9,99 €
Unter all den Juwelen dieser Welt fand ich dich
Dexter Daniels’ und Hollie Lumens Leben könnten unter-schiedlicher nicht sein. Während der aufstrebende Londoner Juwelier sein Familienunternehmen zu Weltruhm führt, hält sie sich mit ihrem Etsy-Shop gerade so über Wasser. Doch wenn Dexter eins gelernt hat, dann ist es, Juwelen auf den ersten Blick zu erkennen. Und als er Hollie bei einem Designwettbewerb für das norwegische Königshaus kennenlernt, weiß er, dass er einen Rohdiamanten entdeckt hat! Dexter will um jeden Preis gewinnen, deshalb bietet er ihr ein Praktikum in seiner Firma an, auch wenn er insgeheim spürt, dass ihn mehr als nur Hollies Talent fasziniert ...
"Louise Bay hat sich mit diesem Roman selbst übertroffen!" SENTRANCED JEM
Band 2 der THE-MISTER-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Louise Bay
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 437
Titel
Zu diesem Buch
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
Epilog
Die Autorin
Die Romane von Louise Bay bei LYX
Leseprobe
Impressum
LOUISE BAY
Mister Knightsbridge
Roman
Ins Deutsche übertragen von Anja Mehrmann
Dexter Daniels gilt als erfolgreichster Juwelier seiner Generation und einer der attraktivsten Männer Londons. Seit seiner Kindheit setzt er alles daran, dem Erbe seiner verstorbenen Eltern gerecht zu werden, nachdem sein älterer Bruder das Familienunternehmen verraten hat. Und als ein Designwettbewerb für die Hochzeitskollektion der Prinzessin von Norwegen stattfindet, sieht er darin die ultimative Chance, sich ein für alle Mal zu beweisen. Um zu gewinnen, muss er sich voll und ganz auf die Arbeit konzentrieren. Aber ausgerechnet bei der Eröffnungsveranstaltung fällt sein Blick auf Hollie Lumen, die ein Praktikum bei seinem größten Konkurrenten absolviert. Die junge Schmuckdesignerin, die sich mit ihrem Etsy-Shop gerade so über Wasser hält, und der millionenschwere Geschäftsmann könnten unterschiedlicher nicht sein. Doch Dexter hat früh gelernt, Juwelen zu erkennen, sobald er sie sieht. Und er weiß augenblicklich, dass Hollie mit ihrem Talent ein Rohdiamant ist – und etwas in ihm weckt, das er noch nie zuvor gespürt hat. Er bietet ihr kurzerhand einen Job in seiner Firma an, auch wenn dies bedeutet, dass er sie jeden Tag um sich haben wird, obwohl er Ablenkung gerade alles andere als gebrauchen kann …
Sie besaß die Art von Schönheit, die einen Mann um den Verstand bringen konnte. Ein Blick, und schon richteten sich die Härchen in meinem Nacken auf, und meine Finger verkrampften sich vor Verlangen, sie zu berühren.
Atemberaubend. Wundervoll. Und verdammt teuer.
»Sehr hübsch. Du kannst verdammt stolz auf dich sein«, sagte Gabriel, einer meiner besten Freunde, während er in den Schaukasten blickte, der mitten im Ballsaal des Dorchester Hotels stand.
»In der Tat, sie sieht prächtig aus.« Ich hatte sie zwar schon lange nicht mehr gesehen, aber eine solche Schönheit vergisst man nicht.
»Dir ist aber schon klar, dass es sich um eine Art Haarreifen handelt und nicht um eine Frau, oder?«, fragte Tristan, der ebenfalls zu den sechs Männern gehörte, mit denen ich seit dem Teenageralter befreundet war.
»Eine Tiara«, stellte ich richtig. Für Tristan war das nur irgendein Ding, das Frauen auf dem Kopf trugen. Für Gabriel war es eine Ansammlung hübscher Steine. Aber für mich verkörperte dieses Diadem Schönheit und Lebenskraft – es war mein verdammtes Erbe.
»Okay«, sagte Tristan. »Und deine Eltern haben sie hergestellt?«
»Meine Mutter hat sie entworfen, mein Vater hat sie angefertigt.«
»Für die Queen?«, fragte Tristan.
»Für die Königin von Norwegen. Sie hat es bei ihrer Hochzeit getragen.« Wenn ich als Kind der Länge nach in einem Haufen Lego unter einer Vitrine im Laden meiner Eltern lag, der sich in Hatton Garden, dem Londoner Diamantenviertel, befand, hatte ich das Gefühl, dass sie nichts anderes taten, als an diesem Entwurf zu arbeiten. Gespräche über das Diadem waren die Begleitmusik meiner Kindheit. Ihr Leben wurde zwar nur einen Sommer lang von dem Schmuckstück bestimmt, aber damals nahm es sie komplett in Anspruch. Als ich es nun zum ersten Mal nach ihrem Tod wiedersah, begriff ich, warum sie von diesem Diadem förmlich besessen waren. Es war wunderschön, sein Design wirkte auf kühne Art modern, und dennoch war es klassisch genug, um etwas Majestätisches auszustrahlen.
Die Leidenschaft meiner Eltern für ihre Arbeit lag in der Luft, die ich atmete, und ich wuchs in der beneidenswerten Lage auf, genau zu wissen, was ich mit meinem Leben anfangen würde – ich würde in ihre Fußstapfen treten und Juwelier werden. Aber als meine Eltern starben und mein Bruder ihr Geschäft ohne mein Wissen verkaufte, reichte der bloße Wunsch, Juwelier zu werden, nicht mehr aus. Dem Andenken meiner Eltern zuliebe wollte ich in diesem Beruf der Beste auf der ganzen Welt sein. Ihr Name – mein Name – sollte international mit den schönsten Schmuckstücken in Verbindung gebracht werden, die es gab. Genau das hatten sie verdient.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum wir in London sind und nicht in Norwegen«, sagte Tristan.
»Die Prinzessin heiratet einen Briten, darum findet der Wettstreit um das Design für ihren Schmuck hier statt. Dabei wird viel Geld für wohltätige Zwecke zusammenkommen. Die Leute in London sind wohlhabender als die in Norwegen.«
»Das ergibt Sinn«, sagte Gabriel.
Tristan schob die Hände in die Taschen und nickte. »Okay. Das Zeug sieht echt nett aus.«
Ich lächelte. Tristan war zwar manchmal etwas verpeilt, aber als ich ihn bat, an diesem Abend hierherzukommen, machte er keinerlei Anstalten, sich der Aufgabe zu entziehen. Obwohl er sich in Jeans vor einem Computer sitzend sehr viel wohler fühlte, hatte er sich ohne mit der Wimper zu zucken in einen Smoking geworfen, weil er der loyalste Freund war, den man sich nur wünschen konnte. Jetzt brauchte er einen Drink. Ich suchte den Blick eines Kellners, der ein Tablett Champagner in Händen hielt. Er kam zu uns, und jeder nahm sich ein Glas.
»Auf die Diamanten?«, schlug Tristan als Trinkspruch vor.
»Auf deine Eltern«, stellte Gabriel richtig. Von Anfang an war er so etwas wie die Vaterfigur in unserer Gruppe gewesen – also lange, bevor er tatsächlich Vater wurde. Gabriel war klug, bedächtig und nie um die richtigen Worte verlegen.
»Danke, mein Freund«, antwortete ich und stieß mit ihm an.
»Auf meine Eltern. Und auf den Sieg in diesem verdammten Wettbewerb.«
»In dem Fall prophezeie ich dir die Eröffnung deiner ersten Londoner Filiale. Es wäre ein fantastischer Einstieg in die Szene«, sagte Tristan.
Ich nahm in London bereits Auftragsarbeiten an, unser Designatelier und die Werkstatt befanden sich hier. Aber die Eröffnung eines repräsentativen Ladens unter dem Namen Daniels & Co. stand im Vereinigten Königreich noch aus. Mein Flagshipstore befand sich in New York, außerdem besaß ich Filialen in Paris, Rom, Peking und Dubai. In Beverly Hills und Singapur hatten wir gerade erst aufgemacht.
Aber nicht in London.
In London lebte ich in meiner eigenen, streng geschützten Blase. Ich wohnte und arbeitete hier, hatte aber keinen Kontakt zur Branche vor Ort. In dieser Stadt gab es zu viele Erinnerungen an den trostlosesten Teil meines Lebens – das Geschäft meiner Eltern in Hatton Garden, das nicht mehr existierte. Sparkles Geschäft, das nur dank der Entwürfe meiner Eltern überleben konnte. Und David, mein Bruder, der das Vermächtnis meiner Eltern zerstört hatte, indem er es an Sparkle verkaufte. Es gab hier einfach zu viele Dinge, die ich vergessen wollte.
Immer wieder wurde ich nach einem Angebot für London gefragt, aber ich blockte das Thema regelmäßig ab und schwieg mich aus. Eine Filiale von Daniels & Co. würde es in London nicht geben. Ich glaubte daran, in die Zukunft zu blicken, nicht in die Vergangenheit. Die Vergangenheit wieder ans Licht zu holen war überflüssig, wenn man sie genauso gut ungestört in einem tiefen Grab ruhen lassen konnte.
»Und ein Hoch auf ein Treffen unter Freunden!«, sagte Tristan.
»Ich genieße es sehr, wenn wir uns in den Armen liegen. Jedenfalls, solange du mich am Ende eines langen Abends nicht zu küssen versuchst.«
»So viel Glück hättest du wohl gern«, versetzte ich.
»Hatte ich schon – an dem Wochenende damals in Prag, schon vergessen? Deine herumwandernden Hände will ich kein zweites Mal in meiner Nähe haben«, sagte Tristan.
»Halt die Klappe«, gab ich zurück. Ich war nur halb bei der Sache, denn eine Frau in einem weißen Kleid, der schwarzbraune Haarsträhnen über den Rücken fielen, hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Sie hielt ein Glas Champagner in der einen und ein altmodisches Notizbuch in der anderen Hand, konzentrierte sich aber offensichtlich weder auf das eine noch auf das andere, als sie sich an uns vorbeischob und dabei beinahe Gabriels sehr teures Jackett mit Alkohol übergossen hätte. »Das ist fünfzehn Jahre her, und ich habe damals geschlafen«, sagte ich, als die Frau an uns vorbeiging. Ich beobachtete, wie sie auf eine der Vitrinen zusteuerte. Beim Blick auf ein Paar Ohrringe, die meine Eltern passend zu dem Diadem entworfen hatten, erhellte ein strahlendes Lächeln ihr Gesicht. Beglückt von dem Gedanken, dass sich jemand an den Entwürfen meiner Eltern erfreute, klinkte ich mich erneut in das uralte und immer wieder aufgewärmte Wortgefecht mit Tristan ein.
Er verdrehte die Augen und nickte. »Das sagst du. Aber ob im Schlaf oder nicht, du hast versucht, mit mir zu knutschen.«
Gabriel war niemand, der viele Worte machte, aber Tristan redete genug für sie beide. Dass wir drei und dazu noch Beck, Andrew und Joshua es so viele Jahre lang geschafft hatten, Freunde zu bleiben, grenzte an ein Wunder. Eigentlich waren wir eher Brüder als Freunde.
»Wir sollten noch einmal zu sechst nach Prag reisen«, sagte Gabriel.
»Jetzt können wir uns definitiv jeder ein eigenes Zimmer leisten, und ich muss nicht mehr mit diesem Typen hier schlafen«, sagte Tristan und deutete mit einem Nicken auf mich. »Ich werde es mir also überlegen.«
Eine Atempause mit meinen besten Freunden klang nach einer guten Idee, aber solange ich den Wettbewerb nicht gewonnen hatte, würde es dazu nicht kommen. In den nächsten Monaten erwartete mich eine Menge Arbeit. Es würde nicht reichen, nur die Entwürfe für die Hochzeitskollektion der Prinzessin zusammenzustellen. Wir würden uns durch die Qualität und Seltenheit der Steine, durch ihren Schliff und die Fassung von unseren Mitbewerbern abheben. Meine Edelsteinlieferanten waren die besten in der ganzen Branche, und die Besten der Besten würde ich auch brauchen. In nächster Zeit konnte es keine Auszeiten geben, weder in Prag noch anderswo.
»Wenn Dexter den Wettbewerb gewonnen hat, können wir das ja mit einer Reise feiern«, sagte Gabriel, der mal wieder meine Gedanken erraten hatte.
Tristan zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst. Ich verstehe immer noch nicht, warum du unbedingt bei diesem blöden Wettbewerb mitmachen musst. Schließlich brauchst du die Arbeit nicht. Und das Geld auch nicht. Oder?«
Tristan hatte recht. Ich brauchte weder das Geld noch die Arbeit.
Aber ich musste gewinnen.
Zum Teil für meinen guten Ruf – ein Sieg wäre ein weiterer Beweis dafür, dass ich der Beste auf meinem Gebiet war. Vor allem aber meinen Eltern zuliebe. Sie hätten sich gewünscht, dass in der Generation nach ihnen ich derjenige sein würde, der gewinnt – als Beweis, dass sie ihre Leidenschaft mit den Genen vererbt hatten –, und ich trug die Fackel für sie weiter.
»Nein, keine Sorge, ich stehe nicht mit einem Fuß im Armenhaus«, sagte ich.
»Das hört man gern. Aber trotzdem: Wenn du deinen DB5 zum Tiefstpreis abstoßen willst, zahle ich mit Vergnügen bar.«
»Such dir deinen eigenen Aston Martin, und hör auf, mir meinen abzuschwatzen«, entgegnete ich. An Gabriel gewandt, fuhr ich fort: »Sollte ich jemals unter ungeklärten Umständen zu Tode kommen, hetzt diesem Typen da die Polizei auf den Hals«, sagte ich und deutete mit dem Kopf auf Tristan. »Sie werden ihn zweifellos mit meinem Autoschlüssel in der Hand festnehmen.«
Tristan zuckte mit den Schultern, als wäre diese Annahme berechtigt. Er hatte sich meinen Wagen öfter ausgeliehen, als ich zählen konnte. Dafür musste er mich nicht extra umlegen.
»Wisst ihr was? Wir hocken hier zusammen wie die Hexen bei Macbeth. Ich finde, wir sollten uns ein bisschen unter die Leute mischen«, schlug Gabriel vor.
Vermutlich hatte er recht. Ich war hier, um die in der Branche vorherrschende Überzeugung zu widerlegen, ich sei mir zu gut, um mich mit meinen Kollegen abzugeben. Ich suchte den Raum nach einem geeigneten Ort zum Andocken ab – ideal wäre eine kleine Gruppe von Leuten, die mich nicht sofort mit Geschichten über meine Eltern bombardieren würden. Und natürlich hatte ich überhaupt keine Lust, jemandem von Sparkle über den Weg zu laufen. Eine unsichtbare Spur führte zu der Frau im weißen Kleid, die vor den Ohrringen stand, die meine Eltern für die Hochzeit der Königin angefertigt hatten. »Okay. Es dauert nicht lange«, sagte ich und ging in Richtung der Ohrringe davon. Die Frau in Weiß schien sich als einzige Person in diesem Raum stärker auf den Schmuck als auf das Knüpfen von Kontakten zu konzentrieren, und das hieß meiner Ansicht nach, dass es sich lohnte, sie näher kennenzulernen.
In der Nähe des Eingangs erregte eine Liste auf einer Staffelei meine Aufmerksamkeit – die Namen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Primrose, meine Chefdesignerin, würde darauf brennen zu erfahren, wer an diesem Abend hier gewesen war. Ich holte mein Handy heraus und machte ein Foto, ehe ich mit dem Finger auf der Suche nach meinem Namen über die alphabetisch geordnete Liste fuhr. Eine Sekunde später wich ich so abrupt zurück, als hätte mir die Tafel einen Stromschlag versetzt. Ich hatte damit gerechnet, meinen Namen dort zu finden, aber auf dieser Liste stand zweimal »Daniels«.
David war hier.
Der Bruder, der das Vermächtnis meiner Eltern zu zerstören versucht hatte. Der Bruder, mit dem ich nichts mehr zu tun haben wollte, das hatte ich mir geschworen. Der Bruder, den ich hasste.
Hitze durchflutete mich, und ich wandte mich rasch ab und sah mich suchend in dem Raum um. Er konnte doch nicht wirklich hier sein, oder? Würde ich ihn jetzt, fünfzehn Jahre später, überhaupt noch erkennen? Mit siebenunddreißig hatte er womöglich bereits seine Haare verloren, genau wie Dad. Oder er …
»Dexter Daniels!« Ein gönnerhaft wirkender Fremder in den Fünfzigern fasste mich am Ellbogen und klatschte mich gleichzeitig ab. Energisch schüttelte er mir die Hand und schaffte es tatsächlich, meine Gedanken aus dem schwarzen Loch herauszuholen, in dem sie im Kreis gelaufen waren. »Donnerwetter, neben dir komme ich mir ja wie ein alter Mann vor«, sagte er. »Hätte Joyce McLean mir nicht gesagt, dass du es bist, ich wäre im Leben nicht darauf gekommen.« Er grinste mich an, als müsste ich ihn erkennen, aber ich war mir sicher, dass ich ihm noch nie zuvor begegnet war. »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hattest du eine Flasche Essig in der einen Hand und Papiertücher in der anderen, weil du im Geschäft deiner Eltern das Vitrinenglas gereinigt hast.«
Ich atmete durch und stellte mir vor, von einem unsichtbaren Schutzschild umgeben zu sein, das mir seine Worte vom Leib hielt, damit sie die Orte in mir nicht erreichten, die ich so lange vor jedem Zugriff geschützt hatte. Das war der eigentliche Grund für Tristans und Gabriels Anwesenheit an diesem Abend. Klar, Tristan freute sich über Alkohol zum Nulltarif und die Gelegenheit, sich in einen Ballsaal voller Frauen zu stürzen, aber er und Gabriel waren beide hier, weil ich sie gebeten hatte, mir als Puffer zu dienen. »Sie waren gute Menschen«, antwortete ich. Genau darum hatte ich solche Situationen so lange gemieden. Ich wusste, wie großartig meine Eltern waren.
Ich brauchte keine Fremden, die mir diese Tatsache ins Gedächtnis riefen und in der offenen Wunde herumstocherten, die ihre Abwesenheit hinterlassen hatte.
»Begabt. Und liebenswürdig. Es ist lange her, aber die Lücke ist in der Branche immer noch zu spüren.«
»Da haben Sie recht«, sagte ich. »Es war ein Verlust auf persönlicher Ebene, aber ihr Talent und ihre harte Arbeit haben es auch zu einem Verlust für die Branche im Allgemeinen gemacht.« Die einstudierte Antwort kam mir automatisch über die Lippen, und das nicht zum ersten Mal an diesem Abend.
Normalerweise hätte ich den kurzen höflichen Wortwechsel an dieser Stelle mit einem Handschlag beendet, aber der Mann, wer auch immer er war, machte keine Anstalten, weiterzugehen. »Weißt du, was mir am meisten fehlt?«, fragte er. »Das seltene Lachen deines Vaters.«
Ich lächelte – ein echtes Lächeln und nicht das aufgesetzte, das ich den ganzen Abend lang zur Schau gestellt hatte. Mein Vater war bei der Arbeit ein ernster Mensch gewesen. Aber nicht im Kreis seiner Familie. Unser Haus war stets von Neckereien und Gelächter erfüllt.
»Deiner Mutter ist es immer gelungen, es aus ihm herauszukitzeln«, sagte der Mann.
Ich nickte und dachte daran, wie sie ihm im Geschäft Witze erzählt hatte, um ihn aufzuheitern. »Sie waren ein gutes Team.«
»Sie sagte immer, mit seiner strengen Miene sähe er aus, als wäre er besessen von seinem Vater, also deinem Großvater.«
Das hatte ich ganz vergessen. Meine Mutter hatte mich oft durch den Laden gejagt, wobei sie gruselige Geräusche von sich gab, und die strengen Züge meines Vaters nahmen dann unweigerlich einen weicheren, gelösteren Ausdruck an.
»Weißt du, hinter deiner Mutter waren die ganz Großen her – Bulgari, Harry Winston und Konsorten. Sie standen Schlange, um ihr einen Posten als Designerin anzubieten. Sie hätte sich ihren Gehaltscheck selbst ausstellen können, aber sie wollte immer nur mit deinem Vater zusammenarbeiten.«
Ich versuchte, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Ich wusste nur, dass Sparkle schon immer enormes Interesse an ihr bekundete. Mir gegenüber hatte meine Mutter nie irgendwelche Jobangebote anderer Firmen erwähnt. Vermutlich hatten sie ihr nichts bedeutet. Der einzige Mensch, der je eine Rolle für sie gespielt hatte, war mein Vater – und ihre Jungs natürlich. »Meine Mutter war sehr talentiert.«
Mir hatte davor gegraut, an diesem Abend hierherzukommen. Ich wollte das Bedauern und die Traurigkeit in den Stimmen der anderen nicht hören, wenn sie über meine Eltern sprachen, und ich wollte nicht ständig an meinen großen Verlust erinnert werden. Aber es war erfreulich, etwas aus der Perspektive anderer Leute über sie zu erfahren, und ich empfand es als zutiefst tröstlich, lieb gewordene Erinnerungen wiederzubeleben. Um den Schmerz nicht zu spüren, hatte ich die Vergangenheit so weit von mir weggeschoben, dass ich einige bedeutsame Ereignisse völlig vergessen hatte.
»Ja, das war sie. Und wenn ich es richtig sehe, ist der Apfel nicht weit vom Stamm gefallen. Ich habe deine Karriere aufmerksam verfolgt.«
Noch immer wusste ich nicht, wer dieser Mann war, aber er schien mich recht gut zu kennen. »Geben Sie mir Ihre Karte?«, fragte ich. Vielleicht würde ich später irgendwann Veranlassung haben, geschäftlich mit ihm in Kontakt zu treten.
»Selbstverständlich«, sagte er und klappte seine Brieftasche auf. »Du hast dich in London nicht sehr häufig sehen lassen.«
»Nein, Sir«, antwortete ich. »Ich bin immer da, wo meine Kunden sind.« Das war eine Lüge, aber eine glaubwürdige.
»Ja, es hat mich überrascht, dass dein Bruder nie in die Branche eingestiegen ist«, sagte er und reichte mir seine Karte.
Die Wärme, die sich bei der Erwähnung meiner Eltern in meinem Bauch ausgebreitet hatte, verwandelte sich in Eiseskälte, als er auf meinen Bruder zu sprechen kam. Die Erkenntnis, dass David an diesem Abend hier war und den Champagner genoss, zweifellos am Tisch von Sparkle, schien die Luft aus dem Saal zu saugen. Ich brauchte Platz. Ich musste die Güte meiner Eltern atmen, die diesen Raum erfüllte, nicht den Verrat, der meinem Bruder anhaftete.
»Würden Sie mich bitte entschuldigen«, sagte ich und schüttelte dem Mann noch einmal die Hand. »Ich habe dort drüben gerade jemanden gesehen, mit dem ich sprechen muss.« Die junge Frau mit dem schwarzbraunen Haar stand in der Ecke und betrachtete eines meiner Lieblingsstücke.
Ich blickte über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass ich nicht auffiel in diesem Ballsaal voller Männer im Smoking und Frauen in Kleidern, die mehr gekostet hatten als unser Trailer zu Hause in Oregon. Szenen wie diese hatte ich bisher nur in Filmen gesehen, und doch war ich hier, war mitten unter den Gästen.
Aber ich gehörte nicht hierher.
Meine neuen Kollegen waren verschwunden, sobald wir diesen riesigen Saal betreten hatten, und in Anbetracht der enormen Menschenmenge würde ich sie an diesem Abend wahrscheinlich auch nicht mehr zu Gesicht bekommen. Es war okay für mich. Der Bus, der uns zum Büro zurückbringen sollte, würde um elf Uhr losfahren, und das hieß, dass mir nur begrenzt Zeit blieb, um den unglaublichen, majestätischen Schmuck zu betrachten, der hier ausgestellt war.
Ein hochgewachsener Kellner hielt mir ein Tablett mit Drinks unter die Nase, als wäre es das Normalste von der Welt, jemandem gratis Champagner anzubieten. Ich hatte vor diesem Abend nie welchen probiert und war entschlossen, klar im Kopf zu bleiben, aber wäre Autumn, meine Schwester, hier gewesen, hätte sie mich aufgefordert, mir ja nichts entgehen zu lassen. Ich nahm also ein Glas, kostete einen kleinen Schluck des köstlich prickelnden Luxusgetränks und steuerte auf einen der Schaukästen mit dem Schmuck der königlichen Familie von Norwegen zu. Ich war hier, um zu arbeiten. Um zu lernen. In meine Zukunft zu investieren. Das dreimonatige Praktikum war meine einzige Chance – die Gelegenheit für mich, dem Leben zu entkommen, das meine Eltern geführt hatten, der Existenz in einem Trailerpark, aus der ich endlich ausbrechen wollte.
»Wow!«, entfuhr es mir, als ich bei dem ersten der Schaukästen ankam, die überall im Raum verteilt waren. Ich ließ das zweistufige Diadem auf mich wirken und konnte nicht fassen, was dort direkt vor meiner Nase lag.
Ich hatte es im Internet gesehen. Die Königin von Norwegen hatte es an ihrem Hochzeitstag getragen. Das Schmuckstück live und von Nahem zu betrachten, war jedoch etwas ganz anders. Es überwältigte mich beinahe, so viel gab es daran zu entdecken. Der untere Abschnitt bestand aus einem Haarreifen, der mit riesigen Solitären besetzt war, jeder einzelne so groß wie meine Fingerknöchel. Der obere Teil ähnelte einem Strang kleiner Flaggen, die abwechselnd aus Rubin und Diamant bestanden. Aus einiger Entfernung waren nur die größeren Steine zu sehen, aber als ich näher kam, erkannte ich eine Reihe von kleineren Edelsteinen, die durch noch kleinere miteinander verbunden waren. Das Design war so ungewöhnlich, dass ich am liebsten einen Skizzenblock gezückt und angefangen hätte, Zeichnungen anzufertigen. In meiner Handtasche hielt ich ein Notizbuch und einen Stift bereit, aber ich sah sonst niemanden, der sich Notizen machte, und ich wollte an diesem Abend keine Aufmerksamkeit erregen. Ich fiel ohnehin schon auf. Wenn ich den Kopf nicht ein wenig einzog, würde mich womöglich die Graue-Mäuse-Polizei festnehmen, die hier vermutlich patrouillierte. Ich trug ein billiges, etwas zu großes weißes Kleid in A-Linie, das meine Schwester mir geliehen hatte. Um den Ausschnitt herum hatte ich eine Reihe schwarzer Pailletten aufgestickt in der Hoffnung, es würde als Cocktailkleid durchgehen. Ich hatte mir sogar Autumns ein wenig zu kleine Schuhe geborgt, wofür die frischen Blasen an meinen Füßen als Beweis dienten.
Blasen waren ein geringer Preis für meine Anwesenheit in diesem Saal. Ich war die Praktikantin eines Schmuckhauses, das eine echte Chance hatte, den Wettbewerb zu gewinnen. Für mich war es ein Glücksfall, der den Schmerz betäubte, den ich unter anderen Umständen vielleicht empfunden hätte.
Der Gedanke, zu dem Team zu gehören, das die Prinzessin von Norwegen an ihrem Hochzeitstag mit Schmuck ausstatten würde, war die Kirsche auf der Sahne. Ich wäre schon mit den drei Monaten Praktikum bei einem der erfolgreichsten Juweliere Londons zufrieden gewesen. Das hier war das Sprungbrett, das ich brauchte, um einen Job bei einem der großen Häuser in New York zu bekommen. Ein Dutzend erfolglose Bewerbungen sprachen eine deutliche Sprache – keine Erfahrung, kein Job. Aber ein Empfehlungsschreiben von Charles Ledwin, CEO von Sparkle, würde mir jede Tür öffnen, die man mir bisher vor der Nase zugeschlagen hatte. Es war mein Fahrschein hinaus aus dem Sackgassenleben in Oregon.
Ich ließ den Blick über die Schaukästen in dem Saal schweifen, ehe ich die Security-Typen zählte, die an jedem Ausgang standen. An diesem Abend und an diesem Ort war eine Menge Geld versammelt. Und sehr viel Talent. Es war einschüchternd und gleichzeitig total beglückend. Es fühlte sich an, als wäre ich im Begriff, in einem Supermarkt voller Fachwissen einzukaufen. Drei Monate lang würde ich Zeit haben, um so viel wie nur möglich einzupacken, ehe der Buzzer ertönen und mein Schicksal besiegeln würde. Hoffentlich hatte ich dann genug getan, gesehen und gelernt, um meine Zukunft in eine andere Richtung zu lenken.
Warum standen die Leute nicht Schlange, um dieses Diadem zu betrachten? Es war so verdammt schön, dass ich am liebsten alle lauthals herbeigerufen hätte, damit sie es sich ansahen. Aber auf diese Art hatte ich das prächtige Teil ganz für mich allein. Ich blickte mich verstohlen um, um sicherzugehen, dass mich niemand beachtete – was natürlich der Fall war –, stellte mein Champagnerglas auf einem Tisch in der Nähe ab, holte mein Notizbuch heraus und schrieb rasch ein paar Ideen nieder.
Der nächste Schaukasten enthielt einen silbernen, mit Pavé-Diamanten wie mit einer Kruste überzogenen Kamm. Ein weiterer hochgewachsener Kellner tauchte mit einem Tablett Champagner in der Hand neben mir auf. Oh Mann, ich hatte mein Glas bei dem Schaukasten mit dem Diadem zurückgelassen! Ich hatte den Champagner doch nur gekostet. Konnte ich mir jetzt einfach ein weiteres Glas nehmen? Ich blickte den Kellner verstohlen von der Seite an, aber er nahm keinerlei Notiz von mir, also stibitzte ich noch ein Glas und ging zurück zu der Vitrine.
Dem Datum nach zu urteilen, das auf einer dezent neben dem Schmuckstück platzierten Karte stand, musste der Kamm viktorianisch sein, aber das Design war so schlicht, dass er sehr viel moderner wirkte. Hätte ich eine Kunstschule oder irgendeine andere Art von College besucht, hätte ich den Künstler vielleicht erkannt. In den vergangenen Jahren hatte ich zwar vieles recherchiert, aber mir war kaum Zeit geblieben, die wenigen Stücke anzufertigen und zu verkaufen, die ich mir hätte leisten können, ganz zu schweigen von der Zeit, die es gekostet hätte, mich in die Geschichte des Schmuckdesigns zu vertiefen. Bei den Entwürfen, die mir eingefallen waren, handelte es sich ursprünglich um Kritzeleien aus meiner Arbeitspause in der Fabrik. Irgendwann fand ich bei eBay ein Lötset, und als ich etwas zeichnete, das mir so sehr gefiel, dass ich es nicht bei dem papierenen Entwurf belassen konnte, sparte ich etwas Geld für Silber zusammen und fertigte mein erstes Schmuckstück an. Sobald ich mir die Kette mit dem Anhänger aus eigener Produktion um den Hals gelegt hatte – ein silbernes Eichenblatt –, ergriff etwas Besitz von mir. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich ein Ziel, bei dem es nur um mich ging – und nicht darum, die Miete für den Trailer meiner Eltern oder das Schulgeld meiner Schwester aufzubringen. Dies war mein Wunsch und nur meiner. Schmuckdesign war mein Ding.
Ich machte mir ein paar Notizen und umriss einige Ideen auf dem Papier. Ich wusste, dass Sparkle keinen meiner Entwürfe für den Wettbewerb in Betracht ziehen würde, aber ich wollte lernen, meine Ideen mit der speziellen Software des Unternehmens auszuarbeiten.
Dieser Raum war voller Inspirationen, und ich wollte alles in mich aufnehmen, solange sich die Gelegenheit dazu bot. Ich hatte vieles versäumt, weil ich kein College besucht hatte, aber ich war entschlossen, mich in meiner Zeit in London so gut weiterzubilden wie nur möglich und noch den letzten Tropfen an Erfahrung aus diesem Aufenthalt zu pressen.
Ich zog den Kopf ein und schlängelte mich zwischen Kanapees, Kristallgläsern und Kummerbunden zum nächsten Schaukasten durch, dann zum nächsten und zum übernächsten. Hätte sich herausgestellt, dass dies der Himmel war, wäre ich nicht weiter überrascht gewesen.
Während ich einen Kasten mit drei Armbändern darin umkreiste, belauschte ich eine Gruppe von Leuten, die links von mir stand und sich gedämpft über Dexter Daniels unterhielt. Daniels’ Teilnahme an dem Wettbewerb war eine große Nummer. Er war ein virtueller Einsiedler und ebenso dafür bekannt, keine Londoner Filiale zu haben, wie für die Tatsache, dass er trotz seiner Jugend unglaublich erfolgreich war. Er war einer der Favoriten auf den Sieg und, wie ich gehört hatte, außerdem verstörend attraktiv.
Offensichtlich hatte er die Gene seiner Eltern geerbt – aus deren Werkstatt das Diadem stammte, das ich soeben betrachtet hatte. Das Geschäft meiner Familie hingegen bestand darin, sich vor Vermietern zu verstecken und sie um ihr Geld zu prellen. Da er aus einer Familie kam, die ihre Spuren in der Geschichte hinterließ, indem sie Schmuck für Königshäuser entwarf, war Dexter vermutlich sehr … Ob er überhaupt wusste, was für ein Glück er hatte? Weil er mit all dem aufwachsen durfte? Kein Wunder, dass er derart erfolgreich war.
Während ich etwas in mein Notizbuch zeichnete, stupste auf der anderen Seite des Schaukastens eine Frau ihre Freundin an und flüsterte hörbar: »Dort drüben an der Bar. Der große Typ. Das ist er. Dexter Daniels.«
Ich hob den Kopf und folgte mit dem Blick dem Finger der Frau, da drehte sich auf der anderen Seite des Raumes ein Mann zu uns. Ich erschrak über seine gerunzelte Stirn und die schmerzerfüllte Miene. Was in aller Welt konnte so schlimm sein, dass jemand an einem solchen Abend und an einem Ort voller schöner Dinge derart unglücklich war? Er kniff sich in die Nasenwurzel, die Verzweiflung über seinen extremen Erfolg war offensichtlich kaum zu ertragen.
Er war der attraktivste Mann im Saal.
Vielleicht der attraktivste in ganz London.
Sein dickes gewelltes, nahezu schwarzes Haar hatte die perfekte Länge – lang genug, um mit den Fingern hineinzufahren, aber zu kurz, um es zu einem Pferdeschwanz oder, schlimmer noch, zu einem Man Bun zu binden. Er schien als einziger Mann in diesem Raum keine Krawatte zum Anzug zu tragen; das offene Hemd formte ein V unter der kleinen Einbuchtung an seinem Halsansatz. Er fiel auf, aber nicht, weil er in einem Trailerpark lebte oder geliehene Schuhe trug, die eine Nummer zu klein waren. Es lag weder an seiner Körpergröße noch an der Tatsache, dass er Selbstsicherheit förmlich zu versprühen schien, auch nicht an dem Bartschatten auf seinem Kinn. Er fiel auf, weil er nicht wie jemand wirkte, der sich im Kreis seiner Kollegen aufhielt, sondern eher den Eindruck vermittelte, ein Kunde der hier versammelten Juweliere zu sein. Er sah aus wie ein Typ, der in der Lage war, ein paar Tausend Dollar für ein Collier für seine Frau hinzublättern und gleichzeitig etwas für seine Freundin zu erstehen. Jemand näherte sich ihm, um ihn zu begrüßen, und der schmerzerfüllte Gesichtsausdruck verschwand und wurde von einem breiten Lächeln ersetzt. Es war ein Lächeln, das ein Geschäft besiegeln oder jemandem das Gefühl geben konnte, der ungewöhnlichste Mensch im Raum zu sein, und mit Sicherheit war es ein Lächeln, bei dem Frauen ihr Höschen fallen ließen.
Aber nicht ich. Mein Slip würde bleiben, wo er war. Ich senkte den Blick wieder auf die Armbänder und skizzierte weiter.
Ich stellte meine Notizen fertig und suchte den Raum nach weiteren Schaukästen ab, die mir womöglich entgangen waren. In der gegenüberliegenden Ecke stand eine kleinere Vitrine, die ich noch nicht gesehen hatte. Ich fragte mich, warum sie mir bisher entgangen war. Ich blickte auf die Uhr – noch ein paar Minuten, ehe ich zum Bus musste.
Als ich die Vitrine erreichte, erstarrte ich und ließ beinahe mein Notizbuch fallen. Darin lag der schönste Ring, den ich je gesehen hatte. Sehr viel schlichter als die meisten anderen Stücke, die an diesem Abend zu sehen waren, beeindruckte er mit einem großen Smaragd, der von Baguette-Diamanten flankiert war. Während die meisten ausgestellten Schmuckstücke originelle Entwürfe oder brillante Konstruktionen zur Schau stellten, tat dieser Ring nichts dergleichen. Es handelte sich um ein klassisches Design in einer schlichten Fassung, das aber unglaublich schön war. Offenbar ein Verlobungsring, aber ein riesiger. Ich legte meine Hand daneben, um eine Vorstellung von seiner Größe zu bekommen. Der Kontrast war geradezu erschreckend – meine rauen Hände, die ich zu Hause einer Maniküre unterzogen hatte, und daneben dieser elegante, gediegene, perfekt geschliffene Ring. Eine Woche zuvor war ich noch zu Hause im Sunshine Trailerpark gewesen und hatte einen Etsy-Shop betrieben, der mir pro Monat ein paar Bestellungen für Halsketten einbrachte. Nun befand ich mich auf der anderen Seite des Globus, umgeben von schönen Menschen und noch schönerem Schmuck, und stand am Beginn eines dreimonatigen Praktikums bei einem der besten Juweliere der Welt. Und obwohl solch edler Schmuck niemals Hände wie meine zieren würde, konnte ich sie immerhin gebrauchen, um etwas Schönes herzustellen.
Ich musste die Party jetzt eigentlich verlassen, um sicherzugehen, dass ich den Bus rechtzeitig finden würde, aber ich wollte mir unbedingt noch ein paar Augenblicke mit diesem Ring stehlen. Also ließ ich Notizbuch und Stift wieder in der Handtasche verschwinden und umrundete den Schaukasten ein weiteres Mal. Wann würde ich je wieder Gelegenheit haben, Schmuck mit einem solchen historischen Hintergrund zu betrachten, Schmuck, der derart viel Talent und Kreativität bewies?
Erst jetzt verstand ich den verdammten Herrn der Ringe. Meine Skepsis angesichts der Existenz von Zauberern und Hobbits konnte ich problemlos für eine Weile aufgeben, aber die Vorstellung, dass ein geheimnisvoller Goldring jemanden dazu verleiten konnte, derartige Gefahren für Leib und Leben auf sich zu nehmen, war mir immer unglaubwürdig erschienen. Doch als ich nun diesen Smaragd betrachtete, kam mir der Gedanke, dass er möglicherweise eine Reise nach Mordor wert war. Es gab nur wenig, wozu ich nicht bereit wäre, um mir diesen Ring an den Finger zu stecken. Erneut hielt ich meine Hand daneben. Der Stein war groß, aber das machte einen Teil seines Reizes aus. Eine Person, in deren Blickfeld dieser Ring auftauchte, würde nichts anderes mehr wahrnehmen. Mit einem solchen Ring an meiner Hand würden der ungleichmäßig aufgetragene Nagellack und das gebrauchte Kleid keinem mehr auffallen. Vielleicht würde ich sogar zu den anderen Gästen passen, die den Ballsaal an diesem Abend bevölkerten. Das Einzige, was mir dazu fehlte, war ein Ring im Wert von mehreren Millionen Dollar.
»Er passt zu Ihnen«, sagte ein Mann hinter mir. Beim Klang seiner rauen Stimme lief mir unwillkürlich ein Schauer über den Rücken, so als wäre mir jemand mit dem Finger über die nackte Haut gefahren.
Ich drehte ruckartig den Kopf und sah mich dem unglaublich gut aussehenden Dexter Daniels gegenüber, der mich mit funkelnden Augen amüsiert anlächelte. Ich hatte ihn bereits attraktiv gefunden, als er noch auf der anderen Seite des Saals stand, und als ich ihn nun aus unmittelbarer Nähe sah, bestätigte sich dieser Eindruck. Er hatte breite Schultern und nahm den gesamtem Raum vor mir ein; außerdem war er so groß, dass ich den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm in die Augen zu sehen. Er stand dicht vor mir, als hätten wir bereits Geheimnisse miteinander, und sein maßgeschneiderter Anzug strömte einen schwachen holzigen Duft aus. Eine glänzende schwarze Locke fiel ihm in die Stirn, und gegen meinen Willen fragte ich mich, wie es sich anfühlen würde, sie wieder an ihren Platz zurückzuschieben.
Ich wandte mich ab, weil ich bezweifelte, dass ich einen zusammenhängenden Satz herausbringen würde, solange ich ihn anblickte. »Der befindet sich leider weit außerhalb meiner Preisklasse«, erklärte ich.
»Ich weiß nicht, ob er zu verkaufen ist«, antwortete er. »Aber wenn ja, dann sollten Sie ihn bekommen.«
»Genau«, sagte ich. »Außerdem habe ich ein Schloss in Schottland verdient, aber das steht diese Woche leider auch nicht auf der Einkaufsliste.«
Ich blickte zu ihm auf und wartete auf eine Antwort, aber stattdessen erwiderte er nur meinen Blick. Nach einem langen Moment des Schweigens sagte er: »Das Grün Ihrer Augen ist so ziemlich das Schönste, das es gibt, und die blauen Punkte darin sind wundervoll, wie bei einem Smaragd aus Sambia.«
Diese Verrücktheit in Verbindung mit dem schmalzigen Käse, den er da von sich gegeben hatte, reizten mich zum Lachen. Doch ehe ich die Mundwinkel nach oben verziehen konnte, war er bereits einen Schritt zurückgetreten. Seine Wangen röteten sich, als wären ihm seine Worte auf einmal peinlich, vielleicht, weil sie ihm gegen seinen Willen herausgerutscht waren.
»Um Himmels willen, Verzeihung, das klingt ja, als wollte ich Sie anbaggern.« Er kniff sich in die Nasenwurzel, und ich griff instinktiv nach seiner Hand, um sie dort wegzuziehen.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich mag solchen Käse, der dem Schmalz ernsthaft Konkurrenz macht; ich bin geradezu ein Fan davon. Mein Name ist Hollie.«
Er lachte in sich hinein. »Dexter Daniels, und ich schwöre, normalerweise bin ich alles andere als sentimental. Manche Leute werfen mir sogar vor, ich sei allzu lässig, gar nüchtern.« Erneut musterte er mich durchdringend. »Aber Ihre Augen sind wirklich außergewöhnlich.«
»Ja, so außergewöhnlich wie ein Smaragd aus Sambia. Das höre ich ständig, was auch immer das bedeuten mag.«
»Moment mal. Sie haben noch nie einen sambischen Smaragd gesehen?«, fragte er und holte sein Handy aus der Tasche. »Sind Sie nicht in der Edelsteinbranche?«
»Nur als Praktikantin«, sagte ich schulterzuckend.
»Jeder fängt mal irgendwo an.«
»Sie haben recht«, sagte ich. »Es ist nur der erste Schritt.« Eigentlich hatte ich meinen Etsy-Shop für den ersten Schritt gehalten, und in vielerlei Hinsicht stimmte das auch. Allerdings fehlte mir immer entweder die Zeit oder das Geld, um genug Teile anzufertigen, sodass ich kaum Profit machte. Mein Online-Shop war ein Hobby, aber eines, das ein Feuer der Hoffnung in mir entfacht hatte, den Glauben, dass es ein Leben jenseits des Trailerparks für mich gab, sobald Autumn ihren Abschluss gemacht hatte.
Dexter reichte mir sein Handy, auf dessen Display ein riesiger Smaragd zu sehen war.
»Er ist nicht so schön wie der da«, sagte ich, gab ihm das Handy zurück und deutete mit einem Kopfnicken auf den Ring in dem Schaukasten.
»Oder wie Ihre Augen«, antwortete er.
Dieser Mann hatte ein derart schönes Gesicht und einen so heißen Körper, dass sich die Frauen mit Sicherheit von allen Seiten an ihn heranmachten. Warum nur stand er hier und unterhielt sich mit mir über meine Augen? Okay, er war bildschön, aber mit Schönheit konnte ich nur etwas anfangen, wenn sich Glas damit schneiden ließ. Ich musste mich auf mein Praktikum konzentrieren. Ich war nicht wegen eines Urlaubsflirts nach London gekommen.
»Sorry, das war schon wieder schmalzig«, sagte er. »Also, haben Sie, abgesehen von diesem Ring, der zu Ihren Augen passt, noch etwas gesehen, das Ihnen gefällt?«
»Was sollte mir denn nicht gefallen? Ich komme aus einem Kuhkaff in Oregon. Für mich sieht hier alles gut aus. Und für Sie?«, fragte ich.
»Die Tiara.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, als wäre ihm auf einmal unbehaglich zumute.
»Sie ist sehr schön«, sagte ich. »Die Fassung für die obere Stufe ist genial.«
Er nickte, ging aber nicht weiter auf meine Worte ein. Aus irgendeinem Grund war seine Stimmung umgeschlagen. Vielleicht dachte er an die Tiara und daran, wie schwer es sein würde, ein genauso atemberaubendes Schmuckstück zu entwerfen und anzufertigen.
»Damit liegt die Latte in dem Wettbewerb ziemlich hoch«, sagte ich.
»Für diese Herausforderung bin ich auf die Welt gekommen«, antwortete er. Erneut schlug seine Stimmung um, und ein strahlendes Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. »Meine Eltern haben diese Tiara entworfen und sie hergestellt.«
»Davon habe ich gehört. Dann ist es also Ihr … Ihr Schicksal, diesen Wettstreit zu gewinnen?«
»Es ist eher meine Verantwortung.«
Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. Mir dämmerte, dass sich unter Dexter Daniels’ beinahe unanständigem Grad an Schärfe und dem superlässigen Gehabe geheime Tiefen verbargen. Und je länger ich hier stand und dieselbe Luft atmete wie er, desto dringender wollte ich mehr über ihn wissen.
»Das ist eine interessante Sichtweise«, sagte ich, und als ich einen Blick auf Dexters Uhr erhaschte, fuhr ich fort: »Oh Mann, ich hätte vor einer Viertelstunde abfahrbereit draußen vor der Tür stehen müssen.«
»Kommen Sie, ich bringe Sie hinaus«, sagte er und legte mir eine Hand auf den unteren Rücken, sodass ich erneut erschauerte, als er mich aus dem Saal zu führen begann.
Hoffentlich hatte der Bus gewartet. Ich besaß kein Geld, das ich für ein Taxi hätte verschwenden können, und wie die U-Bahn fuhr, hatte ich noch nicht herausgefunden.
»Wer ist der Glückliche, der Sie nach Hause bringen darf?«, fragte Dexter. »Himmel, alles, was ich zu Ihnen sage, klingt definitiv nach Käse. Was haben Sie nur an sich?«
Ich lachte. »Sie glauben, es liegt an mir? Ich bringe Sie zum Schmalzen? Das ist ungefähr das schönste Kompliment, das ich je bekommen habe«, sagte ich, als wir den Eingang des Hotels erreichten. Ich reckte den Hals, konnte den Bus am vereinbarten Treffpunkt jedoch nicht sehen. Hatten meine Kollegen mich einfach sitzen lassen? Waren die Briten nicht viel zu höflich für so etwas? »Eigentlich sollte ich mich hier mit meinen Kollegen treffen.« Ich saß also an diesem Ort fest. Mein Handy für Großbritannien würde ich erst am folgenden Tag abholen, und mein tausend Jahre altes Klapphandy mit amerikanischer Nummer und ohne Roamingtarif lag in meinem kurzfristig angemieteten Zimmer. Und außerdem hatte ich mit meinen neuen Kollegen bei Sparkle sowieso noch keine Telefonnummern ausgetauscht. Was sollten sie mit der Nummer einer Praktikantin auch anfangen?
Irgendwie musste ich nach Hause kommen, aber erst, nachdem ich Dexter losgeworden war. Er hatte mich bereits so sehr abgelenkt, dass ich die Heimfahrt verpasst hatte. Wer weiß, was passieren würde, wenn ich die Sache nicht innerhalb der nächsten Minute beendete.
Ich streckte eine Hand aus. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Dexter Daniels.«
Lächelnd griff er nach meiner Hand.
»Aber wenn Sie mir die Richtung zeigen, in der ich die U-Bahn finde, würde ich mich jetzt gern auf den Weg machen. Die sambischen Augen brauchen nämlich ihren Schönheitsschlaf.«
»Bitte sehr«, sagte er, als vor uns ein Wagen hielt und er die Tür zu dessen Fond öffnete. »Ich lasse Sie an geeigneter Stelle raus. Wo müssen Sie hin?« Mit einer Geste forderte er mich zum Einsteigen auf.
»Das ist Ihr Wagen?«, fragte ich. »Meine Mom hat mich davor gewarnt, zu Fremden ins Auto zu steigen.« Das war natürlich gelogen. Ich warnte meine Schwester vor solchen Dingen, meine Mutter hätte mich eindeutig dazu ermuntert, wenn wir dadurch das Geld für den Bus sparen konnten.
»Aber wir sind doch jetzt Freunde, oder?«, fragte er. »Und keine Fremden mehr.«
Schweigend wog ich meine Möglichkeiten ab. Sollte ich zu Europas attraktivstem Mann ins Auto steigen, der mich entweder sicher nach Hause bringen oder aber mich in winzige Stücke schneiden und an seinen Hund verfüttern würde? Andererseits konnte ich den ganzen Abend durch die Straßen irren und am Ende einem Mörder in die Arme laufen. Die Chance, nach Hause zu kommen, schien ebenso groß zu sein wie die, mit einer Axt ermordet zu werden. »Versprechen Sie mir, dass Sie kein Serienmörder sind?«
»Großes Pfadfinderehrenwort«, sagte er und hob drei Finger.
Die Art, wie Dexters Augen dabei funkelten, verriet mir, dass er alles andere als ein Pfadfinder war. Aber ich war allein in einer großen Stadt, und welche Entscheidung ich auch traf – ein Risiko ging ich in jedem Fall ein.
Ich griff nach seiner Hand, als er mir beim Einsteigen half. Kaum hatte sich die Wagentür geschlossen, begrüßte mich der Mann hinter dem Steuer: »Guten Abend, Ma’am.«
Wahrscheinlich glaubte er, dass Dexter mich nach Hause bringen würde. Was er auch tat, aber nicht auf die Art, wie der Mann annahm. Auf keinen Fall. Ich war nicht auf der Suche nach Ablenkung.
»Wo fahren wir hin?«, fragte Dexter, der neben mir Platz genommen hatte.
Ich beugte mich vor, um dem Fahrer meine Adresse zu nennen, hörte Dexter hinter mir aber leise lachen. »Was ist?«, fragte ich.
»Ach, nichts«, sagte er, als hätte er gerade etwas Geheimes über mich erfahren, ohne dass ich es bemerkt hatte.
»Soll ich Ihnen meine Adresse nennen, damit Sie sie an den Fahrer weitergeben können? Haben Sie ein Problem mit Kontrolle, das Sie mit Ihrem Seelenklempner besprechen sollten?«, zog ich ihn grinsend auf. Hoffentlich verstand der Typ Spaß. »Vielleicht überrascht Sie das, aber in Amerika sind Frauen durchaus in der Lage, ihre Adresse auch ohne männliche Hilfe anzugeben.«
»Nur über den großen Teich und doch eine vollkommen andere Welt«, sagte er und konnte seinerseits ein Lächeln nicht unterdrücken.
Nachdem ich dem Fahrer meine Adresse genannt hatte, ließ ich mich wieder auf die Sitzbank aus luxuriösem Leder sinken.
»Wie lange leben Sie schon in London?«, fragte er.
Ich zählte es an den Fingern ab. »Sechs Tage. Okay, sechseinhalb, wenn man den Zeitunterschied mitrechnet. Ich bin Samstagmorgen angekommen.«
»Oh, wow. Das ist nicht lange. Sind Sie zum ersten Mal in England?«
»Ja. Vor dieser Reise hatte ich nicht mal einen Pass.« Ich würde ihm nicht erzählen, dass ich nie zuvor aus Oregon herausgekommen war. Er war ein megaerfolgreicher, gebildeter Typ, der zweifellos ständig auf Reisen war. Ich hätte hohe Summen darauf gewettet, dass er niemanden kannte, der noch nie seinen Bundesstaat verlassen hatte, ganz zu schweigen von jemandem, der in einem Trailer lebte.
»Und wie gefällt es Ihnen?«, fragte er.
»Meistens ist es ziemlich cool, obwohl die Kerle ziemlich viel Käse erzählen.«
Er nickte und presste die Lippen aufeinander. »Das kommt von zu viel Käsefondue, fürchte ich.«
»Ehrlich gesagt, habe ich so etwas noch nie gegessen«, antwortete ich. »Aber es schmeckt bestimmt himmlisch. Ich glaube, das nächste Vierteljahr hält viele erste Male für mich bereit. Hoffen wir, dass Fondue auch dazugehört.« In diesen wenigen Tagen in England hatte es bereits mehr erste Male für mich gegeben, als ich mir je hätte träumen lassen. Allein an diesem Abend waren es mehr, als ich an den Fingern beider Hände abzählen konnte. Ich war zum ersten Mal im Ballsaal eines schicken Hotels. Hatte zum ersten Mal Champagner gekostet. Zum ersten Mal hatte ich live und in Farbe atemberaubenden Schmuck im Wert von mehreren Millionen Dollar gesehen.
Zum ersten Mal wurde ich von einem attraktiven Fremden nach Hause gebracht, der zufällig auch noch einer der erfolgreichsten Juweliere der Welt war.
»Nun, es wäre mir ein Vergnügen, dafür zu sorgen. Das scheint mir nur fair, schließlich hat meine Sentimentalität Sie heute Abend davon abgehalten, sich mit Ihren Kollegen zu treffen. Das muss ich unbedingt wiedergutmachen.«
Er musste nichts wiedergutmachen. Aber das wusste er bereits.
»Zum Beispiel bei einem Date?«
»Bei einem Käsefondue-Date«, antwortete er.
Es hatte angefangen zu regnen, und um nicht zu zeigen, wie sehr mich seine Einladung innerlich zum Strahlen brachte, folgte ich mit dem Blick einem der Regentropfen, die draußen an der Scheibe hinabliefen.
Die meisten Frauen hätten die Gelegenheit beim Schopf gepackt, aber dieser Typ hatte mich bereits lange genug vom Wesentlichen abgelenkt. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«
»Ich würde Ihnen sehr gern noch mehr Käse erzählen«, sagte er und blickte mich an, als wollte er mir das Kleid von den Schultern streifen. »Ich möchte Sie zum Dinner einladen.«
Ich wurde nur selten um ein Date gebeten. Und wenn es doch einmal vorkam, hatte ich meistens keine Lust darauf. Fondue mit Dexter klang großartig, aber es fühlte sich falsch an. Es kam mir maßlos und albern vor. Ich befand mich bereits in London und absolvierte mein Traumpraktikum. Das war doch wohl Spaß genug, oder?
In Oregon sorgte ich für gewöhnlich dafür, dass genug Geld hereinkam, um die Miete für meinen und Autumns Trailer und für den meiner Eltern zu zahlen, dazu die Studiengebühren für das College meiner Schwester, und schließlich musste ich Geld für Benzin und Essen auftreiben. Käsetoast war unser Grundnahrungsmittel, dazu irgendetwas Kreatives, das wir uns für das Obst und Gemüse im Ausverkauf einfallen ließen. Ich verbrachte einen Großteil meines Lebens damit, mir den Kopf zu zerbrechen, die Posten in der Ausgabenspalte zu addieren und dafür zu sorgen, dass die Summe nicht höher war als die in der Spalte für die Einnahmen. London musste mir auch ohne Einladungen zum Dinner reichen, Punkt. Bei dem Gedanken, wie hoch die karmischen Kosten für jede weitere Minute waren, die ich mit Dexter Daniels verbrachte, wurde mir schwindelig.
Wir bogen in meine Straße ein, und mein Puls beschleunigte sich. Ich wollte Ja sagen, wusste aber nicht, wie ich es anstellen sollte.
»Kann ich darüber nachdenken?«, fragte ich.
Er lachte in sich hinein. »Klar, wenn es sein muss. Geben Sie mir Ihre Nummer.«
»Ach nein, geben Sie mir lieber Ihre Karte.« Ich hatte noch keine britische Nummer, und es war sinnlos, ihm die Nummer meines amerikanischen Handys zu geben, das ich aus Angst vor allzu hohen Kosten nicht einzuschalten wagte.
Er holte eine Visitenkarte aus der Innentasche seines Smokings. Selbst wenn ich ihn niemals anrief, würde sie mich immer daran erinnern, dass er mich nach meiner Telefonnummer gefragt hatte.
Vor meiner Wohnung hielten wir an, und ehe ich mich verabschieden konnte, war Dexter aus dem Wagen geschlüpft, hatte den Kofferraum umrundet und mir die Tür geöffnet.
»Danke«, sagte ich, als er mir beim Aussteigen half. »Für die Fahrt. Und für das … käsige Angebot.«
Er lachte in sich hinein. »Ich hoffe sehr, Sie rufen mich an«, sagte er. Dann hob er meine Hand an seine Lippen und drückte einen Kuss darauf.
Obwohl mein Verstand mir sagte, dass es dazu niemals kommen würde, hoffte ein anderer Teil von mir – derjenige, der alles für möglich hielt –, dass ich es tun würde.
Ich hatte nie zu diesen Geschäftsmännern gehört, die ständig am Telefon hängen. Wie mein Vater hielt auch ich Geschäfte für etwas Persönliches, das man besser von Angesicht zu Angesicht regelte. Aber an diesem Morgen hatte ich ungefähr tausend Mal auf mein Handy geblickt.
»Erwartest du einen Anruf?«, fragte Primrose, als sie mir gegenüber Platz nahm und ihr Tablet herausholte.
»Nein.« Ich legte mein Handy in die obere Schreibtischschublade. Wenn ich es nicht mehr in der Hand hatte, konnte ich vielleicht anfangen, es zu ignorieren. »Wie läuft es mit den Entwürfen? Das Hochzeitsdiadem gestern Abend sollte uns daran erinnern, wie gut wir sein müssen.«
»Es tut mir leid, dass ich den Empfang verpasst habe. Wie war er?«
»Es tut dir leid?«, fragte ich. »Das muss es nicht. Es war ein grässliches Branchenevent. Es war richtig, dass du die Flucht ergriffen hast.« In mancher Hinsicht war der Empfang jedoch weniger schlimm gewesen, als ich erwartet hatte. Es war wundervoll und beruhigend, mich an Ereignisse zu erinnern, die ich vergessen hatte, und Dinge über meine Eltern zu erfahren, die ich nicht gewusst hatte – zum Beispiel, dass meine Mutter nicht nur von Sparkle, sondern von sämtlichen exklusiven Schmuckdesignern hofiert worden war, es aber vorgezogen hatte, weiterhin mit meinem Vater zu arbeiten. Hätte ich am Abend zuvor gefehlt, wäre mir all das entgangen.
Aber Davids Namen zu lesen und befürchten zu müssen, ihm über den Weg zu laufen – das war mehr als unangenehm gewesen. Ich hatte keine Ahnung, was er auf der Teilnehmerliste zu suchen hatte. Soweit ich informiert war, arbeitete er immer noch im Backoffice einer Bank. Warum hätte er an diesem Treffen teilnehmen sollen?
Und dann war da noch Hollie.
Die Begegnung mit ihr war ein Erlebnis. Schon wieder beäugte ich die obere Schublade meines Schreibtisches. Ich musste mich endlich zusammenreißen. Selbst wenn sie in den nächsten Minuten anrufen sollte – sie konnte warten. Ich war in einem Meeting.
Tatsache war, dass ich fest mit ihrem Anruf gerechnet hatte. Im Grunde war ich sauer auf mich selbst, weil ich nicht auf ihrer Nummer bestanden hatte.
»Es war mein dreiunddreißigster Hochzeitstag. Ich habe also keineswegs die Flucht ergriffen. Wie ich höre, bist du zufällig Ben Lewin begegnet.«
Ah, das war der Typ, der das Lachen meines Vaters so gern mochte! »Ja, er war einer von vielen, mit denen ich mich unterhalten habe. Woher zum Teufel weißt du das?«
Primrose tippt sich seitlich an die Nase. »Du magst die Kreise der Londoner Juweliere jahrelang gemieden haben, aber ein alter Fuchs wie ich weiß über fast alles Bescheid, was in dieser Stadt läuft.«
Primrose war in demselben Monat wie meine Mutter geboren. Genau wie ich lebte auch sie fürs Geschäft, so wie auch meine Eltern dafür gelebt hatten. Es war keine Arbeit. Es war Leidenschaft. Und darum gehörte Primrose für mich zur Familie. Sie tickte genau wie wir.
Im Gegensatz zu meinem Bruder.
Nach dem Tod unserer Eltern hatte er das Familienunternehmen so schnell wie möglich verlassen. Warum also nahm er jetzt an einem Branchenevent teil?
»Vom Organisationsausschuss habe ich dort niemanden gesehen. Eigentlich hätte ich überhaupt nicht hingehen müssen«, sagte ich.
Primrose seufzte. »Müssen wir das wirklich noch einmal durchkauen?«
»Ich verstehe nicht, warum wir nicht einfach höllisch guten Schmuck entwerfen können. Die besten Steine nehmen, die es gibt, schleifen wie die Bekloppten und diesen verdammten Preis gewinnen.«
»Dexter«, sagte Primrose. In ihrer tiefen Stimme lag Tadel.
»Verzeihung, ich meinte natürlich: schleifen wie die Besten in der verdammten Branche.«
Primrose nahm meine Schimpfwörter hin, aber bei Bekloppte war für sie die Grenze erreicht.
»All das werden wir tun«, sagte sie.
»Wozu dann die vielen Cocktailpartys und Dinners und Benefiz-Essen?«
Sie lachte. »Weil du zum ersten Mal in deinem Leben nach fremden Regeln spielen musst. Seit du als Juwelier tätig bist, brüskierst du die gesamte Branche. Jetzt musst du all deinen Charme aufbringen und mitspielen, wenn du wirklich gewinnen willst.«
»Ja, das will ich«, antwortete ich. »Ich will unbedingt gewinnen.«
Sie nickte. »Ich auch. Also wirst du bei diesem Wettbewerb Hände schütteln, Small Talk machen, dich mit den anderen Kindern vertragen und so tun, als hättest du es nicht jahrelang für unter deiner Würde gehalten, dich mit diesen Leuten abzugeben.«
Primrose wusste so gut wie ich, dass ich mich nicht aus Arroganz von der Londoner Szene ferngehalten hatte, so oft dieser Vorwurf auch geäußert wurde.