Mister Bloomsbury - Louise Bay - E-Book

Mister Bloomsbury E-Book

Louise Bay

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Beschreibung

Als Boss ist er unausstehlich, aber privat unwiderstehlich

Arrogant, unfreundlich, kalt. So beschreiben selbst seine besten Freunde Andrew Blake. Auch Sofia Rossi kann ein Lied davon singen. Als seine neue persönliche Assistentin kann sie ihm nichts recht machen. Manchmal fragt sie sich, ob im attraktiven Körper ihres Chefs überhaupt ein Herz schlägt. Als Sofia am Feierabend im Pub genau diese Frage mit dem Barkeeper diskutiert, steht Andrew plötzlich hinter ihr - und hat jedes Wort mitangehört. Sie rechnet schon mit der Kündigung, doch erstaunlicherweise hat dieser Mann außerhalb des Büros nichts mit ihrem unausstehlichen Boss gemeinsam. Und sosehr Sofia sich auch dagegen wehrt, will sie diese andere Seite an ihm unbedingt kennenlernen ...

"Louise Bay schafft es immer wieder, mich in ihre Geschichten reinzuziehen und sie für mich unvergesslich zu machen." LOVELYBOOKSANDTRAVEL

Band 5 der MISTER-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Louise Bay

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Seitenzahl: 395

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

Epilog

Die Autorin

Die Romane von Louise Bay bei LYX

Leseprobe

Impressum

LOUISE BAY

Mister Bloomsbury

Roman

Ins Deutsche übertragen von Anne Morgenrau

ZU DIESEM BUCH

Arrogant, unfreundlich, kalt. So beschreiben selbst seine besten Freunde Andrew Blake. Da ist es kein Wunder, dass es seine Angestellten nicht lange mit ihm aushalten. Auch seine neue persönliche Assistentin, die junge Amerikanerin Sofia Rossi, scheint ihm nichts recht machen zu können. Obwohl sie sich körperlich zu ihrem attraktiven Boss hingezogen fühlt, fragt sie sich manchmal, ob in seiner Brust überhaupt ein Herz schlägt. Als sie nach einem besonders schlimmen Arbeitstag genau diese Frage im Pub mit dem Barkeeper diskutiert, steht Andrew plötzlich hinter ihr – und hat jedes Wort mitangehört! Sofia rechnet mit der Kündigung und verfällt in Panik, denn sie braucht den Job unbedingt, um für die dringend notwendige Operation ihrer Mutter zu sparen. Doch erstaunlicherweise hat Andrew außerhalb des Büros nichts mit dem arroganten Chef gemeinsam. Er wirkt völlig ausgewechselt, ist charmant und zuvorkommend. Sosehr Sofia sich auch dagegen wehrt, will sie diese Seite an ihm besser kennenlernen …

1. KAPITEL

SOFIA

Bislang ähnelte London in vielerlei Hinsicht New York, abgesehen von Moms Fleischbällchen am Sonntag. Natürlich gefielen mir die roten Busse und auch der Akzent, aber manche Probleme verschwinden nicht einfach, indem man einen Ozean überquert. Ich hatte noch immer keine eigene Wohnung, keine Ersparnisse für den Notfall, und ja, nicht einmal einen Job. Nur dass mir jetzt britische Pfund anstelle von Dollarnoten fehlten.

Aber ich musste mich auf das Positive konzentrieren. Ich war in London, dem Land von Mary Poppins. Der Heimat von Battenberg-Kuchen und Tee, dem Reich von Prinzen und Palästen.

Obwohl ich mich danach sehnte, auszugehen und in einer schicken Bar einen Cocktail zu trinken oder die Parks und Museen zu erkunden, verbrachte ich den Großteil meiner Zeit auf der Couch meiner besten Freundin und suchte im Internet nach Jobs. Meine Gehaltsvorstellungen aus der Zeit, als ich noch mit den Kommilitonen aus dem Studium des Master of Business Administration in den Hörsälen der Columbia University saß, hatte ich längst heruntergeschraubt. Einige Studierende hatten bereits während des Studiums einen Job gefunden, aber die meisten waren noch auf der Suche. Die Zahl der Studis ohne Anstellung wurde immer kleiner, je näher wir auf den Abschluss zusteuerten, und McKinsey, Bain und Google hatten sich die Jahrgangsbesten herausgesucht. Als wir mit unseren Umhängen und Doktorhüten für die Erinnerungsfotos posierten, hatten nur etwa fünf Prozent meines Jahrgangs noch kein Angebot bekommen.

Ich gehörte zu diesen fünf Prozent.

Ich klappte den Laptop zu und atmete tief durch, so wie es mir meine Meditations-App riet, um Panikattacken zu vermeiden. Zwei der vorgeschriebenen vier Atemzüge hatte ich bereits absolviert, da kam die Besitzerin der Couch, auf der ich derzeit übernachtete, zur Tür hereingestürmt. Außerdem war Natalie seit fünfzehn Jahren meine Freundin. Sie knallte die Tür zu, ließ ihre wunderschöne moosgrüne Tasche von Mulberry fallen und kickte sie über den Boden. Und noch einmal.

Dafür gab es nur eine Erklärung: Andrew Blake.

»Was hat er jetzt wieder angestellt?«, fragte ich und räumte meine Papiere zur Seite, um ihr Platz auf der Couch zu machen.

Sie verpasste der Tasche einen weiteren Tritt und stieß einen Schrei aus.

Wow. Offenbar hatte sich ihr Boss als noch größeres Arschloch erwiesen als ohnehin schon, und das wollte etwas heißen. Wenn sie mir beschrieb, wie mies er mit ihr umging, schien er Prinz William und sie ein Küchenmädchen zu sein. Wenn er überhaupt mit ihr sprach. Anscheinend sagte er manchmal tagelang kein Wort. Ich stand auf und ging zum Kühlschrank. Natalie brauchte keine Atemübungen, sie brauchte Wein.

Ich stellte zwei Gläser auf die Arbeitsplatte – schließlich konnte ich sie nicht allein trinken lassen. Sie brauchte dringend moralische Unterstützung. Ich warf einen Blick auf die Uhr: kurz nach drei.

Drei Uhr nachmittags. Natalie kam sonst nie vor acht nach Hause.

»Nat?« Ich rannte in den Korridor, wo Natalie inzwischen von ihrer Tasche abgelassen hatte und jetzt ihren Mantel traktierte. »Warum bist du so früh zu Hause?«

»Ich brauche Alkohol. Sofort!«

Verdammt, hatte dieser Idiot sie gefeuert?

Ich ging zurück in die Küche und goss beide Gläser voll, egal wie spät es war.

Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, hatte sich Natalie auf die Couch fallen lassen und starrte mit glasigen Augen vor sich hin.

Ich drückte ihr ein Glas in die Hand, nahm neben ihr Platz und schlug die Beine übereinander. »Erzähl mir, was passiert ist.«

Sie schüttelte den Kopf wie ein verwirrter Welpe. Als hätte sie jetzt erst bemerkt, dass sie ein Glas Wein in der Hand hielt, nahm sie einen großen Schluck. »Mir reicht’s. Er hat gestern den ganzen Tag nicht mit mir gesprochen, und heute Morgen auch nicht. Als ich ihn gefragt habe, ob er sich den Bericht angesehen hat, den ich erstellt hatte, hat er mich einfach ignoriert. Und als ich aus der Mittagspause kam, ich war noch im Mantel, kam er aus seinem Büro gestürmt und motzte mich an, weil …« Sie verstummte. »Weißt du, ich habe keine Ahnung, was sein Problem war … abgesehen von seiner schweren Persönlichkeitsstörung und der Tatsache, dass er das sturste Arschloch ist, das mir jemals begegnet ist. Und das will was heißen, schließlich bin ich in New Jersey aufgewachsen.«

»Du hast keine Ahnung, warum er wütend war?«

»Nein. Und das Schlimmste ist, dass er nicht schreit oder brüllt. Wenn ich sage, dass er mich anmotzt, dann meine ich … na ja, er macht es auf diese unverwechselbare Andrew-Blake-Art. Er ist plötzlich ganz still, seine Augen werden immer dunkler, und dann senkt sich seine Stimme um zwei Oktaven. Als wäre er besessen. Es ist schrecklich.«

Ihre Beschreibung ließ mich schaudern. »Wie seltsam, dass solche Männer derart erfolgreich sind. Warum können sie sich nicht einfach ganz normal benehmen? Selbst wenn sie in ihrem tiefsten Inneren Psychopathen sind, könnten sie wenigstens so tun, als wären sie normale Mitglieder unserer Gesellschaft.«

»Ich bin fertig mit ihm. Ich kann nicht mehr, sechsstelliges Gehalt hin oder her. Ich habe ihm gesagt, er soll sich den Job sonst wohin schieben, und bin gegangen.«

»Gut gemacht«, sagte ich. Einerseits meinte ich es ernst, andererseits fragte ich mich, ob Natalie genug Ersparnisse hatte, um die Miete zu zahlen, bis sie einen neuen Job finden würde. Und dann ging mir auf, was sie gerade gesagt hatte. »Sechsstelliges Gehalt? Du meinst sechsstellig in dem Sinne, dass er dir über einhunderttausend Dollar im Jahr gezahlt hat?«

»Pfund«, antwortete sie. »Einhundertzwanzigtausend, um genau zu sein. Aber nicht mal zweihunderttausend wären genug, um diesen krassen Misttypen noch länger zu ertragen.«

Einhundertzwanzigtausend Pfund? Ich rechnete den Betrag im Kopf in Dollar um. Das waren über einhundertfünfzig Riesen im Jahr. »Und worin genau bestand dein Job?«, fragte ich.

Sie stöhnte. »Darin, alles zu tun, was Andrew Arschloch Blake von mir verlangte.«

»Und das heißt? Drück dich mal ein bisschen genauer aus.« Unsere Gespräche hatten sich immer nur darum gedreht, dass ihr Chef ein Arschloch war, aber ich hatte nie genau verstanden, was sie eigentlich tat. »Hast du ihm Kaffee gekocht?«

Sie seufzte. »Weißt du was? Das war das Einzige, das ich nicht gemacht habe. Ich habe auch nie seine Wäsche aus der Reinigung geholt oder private Termine für ihn gemacht. Also niemals etwas Persönliches. Es war, als hätte er überhaupt kein Privatleben. Als wäre er ein Roboter oder so. Ein dummer, unverschämter Roboter.«

Die meisten Assistenzstellen, die ich kannte, hatten eine Menge mit Kaffeekochen und Besuchen in der Reinigung zu tun. Eine Freundin von mir musste für ihren Boss sogar einmal mit dessen Freundin Schluss machen. Wie konnte Andrew ein mieser Chef sein, wenn er Berufliches und Privates strikt trennte und ihr einhundertfünfzigtausend Dollar im Jahr zahlte?

Ich bin in New York mit einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen, die drei Jobs hatte … oder zweieinhalb, falls meine Mitarbeit bei der Wochenendreinigung der Büros über der CVS-Apotheke an der 113th Street/Ecke Broadway zählte. Für einhundertfünfzig Riesen würde ich mich mit einem unfreundlichen, anspruchsvollen und verwöhnten Boss einfach abfinden. Verdammt, dafür würde ich mich sogar um seine Wäsche kümmern!

»Und du gehst definitiv nicht mehr zurück?«, fragte ich.

»Auf keinen Fall«, sagte sie und nahm noch einen Schluck Wein. »Kommt überhaupt nicht in Frage.«

»Schlaf lieber noch mal drüber«, sagte ich, während mein Gehirn nach dem richtigen Zeitpunkt suchte, um sie zu fragen, ob sie mir diesen Job zutrauen würde.

»Ich habe jetzt drei Monate lang jede Nacht darüber geschlafen. Ich kann nicht mehr. Habe ich dir erzählt, dass meine Vorgängerin in dieser Position nur einen Tag durchgehalten hat? Ach was, nicht mal einen Tag lang … sie kam einfach nicht aus der Mittagspause zurück.«

»Es war eine stramme Leistung von dir, so lange durchzuhalten. Aber einhundertzwanzigtausend Pfund sind eine Menge Geld.«

Natalie blickte auf meinen Laptop und fragte: »Immer noch nichts?«

»Nein.« Jobs waren Mangelware. »Aber es wird schon. Und wir sind ja nicht hier, um über meine Jobsuche zu reden.«

»Nein, jetzt können wir über meine Jobsuche reden.«

Ich bedachte sie mit einem solidarischen Lächeln, das besagte: »Tut mir leid.«

»Ach, macht nichts. Morgen früh bin ich vermutlich erleichtert, dass ich mich mit diesem Idioten nicht mehr herumschlagen muss.«

Es gab keinen besseren Zeitpunkt als diesen. Wenn sie sich absolut sicher war, dass sie den Job nicht mehr wollte, musste ich den Stier hier und jetzt bei den Hörnern packen. »Okay … Wenn das so ist, würde ich dich gern fragen … ob du mich für geeignet hältst, den Job als Andrew Blakes Assistentin zu übernehmen?«

Natalies riss ihre wunderschönen Kulleraugen auf. »Du. Willst. Meinen. Job?«

»Natürlich nicht, solange es noch dein Job ist. Aber wenn du damit fertig bist … wenn du es wirklich und wahrhaftig nicht mehr aushältst, wäre es dann nicht einen Versuch wert?«

Natalie rutschte auf dem Sofa zur Seite und griff mit der freien Hand nach meiner Schulter. »Nein, Sofia. Es ist keinen Versuch wert. Er ist schrecklich, absolut furchtbar. Und weißt du, womit dieser Typ seinen Lebensunterhalt verdient? Im Grunde genommen zerstört er das Leben anderer Menschen. Und du würdest ihm dabei helfen. Nein, das ist es nicht wert.«

Ich liebte Natalie. Aber sie war in einem wohlhabenden Vorort von New Jersey aufgewachsen. Nicht reich genug für einen Treuhandfonds, aber definitiv wohlhabend genug, um nicht auf ein Studiendarlehen angewiesen zu sein und sich eine super Krankenversicherung leisten zu können.

Seit Natalie und ihr Bruder auf der Welt waren, hatte ihre Mutter keinen Job mehr gehabt – und schon gar nicht drei. Ich nahm Natalie ihre Herkunft keinesfalls übel. Aber es war eine Tatsache, dass sie keine Ahnung hatte, wie es war, wirklich verzweifelt zu sein.

»Natalie, ich bin fast pleite. Wenn es so weitergeht, kehre ich mit weniger nach New York zurück, als ich beim Aufbruch in der Tasche hatte. Und wenn ich nach Hause komme, braucht meine Mutter immer noch ein künstliches Knie, das ich nicht bezahlen kann. Und mit meinem Vater bin ich über belanglose Telefonate noch nicht hinausgekommen. Ich bin hart im Nehmen, Natalie, und ich bin mir sicher, dass ich ein paar Monate mit Andrew Blake aushalten kann. Wenigstens, bis ich etwas Besseres finde.«

Sie senkte den Blick, als hätte ich ihr gerade mitgeteilt, dass ihre Katze gestorben ist.

»Aber ich meine es ernst: Ich bewerbe mich nur um den Job, wenn du wirklich damit fertig bist.«

Sie seufzte. »Ganz ehrlich? Ich würde fast lieber selbst wieder hingehen, als dich diesem Horror auszusetzen. Aber ich glaube, ich ertrage keinen einzigen Tag mehr mit diesem Typen.«

Ich war mir sicher, dass ich Andrew Blake einen Tag lang ertragen konnte. Ich war mir auch sicher, dass ich es drei Monate lang schaffen würde. Vielleicht sogar ein ganzes Jahr. Was auch immer nötig war, um so lange in London zu bleiben, dass ich eine Art von Beziehung zu meinem Vater aufbauen und das Geld für die Knie-OP meiner Mutter auftreiben konnte. Ich würde mich einfach zusammenreißen müssen.

2. KAPITEL

SOFIA

Der Himmel spannte sich wie ein riesiges schwarzes Tuch über die große Stadt. Hätte die Dunkelheit es nicht verraten, hätte spätestens die kalte Märzluft mehr als deutlich gemacht, dass es viel zu früh war, um vor den Büros von Blake Enterprises zu stehen und zu warten.

Es war Viertel nach fünf am Morgen.

Natalie hatte erzählt, dass sie einmal um sechs ins Büro gekommen war und Andrew ausgesehen hatte, als hätte er sich schon länger dort aufgehalten. Ich musste ihn erwischen, ehe er das Gebäude betrat. Natalies Erzählungen zufolge hatte ich andernfalls kaum eine Chance, ihn zu erreichen. Deshalb wartete ich bereits seit zwanzig Minuten auf ihn.

Als ich Natalie endlich davon überzeugt hatte, dass es nicht weiter schlimm war, wenn ich mich um ihren bisherigen Job bewarb, hatte sie mir ein Bild von Andrew gezeigt, damit ich wusste, wen ich auf offener Straße ansprechen musste. Anfangs glaubte ich, sie hätte das falsche Bild hervorgeholt. Wie konnte jemand, der dermaßen gut aussah, ein solches Arschloch sein? Er sah besser aus als alle männlichen Mitglieder der Avengers zusammen. Es war, als hätte jemand die Haare, das Kinn und das typische Grinsen von John Kennedy Junior auf den Körper von Chris Hemsworth gepflanzt. Bei allen Heiligen, selbst wenn ich keinen Job von dem Kerl gewollt hätte, wäre ich liebend gern um fünf Uhr morgens vor seinem Büro aufgekreuzt, nur um einen Blick auf ihn zu erhaschen.

Ich reckte mich auf die Zehenspitzen und versuchte, am Ende der Straße ein Paar Scheinwerfer zu erblicken, die auf mich zukamen. Nichts. Nicht einmal ein Lieferwagen. Auf der anderen Straßenseite lief ein Jogger in meine Richtung. Er trug einen grauen Hoodie, die Kapuze verdeckte sein Gesicht. Ein vorbeifahrendes Auto beanspruchte meine Aufmerksamkeit, und als ich erneut zu dem Läufer schaute, kam er über die Straße auf mich zu.

Adrenalin schoss durch mich, und ich holte mein Handy heraus. Fuck. Ich war allein hier draußen. Gerade wollte ich Natalie anrufen, da blieb der Jogger stehen und nahm die Kapuze ab.

Dieses attraktive Gesicht hatte ich schon einmal gesehen.

»Andrew Blake?« Eigentlich war die Frage überflüssig, denn die Antwort lag offen zutage. Sein John-Kennedy-Junior-hat-ein-Baby-mit-Chris-Hemsworth-Look war nicht zu übersehen. Nur das Grinsen fehlte … zum Glück, denn sonst wäre meine Vagina in Flammen aufgegangen. In Fleisch und Blut war dieser Mann noch umwerfender als auf dem Bild.

Auf meine Frage hin wandte er den Kopf, und unsere Blicke trafen sich. Sein missbilligendes Stirnrunzeln schien durch meinen Mantel zu dringen und mich direkt zwischen den Schenkeln zu treffen. Er sah immer noch heiß aus, auch wenn er den Eindruck machte, als würde er mich gleich beißen.

»Ich bin Sofia Rossi«, sagte ich und streckte die Hand aus.

»Und?« Anstatt mir die Hand zu schütteln, holte er einen Schlüsselbund heraus und schloss die graue Tür auf, vor der ich gewartet hatte.

»Ich habe einen Abschluss von der Columbia University. Ich arbeite hart. Ich bin kreativ, organisiert und superflexibel. Und ich möchte Ihre Assistentin sein.«

»Sie sind Amerikanerin«, sagte er und spuckte die Worte aus, als wäre eine amerikanische Assistentin das Schlimmste, das er sich vorstellen konnte.

»Ich komme aus New York. Ich bin knallhart und zu allem bereit.«

Er drehte den Schlüssel im letzten Schloss um. »Kein Interesse«, sagte er, öffnete die Tür und ging ins Haus.

Aber so leicht gab ich nicht auf. Ich erwischte die Tür, kurz bevor sie zufiel, und folgte ihm die Treppe hinauf, wobei ich einen Blick auf den Fahrstuhl warf und mich wunderte, warum wir ihn nicht benutzten.

Wie kam es eigentlich, dass Männerhintern in Laufhosen immer gleich um dreißig Prozent besser aussahen? Nur mit Mühe gelang es mir, nicht die Hand auszustrecken und zu überprüfen, ob seine perfekten Pobacken tatsächlich so steinhart waren, wie sie aussahen. »Ich habe gehört, dass Ihre Assistentin gekündigt hat. Wenn Sie mich einstellen, ersparen Sie sich den Ärger, eine neue suchen zu müssen.«

Er schwieg.

In der ersten Etage blieben wir stehen. Andrew bückte sich, um das untere Schloss an der Glasdoppeltür aufzuschließen.

»Ich bin hier und kann sofort anfangen.«

Er ignorierte mich immer noch, entriegelte das obere Schloss, öffnete die Türen und schaltete das Licht ein. Ein heller, weißer Empfangsbereich wurde sichtbar. Ich sah mich um und betrachtete die sauberen, modernen Sessel, die aussahen, als hätte noch nie jemand in ihnen gesessen.

»Ich bin Frühaufsteherin und …«

Andrew ging nach links in ein kleines Büro, das für einen schwanzgesteuerten Vernichter von Existenzen ziemlich klein wirkte, aber als ich ihm folgte, bemerkte ich, dass hinter dem Schreibtisch eine weitere Tür war, auf die er nun zusteuerte.

Er verschwand dahinter und schlug mir die Tür vor der Nase zu.

Okay, das hätte besser laufen können.

Aber wenigstens war ich in seinem Büro. Und er versuchte nicht, mich aus dem Gebäude hinauszukomplimentieren.

Ich lehnte mich im Vorzimmer an einen Tisch und entdeckte Natalies himbeerfarbenen Kaschmirschal an der Garderobe dahinter. Bei diesem Gehalt konnte sie sich Kaschmir durchaus leisten. Geld, das ich gut gebrauchen konnte, um von ihrer Couch in eine eigene Wohnung umzuziehen. Ich würde mich von Andrew Blakes schlechter Laune nicht abschrecken lassen. Auf keinen Fall.

Ich nahm hinter dem Schreibtisch Platz, schaltete den Computer ein und warf einen Blick auf die Papiere auf dem Schreibtisch. Einige davon waren mit verschnörkelten Zeichnungen bedeckt, die bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einem Cartoon hatten, in dem Natalie ein übertrieben großes Küchenmesser in der Hand hat. Es gab einen kleinen Stapel Berichte über eine Illustrierte namens Verity Inc. Unter dem Stapel lag ein Kalender. Wie reizend. Ich schlug ihn auf und fand die aktuelle Seite. Offenbar hatte Andrew am Vormittag keinen einzigen Termin. Was machte er dann um diese Uhrzeit im Büro?

Ich beschloss, zu bleiben, bis er wieder herauskam und ich ihn davon überzeugen konnte, dass es seine beste Entscheidung der Woche sein würde, mich einzustellen.

Ich stand auf, zog meinen Mantel aus, hängte ihn neben Natalies Schal, holte ein Notizbuch aus meiner Tasche und begann mich umzusehen. Als Erstes würde ich hier aufräumen. Nicht dass es unordentlich war, aber da der Eingangsbereich aussah, als könnte man dort bedenkenlos eine Organtransplantation durchführen, nahm ich an, dass Andrew es mochte, wenn alles perfekt war. Ja, ich würde ihm zeigen und nicht nur behaupten, dass ich sehr hilfreich sein konnte. Ich würde ihm beweisen, dass ich mir für keine Aufgabe zu schade war.

Ich begann den Schreibtisch aufzuräumen. Ich nahm Natalies Kaffeetasse und ging in die Küche. Sie war absolut makellos. Ich stellte die Tasse in die Spülmaschine, nahm mir eine frische Tasse und machte mir einen Kaffee. Irgendetwas sagte mir, dass es ein Marathon werden würde, Andrew zu überzeugen, und kein Sprint. Einen Moment lang dachte ich darüber nach, auch ihm einen Kaffee zu machen, aber er schien mir nicht der Typ dafür. Bei dem Körper nahm er wahrscheinlich nur Gletscherwasser und Proteindrinks zu sich.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um und erblickte einen Mann, der mich mitleidig ansah, als wäre ich ein verirrtes Schulmädchen. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich stand an einem Scheideweg.

So schnell ließ ich mich nicht unterkriegen, aber es fiel mir immer schon schwer, eine glaubwürdige Geschichte zu erfinden, selbst wenn es um eine lebenslange Versorgung mit Cannoli von Ferrara ginge. Das war auch der Grund, warum ich eine Zeit lang am Samstagmorgen zusammen mit meiner Mutter Mülleimer ausgeleert hatte, anstatt zu tun, was normale achtjährige Mädchen am Wochenende tun. Ich hatte behauptetet, mit den Mathe-Hausaufgaben fertig zu sein, aber meine Mutter erkannte aus einer Meile Entfernung, dass ich log, und deshalb waren meine Samstagvormittage für die nächsten fünf Jahre zum Teufel. Prompte und strenge Bestrafung war schon immer der Stil von Mamma Rossi gewesen.

Aber in diesem Augenblick hieß es: Friss oder stirb. Ich brauchte diesen Job, und ich war kein Kind mehr.

»Guten Morgen«, sagte ich, als wären der Fremde und ich alte Bekannte. Ich strahlte ihn an. »Ich bin Sofia, Andrews neue Assistentin. Ich habe den Job von Natalie übernommen.« War es eigentlich eine Lüge, wenn ich zwar Andrews neue Assistentin werden würde, er mich aber noch nicht eingestellt hatte?

Der Typ trat einen Schritt zurück. »Er hat schon eine neue Assistentin eingestellt?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Ich habe heute Morgen angefangen. Darf ich Ihnen einen Kaffee machen?«

Er zog die Brauen zusammen. »Das brauchen Sie nicht. Wir machen uns den Kaffee hier selbst.« Er nahm die karierte Mütze ab, mit der er aussah wie ein altmodischer Privatdetektiv, und machte Anstalten, die Küche zu verlassen. »Aber«, fuhr er fort und drehte sich wieder zu mir um, »wenn Sie das nächste Mal zu Andrew hineingehen, könnten Sie ein paar Unterlagen mitnehmen, die ich … Sie haben doch eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben, oder?«

Ich nickte und tat mein Bestes, um überzeugend zu wirken.

»Es geht um Verity.« Er öffnete seine Aktentasche und entnahm ihr ein paar Dokumente. »Es ist ein völliges Desaster, Andrew muss sich das unbedingt mal ansehen.«

»Natürlich, kein Problem.« Ich nahm ihm die drei mit Zahlen bedruckten Blätter Papier ab.

Er nickte, rührte sich aber nicht vom Fleck. »Kleine Warnung: Was Sie ihm da zeigen, wird ihm nicht gefallen, also geben Sie es ihm … und gehen dann in Deckung. Oder noch besser, laufen Sie weg.«

Ich lächelte unbeirrt weiter und fragte mich, ob ich sehr bald das Opfer eines 217 – der Polizeicode für einen Angriff mit Tötungsabsicht – werden würde. »Kein Problem«, sagte ich und senkte den Blick für einen Moment auf die Dokumente. »Geben Sie es mir. Soll ich ihm sagen, von wem es …?«

Zu spät. Der Mann mit der Mütze war verschwunden. Offensichtlich hatte sich meine Fähigkeit zu schwindeln in den letzten zwanzig Jahren deutlich verbessert. Ich nahm meine Kaffeetasse und ging zurück zu meinem Schreibtisch – oder zu dem, was mein Schreibtisch sein würde, sobald ich tatsächlich hier arbeitete.

Nachdem ich zu Ende aufgeräumt und mir eine zweite Tasse Kaffee gemacht hatte, rief ich Natalie an, um sie nach dem Passwort für den Computer zu fragen. Sie flehte mich zwar an, nach Hause zu kommen, und versprach, mir genug Geld für den nächsten Monat zu leihen, gab schließlich aber doch noch nach. Sie nannte mir das Passwort (go_2_He11_BLakE) und eine verkürzte Liste ihrer täglichen Pflichten und erklärte mir, wo ihre elektronische To-do-Liste abgespeichert war. Ich verschwieg ihr, dass Andrew mich noch nicht eingestellt hatte. Ich hatte genug manifestiert, um ein Loch ins Universum zu reißen, da würde ich mich mit der Tatsache, dass es nochnicht passiert war, nicht länger aufhalten.

Aus Andrews Büro war kein Laut zu hören, und ich nahm fast an, dass er überhaupt nicht da war. Vielleicht führte auch ein drei Kilometer langes Labyrinth von Korridoren zu seinem Büro, sodass ich im Vorzimmer eines leeren Raumes saß.

Natalie hatte sämtliche Ordner auf dem Computer nach Firmen sortiert. Sie hatte erwähnt, dass Andrew in Firmen einstieg, die kurz vor dem Zusammenbruch standen, alle Mitarbeiter feuerte und auf diese Art Unmengen Geld verdiente. Am Abend zuvor hatte ich mit ein paar Klicks auf Google herausgefunden, dass er ein Turnaround-Experte war, ein Krisenmanager. Er rettete scheiternde Firmen vor dem Aus. Aus Natalies Mund hatte es geklungen, als wäre er ein Monster, aber wenn er Firmen vor dem Konkurs bewahrte, rettete er Jobs, anstatt sie zu vernichten.

Wenn der Typ mir Unterlagen über Verity gegeben hatte, war das also möglicherweise eine Firma, die Andrew retten wollte. Ich rief Natalies Ordner auf und las sämtliche Unterlagen durch. Verity Inc. hatte Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts als seriöses, von Journalisten geführtes Magazin begonnen – wie eine britische Version von The New Yorker –, hatte sich aber irgendwann neu erfunden. Inzwischen ähnelte das Blatt eher einem Klatschblatt wie dem National Enquirer.

Man musste keinen Master in Betriebswirtschaft haben, um in den Papieren, die mir der Mützenmann gegeben hatte, schwindende Profite und sinkende Auflagen zu erkennen.

Die Firma war reif für eine Wende.

Dies war vermutlich Andrews nächstes Projekt. Ich musste nur herausfinden, wie ich ihn dazu bringen konnte, mich einzustellen, damit ich ihm helfen konnte, Verity vor dem Aus zu bewahren.

3. KAPITEL

ANDREW

Kapierten die Leute denn nicht, dass ich in Ruhe gelassen werden wollte? Ich drückte den Anruf von Tristan auf meinem Handy weg, minimierte das Fenster mit meinen E-Mails und wandte mich wieder der Financial Times und dem Artikel über Goode Publishing zu.

Im Großen und Ganzen machte Bob Goode seine Sache gut. Die meisten seiner Magazine ritten bei steigenden Profiten und erhöhter Auflage auf den Trendwellen, aber Verity war eine Ausnahme.

Mein Handy begann ein weiteres Mal zu summen. Der verdammte Tristan. Ich stand auf. Das tat ich immer, wenn ich einen Anruf oder ein Meeting so schnell wie möglich hinter mich bringen wollte. Als ich den Anruf gerade annehmen wollte, klopfte es an der Tür.

Ich ignorierte es. Mein erstes Meeting war erst für dreizehn Uhr angesetzt, und mein Team wusste, dass man mich vormittags besser nicht störte.

Ich nahm den Anruf an. »Andrew Blake.«

»Also ehrlich, Andrew. Ich bin es, der dich anruft. Ich weiß, dass du es bist, und du weißt, dass ich es bin. Hast du jemals in Erwägung gezogen, ein Telefongespräch mit einem einfachen Hallo zu beginnen?«

Ich hatte keinerlei Absicht, auf Tristans unsinnige Bemerkungen einzugehen, aber selbst wenn ich es gewollt hätte, wäre ich nicht dazu gekommen. Obwohl ich das Klopfen an der Tür ignoriert hatte, folgte ein weiteres, und dann tauchte die Frau von heute Morgen mit ein paar Papieren in der Hand auf.

Ich beendete das Gespräch mit Tristan und sah zu, wie die Frau mich angrinste, auf meinen Schreibtisch zumarschiert kam und zwei Stapel Dokumente darauf ablegte.

»Der ältere Herr mit der Mütze hat mich gebeten, Ihnen das hier zu bringen«, sagte sie und deutete auf die Papiere auf der linken Seite. »Und dort liegt Ihre Post.« Sie deutete auf den rechten Stapel. »Ich habe sie geöffnet und nach Wichtigkeit sortiert.«

Warum war diese Frau immer noch hier? Und warum benahm sie sich, als wäre sie bei mir angestellt?

»Raus«, sagte ich leise, aber eindringlich.

»Nein«, antwortete sie. Es war, als hätte sie mir einen Schlag mit dem Hammer versetzt.

»Wie bitte?« Verdammte Amerikaner.

»Nein, ich gehe nicht.« Sie verschränkte die Arme und blickte mir unverwandt ins Gesicht. »Ich werde hierbleiben und Ihre neue Assistentin sein. Ich erwarte kein besseres Gehalt als meine Vorgängerin, und ich werde genauso hart arbeiten und genauso engagiert sein.«

»Engagiert?«, wiederholte ich und überging die Tatsache, dass die Frau vor mir sich nicht nur geweigert hatte, mein Büro zu verlassen, sondern auch noch von mir bezahlt werden wollte. »Meine letzte Assistentin ist einfach verschwunden. Wenn Sie nicht deutlich engagierter als diese Dame sind, sollten Sie jetzt definitiv gehen.«

Ich setzte mich, aktivierte erneut meinen E-Mail-Account, öffnete den Verity-Ordner und scrollte hindurch, um die Finanzergebnisse des letzten Jahres zu finden.

»Sie hat gekündigt, weil es schwierig ist, mit Ihnen zu arbeiten. Nicht, weil sie nicht engagiert gewesen wäre.«

Ich sagte kein Wort. Es gab in meinem Leben nur wenige Menschen, die so mit mir redeten. Und ganz gewiss niemand, der für mich arbeitete. Das war nicht nötig. Ich arbeitete mit einem talentierten, engagierten Team zusammen, das mehr als anständig bezahlt wurde.

»Ich habe ein dickeres Fell als Ihre ehemalige Assistentin«, fuhr sie fort und reckte das Kinn.

Offenbar wollte sie mich herausfordern. Ich vergraulte meine Assistentinnen nicht absichtlich, aber sie hielten den Druck einfach nicht aus. Seit Joanna in den Ruhestand gegangen war, hatte ich jede entweder vor Ende der sechsmonatigen Probezeit entlassen, oder sie hatten selbst gekündigt. Einige hatten nicht einmal sechs Stunden durchgehalten. Offensichtlich waren sie vor allem an Händchenhalten und Schmeicheleien interessiert, während ich einfach nur meinen Job machen wollte. Ich wollte weder Bürotratsch noch das Geschwätz über die neuesten Netflix-Serien hören. Aber laut Joanna – die ich im Schnitt einmal pro Woche anrief, um sie zu überreden, aus dem Ruhestand zurückzukommen – war es das, was ich tun sollte.

Sie nannte es Sozialkompetenz.

Ich nannte es Blödsinn.

»Ich bin für diesen Job absolut überqualifiziert. Ich habe einen Masterabschluss von der Columbia. Ich bin clever, organisiert und habe keine Angst vor harter Arbeit. Sie können froh sein, dass Sie mich haben.« Sie redete, als hätte ich sie bereits eingestellt.

»Warum wollen Sie den Job dann?«, fragte ich, gegen meinen Willen fasziniert. Dass ich vor sechs Uhr morgens vor meinem Büro belästigt wurde, war nichts Neues. In meiner Karriere hatte ich eine Menge Kürzungen anordnen und viele Leute entlassen müssen. Und obwohl ich das tat, damit Firmen überleben konnten und nicht alle Angestellten entlassen werden mussten, sahen manche Leute das anders. Sie gaben mir die Schuld und nicht dem inkompetenten Management, das mich überhaupt erst auf den Plan gerufen hatte. Ich räumte den Mist anderer Leute weg, das war alles. Aber noch nie war ich auf der Straße angesprochen worden, weil jemand für mich arbeiten wollte.

»Ich werde großartige Arbeit leisten, Sie werden sehen. Und wenn Sie anderer Meinung sind, können Sie mich immer noch feuern.«

Meine Frage, warum sie den Job wollte, hatte sie nicht beantwortet.

»Woher wissen Sie überhaupt, dass es eine offene Stelle gibt?« Ich hatte noch nicht bei der Personalvermittlung angerufen. Mir war nicht einmal klar gewesen, dass ich eine neue Assistentin brauchte.

»Ich bin Natalies Mitbewohnerin.«

Die beiden teilten sich eine Wohnung?

»Ich schlafe auf ihrer Couch. Sie hält Sie für ein Arschloch. Ich glaube, ich komme mit Ihnen klar.«

Es fiel mir schwer, nicht zu lachen. Die Frau, die da vor mir saß, sagte wenigstens, was sie dachte. Meiner Erfahrung nach war das ein wichtiger Bestandteil einer guten Arbeitsbeziehung. Vielleicht würde sie ja doch eine akzeptable Assistentin abgeben.

Aber wenn sie einen MBA von der Columbia hatte, warum um Himmels willen wollte sie dann meine Assistentin werden? Das musste ein Scherz sein. »Was war ihr Lieblingskurs an der Columbia?«

»Der Lieblingskurs oder der nützlichste?«

»Ich sagte Lieblingskurs. Ich sage nichts, was ich nicht auch meine.«

»Globalisierung und Märkte. Der Kurs von Joseph Stiglitz und Bruce Greenwald.«

Okay, sie hatte ihr Lügenmärchen also entweder gut einstudiert oder tatsächlich an der Columbia studiert. Von Stiglitz hatte ich ein paar Sachen gelesen und wusste, dass er dort unterrichtete.

»Was kann denn schlimmstenfalls passieren?«, fragte sie. »Lassen Sie es mich versuchen. Sie werden es nicht bereuen.«

Vermutlich hatte sie recht. Außerdem hatte ich niemanden an der Hand, der Natalie ersetzen könnte, und es würde Wochen dauern, jemanden zu finden. Ich hatte also kaum etwas zu verlieren.

»Reden Sie nicht so viel. Stören Sie mich nicht vor Mittag, und sorgen Sie dafür, dass niemand in mein Büro kommt, solang die Tür nicht geöffnet ist. Was niemals der Fall ist.«

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Ich bin Sofia«, sagte sie.

Ich schenkte ihr keine Beachtung und nahm hinter meinem Schreibtisch Platz.

»Brauchen Sie irgendetwas?«

Was ich brauchte, war, dass Bob Goode sich nicht wie ein Stinktier benahm. Aber dieser Wunsch würde so schnell nicht in Erfüllung gehen. »Lassen Sie mich allein.«

Wenigstens besaß Sofia genug Verstand, um nicht zu widersprechen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging. Ich holte die neueste Ausgabe von Verity Inc. aus der obersten Schublade meines Schreibtisches und spürte, wie mir das Blut in den Venen zu kochen begann, als ich erneut die Schlagzeile las. Ist Tom Cruise ein Außerirdischer? Meine Großmutter würde sich im Grab umdrehen, wenn sie sehen könnte, wie ihre einstmals angesehene Zeitschrift über die außerirdische Herkunft irgendwelcher Celebrities diskutierte. Anfang der Siebzigerjahre hatte das Magazin unter ihrer Führung darüber berichtet, dass Frauen endlich ohne einen männlichen Bürgen Hypotheken aufnehmen konnten, und in den Achtzigern war es um Kohlestreiks und Wahlbetrügereien gegangen. Verity Inc. war immer ein Organ gewesen, das sich um die Rechte der kleinen Leute gekümmert und die Mächtigen in Schach gehalten hatte. Jetzt kümmerte es sich nur noch um Fragen wie die, ob Tom Cruise aus dem Weltraum kam oder ob Taylor Swift insgeheim auch Nicki Minaj war.

Und nun verlor das Magazin Abonnenten und Lesende, was wiederum bedeutete, dass es Geld verlor. Bob Goode rechtfertigte diese Spirale lächerlicher Enthüllungsgeschichten mit dem Argument, er könne kein Geld damit verdienen, irgendwelche »Problemchen« aufzudecken, wie er es nannte.

Nun, mit seinen Enthüllungsstorys verdiente er aber auch kein Geld. Warum konnte er nicht einfach meinen Rat annehmen? Er sollte mich und mein Team ans Steuer lassen. Ich würde Verity wieder auf Kurs bringen, und sobald der Laden sich gesundgeschrumpft hatte, würde ich neue und bessere Mitarbeiter einsetzen.

Bob nannte mich einen Wichtigtuer, dabei versuchte ich nur zu helfen. Er war nur ein dickköpfiger alter Esel, dem es nicht gefiel, dass die zwei Frauen vor ihm – meine Mutter und meine Großmutter – das Magazin geschickter geleitet hatten als er.

Ich legte die Zeitschrift wieder in die Schublade und sah mir die Unterlagen an, die Sofia mir auf den Tisch gelegt hatte. Die neuesten Finanzwerte von Verity, die ich bereits gesehen hatte, aber Douglas wollte zweifelsohne sichergehen, dass ich sie nicht verpasste. Sie waren grauenhaft. Bei jeder anderen Firma hätte ich mich einfach zurückgelehnt und zugesehen, wie sie unterging, aber bei Verity konnte ich das nicht bringen. Meine Mutter wäre am Boden zerstört, wenn sie binnen weniger Monate nicht nur meine Großmutter, sondern auch noch die Zeitschrift verlor, die sie gegründet hatte. Ich musste Verity Inc. retten. Ich wusste nur noch nicht, wie.

4. KAPITEL

SOFIA

Ich zog meinen Mantel aus, hängte ihn an den Haken und hielt mich einen Augenblick daran fest. Ich war erschöpft, obwohl ich an meinem ersten Tag bei Blake Enterprises kaum etwas getan hatte.

Natalie hatte nicht übertrieben, als sie behauptete, Andrew weigere sich, mit ihr zu sprechen, und seine Verschlossenheit war erstaunlich ermüdend. Er hatte mir nicht einmal ein kurzes Nicken oder ein »Bis später« gegönnt, als er zu seinem Meeting im Canary-Wharf-Komplex aufgebrochen war. Ich hatte ihm einen Wagen bestellt, aber er war zur Tür hinaus, ehe ich es ihm sagen konnte. Ich musste ihm laut rufend die Treppe hinunter folgen, aber er tat so, als hörte er mich nicht. Douglas, der sich mir schließlich vorgestellt hatte, sodass ich ihn nicht mehr den Mützenmann nennen musste, erklärte mir später, dass Andrew kein Auto brauchte. Aber als ich ihn fragte, ob er zu Fuß ging oder die U-Bahn nahm, antwortete Douglas nicht.

War es ein Staatsgeheimnis, wie Andrew sich fortbewegte? Teleportierte er sich? Oder spülte er sich in der Toilette hinunter?

Ignoriert zu werden, war ärgerlich. Natürlich würde ich das Geld auch fürs Nichtstun nehmen, aber ich wollte viel lieber arbeiten. Ich mochte es, produktiv zu sein, und ich wollte Erfahrungen sammeln, um zu beweisen, dass ich zu den Dingen in der Lage war, von denen ich bereits wusste, dass ich sie bewältigen konnte.

Um kurz nach sieben, als ich so ziemlich jeden Ordner auf meinem Computer durchgelesen hatte und kurz davor war, mir die Fingernägel herauszureißen, nur um irgendetwas zu tun zu haben, steckte Douglas seinen Kopf zur Tür herein, um mir zu sagen, dass Andrew nicht zurückkommen würde.

Er hatte Douglas angerufen, nicht mich? Hieß das, dass er mich feuern würde? Ich wusste nicht mehr, ob er mich tatsächlich eingestellt oder nur aufgehört hatte, mir zu sagen, dass ich verschwinden sollte.

»Willst du ein Glas Wein?«, rief Natalie aus der Küche.

»Ist der Papst katholisch?«

Ich kickte meine Schuhe in die Ecke, machte zwei Schritte nach links und ließ mich auf die Couch fallen.

»Wie schlimm war er, auf einer Skala von eins bis zehn?«, fragte sie.

»Ich habe ihn nicht lange genug gesehen, um das beurteilen zu können«, antwortete ich.

»Heißt das, dass du den Job nicht bekommen hast?«

»Ich glaube nicht.« Wir machten es uns mit dem Wein gemütlich, und ich nutzte meine letzte Energie, um diesen traurigen Tag Revue passieren zu lassen.

»Ich finde, es klingt gar nicht so übel. Wenn er wollte, dass du gehst, hätte er dich einfach rauswerfen lassen. Ich glaube, du kannst davon ausgehen, dass du den Job hast.«

Das war eine Erleichterung. Irgendwie. Der Wein wirkte wie pure flüssige Energie. Ich spürte bei jedem Schluck, wie nach und nach das Leben in mich zurückkehrte.

»Ich habe zwar bis jetzt vermutlich weniger als die Hälfte gesehen, aber ich glaube, dass ich mit Andrew klarkommen werde. Ich meine, er ist unhöflich und barsch und hat einen Mutterkomplex oder so, aber wie gesagt, ich habe ein dickes Fell. Ich glaube, ich werde einfach ausblenden, was er sagt, und mich auf sein Aussehen konzentrieren, denn der Typ ist echt heiß, verdammt.«

Natalie atmete tief durch. »Ja, in der Genpool-Lotterie hat er zweifellos Glück gehabt. Aber ich wette, im Bett ist er total selbstsüchtig. Das muss bestimmt alles laufen, wie er es will.«

»Tja, das werde ich wohl nie herausfinden. Ich brauche ihn nur, damit er meinen Gehaltsscheck unterzeichnet.«

Mein Handy klingelte, und ich holte es aus der Tasche.

Die Entspannung, die mir der Wein beschert hatte, ließ nach, und mir gefror das Blut in den Adern. »Es ist Des.«

»Du meinst Des wie in dein Vater?«, fragte Natalie.

»Kennst du etwa noch einen Des?« Eigentlich war er mein Vater, obwohl ich mir angesichts der Tatsache, dass ich in meinem Leben nur ein einziges Mal mit ihm gesprochen hatte, nicht sicher war, ob der Titel tatsächlich passte.

»Hm, er ruft dich nicht gerade oft an«, sagte sie und schielte auf das Display meines Handys. »Wenn überhaupt. Geh dran.«

Ja, ich sollte das Gespräch annehmen. So schwer war das doch nicht. Und ich musste mit ihm sprechen. Musste eine Art Beziehung zu ihm aufbauen, bevor ich ihn um einen Gefallen bitten konnte.

Ich sollte definitiv drangehen.

Ich holte tief Luft und nahm das Gespräch an. »Hallo?«

»Sofia?«

»Hi.«

»Hier ist dein … hier ist Des.«

»Hi«, antwortete ich. Mein Verstand setzte aus, und ich schaute zu Natalie, als wäre sie in der Lage, mich zu retten.

»Also … ich habe ja gesagt, dass ich anrufen würde«, sagte er.

Bei dem bislang einzigen Gespräch mit meinem Vater hatte ich ihn angerufen, um ihm zu sagen, dass ich einen britischen Pass wollte. Es war eine Ausrede gewesen. Ich brauchte lediglich einen Grund, um ihn anzurufen.

Einerseits war ich sauer auf ihn, andererseits war er die Lösung für etwa fünfundachtzig Prozent meiner Probleme.

»Hi. Ja, danke.« Als ich wegen des Passes mit ihm gesprochen hatte, schien er erfreut … ja, sogar glücklich zu sein, von mir zu hören. Was merkwürdig war, denn wenn er mit mir hätte sprechen wollen, hätte er in den letzten achtundzwanzig Jahren einfach zum Telefon greifen und mich anrufen müssen. Schließlich war das Telefon nicht erst gestern erfunden worden. Aber das sagte ich nicht, denn ich war auf ihn angewiesen. Oder vielmehr auf sein Geld. Ich musste die Klappe halten und mich auf den Endspurt konzentrieren.

»Bist du jetzt in London?«, fragte er.

Ich hatte ihm eine Nachricht geschickt, als ich meine britische Handynummer bekommen hatte, und er hatte zurückgeschrieben, dass er anrufen würde. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass er es wirklich tun würde. Was sollte ich sagen zu einem Mann, der zwar die eine Hälfte meines genetischen Stammbaumes darstellte, den ich aber noch nie gesehen hatte?

»Ja. In Kilburn.« Ich musste freundlich sein, um die Grundlagen für irgendeine Art von Beziehung zu legen. Aber was sollte ich nur zu ihm sagen?

»Und hast du einen Job?«

»Ja, in Bloomsbury.«

»Das ist gut«, sagte er.

Im Geist gab ich mir selbst einen Schubs. Ich musste mich zusammenreißen. Die Gesundheit und das Wohlergehen meiner Mutter standen auf dem Spiel. Ich kannte sonst niemanden, der genug Geld hatte, um ein künstliches Knie sozusagen aus der Portokasse zu bezahlen. Also musste ich nett sein. Freundlich. Überzeugend. Ich musste ihn dazu bringen, zu bezahlen. Die Versicherung meiner Mutter hatte ihr die Prothese verweigert, weil sie noch notdürftig laufen konnte. Als ich mich erkundigte, ob wir die Kosten selbst übernehmen könnten, hieß es, wir müssten einschließlich Medikation und Physiotherapie ungefähr fünfzigtausend Dollar aufbringen. So viel Geld würde ich in absehbarer Zeit nicht einmal verdienen, wenn ich für Andrew Blake arbeitete. Meine Mutter hatte Schmerzen. Von morgens bis abends, jeden Tag. Ohne ein neues Knie würde sie ihren Job nicht mehr lange ausüben können. Mein Vater war der einzige Mensch, der das Geld hatte, das ich brauchte. Aber ehe ich ihn darum bitten konnte, musste ich eine Beziehung zu ihm aufbauen.

Allein deshalb war ich in dieser Stadt.

»Ja, bisher gefällt es mir. Und du … arbeitest du?«, fragte ich. Es kam mir leichter vor, Fragen zu stellen, als sie zu beantworten.

»Ja. Und ich komme oft durch Bloomsbury. Vielleicht können wir uns mal treffen? Essen gehen oder auf einen Kaffee?«

Er klang nett. Freundlich. Hoffentlich ließ er sich rasch davon überzeugen, dass er Wiedergutmachung leisten musste, weil er meine Mutter mit neunzehn schwanger und mittellos verlassen und keinen Penny Unterhalt bezahlt hatte. Mein Plan war es, ihm klarzumachen, dass er dazu nur das künstliche Knie meiner Mutter bezahlen musste. Absolut traumhaft wäre es natürlich, wenn er die Rechnung ein bisschen aufrunden würde, damit sie in Zukunft anständig krankenversichert war. Wenigstens so lange, bis ich genug verdiente, um die Versicherung selbst zu bezahlen.

»Das wäre … nett.« Ach ja? Und wie wollte ich es vermeiden, mich über den Tisch hinweg auf ihn zu stürzen und ihn zu erwürgen?

»Warst du schon mal im Britischen Museum?«, fragte er. »Es ist in Bloomsbury, und es gibt dort ein nettes Restaurant, in dem wir essen könnten.«

»Noch nicht«, sagte ich und fragte mich bereits, wie ich das Büro verlassen konnte, um einen Kaffee zu trinken, ohne sofort gefeuert zu werden.

»Nun, wollen wir es dort mal versuchen? Oder wäre es dir woanders lieber?«

»Wie wäre es an einem Samstag? Meine Arbeitszeiten sind etwas … unvorhersehbar.«

»Ja«, sagte er, und es klang enthusiastisch. »Du könntest auch zu mir nach Hause kommen, wenn du willst. Aber vielleicht ist das ja keine gute Idee. Ich weiß nicht. Ich überlasse es dir.«

Ich schluckte. Ich nahm an, dass er mit »zu mir nach Hause« das Haus meinte, in dem er mit seiner derzeitigen Familie lebte. Mit der Frau, die er geheiratet und mit der er zwei Kinder hatte. Während meine Mutter und ich uns abmühten, um die Miete zu bezahlen. Aber vielleicht wäre es ja hilfreich, wenn ich seine Frau und seine anderen Kinder kennenlernte? Vielleicht konnten sie mir direkt oder indirekt dabei helfen, meine Argumentation zu untermauern, die sich derzeit auf folgende Feststellung beschränkte: Das bist du mir und meiner Mom schuldig, weil du dich vor achtundzwanzig Jahren wie ein totales Arschloch benommen hast.

»Klar. Das wäre toll.«

»Diesen Samstag kann ich nicht. Wie wäre es mit nächster Woche? Um halb zwölf?«

»Elf Uhr dreißig? Okay, warum nicht?« Zu dem Zeitpunkt würde ich meinen Job immerhin schon länger als ein paar Stunden ausgeübt haben. Hoffentlich war ich bis dahin in der Lage, ihm etwas genauer zu erklären, was ich tat.

»Ich schicke dir die Adresse.«

»Super.«

Ich beendete das Gespräch, starrte aber weiterhin auf das Handy. Würde ich wirklich damit klarkommen, mit dem Mann essen zu gehen, dessen Abwesenheit schuld daran war, dass meine Mutter drei Jobs bewältigen musste? Er war der Mann, der mich vor einer Kindheit hätte bewahren können, in der ich die Löcher im Fußboden zustopfen musste, damit die Kakerlaken nicht hereinkamen.

»Wir brauchen mehr Wein«, sagte Natalie.

»Oder fünfzigtausend Dollar«, versetzte ich.

Sie stand auf. »Also Wein.«

5. KAPITEL

SOFIA

Tag Nummer sieben bei Blake Enterprises; an diesem Morgen hatte ich das Büro um fünf Uhr dreißig aufgeschlossen. Es war noch nicht mal sieben Uhr, und ich war bereits bei der dritten Tasse Kaffee.

Andrew fegte zur Tür herein. Seine muskulösen Pobacken spannten und entspannten sich in seiner Jogginghose. Anstatt so zu tun, als gäbe es mich nicht, blieb er direkt vor meinem Schreibtisch stehen.

»Kommen Sie in Zukunft nicht vor acht.«

Ehe ich antworten konnte, verschwand er in seinem Büro und schlug die Tür zu. Versuchte er, nett zu mir zu sein? Ich meine, er hatte mir immerhin gesagt, dass ich später kommen durfte. Nein, vergesst es – er hatte mir befohlen, nicht so früh zu erscheinen. Aber sein Ton und sein Verhalten deuteten darauf hin, dass es dabei nicht um mein Wohlergehen ging. Vielleicht hatte ich ihm allzu offensichtlich auf den Hintern geglotzt.

»Guten Morgen, Andrew«, rief ich hinter ihm her. Ich würde den Spruch erst gar nicht an mich heranlassen. Nicht an diesem Tag. Gestern hatte er kein Wort mit mir gewechselt. Er hatte mir drei E-Mails mit dem Vermerk »Erledigen« weitergeleitet. Und sechsmal war er an mir vorbeigelaufen, ohne ein einziges Mal Augenkontakt aufzunehmen. Immerhin hatte er nicht herumgeschrien, noch mit Gegenständen um sich geworfen. Ich musste es positiv sehen.

Wie üblich verbrachte Andrew den ganzen Morgen im Büro, ohne dass das leiseste Geräusch herausdrang. Zuverlässig wie an jedem Tag seit meiner Ankunft tauchte gegen Mittag Douglas auf und klopfte an Andrews Bürotür. Himmel, der Mann war eindeutig ein Fan von Routine. Weder in dem elektronischen noch in dem Kalender aus Papier, die ich führte, waren bis mittags irgendwelche Termine eingetragen. Was machte er da drinnen? Und warum führte ich zwei identische Kalender?

Als Douglas wieder herauskam, grinste er. Andrew schien gute Laune zu haben. Das war die Chance, ihm etwas von der Arbeit zurückzubringen, die er mir gegeben hatte.

Ich griff nach meinen Unterlagen, klopfte einmal und betrat sein Büro, ohne eine Antwort abzuwarten.

Andrew hob den Blick. Er sagte nichts, forderte mich aber auch nicht auf, wieder zu gehen. Ich wertete es als Sieg.

Ich legte ihm einen Aktenordner auf den Tisch. »Das sind die Recherchen zur Verlagsbranche, die ich machen sollte«, sagte ich, ohne auch nur Hallo zu sagen. Wenn ich ihn nicht besiegen kann, muss ich mich wohl mit ihm verbünden, dachte ich mir. »Es ist alles auf der ersten Seite zusammengefasst. Jane Cohen hat angerufen und bittet um Rückruf. Sie sagte, Sie wüssten, worum es geht. Die Zahlen der Immobilientrends, um die Sie gebeten hatten, sind ebenfalls da. Ich habe alle Daten auch als E-Mail, falls Sie sich auf elektronischem Weg damit auseinandersetzen wollen.« Schließlich holte ich noch eine Postkarte unter dem Arm hervor. »Und dann wäre da noch dies. Eine Einladung zur Eröffnung eines Gebäudes in Mayfair.«

Die Einladung war das Einzige, das seine Aufmerksamkeit erregte. »Ist die per Post gekommen?«, fragte er und nahm sie mir aus der Hand.

»Ja, heute Morgen«, sagte ich, idiotischerweise erfreut, weil er mit mir sprach. In normaler Lautstärke. »Soll ich für Sie antworten?«

»Nein«, versetzte er scharf.

»Gut«, sagte ich und machte Anstalten, zu gehen.

»Die hätte nicht hierhergeschickt werden sollen.« Er klang wütend. Als gäbe es nichts Schlimmeres als eine Einladung, die einem ins Büro geschickt wurde. »Die kommt von einem Freund.«

Was für ein komischer Kauz. Wer machte sich denn so in die Hose, nur weil die Einladung eines Freundes an die Büroadresse geschickt worden war? Aber worüber beklagte ich mich? Er hatte mit mir gesprochen. Sogar Augenkontakt aufgenommen. Und obwohl er ein totales Arschloch war, hatte er nicht direkt an meiner Arbeit herumgemäkelt.