das Cover, war aber noch zu weit entfernt, um es zu erkennen. Aber es musste ein gutes Buch sein, wenn der Mann alles um sich herum vergaß. Sie bog in einen kleinen Nebenweg, um sich dem Fremden unauffällig zu nähern. Was sie nun von dem Cover ausmachen konnte, erinnerte sie an eines ihrer Lieblingsbücher: Shakespeare exhumiert. Es war ein Werk über Emilia Bassano, jene Frau, von der einige Theaterwissenschaftler annahmen, sie wäre die wahre Autorin von Shakespeares Werken gewesen. Angela liebte historische Geheimnisse fast so sehr wie Mordfälle, und keines faszinierte sie mehr als die Frage, ob der nicht studierte Sohn eines Handschuhmachers namens William Shakespeare wirklich der Urheber der genialen Theaterstücke war oder ob er als Strohmann für eine Person diente, die anonym bleiben wollte. Es gab regelrechte Denkschulen dieser Strohmann-Theorie, und jede hatte eine andere Person als ‹wahren› Autor ausgemacht: den Earl of Oxford, den Earl of Rutland, den Earl of Southampton, Francis Bacon, der kein Earl war, dafür aber Viscount, und, und, und. Jede dieser Schulen hielt die Theorien der anderen selbstverständlich für komplett absurd. Für Angela war die faszinierendste Hypothese jene, dass Emilia Bassano die Werke verfasst und William Shakespeare gegeben hatte, damit sie unter seinem Namen erschienen. Dafür hätte Emilia gleich mehrere Motive besessen. Sie war eine Frau und noch dazu eine junge Hofdame: Es galt als ungehörig, Theaterstücke zu verfassen. Zudem war Emilia eine Schwarze und außerdem Jüdin – weitere Gründe in der damaligen Zeit, ihre Werke abzulehnen. Und eben weil Angela wusste, wie schwer es selbst Jahrhunderte später noch war, sich erfolgreich gegen Männer durchzusetzen, faszinierte sie die Hypothese, diese Frau könnte Texte wie Hamlet, Was ihr wollt sowie Angelas absolutes Lieblingsstück Ein Sommernachtstraum geschrieben haben.
Mit ihrem Mann Achim konnte Angela über ihre kleine Shakes-peare-Obsession zwar reden, aber sie merkte immer, dass er nach etwa drei Minuten glasige ‹Ich tue so, als ob ich dir zuhöre, bin aber in Gedanken ganz woanders›-Augen bekam. Sie konnte ihm das nicht vorwerfen, denn wenn Achim über seine Steckenpferde sprach, über seine Faszination für Scrabble zum Beispiel, hielt sie noch nicht einmal drei Minuten durch. Aber im Gegensatz zu ihr hatte Achim seinen Studienfreund Tommy, mit dem er stundenlang über die perfekte Scrabble-Taktik plaudern konnte. Wie zum Beispiel jetzt auf ihrer Wanderung durch die Pyrenäen. Angela hingegen konnte sich stundenlang über Emilia Bassano unterhalten mit … exakt niemandem. Aus diesem Grund war ihre Neugierde geweckt. Sie musste unbedingt herausfinden, ob der Mann tatsächlich Shakespeare exhumiert las!
So bog sie wieder ab, nun in den Weg, der direkt an der Bank vorbeiführte. Langsam näherte sie sich dem Lesenden, der noch immer ganz in sein Buch vertieft war. Der drahtige Mann war in etwa so alt wie sie. Er hatte silbernes Haar, trug eine verwaschene Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Seine Arme waren braun und muskulös. Kurzum, er sah aus wie ein Schauspieler, der in französischen Filmen der Siebzigerjahre einen Actionhelden dargestellt hatte und heutzutage den Typ verwegener Außenseiter spielte, der verwitweten Frauen den Kopf verdrehte, woraufhin sie gegen den Willen ihrer erwachsenen Kinder noch mal aus ihrem Alltag ausbrechen. Und ja, er hielt tatsächlich das Buch Shakespeare exhumiert in der Hand!
Plötzlich wurde Angela ganz aufgeregt. Sollte sie ihn auf das Buch ansprechen? Sie würde so gerne mit jemandem über Emilia Bassano reden. In so einer Lage war sie noch nie gewesen: einen wildfremden Mann einfach so anzureden. Sie wusste gar nicht, wie das ging – selbst Achim war ihr auf einer Doktorandenfeier vorgestellt worden. Vielleicht würde er aufsehen und sie ansprechen? Immerhin war sie eine Ex-Kanzlerin, so einer begegnete man nicht jeden Tag. Genau, sie würde einfach den Kinderwagen langsam an ihm vorbeischieben, dann würde er schon etwas sagen!
Angela war nun schon auf der Höhe der Bank, und …
… er sagte nichts. Auch nicht, als sie ihre Schritte noch mehr verlangsamte, um ihm eine Chance zu geben, sie wahrzunehmen. Selbst als sie neben der Bank, keine zwei Meter von ihm entfernt, mit dem Kinderwagen stehen blieb und das Sonnensegel richtete, blickte er nicht auf.
Da Angela sich nicht traute, die Initiative zu ergreifen, setzte sie ihren Weg fort. Und weil sie einen eisernen Willen besaß, schaffte sie es auch, sich nicht umzudrehen … zumindest für etwa zwanzig Meter der Wegstrecke. Dann warf sie doch einen Blick über die Schulter und stellte fest, dass der Mann noch immer hoch konzentriert in das Buch blickte. Sie kam sich albern vor. Wovor hatte sie eigentlich Angst? Warum sprach sie ihn nicht einfach an? Es war doch nichts dabei!
Entschlossen drehte sie den Wagen um und schob ihn wieder in Richtung des Lesenden.
Sie brauchte einen Plan. Sollte sie einfach ‹Hallo› sagen oder besser ‹Guten Tag›? Für einen kleinen verrückten Moment malte sie sich aus, dass sie ihm mit dem Wagen über die Füße fuhr. Dann könnte sie ‹Oh, Verzeihung› sagen und hoffen, dass sich daraus ein Gespräch entspann. Am Ende entschied Angela sich dafür, ihn auf das anzusprechen, was sie beide ganz offensichtlich verband. Deshalb sagte sie, als sie wieder bei der Bank angekommen war, einfach nur: «Emilia Bassano?»
Der Mann blickte von seinem Buch auf.
«Sie lesen das Buch über Emilia Bassano», stellte Angela lächelnd fest, und der Mann …
… lächelte zurück.
Oh mein Gott, was für ein Lächeln! Es war das Lächeln des ehemaligen drahtigen Actionhelden, der im Alter als verwegener Außenseiter Witwen die dritte Blüte des Lebens bereitete. Sehr gut, dass Angela keine Witwe war. Dennoch verunsicherte sie das Lächeln auf eine Weise, die sie selbst bei ihrer ersten Begegnung mit Achim nicht empfunden hatte. Achims Lächeln war einfach nur unglaublich süß gewesen.
«Sie kennen sich mit Emilia Bassano aus?», lächelte der Mann noch mehr, und seine blauen Augen strahlten dabei.
«Ja», antwortete Angela und staunte, dass sie keine längere Antwort herausbekam. Lag es an dem Lächeln? Nein, es musste die Hitze sein! Vermutlich war sie einfach nur ein klein wenig dehydriert.
«Ich», sprach der Mann nun weiter, «bin von der These, dass sie Shakespeares Werke geschrieben haben könnte, unglaublich fasziniert. Die Hinweise leuchten einem so sehr ein. Eine gebildete Frau wie Emilia mit ihrem musikalischen Hintergrund war doch viel eher in der Lage, diese Stücke zu verfassen, als Shakespeare, der einfache Mann vom Land. Emilia hatte an vielen Schauplätzen der Stücke selbst gelebt. Sogar für ein Jahr auf einem dänischen Schloss, das so beschrieben wird wie jenes in Hamlet. Shakespeare hingegen war nie in Dänemark gewesen. Und dann war sie später sogar die erste Frau überhaupt, deren Werke gedruckt wurden …»
Je mehr der Mann redete, desto weniger bekam Angela von seinen Worten mit. Aber nicht etwa aus Desinteresse wie bei Achims Scrabble-Vorträgen, natürlich nicht, sondern weil sie so gefangen von der Begeisterung des Mannes war. Er sprach über das Thema mit einer Intensität, die von Herzen kam. Und dann noch diese Stimme! Als hätte er jahrzehntelang Gauloises geraucht, aber paradoxerweise auf eine gesunde Weise. Würde Angela die Kategorie ‹erotisch› zulassen, hätte sie diese Stimme gewiss als solche empfunden.
Der Mann bemerkte, dass Angela mit ihren Gedanken davonwanderte, unterbrach sich und stand auf: «Verzeihen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße …»
Angela erwartete einen Namen wie Jean-Paul Aramis.
«… Kurt Kunkel.»
Aramis hätte besser geklungen.
«Und ich bin …», hob sie an.
«Ich weiß, wer Sie sind», unterbrach der Mann namens Kurt Kunkel schmunzelnd. Ein sympathisches Schmunzeln! «Sie interessieren sich also auch für Shakespeare?»
«Sehr sogar», antwortete Angela.
«Wie alle Frauen, die Sinn für die Künste haben», sagte der Mann aufrichtig, ohne einen Hauch von Schleimerei.
Angela kicherte ob des Kompliments verlegen wie ein Schulmädchen. Schon einen Augenblick später wunderte sie sich über sich selbst: Seit wann kicherte sie wie ein Schulmädchen? Selbst als Schulmädchen hatte sie nicht wie ein Schulmädchen gekichert.
«Ich», sprach der Mann nun weiter, «würde mich außerordentlich freuen, wenn wir beide bald unser Gespräch über Shakespeare fortsetzen könnten. Vielleicht bei einem Glas Rotwein?»
«W… was?», staunte Angela.
«Ich kenne niemanden, mit dem ich mich über Emilia austauschen kann.»
«Ähem, wir könnten uns doch auch jetzt unterhalten», schlug Angela vor. Der Gedanke, sich mit diesem Mann auf ein Glas Wein zu verabreden, kam ihr in etwa so waghalsig vor, wie mit einem Motorrad über den Grand Canyon zu springen.
«Leider ist meine Arbeitspause gleich vorbei», erwiderte Kurt Kunkel – der, wie Angela fand, wirklich besser Jean-Paul Aramis hätte heißen sollen.
«Was arbeiten Sie denn?», fragte Angela.
«Ich habe einen Beruf, bei dem ich mir wünsche, dass wir uns nicht so bald begegnen.»
«Bestatter», lächelte Angela, die rasch eins und eins zusammengezählt hatte.
«Also, Frau Merkel, hätten Sie morgen Abend Zeit, um sich mit mir über Shakespeare auszutauschen?»
Wie sehr wünschte sich Angela ein anregendes Gespräch über ihr Steckenpferd. Und Zeit hatte sie morgen Abend auch. Achim war noch in den Pyrenäen. Was hielt sie also davon ab?
«Leider passt es bei mir morgen nicht.» Sie wollte sich nicht hinter Achims Rücken mit einem Mann verabreden, den sie kaum kannte. So etwas machte man nicht.
«Was haben Sie denn vor?», fragte Aramis freundlich und brachte Angela damit ein wenig aus dem Konzept. Jahrzehntelang hatte ihre Büroleiterin die Anfragen für Termine abgewimmelt, wenn zum Beispiel Viktor Orbán mal wieder anrief. Sie selbst hatte nie zu einer Notlüge greifen müssen. Doch nun gab es weder Angestellte, die für sie schwindelten, noch glaubwürdige Ausreden wie ‹Ich muss den EU-Gipfel vorbereiten›. Daher antwortete Angela nur: «Dies und das.»
«Dies und das?»
«Ja.»
«Und was bedeutet ‹dies und das›?»
«Nun …», war Angela um Worte verlegen.
«Ja?»
«Das und dies.»
«‹Das und dies› bedeutet ‹dies und das›?»
«Exakt», bestätigte Angela und hoffte, dass sie nicht so dumm wirkte, wie sie sich selbst gerade fühlte.
«Wissen Sie was?», fragte Aramis.
«Was?»
«Ich habe Sie durchschaut.»
«Ah ja ...?» Angela wurde mulmig. Warum stellte sie sich nur so dämlich an?
«Auch als Ex-Kanzlerin müssen Sie sich noch mit Staatsangelegenheiten beschäftigen. Und von denen wollen und dürfen Sie mir natürlich nichts erzählen.»
Schön, sie war also doch nicht so einfach zu durchschauen!
«Aber falls Sie morgen doch Zeit finden sollten oder ein anderes Mal, dann rufen Sie mich bitte an.» Aramis zückte sein schwarzes, verbeultes Leder-Portemonnaie aus seiner hinteren Hosentasche und zog eine schlichte, schwarz umrandete Visitenkarte mit der Aufschrift Beerdigungsinstitut Kunkel, seit 1812 heraus. Er überreichte sie Angela, die kurz draufblickte und sagte: «Ein Familienunternehmen?»
«Von Vater zu ältestem Sohn schon seit sechs Generationen.»
«Und wird es eine siebte geben?»
«Das wird sich zeigen.» Für einen kurzen Moment verdüsterte sich seine Miene. Anscheinend, so kombinierte Angela, gab es Schwierigkeiten mit dem ältesten Sprössling. Welcher Natur diese waren, ging sie natürlich nichts an. Für eine Detektivin war Neugierde eine gute Eigenschaft, für eine Privatperson nicht. Sie fühlte sich ein klein wenig schuldig, Aramis die Laune verhagelt zu haben, obwohl dies nicht ihre Absicht gewesen war. Sie wollte es wiedergutmachen, deshalb sagte sie: «Ich bringe Ihnen bei Gelegenheit mal ein Werk von James Shapiro vorbei, darin geht er sämtlichen Theorien nach, wer der Autor von Shakespeares Werken in Wahrheit sein könnte.»
«Das würde mich sehr freuen.» Aramis konnte wieder lächeln.
Mannomann, was für ein Lächeln!
«Kunkel!», dröhnte plötzlich eine Stimme, die ebenfalls klang, als ob jemand sein Leben lang Gauloises geraucht hätte, in diesem Fall hatten die Zigaretten allerdings ihr ungesundes Werk verrichtet und waren dabei von jeder Menge hochprozentigem Alkohol unterstützt worden.
Erneut verschwand das Lächeln aus Aramis’ Gesicht, er wirkte genervt. Angela und er wandten sich um in Richtung Hauptweg. Von dort näherte sich ein Mann mit verschwitztem langem Haar, ungepflegtem Bart und in verdreckter dunkelgrüner Gärtnermontur, die das seltene Kunststück fertigbrachte, an einigen Stellen zu eng und an anderen viel zu weit zu sein. Schwankenden Schritts kam er näher, seine Alkoholfahne hatte sie bereits erreicht. Sein Alter war schwer zu bestimmen, aber Angela dachte, dass dieser Mann bestimmt nur noch wenige Lebensjahre vor sich hatte. Dass dies der letzte Tag seines Lebens sein sollte, konnte Angela zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.
«Kunkel!», brüllte der Gärtner wieder, obwohl er nur noch drei Meter entfernt war.
«Ich nehme an», sagte Angela zu Aramis, «das ist Ihr Arbeitstermin.»
«Ja. Manchmal ist meine Arbeit nicht schön.»
«‹Manchmal›?», entfuhr es Angela, da sie sich nicht vorstellen konnte, dass irgendetwas am Bestatterberuf schön sein konnte.
«Oh ja, es kann erfüllend sein, Angehörigen einen Abschied von einem geliebten Menschen zu bereiten.»
«Selbstverständlich», antwortete Angela etwas beschämt, dass sie nicht selbst darauf gekommen war. Zugleich gefiel ihr, wie ernst Aramis seine Aufgabe nahm, anderen in einem schweren Moment im Leben Trost zu spenden. Es gab viel sinnlosere Berufe als diesen – Oppositionsfraktionsführer zum Beispiel – und nur wenig wertvollere.
«Hey, Kunkel, ich rede mit dir!» Der Gärtner baute sich vor ihm auf, es war ihm völlig einerlei, dass eine Ex-Kanzlerin danebenstand. Er war so in Rage, er hätte wohl auch nicht auf einen Seelöwen reagiert, der ein Meerschweinchen auf seiner Nase balanciert hätte. «Wann zahlst du deine Rechnung?»
«Nie!», funkelte Aramis den Mann zornig an. Angela erschrak ein wenig. Aramis wirkte zwar immer noch wie ein ehemaliger französischer Actionheld, aber nun wie einer, der gleich einen Terroristen vom Wolkenkratzer schubsen würde.
«Wenn du nicht zahlst», raunte der Gärtner, «ramm ich dich unangespitzt in den Boden.»
«Das drohst du Maulheld jedem an», antwortete Aramis nun ganz kühl.
Der Gärtner antwortete nicht, aber er bebte vor Wut.
«Damit kannst du vielleicht andere einschüchtern», redete Aramis mit eisiger Stimme weiter. Angela lief trotz der Hitze ein Frösteln über den Rücken. Dem Gärtner ging es wohl ähnlich, denn er drehte sich um und ging wortlos davon. Als er wieder auf dem Hauptweg war, seufzte Aramis und sackte in sich zusammen. Für einen Augenblick erschien er nicht mehr wie ein ehemaliger Actionstar, sondern wie ein alter Mann, der unter der Last der Jahre und der Welt litt. Angela, die eben noch von seinem Furor erschrocken war, spürte plötzlich Mitgefühl mit ihm. Am liebsten hätte sie Aramis gefragt, ob alles in Ordnung sei, und ihm vielleicht sogar ihre Hand tröstend auf die Schulter gelegt. Aber das wäre unangemessen gewesen. Schweigend stand sie neben ihm und war fast dankbar, als der kleine Adrian Ángel anfing zu weinen. Sie ging zu ihm, ruckelte den Wagen und begann zu singen: «Schlaf, Kindlein, schlaf, der Gärtner ist ein Schaf …»
Da musste Aramis ein wenig lächeln. Und Angela freute es, dass sie ihn aufmuntern konnte. Fast so sehr wie über die Tatsache, dass das Baby schon wieder etwas leiser quäkte. So sang sie weiter: «… die Angela muss weitergehen …»
«Schade», lächelte Aramis, während der Kleine die Äugelein wieder schloss.
«… die Mama will ihr Baby sehen …»
«Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Text so stimmt.»
«Ganz gewiss nicht», sang Angela das Lied zu Ende.
Aramis lachte nun.
Mein Gott, sein Lachen war noch wunderbarer als sein Lächeln!
Angela erschrak über sich selbst. Sie neigte nicht zur Schwärmerei. Solche Gedanken waren ihr fremd, auch dieses Vibrieren im Magen kannte sie nicht. Achims Lachen war natürlich auch wunderbar für sie. Aber eher auf eine süße Weise und nicht so sehr auf eine anziehende und männliche Art.
«Es tut mir leid», sagte Aramis, «dass Sie das eben mitanhören mussten.»
«Sie mussten doch auch meinen Gesang ertragen.»
Wieder lachte er. Und wieder vibrierte es in Angelas Magen.
«Es ist schwer zu erklären, was es damit auf sich hat.»
Als Ermittlerin hätte Angela sofort ‹Versuchen Sie es doch mal› geantwortet, aber sie wollte nicht indiskret wirken. Es war deutlich zu spüren, dass Aramis nicht weiter darüber reden mochte. Ihr Blick fiel auf seine schlichte Armbanduhr, und als sie das Ziffernblatt las, bekam sie einen Schreck: Sie hatte Marie versprochen, schon vor fünfzehn Minuten zu Hause zu sein. Gewiss würde sie sich Sorgen um ihren Kleinen machen.
«Schon in Ordnung», sagte Angela schnell und fügte hinzu: «Ich muss jetzt leider wirklich los.»
«Sie haben ‹leider› gesagt», lächelte Aramis, dieses Mal ganz bewusst charmant.
«Habe ich das?», stammelte Angela.
«Ja, das haben Sie.»
Angela lächelte zurück, brachte aber kein Wort mehr heraus. Deshalb schnappte sie sich den Kinderwagen und ging los.
Aramis rief ihr hinterher: «Sie bringen mir aber bald das Buch vorbei?»
«Ja … selbstverständlich», antwortete Angela, ohne sich umzudrehen.
«Ich freue mich darauf.»
Ohne ein weiteres Wort schob Angela den Kinderwagen in Richtung Ausgang. Sie erwischte sich dabei, wie sie vor sich hinlächelte. Und sich ihrerseits auch darauf freute, Aramis das Buch zu bringen.
Aber sofort meldete sich ihr schlechtes Gewissen: War es überhaupt angemessen, zu einem quasi fremden Mann nach Hause zu gehen, wenn der eigene im Wanderurlaub war? Auch wenn es nur darum ging, ein Buch abzugeben? Zumindest musste sie Achim bei ihrem abendlichen Videotelefonat davon erzählen.
Kaum hatte sie diesen Entschluss gefasst, versetzte sie etwas in Erstaunen: Direkt an dem Weg, der zu dem kleinen See führte, stand ein Grabmal, das aussah wie eine abgeschnittene schwarze Pyramide. Das zentrale Fenster des geschmacklich fragwürdigen Mausoleums war mit einem Mann mit Perücke bemalt. Vor allem verblüfften Angela allerdings die abgebrannten Fackeln, die davor in einer Art Spalier im Boden steckten. Dreizehn Stück, zählte sie. Zwölf bildeten den Weg, und die dreizehnte lag auf der obersten von sechs Treppenstufen, die zum Mausoleum führten. Was für ein dramatisches Arrangement, wunderte sich Angela. Sie sah genauer hin und entdeckte Fußspuren. Hier hatten sich vor Kurzem mehrere Menschen mit Fackeln versammelt. Ein Begräbnis konnte es allerdings nicht gewesen sein, denn der Kaufmann Bengt Jakob Hachert, der der weißen, ein wenig verwitterten Inschrift zufolge hier seine letzte Ruhestätte hatte, war bereits vor Jahrhunderten verstorben. Wer also zündete Fackeln auf einem Friedhof an? Und vor allem: warum?
Ein Rätsel. Kein Mord. Aber immerhin ein Rätsel! Es regte Angelas Neugier an, und sie nahm sich vor, es zu lösen, um sich die Zeit zu vertreiben. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, umzukehren und Aramis dazu zu befragen, aber als sie sich umdrehte, saß er nicht mehr auf der Bank.
Er stand ein paar Meter weiter gemeinsam mit …
… einer wesentlich jüngeren Frau!
Sie war schätzungsweise Mitte dreißig, trug einen schwarzen Hosenanzug und hatte ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Aramis umarmte sie gerade, als ob er sie tröstete. Waren die beiden ein Paar? Selbst wenn, dachte Angela, es sollte ihr völlig egal sein, ob es sich bei der Frau um eine Trauernde handelte, um Aramis’ Freundin oder gar um seine Ehefrau.
Der Bestatter wischte ihr eine Träne aus dem Gesicht. Sie löste die Umarmung und ging eilig davon. Aramis rief ihr noch nach: «Keine Sorge, sie wird nie davon erfahren.» Dabei fuhr er sich selbst mit der Hand über die Augen. Hatte er ebenfalls geweint?
Angela rief sich zur Ordnung: Es ging sie nichts an. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie noch zu einer Rentnerin, die sich vor lauter Langeweile Geschichten über andere Leute zusammenreimte.
Angela hatte inzwischen fast den Ausgang erreicht und beschloss, sich auf das Rätsel des schwarzen Grabmals zu konzentrieren. Das Rätsel des schwarzen Grabmals, kam Angela in den Sinn, das hätte gut der Titel eines Krimis der von ihr hochgeschätzten Dorothy L. Sayers sein können.
Also, wer trug in der Regel Fackeln? Nationalisten! Die hatten daran genauso Freude wie an Stechschritten, Flaggen und albernen Uniformen. Ob der vor Jahrhunderten verstorbene Kaufmann also für Nationalisten eine Bedeutung hatte?
Auf dem Parkplatz hinter dem Friedhof angekommen, wurde Angela erneut von ihrem Rätsel abgelenkt. Denn dort stand der Gärtner zusammen mit einem älteren Mann, der in vielerlei Hinsicht aussah wie das exakte Gegenteil von Aramis. Er trug einen schwarzen Nadelstreifenanzug, hatte eine Rolex am Arm und lehnte an einem Porsche-Cabriolet. Mit seinen nach hinten gegelten Haaren und dem sonnenstudiogebräunten Gesicht konnte man fast glauben, er wäre einem Mafia-Alterswerk von Martin Scorsese entsprungen. Im Gegensatz zu Aramis war dieser Mann nicht in Würde gealtert. Dafür verband die beiden offensichtlich ihre Abneigung gegen den Gärtner. Dieser überreichte ihm gerade ein Polaroidfoto – was darauf zu sehen war, war für Angela aus der Entfernung nicht auszumachen.
Worüber die beiden Männer sprachen, konnte Angela zwar nicht verstehen, da der Motor des Porsche röhrte, aber an seiner Miene war abzulesen, dass er den Gärtner am liebsten …
… ja, unangespitzt in den Boden gerammt hätte.
Nun stieg der Gärtner in einen verdreckten VW Käfer und knatterte davon. Der gegelte Mann brauste mit seinem Porsche ebenfalls vom Parkplatz. Und Angela dachte sich: Auf diesem Friedhof liegen anscheinend ein paar Leichen im Keller.
Flotten Schritts eilte Angela mit dem Kinderwagen durch das Tor des Schlosses Baugenwitz in den Innenhof mit dem wunderschönen Brunnen. Ihre Stirn war von der Hitze schweißbedeckt, aber sie wollte sich auf keinen Fall noch mehr verspäten. Marie machte sich mittlerweile gewiss schon größte Sorgen um Adrian und Mike bestimmt um seine Schutzbefohlene. Garantiert würden die beiden sie gleich fragen, warum sie so spät war. Und dann müsste sie antworten: «Weil ich mich sehr gut mit einem fremden Mann unterhalten und darüber die Zeit vergessen habe.» Darauf würde Marie schelmisch so etwas fragen wie: «Ein fremder Mann? Sah er denn gut aus?» Und dann würde Angela versuchen abzuwiegeln, wie sie es bei den Bundespressekonferenzen zu tun pflegte, wenn Journalisten auf peinliche Fehltritte ihrer Minister hinwiesen. Doch Marie war eine Freundin, und bei ihr könnte Angela nicht einfach mit dem Hinweis auf einen Folgetermin die Fragestunde beenden. Sie konnte nur hoffen, dass Mike das Gespräch unterbrechen würde, um ihr vorzuwerfen, dass Angela sich mit einem Mann unterhalten hatte, der nicht vorher von ihm durchleuchtet worden war. Leider würde sie sich bei dieser Gelegenheit eine Moralpredigt von ihrem Bodyguard anhören müssen, dass man sie eben nicht allein durch den Ort gehen lassen dürfe und er ihr aus Sicherheitsgründen in Zukunft wieder auf Schritt und Tritt folgen werde.
Am liebsten wäre Angela umgekehrt.
Die Kühle der Eingangshalle empfing sie, und augenblicklich ging es ihr wieder besser. Die stechende Sonne hatte ihr auf dem Rückweg zugesetzt. Die Luft hier drin roch zwar etwas muffig, und es stand zu vermuten, dass in etwa so viele Schimmelsporen herumflogen wie in jenem DDR-Plattenbau, in dem sie als Studentin gewohnt hatte. Sie nahm den Korb mit dem schlafenden Baby aus dem Hightech-Wagen, der aussah, als hätte Elon Musk ihn erfunden. Sie war stolz, dass sie mittlerweile mit der komplizierten Vorrichtung gut zurechtkam. Dann drückte sie ihren Rücken durch und ging durch die Schlosshalle, entschlossen, das Gespräch mit Aramis als das darzustellen, was es war: eine ganz normale zufällige Bekanntschaft, die man als normaler Mensch halt so macht. Und wenn jemand kontern würde, dass sie kein normaler Mensch sei, gäbe es eine wunderbare, philosophische Diskussion darüber, ob Ex-Kanzlerinnen, die Mordfälle lösten, normale Menschen sein könnten. Wunderbar würde diese Diskussion einzig und allein aufgrund des Umstands sein, dass sie dann keine weiteren Fragen über den fremden Mann würde beantworten müssen.
Marie hatte sich ihr neues Wohnzimmer im Westflügel eingerichtet. Die junge Mutter wollte verständlicherweise nicht den Wohnbereich des kürzlich ermordeten Ehepaars Baugenwitz beziehen. Überhaupt hatte sie kein großes Interesse an all den hohen und großen Räumen, in denen man – wie sie sich ausdrückte – Basketballturniere austragen könnte. Stattdessen hatte sie sich eine kleine gemütliche Dachbodenkammer, in der vormals Dienstboten gewohnt hatten, als Schlafzimmer ausgesucht und einen angrenzenden Raum zu ihrem Wohnzimmer gemacht. Den einzigen Luxus, den Marie sich neben dem hochmodernen Kinderwagen geleistet hatte, war ein gigantischer Flachbildfernseher. Auf dem wollte sie ihr Kind, wenn es etwas größer war, in die Welt der Kultur einführen: von Frozen über Toy Story bis hin zu Star Wars. Angela mochte die junge Mutter wirklich sehr, aber ihr Verständnis von Kultur war ein gänzlich anderes. Letzte Woche hatte sie den Versuch unternommen, Marie die Oper Elektra nahezubringen, doch schon nach wenigen Minuten hatte ihre Freundin auf die dicke Opernsängerin gedeutet und entsetzt gefragt: «Jault die Alte jetzt vier Stunden so weiter?»
Angela nahm die letzte knarzige Treppenstufe nach oben, ging auf die alte Holztür zu, atmete noch einmal tief durch, öffnete die Tür und stellte fest: Weder Marie noch Mike beachteten sie. Die schwarze Frau lag schlafend auf einem alten Sofa, das vermutlich bereits 1963 durchgewetzt gewesen war. Sie schlief den Schlaf einer Mutter, die noch etwa 217 Stunden Nachtruhe allein aus diesem Monat nachzuholen hatte. Vor ihr auf dem Boden schnarchte Angelas Mops vor sich hin. Und Mike hatte sein Jackett abgelegt, die weißen Hemdsärmel hochgekrempelt und schraubte hoch konzentriert eine Wiege zusammen, deren Einzelteile er zuvor zurechtgezimmert hatte. Er besaß ein beneidenswertes handwerkliches Geschick. Angela selbst hatte mit ihrem Mann Achim gleich am zweiten Tag in Klein-Freudenstadt versucht, ein kleines Buchregal von Ikea namens Snorre für Achims neues Arbeitszimmer aufzubauen. Am Ende hatten sie eine Konstruktion erschaffen, die man beachtlich hätte finden können, wenn man sich für abstrakte Kunst interessierte. Sieben Schrauben waren übrig geblieben, zwei Bretter und irgendein Gummiding, das nicht eindeutig zu identifizieren war, aber vage unanständig aussah.
Angela legte das schlafende Baby vorsichtig der Mutter auf den Bauch. Es würde noch ein wenig dauern, bis es Hunger bekommen würde. Mike stand auf und bedeutete ihr, nach draußen auf den Gang zu treten. Jetzt würde sie sich doch noch ihre Standpauke für die Verspätung abholen. Merkwürdig, dachte Angela, der Personenschützer war ihr zwar unterstellt, aber er schien ihr mehr zu sagen zu haben als sie ihm.
Als der große Mann leise die Tür hinter sich geschlossen hatte, fragte er: «Wäre es okay für Sie, wenn ich noch ein bisschen bleibe?»
Das entsprach so gar nicht dem, was Angela erwartet hatte.
«Ich würde die Wiege gerne noch zu Ende bauen, und ich habe noch einen Heizstrahler, den ich über dem Wickeltisch anbringen möchte.»
«Einen Heizstrahler? Bei der Hitze?»
«Es kommen ja auch wieder andere Temperaturen.»
Ganz offensichtlich war bei Mike, dessen eigene Tochter weit weg bei der geschiedenen Ehefrau in Kiel wohnte, der Nestbautrieb ausgebrochen. Er war nun mal der Personenschützer mit dem größten Herzen in der ganzen Welt.
«So ein Heizstrahler ist doch wichtig für Babys», setzte er nach, nur um sich gleich selbst zu korrigieren: «Verzeihung, das können Sie ja nicht wissen.»
Angela blickte ihn indigniert an.
«Ich meine, weil Sie keine Kinder haben», begann Mike nervös zu stammeln.
«Das habe ich mir schon gedacht.»
«Aber das ist ja auch gar nicht schlimm …», stammelte er noch mehr.
«Vielen Dank», sagte Angela spitz.
«Vielleicht sollte ich lieber den Mund halten?»
«Ein exzellenter Vorschlag.»
«Dann werde ich das jetzt auch tun.»
«Fein.»
«Ich wollte nicht indiskret sein.»
«Gut.»
«Es geht mich ja auch nichts an.»
«Genau.»
«Und warum Sie keine haben, geht mich auch nichts an …»
«Mike?»
«Ja.»
«Für jemanden, der den Mund halten wollte, reden Sie ziemlich viel.»
«Das ist wahr.» Mike wurde knallrot. «Ich werde nichts mehr sagen.»
«Und noch mal: Fein.»
«Und ich schwöre, ich werde auch mit niemandem je wieder darüber reden.»
«Sie haben darüber mit anderen geredet?» Angela war fassungslos.
«Na ja», Mike begann sich zu winden, «Sie kennen doch Silvio von Haar Kreativ?»
«Ja, leider …»
«Und der hat mich darauf angesprochen, warum Sie keine Kinder haben, und ich habe ihm gesagt, dass ich das nicht weiß und es mich auch nichts angeht, aber er fing an zu spekulieren, woran es liegen könnte. Seine Vermutung ist, dass Sie …»
«MIKE!»
Mike presste die Lippen zusammen und sah sie erschrocken an.
Angela sagte nur: «Auf Wiedersehen. Und bringen Sie nachher Pupsi mit», und ging.
«Aupf Fmiederfehen», antwortete Mike mit vom unsichtbaren Reißverschluss verschlossenen Lippen.
Angela stieg die knarzende Treppe wieder hinab und dachte dabei darüber nach, dass es ihr eigener Entschluss gewesen war, keine Kinder zu bekommen. Sicher, über die Jahre waren ihr hin und wieder Zweifel gekommen, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, doch in den letzten turbulenten Jahrzehnten als Kanzlerin hatte Angela sich über dieses Thema keinerlei Gedanken mehr gemacht. Dank Mike und Friseur Silvio fragte sie sich das erste Mal seit langer Zeit wieder, ob sie in ihrem Leben auch wirklich alles richtig gemacht hatte. Das war nun mal das Dumme an der Rente: Man hatte plötzlich viel zu viel Zeit, um über Dinge zu grübeln, die einem sonst nie in den Sinn gekommen wären. Mein Gott, wie sie sich nun wünschte, es gäbe einen Mord, der sie nicht nur von der Langeweile, sondern auch von solchen Gedanken fernhalten würde. Am besten ein Mord an Silvio, dachte sie lächelnd.
Angela saß in ihrem Ohrensessel im Wohnzimmer ihres kleinen Fachwerkhauses, blickte auf das iPad in der Hand und wartete auf den allabendlichen Facetime-Call mit ihrem Mann, der sich um fünf Minuten verzögern würde. Achim hatte gerade eben getextet, dass er von einem Insekt gestochen worden war und sich noch mit Salbe einreiben musste. Angela überlegte, ob sie die Wartezeit lesend, vielleicht mit dem Buch über Emilia Bassano, überbrücken sollte, das Aramis auf der Friedhofsbank gelesen hatte. Ein Exemplar davon stand ja auch in ihrer Bibliothek.
Aramis.
Wenn sie schon mal am iPad war, konnte sie nachschauen, was im Netz über ihn zu finden war. Ein bisschen surfen war ja noch kein Cyberstalking, oder? Nein, das war es bestimmt nicht!
Angela gab seinen echten Namen Kurt Kunkel in die Suchmaske ein und fügte noch Klein-Freudenstadt hinzu. Sie erhielt lediglich drei Suchtreffer. Oben in der Liste stand die Webseite seines Beerdigungsinstituts. Angela klickte auf den Link. Die Homepage wirkte, als ob sie das letzte Mal in den 90ern überarbeitet worden wäre. Zu sehen war ein altes Polaroidfoto, das den vielleicht 25 Jahre jüngeren Aramis mit einer Frau mit blonden Locken zeigte, die einen roten 90er-Jahre-Blazer mit extrem hohen Schulterpolstern trug, wie sie Blazer-Fan Angela in der damaligen Zeit auch gerne getragen hätte, sich aber nicht getraut hatte. Die beiden wirkten glücklich miteinander. Darunter stand: ‹Das Ehepaar Kunkel ist immer für Sie da!›
Aramis war also ein verheirateter Mann. Der zudem noch eine viel jüngere Frau auf dem Friedhof im Arm hielt.
Angela seufzte. Gleich darauf erschrak sie: Warum seufzte sie? Um nicht mal ansatzweise darüber nachzudenken, klickte sie schnell den nächsten Suchtreffer an. Es handelte sich um einen Zeitungsartikel aus dem hiesigen Käseblatt, der vor drei Monaten erschienen war. Das Foto zeigte Aramis und den gegelten Porschefahrer. Die Herren sahen aus, als ob sie jeden Augenblick versuchen würden, dem anderen ein Ohr abzubeißen. Aus dem Artikel ging hervor, dass sie vor langer Zeit mal Partner im Beerdigungsgeschäft gewesen waren, bis sich der Porschefahrer namens Ralf Borscht von Aramis getrennt hatte, um Discount-Begräbnisse anzubieten.
Die Lokalzeitung hatte die beiden zu einem Streitgespräch zum Thema ‹Bestattungen – traditionell oder preiswert?› eingeladen. Darin kam Aramis als Ewiggestriger rüber, der Begräbnisse noch so durchführte wie vor 50 Jahren, während Ralf Borscht sich bemühte, als moderner, zukunftsorientierter Bestatter zu erscheinen. Aramis warf Borscht vor, dass es ihm nur darum ginge, die Verstorbenen in möglichst kostengünstigen, oftmals mit Schadstoffen belasteten Holzsärgen unter die Erde zu bringen. Borscht hingegen erklärte, dass seine Tochter das Institut im nächsten Jahr übernehmen werde und es dann mit Sicherheit das einzige Institut in Klein-Freudenstadt wäre, denn Aramis wäre gewiss bis dahin endgültig pleite.
Aramis tat Angela leid: vom ehemaligen Geschäftspartner für seine Werte verhöhnt und offenbar in finanziellen Nöten. Und dann war da noch die Sache mit seinem Sohn, die er in ihrem Gespräch hatte durchblicken lassen.