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Lilly Jenkins träumt von einer Karriere als Künstlerin. Der Wettbewerb der renommierten Neo Gallery in New York soll ihr Sprungbrett sein. Gewinnt sie, kann sie sich endlich als Malerin einen Namen machen und die Enge ihrer beschaulichen Heimat in Maine hinter sich lassen. Denn hier wird sie nie mehr sein als die kreative Außenseiterin, die versucht, es allen recht zu machen.
Ausgerechnet da verweigert ihr Christopher Hall, der neue Mitarbeiter der Stadtbank, den so dringend benötigten Kredit. Wovon soll sie nun Farben und Leinwände bezahlen? Und dann küsst er sie auch noch vor den Augen der ganzen Stadt! Was hat er sich bloß dabei gedacht? Und warum rast ihr Herz so in seiner Gegenwart? Wenn es nach ihr ginge, könnte er dahin gehen, wo der Pfeffer wächst!
Aber sie braucht ihn bald mehr, als sie geahnt hat.
Genau wie er sie.
Bis schließlich alles, wovon Lilly immer geträumt hat, auf der Kippe steht – ihre Karriere als Künstlerin genau wie ihr Happy End …
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Inhalt
Impressum
Über das Buch
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
Epilog
Über Philippa
Erstausgabe
März 2021
Mister Sweet Mistake
Philippa L. Andersson
Copyright: © Philippa L. Andersson, 2023, Berlin, Deutschland
Umschlagfotos: © depositphotos.com/Rawpixel und © depositphotos.com/karakotsya
Umschlaggestaltung: Philippa L. Andersson
Lektorat: Mona Gabriel, Leipzig, Deutschland
Korrektorat: Laura Gosemann, Berlin, Deutschland
Philippa L. Andersson vertreten durch:
Sowade, Plantagenstraße 13, 13347 Berlin, Deutschland
www.philippalandersson.de
Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere behalte ich mir die Nutzung meiner Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist nachdrücklich nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet. Sämtliche Personen in diesem Text sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig.
Lilly Jenkins träumt von einer Karriere als Künstlerin. Der Wettbewerb der renommierten Neo Gallery in New York soll ihr Sprungbrett sein. Gewinnt sie, kann sie sich endlich als Malerin einen Namen machen und die Enge ihrer beschaulichen Heimat in Maine hinter sich lassen.
Ausgerechnet da verweigert ihr Christopher Hall, der neue Mitarbeiter der Stadtbank, den so dringend benötigten Kredit. Wovon soll sie nun Farben und Leinwände bezahlen? Und dann küsst er sie auch noch vor den Augen der ganzen Stadt! Was hat er sich bloß dabei gedacht? Und warum rast ihr Herz so in seiner Gegenwart? Wenn es nach ihr ginge, könnte er dahin gehen, wo der Pfeffer wächst!
Aber sie braucht ihn bald mehr, als sie geahnt hat.
Genau wie er sie.
Bis schließlich alles, wovon Lilly immer geträumt hat, auf der Kippe steht – ihre Karriere als Künstlerin genau wie ihr Happy End …
»Hey, Lilly, warte! Kannst du zu Jason in die Schule fahren? Der Auftrag dort muss heute noch fertig werden.«
Eigentlich habe ich schon Feierabend und will gerade in meinen Truck steigen, als mein Chef mir das hinterherruft.
Tu einfach so, als hättest du ihn nicht gehört!, sage ich mir.
Aber dann dauert es keine Stunde, bis deine Mom auf der Matte steht, um sich zu vergewissern, ob mit deinen Ohren alles in Ordnung ist. Willkommen in Bar Harbor, einer niedlichen, kleinen, aber leider manchmal sehr nervigen Küstenstadt in Maine!
Ich zwinge mich zu einem Lächeln und drehe mich um zu dem Mann, der mich mit seinem Schnauzer und dem Stetson immer an einen Sheriff aus dem Wilden Westen erinnert. »Klar, Chef, bin schon unterwegs!«
»Du bist die Beste.«
Oder die Dümmste …
Ich lade mein Equipment zurück in den Truck und fahre vom Gewerbehof das kurze Stück zur Mittelschule.
Als ich parke, überkommen mich Erinnerungen an meine eigene Schulzeit – Kaugummi an meinem Spindschloss, geklaute Pausenbrote, Busengrapscher. Ohne Val und Noah, meine besten Freunde, hätte ich die Zeit nicht überstanden.
Mit einem Seufzen steige ich aus, nehme mein Zeug und hoffe, dass der Job schnell erledigt ist.
Billy’s Farbenwelt renoviert die Musikräume. Der Auftrag hätte längst abgeschlossen sein sollen, mein Chef konnte jedoch eine Fristverlängerung aushandeln. Wenn wir den neuen Termin auch nicht halten, droht eine Geldstrafe – und für die Mitarbeiter der Firma Gehaltskürzungen.
»Hi, Jason!«, rufe ich, als ich den kleinen Konzertsaal betrete, und erwische meinen Kollegen bei einer Kaffeepause mit einer Lehrerin, Brianna.
»Oh, hi, Lilly, was machst du denn hier?«
Ich hebe meinen Farbroller. »Dich unterstützen.«
Es nervt mich tierisch, dass ich seinen Job mit erledigen muss, weil er trödelt und Frauen aufreißt, aber ich schlucke meinen Ärger hinunter. Dadurch werden die Wände auch nicht schneller weiß.
Fachmännisch prüfe ich seine Arbeit und bin erleichtert, dass er immerhin gründlich war. Routiniert rühre ich meine Farbe an und übernehme den letzten Abschnitt, ich schätze, etwa fünfzig Quadratmeter.
»Ich hätte das auch allein geschafft«, sagt Jason gekränkt, trennt sich von Brianna und nimmt seine Arbeit wieder auf.
»Erzähl das nicht mir, sondern Billy«, sage ich und rolle vielsagend die Augen.
Zügig pinseln wir uns über die Wand und sprechen dabei nur das Nötigste. Als wir zwei Stunden später fertig sind, helfe ich ihm, die Malerrollen und Farbreste zusammenzupacken und die Schutzfolien zu entfernen – und ich habe bessere Laune. Das kommt von der Arbeit. Ich liebe es, mit Farbe zu tun zu haben, auch wenn es nur darum geht, sie gleichmäßig auf eine Wand aufzutragen. Plus: Mich trennen nur noch wenige Minuten davon, Feierabend zu machen und an dem Bild weiterzumalen, das ich am Wochenende angefangen habe. Meine wirkliche Leidenschaft: Kunst. Von der ich hoffentlich eines Tages leben kann.
»Sagst du dem Chef, dass ich mit Brianna gequatscht habe?«, fragt Jason, als wir das Equipment und den Abfall zu den Trucks schaffen.
Ich schüttele den Kopf. »Von mir erfährt er nichts. Aber du musst echt besser auf dein Timing achten. Du bist der Einzige, der so viel länger braucht als geplant. Ewig wird er sich das nicht anschauen.«
»Danke dir«, sagt Jason nur, und ich frage mich, ob er verstanden hat, was ich meine. Vermutlich nicht. Für ihn ist das nur ein Job, und wenn er den verliert, glaubt er, er findet leicht einen neuen. Dabei gibt es in der Gegend nicht viele. Bar Harbor lebt vom Nationalpark und von den Touristen, die jeden Sommer scharenweise auf der Halbinsel einfallen. Ansonsten liegen wir recht abgeschieden. Die nächstgrößere Stadt ist Ellsworth, auf dem Festland, kaum größer als Bar Harbor. Und das, was wir Metropole nennen, ist Bangor, mit über dreißigtausend Einwohnern, etwa eine Autostunde entfernt. Für uns, die wir es gewohnt sind, dass alles um die Ecke ist, ist das schon fast eine Fernreise. Jeder ist froh, wenn er auf der Insel einen Job hat.
Wir fahren zurück zum Gewerbehof, laden alles ab, und ich mache mich aus dem Staub, bevor ich weitere Zusatzarbeit aufgedrückt bekomme.
Juhuuu, Feierabend!
Zu Hause stopfe ich mir ein Fertigsandwich rein und lasse den Blick über den kleinen Wohnraum mit den in die Jahre gekommenen Möbeln und mein Atelier schweifen. Von außen wirkt das Haus zwischen den in der Gegend üblichen Neuengland-Villen wie eine Garage. Aber es ist mein Reich, geerbt von meiner Oma, und ich kann hier in Ruhe malen. Gleich, gleich, gleich …
Ich schaue kurz auf dem Handy nach, was sich in der Kunstwelt seit heute Morgen getan hat. Vielleicht gibt es ein neues Kreativprojekt oder einen Workshop, über den ich Kontakte knüpfen kann. Irgendetwas, um der Enge von Bar Harbor zu entkommen und endlich Gleichgesinnte um mich zu haben und mich professioneller aufzustellen.
Ich nehme mir ein zweites Sandwich, scrolle auf Instagram durch Profile meiner Lieblingskünstler, lese danach Artikel in Kunstmagazinen und halte mitten im Kauen inne, als mir eine Überschrift ins Auge springt.
NEW YORKER GALERIE SUCHT NACHWUCHSTALENTE
»Das gibt’s ja nicht!«
Ich lege das Essen beiseite, überfliege den Artikel und wechsele vom Handy an den Laptop, um alles am großen Bildschirm nachzulesen. Das könnte die Chance sein, auf die ich seit Jahren warte!
Die New Yorker Neo Gallery sucht zehn Newcomer für eine Ausstellung. Jeder darf sich mit einem Bild bewerben und es digital einschicken. Im August trifft eine Jury die Vorauswahl. Fünfzig Künstler dürfen danach dieses und vier weitere Bilder nach New York schicken. Die Galerie wählt daraus zehn Gewinner aus und gibt sie Ende Oktober bekannt.
Mein Puls rast.
Nur für den Fall, dass ich was falsch verstehe, lese ich den Artikel ein drittes Mal. Solche Wettbewerbe haben immer einen Haken. Sie wollen die letzte Galerie wissen, in der man ausgestellt hat. Oder sie verlangen Empfehlungsschreiben. Oder sie haben irgendein merkwürdiges Thema. Leben im All, die Quadratur des Kreises, organische Materialien … Aber ich finde keinen.
Ich schreibe mir die Termine auf und muss plötzlich lachen. Wenn die mich entdecken, dann kriege ich endlich einen Fuß in die Kunstszene und lerne Leute kennen, die verstehen, was ich tue. Meine Güte, und mein Debüt würde ich in New York geben! Wahnsinn! Vielleicht findet sich ein Unterstützer, oder ich ergattere ein Stipendium und kann umziehen. Das hier, das ist groß. Richtig groß!
Kritisch betrachte ich meine aktuelle Arbeit. Ich liebe die Farbübergänge, aber brauche etwas Neues, Frisches, noch nie Dagewesenes!
Aufgeregt inspiziere ich meine Farbtuben. Ich werde viel herumprobieren müssen. Dafür reicht das Material nicht. Mist!
Also arbeitest du doch an einer alten Idee weiter?
Nein, auf keinen Fall. Mein Leben besteht aus Kompromissen. Ich verdiene mein Geld mit dem Anstreichen von Wänden statt mit Kunst. Das hier mache ich richtig. Für mich. Solche Gelegenheiten bieten sich nur ein Mal im Leben. Das muss ich nutzen.
Ich schnappe mir einen Zeichenblock und skizziere erste Gedanken. Das Ergebnis gefällt mir. Aber das ist es noch nicht … Wie gut, dass ich bis August Zeit habe! Das wird schon!
Nur eine Sache bereitet mir Bauchschmerzen: Wie finanziere ich das alles? Neue Acrylfarben kosten ein Vermögen, und ich habe den letzten Kredit noch nicht abbezahlt.
Ich unterbreche meine Arbeit und mache einen Kassensturz. Abzüglich aller Kosten bleiben mir im Monat hundert Dollar. Das reicht hinten und vorne nicht. Ich brauche mehr Nebenjobs – und einen erneuten Termin bei der Bank.
Online vereinbare ich ein Gespräch in zwei Wochen. Als Betreff gebe ich ›Kredit‹ an, dann drücke ich auf Senden.
Auf dass ich das Geld bekomme!
»Den Drink würde ich nicht nehmen«, sage ich zu der verdammt heißen Frau an der Bar in Midtown, die schon die ganze Zeit meinen Blick sucht und dadurch nicht mitbekommen hat, wie ihr ein schmieriger Typ was ins Glas gekippt hat.
Nervös dreht sie sich um, sieht den Kerl und drängt sich enger an mich.
»Keine Sorge, nichts passiert«, sage ich und gebe der Security einen Wink, den Mann rauszuwerfen. »Noch mal das Gleiche«, sage ich zum Barkeeper und biete der Frau an, ihren Drink zu übernehmen.
»Ich bin nicht alleine hier.« Sie deutet auf ihre Freundinnen.
»Kein Problem, geben wir euch besser allen neue Getränke«, sage ich und lege mehr Scheine auf den Tresen. Ganz der Samariter. Wobei mir eine Idee kommt. Durch ein Investment habe ich Millionen für die Northland verdient, eine kleine, aber gut vernetzte Bank an der Ostküste. Und mir ist nach Feiern. »Wenn du von den Männern hier genug hast und etwas mehr Spaß willst …«, hauche ich ihr ins Ohr. »Meine Freunde und ich sitzen dort drüben. Komm gerne vorbei!« Ich deute zum VIP-Bereich. Dann schnappe ich mir die Drinks, für die ich eigentlich an die Bar gegangen bin, und hoffe, die blonde Schönheit folgt der Einladung.
Am Eingang zur Privatlounge gebe ich der Security Bescheid, dass sie die Frau und ihre Freundinnen zu uns durchlassen dürfen, sollten sie nachkommen, und zufrieden setze ich mich zurück zu meinen Leuten.
»Was hat so lange gedauert?«, fragt Evan, mein Kollege und bester Freund. »Mussten die den Wodka erst aus Sibirien einfliegen lassen?!«
»Nein, ich musste ein paar Damen in Not retten. Cheers!«
Wir stoßen an, und ich muss grinsen, als sich kurz darauf meine neue Bekannte mit zwei Freundinnen zu uns gesellt, eine attraktiver als die andere.
Der Tag wird immer besser. Erst ein Volltreffer im Job, jetzt einer beim schönen Geschlecht.
»Ich wollte mich noch mal für eben bedanken«, sagt sie, klettert auf meinen Schoß und legt die Hand auf meinen Schritt. »Das war sehr nett von dir.«
»Ich kann noch viel netter sein, Baby! Soll ich?«
Sie nickt und reibt mich weiter, eindeutig an mehr als Drinks interessiert.
Ich greife mit einer Hand unter ihr Kleid und grinse, als ich ihre Pussy spüre, aber keinen Slip. »Unanständiges Mädchen. Was sagt dein Daddy dazu?«
»Daddy ist in den Hamptons.«
»Oh, du Arme! Lass dich trösten.« Ich schiebe die Finger in sie, und sie stöhnt wohlig. »Ja, darin bin ich gut.«
Noch mehr als den Rausch von Geld liebe ich den Rausch von Sex. Vor fremden Blicken geschützt fingere ich meine Barbekanntschaft geschickt zum Höhepunkt, lasse mir die feuchten Finger von ihr ablecken, ziehe mir ein Gummi über und gehe aufs Ganze.
Yeah, ich liebe mein Leben! Keine Ahnung, warum manche meiner Kollegen abends nach Hause zu ihrer Freundin wollen, zur immer gleichen Frau. Das hier ist so viel besser. Bei Runde eins, genau wie bei Runde zwei, drei, vier …
Evan und ich bleiben bis eins und vergnügen uns. Als wir die Bar verlassen, holt er ein Tütchen mit weißem Pulver raus.
»Ich nehm keine Drogen, das weißt du«, zische ich und winke ein Taxi ran.
»Besondere Tage verdienen besondere Spaßmacher.« Abwartend sieht er mich an. »Fein, wenn du nicht willst, mehr für mich.« Wir steigen ins Taxi, er zieht sich auf seiner Kreditkarte eine Line, rollt einen Hunderter zusammen und inhaliert den Stoff durch die Nase. »O ja, Mann! Das Zeug knallt ordentlich rein!«
»Scheiße, okay, ich will doch«, sage ich. Man lebt schließlich nur einmal.
***
Das Telefon klingelt. Nicht mein Handy, sondern mein Büroapparat. Fuck! Bin ich etwa in der Bank?!
Geblendet vom Licht blinzele ich. Es scheint Morgen zu sein. Ich hab nicht den leisesten Schimmer, wie ich hierhergekommen bin. Ein paar Fetzen von letzter Nacht kommen mir in den Sinn. Irres Zeug. Könnte wirklich passiert, könnte aber auch ein Traum gewesen sein.
Das Telefon hört nicht auf zu klingeln.
»Ja, Hall hier!«, melde ich mich.
»Sir, Sie haben in drei Minuten das Meeting mit Ihrem Vater.«
»Wie bitte?«
»Das Meeting … mit Ihrem Vater … in drei Minuten«, wiederholt meine Assistentin, eine der wenigen Frauen in New York, die ich nicht flachgelegt habe, weil selbst ich Prinzipien habe. Eines heißt, dass man nicht dort Sex hat, wo man arbeitet.
Scheiße! Die Nachricht dringt zu mir durch, und ich springe auf. Warum sieht mein Anzug so aus, als hätte ich auf einer Wiese Purzelbäume geschlagen? Ich streiche mir Grashalme vom Stoff, fahre mir durch die Haare und stürme los. Mein Vater muss von meinem Mega-Deal erfahren haben. Vielleicht übergibt er mir jetzt seinen Posten. Zeit wäre es. Der Mann geht auf die siebzig zu!
Kurz vor seinem Büro halte ich inne, atme tief durch und betrete dann ganz Mister Seriös das Zimmer.
»Guten Morgen, Vater!«
»Setz dich, Sohn!«
Zwei unserer Anwälte sitzen am Konferenztisch, und Papiere liegen herum. Vielleicht mein neuer Vertrag. Man darf ja hoffen!
»Das war gut gestern, was?«, platzt es stolz aus mir heraus. »150 Millionen Dollar mit einem einzigen Geschäft. Bäääm! Das muss mir erst mal jemand nachmachen.«
Mein Vater kommt zu uns und setzt sich, aber in seinem Gesicht ist kein Funken Anerkennung. Es ist vielmehr Wut, wahnsinnig heftige, mühsam gezügelte Wut.
»Was ist passiert?«, frage ich, setze mich automatisch aufrechter hin und greife nach den Papieren. Es ist ein Arbeitsvertrag in einer Northland-Filiale als Bankberater. Langweilig!
Stumm schiebt mein Vater mir Fotos über den Tisch. Darauf bin ich zu erkennen, wie ich im Central Park an den Bronzebrüsten der Romeo-und-Julia-Statue herumspiele. Das war kein Traum?!
Doch das ist noch nicht alles. Es folgen weitere Aufnahmen, wie ich mit einer der Kutschen, die sonst Touristen durch die Stadt chauffieren, über die Fifth Avenue presche. Und dann Bilder, wie ich in den Brunnen der Bank pinkele. Fuck, fuck, fuck. Ich hätte die Drogen nicht nehmen sollen.
Das ist nicht mein erster Ausrutscher. Ich bin in dieser Stadt für meine ausufernden Partyexzesse berühmt. Doch niemand konnte mir bisher was anhängen. Meine Familie hat sehr gute Anwälte, und wo kein Kläger, da kein Richter. Das könnte sich heute ändern.
Ich suche nach den richtigen Worten, aber jede Entschuldigung klänge irgendwie lahm. »Und?«, sage ich daher nur, was aufmüpfiger rüberkommt als gewollt.
»Konnten Sie die Veröffentlichung der Bilder verhindern?«, fragt mein Vater die Anwälte.
»Ja, Sir.«
»Wie sieht es mit den sozialen Medien aus?«
»Ein paar Bilder sind online, aber keines, auf dem Ihr Sohn zu erkennen ist.«
»Wunderbar, die einzige gute Nachricht heute Morgen.« Er sieht wieder mich an. Streng. Sehr streng. Mit einem Blick, den ich nicht kenne. »Du bist gefeuert!«
»Wie bitte?!«
Er verzieht keine Miene. »Du bist einer der Besten hier –«
»Der Beste«, unterbreche ich ihn scharf.
»Fein, der Beste … Aber die Northland wird solche Aktionen nicht länger dulden. Du bist gefeuert.«
»Du meinst, du wirst sie nicht länger dulden«, korrigiere ich ihn, zunehmend wütend, obwohl mir klar ist, dass er hier derjenige von uns beiden ist, der sich erwachsen benimmt.
»Christopher, ich habe dich wieder und wieder gewarnt und habe mehr als einmal ein Auge zugedrückt. Irgendwann ist Schluss.« So als wären wir fertig, steht er auf und geht zu seinem Schreibtisch. Ich bleibe fassungslos sitzen. »Gib mir deine Mitarbeiterkarte. Du kannst jetzt gehen. Die Security wird dich nach draußen begleiten.« Jetzt mischt sich zum ersten Mal Traurigkeit in seinen Blick. »Ich bin wirklich schwer enttäuscht von dir, Sohn. Du hättest es so weit bringen können. Doch was machst du? Du verspielst deine Chancen!«
Jeder andere Satz hätte meinen Puls in die Höhe klettern lassen. Aber das nimmt mir den Wind aus den Segeln. Es war nie leicht zwischen meinem Vater und mir. Das Einzige, was uns verbindet, ist das Geschäft. Ich liebe alles, was mit dieser Bank zu tun hat. Das weiß er. Seit ich klein bin, träume ich davon, irgendwann die Geschäfte weiterzuführen. Ich habe immer gedacht, das sei mein gutes Recht und mein Vater würde mir früher oder später die Geschäfte übertragen. Nun sehe ich, dass Familie zwar viel bedeutet, aber nicht alles.
»Dad, ich bessere mich«, sage ich ruhig. »Ich verspreche dir, ich reiß mich zusammen. Ich hör mit den Partys auf. Alles! Nur nicht das!«
»Das ist nicht das erste Mal, dass du mir das versprichst. Letztes Jahr um die Zeit hatten wir ein ähnliches Gespräch. Wenn du dich überhaupt daran erinnern kannst, so zugedröhnt, wie du warst.«
Ich erinnere mich dunkel. Danach habe ich mich für ein paar Wochen vorbildlich benommen. Aber dann kam erst ein Abend mit meinen Freunden, dann eine Party. Weitere Ermahnungen blieben aus, und es tat einfach so gut, zu feiern und alles andere zu vergessen. Nach nicht mal vier Wochen war alles wie zuvor. Verdammter Mist!
Die Security meldet sich und fragt meinen Vater, was anliegt. Er hat sie wirklich gerufen, um mich rauswerfen zu lassen! Aus einem Gebäude, das praktisch mein zweites Zuhause ist.
»Bitte tu das nicht. Lass es mich wiedergutmachen. Ich entschuldige mich bei der Nachtschicht. Oder ich kümmere mich um den Springbrunnen. Ich mach alles.«
»Sir?«, fragen die Sicherheitsleute, die nur die Hälfte von dem verstehen, was hier vor sich geht.
»Warten Sie noch kurz draußen«, sagt mein Vater und nickt dann den Anwälten zu.
Mein Herz rast, weil ich letzte Nacht aus Dummheit meine gesamte Zukunft verspielt haben könnte. Und das war es nicht wert. Absolut nicht.
»Es gibt eine Sache«, sagt mein Vater ruhig und legt eine Pause ein, die deutlich macht, dass das meine allerletzte Chance ist. Entweder ich spiele mit, oder ich werde nie wieder einen Fuß in ein Gebäude der Northland setzen.
»Was ist es?«, frage ich. »Was kann ich tun?«
Mein Vater geht zum Konferenztisch, nimmt den Arbeitsvertrag für die Stelle in Bar Harbor und reicht ihn mir. »Du gehst nach Maine, für sechs Monate.«
Ich lese die Papiere gründlicher. »Dad, für diese Position bin ich überqualifiziert.« Ich sehe mir die Aufgaben an. »Tagesgeschäft? Kundenberatung? Administration? Das habe ich zuletzt mit sechzehn gemacht.« Als ich mir als Teenager Geld dazuverdient habe.
»Ich weiß«, sagt mein Vater. »Und damals hast du dich anständiger benommen als heute. Vielleicht hilft es dir ja, dich an deine Anfänge zu erinnern und wieder der Mann zu sein, der mich so stolz gemacht hat.«
Mir liegen sofort zig Einwände auf der Zunge. Ich bin kein Kind mehr. Er kann mir nicht vorschreiben, was ich tun oder lassen soll. Und wo steht geschrieben, dass man im Leben keinen Spaß haben darf? Aber ich schlucke sie hinunter. Meinem Vater ist das ernst.
»Nur damit ich es nicht falsch verstehe: Du willst, dass ich in dieses Kaff ziehe und dort ein halbes Jahr lang nichts anstelle?«
»Im Grunde ja. Benimm dich und erkenne, worauf es im Leben wirklich ankommt.«
»Du meinst Bescheidenheit, Respekt, Demut? Solche Sachen?«
»Das wirst du schon selbst herausfinden.«
Die Worte dringen zu mir durch, und die Entscheidung fällt mir leicht. Ich will eines Tages die Northland führen. Wenn ich dafür ein halbes Jahr lang in einer Kleinstadt ausharren muss, die weniger Einwohner hat als die Bankgruppe Mitarbeiter, dann mache ich das.
»Kann ich einen Stift haben?«, frage ich einen der Anwälte.
Ich bekomme einen Kugelschreiber gereicht und trage meinen Namen als Arbeitnehmer ein, zeichne alle acht Seiten ab und unterschreibe.
»Gibt es auch noch einen Vertrag, der unsere Vereinbarung festhält?«, frage ich meinen Vater. Sechs Monate Provinz für meinen Traumjob in der Northland.
»Du weißt genauso gut wie ich, dass die Anwälte als Zeugen ausreichen. Wenn du allerdings darauf bestehst, hole ich das nach. Das ist kein Problem.«
Ich gehe in mich, ob ich das Papier brauche, und schüttele den Kopf. »Nein, das genügt.« Als Vater hat der Mann vor mir sich nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert, aber als Bankchef ist er absolut vertrauenswürdig. »Muss ich noch etwas klären, oder redest du mit der Filialleitung in Bar Harbor?«
»Meine Leute kümmern sich darum.«
Ich zucke zusammen, als er ›meine‹ und nicht wie sonst ›unsere‹ sagt. »Gut, dann habe ich wohl einen Umzug vorzubereiten«, sage ich nur, stehe auf und verlasse das Büro.
Zwei Wochen später
»Schaffst du es noch, meinen Gartentisch zu streichen, Liebes?«
Ich bin gerade dabei, die Farbeimer zu verschließen und den Platz sauber zu verlassen, als mich die Stimme von Mrs Gilmore stoppt.
Die alte Dame und Freundin meiner Mom steht im Türrahmen und wirft mir einen flehenden Blick zu. Ich muss genau jetzt los, um bequem von Tremont zurück nach Bar Harbor zu fahren. Dort hab ich um drei den Termin in der Bank. Aber ich kann nicht Nein sagen. Am Wochenende feiert sie ihren siebzigsten Geburtstag. Deshalb habe ich an den vergangenen Abenden und an meinem freien Tag heute ihre Veranda neu gestrichen. Und wenn sie noch einen Tisch braucht, kriegt sie einen Tisch. So funktionieren die Sachen hier bei uns. Jeder kennt jeden, und wir helfen einander. Mal für kleines Geld, in dem Fall sogar gratis, was okay ist. Sie hat meiner Mom früher, als ich noch klein war, viel geholfen. Meinen Dad kenne ich nämlich nicht, der hat uns alleingelassen, bevor ich auf die Welt kam.
»Natürlich, Mrs Gilmore«, sage ich und hoffe, dass ihre Farbe reicht und ich schnell fertig werde. »Wo ist der Tisch?«
»Du bist ein Engel, Liebes! Im Gartenhaus.«
Ich kenne mich auf ihrem Grundstück aus. Sie muss mir den Weg nicht zeigen. Ich jogge hin und fluche, als ich das Möbelstück entdecke. Das Holz hat sich im Laufe der Jahre verzogen. Bevor ich es streiche, muss ich die Tischplatte abschleifen. Das wird knapper als gedacht.
Statt zu jammern, ziehe ich mir den Tisch zur Veranda, wo auf einer Schutzfolie die Farbeimer stehen. Ich hole von der Ladefläche meines in die Jahre gekommenen Pick-ups das Schleifgerät, setze mir die Schutzbrille auf und lege los.
Sobald die gröbsten Farbreste weg sind, arbeite ich kleinere Stellen per Hand mit Schmirgelpapier nach. Dann greife ich zum Landhausweiß, in dem ich die Veranda gestrichen habe. Die Farbe wird reichen. Perfekt!
Obwohl wir Mai haben und es um die Jahreszeit bei uns erst so warm ist wie weiter südlich in Boston oder New York schon im März, komme ich ins Schwitzen. Und ein bisschen ärgere ich mich doch. Hätte Mrs Gilmore das nicht heute Morgen oder besser noch gestern sagen können? Dann hätte ich mir meine Zeit anders eingeteilt. Ich brauche das Geld der Bank für Farben und Leinwände. Sonst wird das nie was mit dem Wettbewerb.
So schnell wie möglich verteile ich die Farbe. Sie spritzt. Aber das ist mir gerade egal. Ich trage eine Latzhose, die schon mehr als einen Farbfleck hat, und die Folie unter mir schützt den Rasen.
Als ich fertig bin, räume ich alles zusammen, verabschiede mich von Mrs Gilmore, springe in meinen Wagen und presche mit durchdrehenden Reifen davon. Noch kann ich es schaffen.
Ich fahre über der Geschwindigkeitsbegrenzung und habe Glück, dass ich in keine Kontrolle gerate. Bei Einheimischen ist die Polizei meist ein bisschen nachlässig. Aber das gilt nicht bei mir. Alle glauben, dass ich Matthew Tanner, den Sohn des Polizeichefs, vor dem Abschlussball habe sitzen lassen. Dafür lässt man mich büßen. Dabei war es in Wahrheit andersherum.
Als ich auf der Main Street nach einem Parkplatz suche, ist es genau drei Uhr. Ich hätte mich gerne noch mal für den Termin umgezogen. Aber dafür ist keine Zeit. Ich bin lieber pünktlich, als Feinstrumpfhosen und Pumps zu tragen.
Im Schritttempo rolle ich über den Kundenparkplatz, doch kein Wagen fährt weg. Verdammt! Muss denn heute alles schiefgehen?!
Notgedrungen fahre ich zum angrenzenden Hotelparkplatz. Bar Harbor ist nicht so klein, dass jeder wirklich jeden kennt, aber mein zerfallender Truck und ich sind Stadtgespräch. Ich werde mir später was anhören dürfen, dass ich den Schandfleck der Insel neben die SUVs der Erholung suchenden Großstädter gestellt habe. Pech!
Ich parke den Wagen, fahre mir hastig durch die Haare und versuche, die nussbraunen Strähnen, die sich aus meinem Zopf gelöst haben, wieder festzustecken. Um den Farbgeruch zu überdecken, versprühe ich Deo. Dann greife ich nach meinem Rucksack mit den Unterlagen und renne die zweihundert Meter zurück zur Bankfiliale.
»Da bin ich!«, melde ich mich nach Luft japsend um zehn nach drei bei Janet, der Filialleiterin.
Ihr Blick registriert jegliche Unzulänglichkeit. Wäre ich zum ersten Mal hier, würde mich das einschüchtern. Aber ich kenne es nicht anders.
»Du bist zu spät«, sagt sie finster.
»Ich hab den Termin bis halb«, erwidere ich. Wenn sie jetzt einen Aufstand wegen zehn Minuten macht, kann sie vergessen, dass ich im Kinderzimmer ihrer Kleinen für ein Taschengeld Prinzessinnen an die Wand male!
»Gut, komm mit«, sagt sie nur und gibt mir einen Wink, ihr zu folgen. »Wir haben einen neuen Mitarbeiter. Er übernimmt die Fälle von Walter.«
»Warum?« Walter Rogers betreut mich, seit ich meinen ersten Dollar verdient habe. Manchmal habe ich das Gefühl, dass der alte Mann der Einzige in der Stadt ist, der auf meiner Seite steht. Ohne ihn wären meine Träume immer noch nur Träume. Auf ein Gespräch mit jemandem vom Format Janet – eiskalt, aalglatt und geldgeil – bin ich nicht vorbereitet.
»Walter tritt kürzer. Das wollte er schon seit Jahren. Und dank unseres neuen Mitarbeiters kann er das auch«, erklärt Janet und bleibt vor einem der Beratungsschreibtische stehen. »Mr Hall ist ab sofort für deine Finanzen zuständig. Nimm Platz!« Sie legt Kopierpapier auf dem Stuhl aus, als würde mein Arbeitsanzug Farbflecken hinterlassen. »Ich hol ihn.«
Kann der Tag noch schlimmer werden?
Ich zwinge mich zu einem falschen Lächeln, setze mich mit einem Knistern auf die Papierunterlage und lege die Dokumente für den Kreditantrag auf den Tisch.
»Noch ein Landei, wie schön!«, murmelt da eine vor Geringschätzung triefende Männerstimme, die so dunkel ist, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft.
Ich blicke auf und spüre sofort, dass der Kerl vor mir hier nichts verloren hat. Genauso wenig wie ich. Nur aus völlig unterschiedlichen Gründen. Ich weiß gar nicht, wohin ich zuerst schauen soll.
Kantiges Gesicht, bernsteinfarbene Augen, perfekt frisierte Haare. Grübchen! Der Mann könnte Model sein. Da ich sitze, kann ich nicht abschätzen, wie viel größer als ich er ist, aber er ist definitiv größer. So dass Laufstegmodels neben ihm klein wirken würden, und seine Schultern sind breit und füllen einen Anzug aus, der wie maßgeschneidert sitzt. Wahrscheinlich, weil er genau das ist. Der Mann ist wie aus einer anderen Welt nach Bar Harbor gebeamt.
Fasziniert strecke ich die Hand aus, muss ihn einfach berühren, um mich davon zu überzeugen, dass das, was ich sehe, echt ist.
»Wehe!«, knurrt er da und holt mich damit in die raue Realität zurück. Er klickt mit konzentriertem Blick auf den Bildschirm mit der Computermaus und sieht mich an. »Ms Jenkins, Sie sind heute hier, um einen neuen Kredit zu beantragen. Ist das richtig?«
Da er so geschäftsmäßig ist, bin ich es auch und reiche ihm meine Mappe. »Ja, ich –« Weiter komme ich nicht.
»Abgelehnt!«, sagt er nur, klickt noch mal etwas, rollt schließlich in seinem Drehstuhl zurück und steht auf, als wären wir fertig.
»Halt, stopp!« Ich springe mit einem Knistern von meinem Papierstuhl auf und richte ein mittleres Chaos an, weil die Blätter über den Flur segeln. »Sie haben sich meine Unterlagen ja noch nicht mal angeschaut!«
Der Kerl würdigt mich keiner Antwort.
»Hey, Banker, ich rede mit Ihnen!«, rufe ich lauter und werfe aus einem Impuls heraus meine Mappe nach ihm.
»Au! Spinnen Sie?!«, schimpft er, reibt sich die Schulter, dreht sich um und schaut mich an, als würde er mir am liebsten eine kleben. Gleich darauf verrenkt er sich und inspiziert die Rückseite seines Jacketts, als hätte er Angst, einer meiner Farbflecke wäre von mir auf ihn übergesprungen.
»Ob es Ihnen nun passt oder nicht, ich habe hier bis halb vier einen Termin mit Ihnen. Also setzen Sie sich gefälligst zurück auf Ihren Hintern und beraten Sie mich. Andernfalls werde ich mich bei der Filialleiterin beschweren, und Sie sind diesen Job ganz schnell wieder los.«
Meine Freunde hatten recht, ich sollte mir unbedingt eine Knarre zulegen. Ich habe Leute in New York weitaus kühler behandelt, doch noch nie hat mir jemand auch nur ein Haar gekrümmt. Ganz anders diese farbbeschmierte Vollkatastrophe vor mir! Hass brodelt in mir. Aber gut, hierher von meinem Vater versetzt zu werden wäre ja keine Erziehungsmaßnahme, wenn es mir gefallen würde. Ich muss das hinkriegen.
»Fein! Der Kunde ist König«, sage ich giftig und schaue auf meine Rolex. »Sie haben mich noch für volle fünfzehn Minuten.« Als würde das was ändern. Ganz der brave Mitarbeiter habe ich mir die Akte von Lilly Jenkins selbstverständlich in Vorbereitung auf den Termin angeschaut. Ihre Kreditlinie ist überzogen. Mir ist schleierhaft, wie mein Vorgänger es drehen konnte, ihr trotzdem Geld zu geben. Ich verstehe was von meinem Job, und das bedeutet, dass die Frau vor mir unter absolut keinen Umständen auch nur einen weiteren Cent erhält. Aber wenn sie es erst um halb vier begreift, bitte, dann warten wir eben bis halb vier.
Ich setze mich zurück an den Schreibtisch und durchbohre die Kundin mit eiskalten Blicken. Sie hebt die Papiere vom Boden auf, legt sie wieder auf den Stuhl und nimmt Platz.
Noch vierzehn Minuten …
»Hallo, Mr Hall, freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, begrüßt sie mich, als würden wir uns gerade erst begegnen, und reicht mir erneut die Hand.
Ich reagiere nicht und ziehe nur die Augenbrauen hoch. Ihr Handrücken ist übersät mit Farbsprenkeln. Anders als die Flecken auf ihrer Kleidung scheinen diese frisch zu sein. Zumindest riecht die Frau so. Auch wenn der billige Deo-Duft den Geruch wohl hat überdecken sollen. Ich werde ihr ganz sicher nicht die Hand geben.
»Weshalb darf ich Sie heute in der Filiale der Northland begrüßen?«, spule ich meinen Spruch mit einem falschen Lächeln ab.
»Tja … also …« Ihr Blick gleitet erneut über mich, wobei mir ganz heiß wird. Keine Ahnung, warum die kleine Malerin das in mir auslöst. Seit ich hier angekommen bin, starren mich die Leute an wie ein exotisches Tier, als wäre ich der erste Großstädter, der sich hierher verirrt. Bisher hat es mich nicht gestört. Warum das bei dieser Frau anders ist, verstehe ich nicht. Gut, wir haben etwa das gleiche Alter, und auf ihre Art ist sie attraktiv. Unter all der Farbe und den Malersachen. Aber sie ist definitiv nicht mein Typ. Ich stehe auf Frauen von Welt, die sich in jeder Situation selbstsicher bewegen, bis wir im Schlafzimmer sind, wo sie mich das Kommando übernehmen lassen.
Woher kommt denn dieser Gedanke jetzt auf einmal? Für unkomplizierten Sex habe ich hier schon jemanden gefunden. Dazu brauche ich sie nicht. Ich fahre mir übers Gesicht, wahre meine harte Miene und sehe Ms Jenkins abwartend an.
»Ich benötige siebentausend Dollar«, sagt sie und schiebt mir ein Blatt Papier zu. Mit Farbflecken besprenkelt.
Kopfschüttelnd reibe ich über die Flecken, doch sie bleiben. Unglaublich! In New York habe ich jeden Tag Investitionen von mehreren Millionen Dollar betreut. Und hier kümmere ich mich um ein paar Riesen, um die auf beschmutztem Papier gebettelt wird!
Ich tue so, als würde ich die Unterlagen lesen, starre aber nur drauf. Egal, was dort steht, ich kann ihr den Kredit nicht einräumen.
»Und?«, fragt sie, als ich zur letzten Seite geblättert habe.
»Was und?«
»Bekomme ich den Kredit?«
»Nein«, sage ich und reiche ihr die Papiere zurück. »Kann ich sonst noch was für Sie tun, Ms Jenkins?«
Blinzelnd sieht sie mich an. Heftig blinzelnd. Fuck, fängt sie etwa gleich an zu heulen?
»Hören Sie, Ms Jenkins, es tut mir wirklich leid, aber Sie schulden der Bank bereits vierzehntausend Dollar. Sie haben keinerlei hinterlegte Sicherheiten. Ich kann Ihnen das Geld nicht geben«, schlage ich einen etwas einfühlsameren Ton an. Ich mag ein Arsch sein, aber ich bin kein Monster.
Sie zieht die Nase hoch. »Könnten Sie bitte mit Mr Rogers reden? Ihrem Vorgänger? Er hat immer einen Weg gefunden, um mir zu helfen. Wo soll ich denn sonst das Geld herkriegen?«
»Mr Rogers hat mir alles zu Ihrem Fall gesagt.« Vorsorglich reiche ich ihr die Taschentuchbox über den Tisch. »Wir bieten als Bank eine Vermögensberatung an. Vielleicht würde die Ihnen helfen?«
Sie lacht erstickt. »Wenn ich Vermögen hätte, zu dem Sie mich beraten könnten, dann wäre ich ja wohl kaum hier, oder?«
Stimmt. Dumm ist sie nicht. Ich sehe auf die Uhr, sie hat noch fünf Minuten. Kann der Termin bitte enden? Ich kann ihr nicht helfen. Selbst wenn ich es wollte.
»Und wenn ich nur viertausend Dollar brauche?«, fragt sie, atmet tief durch und reibt sich hastig einen Augenwinkel trocken, als hätte ich nicht längst gesehen, wie nah am Wasser sie gebaut ist. »Geht das?«
Sie ist nicht meine erste Kundin, die nicht im Geld schwimmt. Aber als sie ›viertausend Dollar‹ sagt, fällt mir ein, dass das die Summe ist, die ich normalerweise an einem Abend verprasst habe. Das hier ist echt eine andere Welt.
Mit einem Seufzen nehme ich die Papiere und lese sie nun doch. Sie hat präzise aufgeschlüsselt, wofür sie das Geld braucht, und auch, wie viel sie über ihren Job einnimmt. Die Unterlagen sind erstaunlich korrekt erstellt. Aber am Ergebnis ändert das nichts.
»Es tut mir leid«, sage ich noch mal und schiebe ihr die Dokumente zurück. »Ich kann leider nichts für Sie tun. Und Ihre Zeit ist jetzt um.« Bevor sie noch etwas erwidern kann, stehe ich auf und mache mich aus dem Staub. Für mich völlig ungewohnt zieht sich dabei mein Magen zusammen. Als hätte ich einen Fehler begangen! Was ich nicht habe. Im Gegenteil. Wenn nicht jemand aufhört, der Frau Geld zu geben, sitzt sie irgendwann so tief in der Schuldenfalle, dass sie nicht mehr rauskommt. Es war das Richtige, den Antrag abzulehnen.
Ich ziehe mich in mein Büro zurück, um mir nun die lokalen Investitionsprojekte der Bank anzuschauen. Eine Aufgabe, die eher meiner Qualifikation entspricht. Aber aus irgendeinem Grund geht mir dabei Lilly Jenkins nicht aus dem Kopf. Ich rufe mir noch mal ihre Akte auf und lese mir ihre Kontoauszüge durch. Jeder Cent fließt in Künstlerbedarf. Und ab und zu scheint sie auch ein Bild zu verkaufen. Es reicht nur nicht, um die Kosten zu decken. Nicht mal annähernd.
In meinen Kopf fängt es an zu rattern, wie ich ihr helfen könnte. Die beste Option wäre, eines ihrer Bilder im Namen der Northland zu erwerben. Filialen schmücken sich gerne mit Werken einheimischer Künstler. Und hier in Bar Harbor gibt es so viel Natur. Sie sollte den einen oder anderen Sonnenaufgang im Repertoire haben, den wir uns in den Kundenbereich hängen könnten. Die zwei Aquarelle, die bereits da sind, könnten Gesellschaft brauchen.
Ich beginne schon, nach den Unterlagen zu den vorhandenen Bildern zu suchen, als ich innehalte.
Herrgott, Hall, mach deinen Job! Was geht dich diese junge Frau an? Halt den Ball flach.
Ich widme mich wieder meiner regulären Arbeit, bis Janet reinkommt.
»Wie lief es mit Ms Jenkins?«
»Wir haben den Kreditantrag abgelehnt.«
»Ehrlich?!« Ihre Augen leuchten. »Christopher, du bist echt ein Gewinn für diese Filiale.«
Sie will gehen, aber ich halte sie auf. »Wie meinst du das?«
»Wir sind nicht die Wohlfahrt, die Hobbys finanziert. Wenn Ms Jenkins mit ihrem Geschmiere kein Geld verdient, ist das nicht unsere Schuld. Vielleicht lernt sie es ja jetzt.«
»Geschmiere?«, frage ich neugierig nach.
Janet verdreht die Augen, gibt mir jedoch einen Wink, ihr zu folgen. »Wenn du Interesse hast …«, sagt sie, öffnet einen Abstellraum und zeigt auf ein Gemälde, etwa ein Meter mal ein Meter groß. »Nachdem Lilly den ersten Kredit nicht bedienen konnte, hat Walter ihr eines ihrer Werke für fünftausend Dollar abgekauft.«
Ich verstehe nichts von Kunst, aber gelegentlich lasse ich mich von der einen oder anderen Frau ins Museum schleifen. Ins MoMa, ins Whitney Museum oder ins Met. Und das Bild vor mir kann da mithalten.
Fasziniert trete ich näher, nehme das Einstecktuch aus der Brusttasche meines Sakkos, wische die dicke Staubschicht ab und lege die reinste Farbexplosion frei. Wow!
»Sag bloß, dir gefällt das?«, meint Janet, murmelt etwas von »Städter« und lässt durchblicken, dass sie uns New Yorker alle für durchgeknallt hält. »Wenn du willst, kannst du es haben. Gegen einen kleinen Unkostenbeitrag. Hier verstaubt es nur.«
»Für wie viel?«
»Hundert Dollar?«
»Im Ernst?«
Sie hebt es hoch und reicht es mir. »Im Ernst.«
Ein ganz merkwürdiges Gefühl überkommt mich. Eine neuartige Ruhe und Gewissheit. Als hätte ich etwas gefunden, von dem ich gar nicht wusste, dass ich es gesucht habe. Wie seltsam!
»Haben wir hier Luftpolsterfolie, damit ich es für den Transport einpacken kann?«, frage ich.
»Sei nicht albern! Das ist kein Van Gogh, nur ein bisschen Farbe.«
»Also keine Luftpolsterfolie«, murmele ich, nehme das Bild und trage es zu meinem Schreibtisch. Dort lehne ich es an die Tischkante, klopfe mir den Staub vom Sakko und fahre noch mal mit dem Finger über die Linien. Ich spüre die Energie hinter jedem Pinselstrich und denke dabei an die kleine Malerin mit den blaugrünen Augen, braunen Haaren und den zig Farbsprenkeln.
Was zum Henker tue ich hier?
Dieser Banker-Arsch!
Wütend pfeffere ich die Unterlagen auf den Rücksitz des Wagens und fahre nach Hause, um an meinen Bildern zu arbeiten. Aber das frustriert mich nur noch mehr, weil ich das, was ich ausprobieren will, nicht ausprobieren kann. Nicht mit dem, was ich an Material zur Verfügung habe. So mache ich mir in der Kunstwelt keinen Namen. Danke, Blödmann!
Auch am nächsten Tag brodelt es in mir, und die Renovierungsarbeiten im Golfklub treiben meinen Puls weiter nach oben.
Normalerweise macht es mir nichts aus, neben der Elite der Stadt zugange zu sein. Heute jedoch stört mich das arrogante Gehabe, weil es mich an Christopher Hall erinnert. Ich wusste, dass die Bank mir eines Tages keinen Kredit mehr geben würde. Aber muss das ausgerechnet jetzt sein, wenn es einen Wettbewerb gibt, auf den ich seit Jahren warte?
»Sehen wir uns heute Abend?«, lässt mich die Stimme von Noah zusammenzucken. Er leitet die Küche im angrenzenden Golf-Resort und scheffelt dabei richtig Kohle. Davon will er sich ein besseres Auto kaufen – was ich bescheuert finde, denn sein jetziger Wagen ist schon um Längen moderner als mein Pick-up. Aber es ist sein Geld!
Ich unterbreche meine Arbeit und schaue lächelnd auf. »Ich hab hier noch zu tun.«
»Im Drunken Shark spielt eine Band. Alle werden da sein.«
›Alle‹ bedeutet auch Leute wie Janet. Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen, weil ich auf die blöde Kuh gar keine Lust habe. »Ich fürchte, das wird nichts.«
»Sag bloß, du hast was Besseres vor?«
Das ist ein Scherz unter uns. Weil in der Stadt so wenig los ist, dass die Ausrede nicht zählt. »Na gut, auf ein Bier«, gebe ich nach. Das kann ich mir gerade so leisten.
»Cool! Dann bis später!«
Noah drückt mir einen Kuss auf die Wange, kein bisschen angewidert von der Farbe, die an mir klebt, ganz anders als ein gewisser feiner Herr, und meine Laune hebt sich. So hat die Woche doch noch ihr Gutes.
Sobald ich im nächsten Raum alle Leisten abgeklebt habe, mache ich Feierabend. Morgen kann ich direkt losmalern.
Das Beste an Bar Harbor sind die kurzen Wege. Vom Golfplatz brauche ich mit dem Auto nur zehn Minuten nach Hause. Dort springe ich schnell unter die Dusche. Danach esse ich was, damit ich im Drunken Shark kein Geld dafür ausgeben muss.
Bevor ich gehe, werfe ich einen Blick in mein Atelier, das ehemalige Esszimmer des Hauses. Sofort schlägt mir der Geruch von Farbe entgegen. Herrlich!
Ich betrachte meinen Entwurf und überlege, wie ich ihn umsetzen kann. Ein paar Farbflaschen sind so gut wie leer. Ich brauche den Nachschub, vor allem die hellen Acrylfarben, wirklich dringend. Es sei denn, ich arbeite bewusst mit dunklen Tönen …
Wie so oft packt es mich, und ich vergesse, dass Noah und Val auf mich warten. Ich ziehe mein Shirt aus, damit es nicht schmutzig wird, greife nach dem Pinsel und der Mischpalette und mache mich ans Werk.
Das könnte vielleicht funktionieren.
Mein Herz schlägt schneller. Ich bin kein Fan düsterer Bilder, aber wenn ich eines gelernt habe, dann mit dem auszukommen, was ich habe. Und das hier könnte wirklich klappen.
Ich bin richtig in die Arbeit vertieft, bis mich ein Anruf von Noah daran erinnert, dass alle auf mich warten. Am liebsten würde ich schwänzen. Doch in dieser Stadt hab ich nicht so viele Freunde. Die, die ich habe, will ich behalten. »Sorry, bin unterwegs!«
***
»Da bist du ja!«, begrüßt mich Noah, als ich den Drunken Shark, die größte Kneipe im Ort, betrete und mir Musik und Gelächter entgegenschlagen. »Bier? Geht auf mich!«
»Gerne«, sage ich, umarme ihn und gehe zu Val. »Hi, Süße!«
»Noah meinte schon, du hattest einen Scheißtag!«, sagt sie und begrüßt mich mit einem Lächeln, bei dem man die kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen sieht.
»Petze!«, rufe ich, werfe ihm jedoch einen Luftkuss zu.
»Hab dich auch lieb, Lilly!«, gibt er zurück, zeigt mir lachend den Mittelfinger und reicht mir dann mein Bier. So sind wir in der Clique, ein bisschen Stichelei gehört dazu. Es heißt ja nicht umsonst, was sich neckt, das liebt sich. Und wir lieben uns. Platonisch versteht sich.
Ich erzähle von dem Blödmann von Banker und meinem geplatzten Kreditantrag, kann aber nicht lange schlecht gelaunt sein. Dafür ist die ausgelassene Stimmung im Drunken Shark zu ansteckend.
Es ist irre voll. Die halbe Insel ist heute nach Bar Harbor gekommen, um sich die Band anzusehen. Meine Freunde und ich sind am Tisch neben den Toiletten. Wie üblich auf den eher miesen Plätzen, wo wir niemandem im Weg stehen. Die Leute in Bar Harbor, die was zu sagen haben, drängen sich dagegen direkt an der Bar oder bei der Band. Ein paar tanzen. Ich sehe Janet mit ihrem Mann. Sie ist ein Biest, aber ich beneide sie für ihren rhythmisch passenden Hüftschwung und ihr unbeschwertes Lachen. So leben Leute, die keine Sorgen haben. Kann mich nicht erinnern, dass es mir je so ging.
Val bietet an, mir Geld zu leihen, was total lieb ist. Doch ich lehne ab. Sie ist Krankenschwester und kommt selbst gerade so über die Runden.
»Ich könnte mein Trinkgeld mit dir teilen«, sagt Noah aufreizend lächelnd. »Im Gegenzug für einen richtigen Kuss von dir.«
»Noah!«, rufe ich nur. Ich mag ihn, aber aus uns beiden wird nichts. Das weiß er.
»Komm schon, Lilly, es wäre ein guter Deal!«
»Jetzt fühle ich mich wie ein Callgirl.«
»Das wollte ich nicht. Du darfst natürlich mich benutzen, nicht ich dich.«
»Spinner!« Ich nehme ein paar große Schlucke Bier und wippe im Takt der Musik.
»Hast du Hunger?«, fragt Val.
Ich schüttele den Kopf. »Hab schon zu Hause gegessen.«
»Du verpasst was! Die Fritten hier sind die besten des Landes.«
»Na, was für ein Pech!«, antworte ich humorvoll. Dabei verpasse ich wirklich was. Dass der Drunken Shark die besten Fritten des Landes hat, bezweifele ich, aber es sind definitiv die besten der Insel.
Val unterhält uns mit Geschichten aus dem Krankenhaus, senkt allerdings die Stimme, als sie sieht, dass Dr. Chefarsch, so nennt sie den Leiter des Krankenhauses, ebenfalls hier ist. Sie hasst es, dass er bei den Patienten so beschäftigt tut, aber für die Schwestern immer Zeit hat. Noah gibt dagegen Storys vom Golfplatz zum Besten.
»Wie kommt es eigentlich, dass es heute so voll ist?«, frage ich in die Runde und trinke mein Bier. Gefühlt hat sich die ganze Stadt hübsch gemacht. Sehr ungewöhnlich. Das kenne ich sonst nur von Silvester.
»Wegen dem da«, meint Val und nickt in eine Ecke des Raumes.
»Wem?« Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um zwischen den Köpfen der Leute zu erkennen, von wem sie redet.
»Der heißeste Kerl in Bar Harbor«, seufzt sie schmachtend. »Geiler Hintern, sexy Grübchen und absolut krasser Wagen.«
Stirnrunzelnd sehe ich sie an, doch sie dreht mich um, weil sich gerade die Menge auftut. Ich kann einen Blick auf den neuen Sexgott der Stadt erhaschen. Christopher Arschloch Hall? Ich bin schockiert. »Wegen dem spielen sich alle so auf?«
»Du bist wohl, was Klatsch angeht, nicht mehr auf dem Laufenden. Der Kerl ist erst seit drei Tagen in der Stadt und soll schon zehn Frauen flachgelegt haben. Zehn!«
»Wie bitte?«, quieke ich lachend. »Das geht doch gar nicht!«
»Und ob! Wenn man fünf pro Nacht hat.«
Ungläubig sehe ich zu Hall. Ich traue ihm zu, dass er nichts anbrennen lässt, aber die Geschichte kaufe ich der Stadt nicht ab. Eher glaube ich, dass sich fünf Frauen gierig an ihn rangeschmissen haben. Nicht umgekehrt. Die Verzweiflung hier ist groß. Es gibt nicht viel Frischfleisch. Schon gar nicht so gut aussehendes und gut situiertes.
»Offiziell ist er nach Bar Harbor gezogen, um ein bisschen runterzukommen, es ruhiger angehen zu lassen«, klärt mich Val auf. »Er hat das Haus in der Mt Desert Street gekauft. Das, was so lange leer stand und in das wir ziehen wollten, wenn wir im Lotto gewinnen.«
Wow! Das hätte ich gerne vor meinem Banktermin gewusst. Dann wäre ich besser auf diesen Kerl vorbereitet gewesen.
Die Menge gibt erneut den Blick auf Hall frei, und ich starre ungeniert zu ihm hin. Er beugt sich vor, greift in die blondierten Haare von Madison, die eine Modeboutique in der Main Street führt, und gibt ihr einen Kuss, der so heiß ist, dass meine Haut nur vom Zuschauen prickelt. Krass!
Unwillkürlich belecke ich mir die Lippen, die plötzlich staubtrocken sind. Ich kriege wohlige Gänsehaut. Und noch etwas anderes regt sich in mir: Eifersucht. Gegen die ich dringend was unternehmen muss.
»Ich hol mir noch ein Bier!«, gebe ich meinen Freunden Bescheid, reiße mich vom Anblick der beiden los und kämpfe mich zur Bar durch.
Dort angekommen, halte ich mein leeres Glas hoch. Es dauert, bis ich beachtet werde, aber schließlich kriege ich mein Bier. Statt nun allerdings zurück zu meinen Freunden zu gehen, wippe ich im Takt der Musik mit den Hüften und suche die Menge nach Hall ab. Keine Ahnung, warum ich das mache. Es ist ja nicht so, als ginge es mich was an, was er tut.
Leider kann ich ihn nicht entdecken. Bestimmt hat er Madison abgeschleppt.
»Lust zu tanzen?«, spricht mich ein Mann von der Seite an, den ich nicht kenne. Sekunden später liegt sein Arm auf meiner Hüfte, und er presst sich an mich.
»Nein, lass mich in Ruhe!«
»Ach komm schon, ein Tanz, Schönheit!«
Ich schiebe ihn zurück, aber er ist viel größer als ich. Wir schwanken, mein Bier läuft über, ich bekleckere mich. Mist! Diese schreckliche Woche nimmt kein Ende.
Ich trinke mein Glas ab. Das hat immerhin fünf Dollar gekostet! Dabei kommt mir der Kerl wieder näher.
»Lass mich!«, rufe ich heftiger, was jedoch niemand hört. Die Musik ist viel zu laut. Die Leute kümmern sich um sich selbst, nicht um mich.
Um beide Hände frei zu haben, stelle ich mein Glas ab. Scheiß auf die fünf Dollar! Wirklich helfen tut mir das nicht, ich kann den Kerl nicht abwehren.
»Hey, die Lady hat Nein gesagt!«, mischt sich da jemand ein. Gott sei Dank!
Mir ist egal, wer mir zu Hilfe eilt. Ich winde mich durch die Menschenmenge und muss hier einfach raus. Sofort.
Draußen lehne ich mich ans Treppengeländer und atme tief durch. Dir geht es gut, Lilly. Es ist überhaupt nichts passiert. Dennoch zittern meine Hände wie verrückt.
»Alles okay?«, fragt mich ein Mann.
Ich drehe mich um und bin überrascht, Hall zu sehen. »Mir –«, beginne ich, doch da taucht schon Madison hinter ihm auf, legt eine Hand besitzergreifend in seine und drückt sich an ihn. »Sicher«, sage ich nur. »Alles okay.«
Keine Sekunde später kommt auch Noah aus dem Drunken Shark rausgestolpert. Er beachtet Hall und Madison nicht, sondern tastet mich nach Blessuren ab und fällt mir um den Hals. »Mein Gott, Lilly, ich hab den Kerl gesehen. Ist alles in Ordnung?«
Über Noahs Schulter trifft mein Blick den von Hall. Er kneift die Augen zusammen. Ich wüsste zu gerne, was er denkt, aber Madison zupft an seinem Ärmel, und mit einem knappen Nicken in meine Richtung verschwindet er mit ihr nach drinnen.
»Ja, mir geht es gut«, sage ich. »Aber der Abend ist gelaufen. Ich hab Bier an Stellen, wo man kein Bier haben sollte.«
Gleich darauf taucht Val auf. »Lilly, alles okay?«
»Ja, Leute, es ist doch nichts passiert.«
Beide tauschen einen merkwürdigen Blick, den ich nicht verstehe.
»Was ist denn los, Val? Noah?«
»Was lief da gerade zwischen Christopher Hall und dir?«, fragt Val.
»Nichts. Warum?«
»Er wirkte eifersüchtig. Sicher, dass da nicht mehr war?«
»Sicher.« Von meinem Herzklopfen mal abgesehen.
»Nur zur Info, da du ja neu bist in der Stadt«, sagt Madison und zieht mich zurück zum Platz neben der Band. »Leute wie wir geben sich nicht mit Leuten wie Lilly Jenkins ab.«
Noch vor einer Woche hätte dieser Satz von mir stammen können. Jetzt kommt er mir falsch vor.
Während Madison vor ihrer Clique mit lauter ›Ihr glaubt nicht, was dann geschehen ist‹-Einleitungen die Story von eben zum Besten gibt, denke ich an den Kerl, der Lilly belästigt hat. Ich bin groß, und über die Menge hinweg habe ich ihn immer noch im Blick. So als würde er es spüren, behält er nun die Hände bei sich. Besser ist es!
Weiß Gott, ich bin kein Chorknabe. Doch wenn ich eine Frau anmache, bemerke ich, wann ich zu weit gehe. Mir wird richtig schlecht bei der Vorstellung, was alles hätte passieren können. Lilly war weiß wie eine Wand und ist nach draußen gestürmt. Ich hätte gerne drei Minuten mit ihr allein gehabt. Aber dann ist Madison aufgetaucht und danach dieser Kerl, der sie so vertraut angetatscht hat. Vermutlich ihr Freund. Fuck!
Es sollte mir nichts ausmachen. Lilly Jenkins ist nicht mal besonders hübsch. Nicht so wie Madison mit den hohen Wangenknochen und der schmalen Nase, die mir gleich an meinem ersten Tag in der Stadt beim Einkaufen aufgefallen ist und mit der ich noch am selben Abend im Bett war. Dennoch geht mir diese bunte Vollkatastrophe nicht aus dem Kopf. Seltsam!
»Hörst du mir noch zu, Yankee?!«, stupst mich Madison an, schiebt ihre Hände auf meinen Rücken und presst sich an mich.
Ich weiß genau, was ich tun sollte: die Frau an mich ziehen und erneut küssen. Sie ist eine nette Abwechslung zu all den Hinterwäldlern hier, hat Modedesign in Kanada studiert, ist in der Welt rumgekommen. Aber ich kann nicht. »Entschuldige mich, Baby!« Ich gebe einen Scheiß darauf, was die Stadt redet, löse mich von der Königin des Abends und arbeite mich wieder durch das Gedränge nach draußen. Ich brauche noch mal fünf Minuten mit Lilly Jenkins, drei Worte, einen Blick … Irgendwas.
Ich stoße die Tür auf, mir schlägt kühle Nachtluft entgegen, und ich entdecke Lilly. Sie ist noch da! Ihr Blick huscht zu mir. Ich sehe Überraschung. Und dann Lust. Pure, rohe, verfickte Lust. Himmel!
Ich schiebe den anderen Kerl, der wie ein fester Freund nicht aufhören kann, mit ihren Haaren herumzuspielen, beiseite, drücke sie mit meinem Körper an die Wand und küsse sie. Keine Ahnung, was ich hier mache, aber es ist das Beste, was ich seit Langem getan habe. Ihr Mund schmeckt nach Bier. Farbgeruch steigt mir in die Nase. Nichts hieran ist sexy. Aber dann ist da ihre Hitze, ihr feiner eigener Duft und dieses kaum wahrnehmbare Wimmern vor unterdrückter Lust. Je mehr ich von ihr bekomme, desto mehr brauche ich.
Ich vertiefe den Kuss, und ein kehliges Stöhnen folgt. Leise. Süß. Sexy. Ich kann mir nicht verkneifen, sie sanft zu beißen. Immerhin hat sie mich in der Bank angeblafft, und das macht niemand einfach so. Ein ersticktes Luftholen folgt. Es gefällt ihr. Das lässt mich komplett die Beherrschung verlieren.
»Hör auf«, murmelt sie da, unsere Lippen trennen sich kurz, dann kommt sie mir wieder näher. »Bitte hör auf.«
Atemlos halte ich inne, verbaue ihr jedoch den Fluchtweg. Ihre Freunde rufen sie, aber Lilly reagiert nicht, sieht nur mich an, und ich reagiere auch nicht, sehe nur sie an, neugierig darauf, was sie als Nächstes tun wird. Lange muss ich nicht warten.
Sexy selbstbewusst beleckt sie sich die Lippen, als wollte sie mich erneut küssen. Dann verändert sich plötzlich ihr Blick, als würde sie aufwachen. Sie lässt mich los, schiebt mich zur Seite und läuft davon.
Fuck! Was war das denn?!
Noah und Val reden gleichzeitig auf mich ein, aber ich laufe einfach weiter. Was habe ich gerade getan?
Ich drehe mich noch mal um, und ja, es war kein Traum, Christopher Hall steht vor dem Drunken Shark und schaut mir sichtlich verwirrt nach.
Der Punkt ist eher: Was hat er getan? Ist er verrückt geworden? Auch wenn er nicht in einer Kleinstadt aufgewachsen ist, sollte ihm klar sein, dass man nicht das heißeste Mädchen der Stadt für jemanden wie mich links liegen lässt. Oder war das ein Streich? Erst gestern hat der Kerl sich aufgeführt, als würde er mich nicht mal mit der Kneifzange anfassen. Und heute küsst er mich? Das kann nicht echt gewesen sein.
»Lilly, kannst du jetzt bitte auch mal was dazu sagen?!«, herrscht mich Noah von der Seite an und reißt mich aus meinen Gedanken. Meine Freunde haben diskutiert, was gerade passiert ist, und nun wollen sie ein Statement von mir.
Gequält fahre ich mir übers Gesicht, setze aber weiterhin einen Fuß vor den anderen, um nach Hause zu kommen. »Was willst du denn hören?«
»Warum führt der Kerl sich auf, als wärt ihr zusammen?!«
Ich muss lachen. »Das hat er ganz sicher nicht.« Würde mein Freund so eine Nummer vor der ganzen Stadt abziehen, dann dürfte er auf dem Sofa schlafen. Ach, nicht mal das. Vor dem Haus, im Vorgarten!
»Aber warum zum Henker küsst er dich einfach so?«
»Ich habe keine Ahnung. Könntest du aufhören, mich so anzugehen? Du tust ja so, als hätte ich was falsch gemacht, dabei hat er mich geküsst.«
Für eine Weile laufen wir wortlos nebeneinanderher. Die Geräusche der Bar werden leiser. Wir kommen an dem Haus in der Mt Desert Street vorbei, das diesem Kerl gehört, und ich verschränke die Arme vor der Brust, weil mir in meinen vom Bier nassen Klamotten kalt wird.
»War der Kuss wenigstens gut?«, fragt Val vorsichtig nach – und neugierig. »Es sah zumindest so aus.«
»Müssen wir uns echt darüber unterhalten?!«, stöhnt Noah.
»Hör doch einfach weg, wenn dich der Mädchenkram nicht interessiert!«
»Lilly hat den Kuss nicht gewollt. Sie sollte dieses Schwein anzeigen.«
»Das werde ich nicht«, sage ich.
»Weil der Kuss gut war?«, fragt Val hartnäckig.
»Nein, weil ich der Stadt nicht noch mehr Grund zum Tratschen geben will.« Ist das überhaupt ein Straftatbestand? Moralisch verwerflich natürlich, aber bestimmt nicht vor Gericht haltbar.
Wir laufen wieder für einen Moment stumm nebeneinanderher und biegen in meine Straße ab. Von hier geht es nur noch ein Stück geradeaus.
»Es wird eine Wette gewesen sein«, murmele ich. »Oder er war betrunken.« Ich grinse. »Oder er meinte, als Ausgleich für sein Verhalten in der Bank muss er mich jetzt versexen und mit seinen Reizen schwach machen.«
»Uhh!«, stöhnt Noah. »Teilst du gleich deine erotischen Fantasien mit uns?«
»Keine Sorge!« Ich zerwuschele ihm die Haare. »Die behalte ich für mich.«
»Also hast du welche?«
Ich lache nur, sehe endlich mein Haus, gehe voraus und drehe mich zu den anderen um. »Gute Nacht, Leute!«
»Hey, so kannst du uns doch nicht stehen lassen!«
»Und wie ich das kann!«
Ich verschwinde im Haus, mache Licht und lehne mich von innen gegen die Tür. Alles dreht sich, was nicht am Alkohol liegt. Ich hatte nur ein Glas. Christopher Hall ist der Grund. Er und dieser Kuss, der so anders war als all die Küsse davor. Ich will sauer auf ihn sein. Spätestens morgen weiß die gesamte Stadt davon. Aber dazu mag ich das Gefühl in mir zu sehr.
Statt zu duschen, um den Biergeruch loszuwerden, ziehe ich mir einen Pullover über, damit ich nicht friere. Dann gehe ich in mein Atelier und stecke all die Leidenschaft, mit der ich so gerne auf diesen Kuss reagiert hätte, in neue Skizzen. Jede Linie ist wie eine Berührung, mir wird warm, meine Haut prickelt. Ja, wenn ich das so male, habe ich bei dem Wettbewerb eine echte Chance!
Erst als es draußen dämmert, halte ich inne. Ich habe fast die ganze Nacht durchgearbeitet. Vor mir liegen stapelweise Entwürfe, richtig gute Sachen. Es ist lange her, dass ich alles um mich herum vergessen habe. Diesen Ort, die Leute, meine Geldprobleme …
Ich decke die Farben ab, dusche schnell und lege mich hin, damit ich wenigstens noch zwei Stunden Schlaf bekomme.
Am Morgen fahre ich pünktlich um acht zum Golfklub, um die Malerarbeiten fortzuführen. Ich trage Farbeimer ins Gebäude und überprüfe die abgeklebten Leisten und Schalter. Da taucht Madison auf.
»Dir ist schon klar, dass ein Mann wie Christopher Hall weit außerhalb deiner Liga ist?«, sagt sie ohne Begrüßung.
»Ich wusste gar nicht, dass wir in Amerika ein Kastensystem haben«, gebe ich grinsend zurück und mache mich an der Farbe zu schaffen.
»Ach, geht die kleine Anstreicherin jetzt unter die Komiker?!«
Ich verkneife mir die nächste Antwort. »Was willst du von mir, Madison?«
»Ein Mann wie Christopher Hall verirrt sich nur alle paar Jahre in eine Kleinstadt wie Bar Harbor.«
»Das ist nicht zu übersehen«, murmele ich. »Und?«
»Er hat Klasse, Stil, Format.«
Wenn sie meint! »Und?«, frage ich noch mal.
»Er hat schon mit mir geschlafen.«
Überrascht sehe ich sie an. »Ähm … Schön für dich.«
»Und zwar seit Dienstag jeden Tag.« Ein kämpferischer Blick trifft mich, als würden Schlachten nicht mehr mit Schwertern, sondern Vaginen ausgefochten. »Mehrmals. Auch gestern.«
Dann musst du ja eine Kanone im Bett sein, wenn der Kerl trotz Dauersex so unter Strom steht!, liegt mir auf der Zunge, aber ich verkneife mir den Kommentar. Ich hab früh gelernt, mich mit der Lokalprinzessin nicht anzulegen. »Worauf willst du hinaus?«
»Dann bist du aufgetaucht«, sagt sie. »Und er hat mich einfach im Drunken Shark stehen gelassen.«
»Das tut mir leid.« Sosehr ich Madisons Art verabscheue, keine Frau hat verdient, derart übergangen zu werden.
»Tut es das?«, fragt sie giftig. »Die Leute erzählen, dass du einen auf armes Mädchen gemacht hast, er dich nur trösten wollte und du dich an ihn rangemacht hast.«
»So war das nicht.«
»Wie dann?«
»Er hat mich geküsst.«
»Dich?«, sagt sie, als hätte ich die Beulenpest.
»Ja, mich.«
»Und danach?«
»Wie danach?«
»Hat er dich nach Hause gebracht? Hattet ihr die ganze Nacht Sex? Hast du deshalb diese fiesen Augenringe?«
»Ähm … Nein«, stammele ich überrumpelt. »Ich bin mit meinen Leuten gegangen. Ich weiß nicht, was er dann gemacht hat. Ich dachte, er wäre wieder zu dir zurückgegangen.«
»Ist er nicht.«
»Oh!«
»Ja, oh!«, äfft sie mich nach. »Was läuft da also zwischen dir und Christopher?«
»Nichts«, beteuere ich.
»Du willst nichts von ihm?«
»Ganz sicher nicht.«
»Du triffst ihn nicht?«
»Nein.«
»Ihr seid nicht verabredet?«