Mit dir im Regen - Leopa Wagner - E-Book

Mit dir im Regen E-Book

Leopa Wagner

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Beschreibung

Was ist, wenn dein Leben ein einziges Karussell ist, das nie aufhört zu drehen? Joshua schirmt seit Jahren jeden Menschen von sich ab, der ihm zu nahe kommt - bis er auf Elinor trifft, eine junge, attraktive Frau, die genauso wie er, ihr Päckchen im Leben zu tragen hat. Dennoch schafft sie es, eine Seite in ihm zu wecken, die er seit langem versteckt hat. Doch was hat Liebe für einen Sinn, wenn das Leben einen immer wieder in die Tiefe zieht?

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Für Nicolas

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel – Elinor

2. Kapitel – Joshua

3. Kapitel – Elinor

4. Kapitel – Joshua

5. Kapitel – Elinor

6. Kapitel – Joshua

7. Kapitel – Elinor

8. Kapitel – Joshua

9. Kapitel – Elinor

10. Kapitel – Joshua

11. Kapitel – Elinor

12. Kapitel – Joshua

13. Kapitel – Elinor

14. Kapitel – Joshua

15. Kapitel – Elinor

16. Kapitel – Joshua

17. Kapitel – Elinor

18. Kapitel – Joshua

19. Kapitel – Elinor

20. Kapitel – Joshua

21. Kapitel – Elinor

22. Kapitel – Joshua

23. Kapitel – Elinor

24. Kapitel – Joshua

25. Kapitel – Elinor

26. Kapitel – Joshua

27. Kapitel – Elinor

28. Kapitel – Joshua

29. Kapitel – Elinor

30. Kapitel – Joshua

31. Kapitel – Elinor

32. Kapitel – Joshua

33. Kapitel – Elinor

34. Kapitel – Joshua

35. Kapitel – Elinor

36. Kapitel – Joshua

37. Kapitel – Elinor

38. Kapitel – Joshua

39. Kapitel – Elinor

40. Kapitel – Joshua

41. Kapitel – Elinor

42. Kapitel – Joshua

43. Kapitel – Elinor

44. Kapitel – Joshua

45. Kapitel – Elinor

46. Kapitel – Elinor

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Veröffentlichungen

1. Kapitel – Elinor

Panik. Das war das einzige Wort, was ihr in den Sinn kam, als sie in dieses Gesicht blickte. Die Angst kroch durch jede einzelne Pore ihres Körpers und verhinderte, dass ihr Herz normal Blut pumpen konnte.

Sie spürte, wie der Schweiß von ihrer Stirn rann. Sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg und sich gleichzeitig eine enorme Kälte in ihr ausbreitete.

»Hey. Alles okay mit dir?«, fragte eine Stimme, die jedoch gefühlt meterweit entfernt von ihr war.

Nichts ist okay, wollte sie antworten, doch die Worte blieben in ihrem Hals stecken. Stattdessen brachte sie ein knappes Nicken zustande und starrte immer noch geschockt auf die Stelle am Rande der Bar, an der vor wenigen Sekunden der Mann gestanden hatte, der sie stets in Sorge leben ließ.

»Elinor.« Wieder eine Stimme, die sie nicht zuordnen konnte.

»ELINOR!«

Ihr Kopf drehte sich wie fremdgesteuert nach rechts und visierte das Gesicht ihres Chefs. Funkelnde Augen starrten sie an und erinnerten sie daran, dass der Laden rappelvoll war und sie ihren Job machen musste. »Ich … tut mir leid«, stotterte sie und betrachtete apathisch die leeren Cocktailgläser, die vor ihr standen. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was die Frau am Tresen bei ihr bestellt hatte, doch das Einzige, was ihr durch den Kopf ging, war immer noch sein Gesicht. Das Gesicht, das sie das letzte Mal in der Gerichtsverhandlung gesehen hatte.

Mit zitternden Händen holte sie die Whiskeyflasche aus dem Regal und schüttete die Flüssigkeit in das mit Eiswürfeln gefüllte Glas. Sie griff nach den fertig geschnittenen Zitronenscheiben vor ihr, doch dabei streifte ihr Unterarm die Flasche. Wie in Zeitlupe beobachtete Elinor, wie sie zu Boden ging und der Whiskey sich in jeder einzelnen Fuge verteilte. Die Geräusche um sie herum verstummten. Das, was sie noch hören konnte, war ihr eigener Herzschlag, der mittlerweile so schnell ging, dass sie kaum noch mitzählen konnte. Der Schweiß rann ihren Rücken herunter und ihre Beine drohten, jeden Moment nachzugeben.

Panikattacke. Ich habe eine Panikattacke, versuchte sie den Menschen um sich herum mitzuteilen, doch niemand konnte den stummen Hilferuf hören. Sie erinnerte sich an die Worte des Artikels, den sie einmal dazu gelesen hatte. Einatmen. Ausatmen. Lassen Sie die angestaute Energie durch jeden Atemzug aus ihrem Körper fließen. Doch es funktionierte nicht. Stattdessen spürte sie einen Griff um ihren Oberarm, der sie hinter die Bar zog.

»Was zur Hölle ist los mit dir?«, brüllte ihr Chef sie an und setzte sie auf den Stuhl in dem Zwischengang zum Büro.

»Ich … Ich weiß nicht. Es …«

»Das ist das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit. Wenn das so weiter geht, bleibt mir nichts anderes übrig als …«

Der Anfang des Satzes schnürte ihr fast die Luft ab. »Nein!« Entsetzt sah sie in seine funkelnd braunen Augen und plötzlich konnte sie die Welt um sich herum wieder klarer wahrnehmen. Viel zu klar. »Bitte nicht. Ich brauche das Geld, ich …«

»Ich habe dir den Job damals gegeben, weil ich dir damit helfen wollte. Jedoch leite ich eine erfolgreiche Bar mitten in der Dresdner Neustadt und kann es mir beim besten Willen nicht leisten, Leute einzustellen, die ihre Aufgaben nicht erfüllen können.«

»Es wird nicht noch einmal vorkommen.« Sie hasste es. Sie hasste es, dass sie auf andere angewiesen war. Sie hasste es, dass sie das nehmen musste, was sie kriegen konnte, und sie hasste es, dass ihre Panikattacken immer wieder drohten, all das zu zerstören, was sie sich mit Mühe und Not aufgebaut hatte.

Der bemitleidende Blick ihres Chefs weilte auf ihrem Gesicht. »Nimm dir eine Pause. Zehn Minuten. Danach möchte ich dich wieder mit vollem Arbeitseinsatz in der Bar sehen, klar?«, sagte er in einem Ton, der keinen Widerwillen zuließ, bevor er zurück in dem Trubel verschwand.

Ihr Körper fühlte sich schwach an, als sie die Tür zum Hinterausgang öffnete. So, als hätte man ihr jegliche Lebensenergie entzogen. Langsam ließ sie sich auf die Bordsteinkante hinter dem Laden sinken. Normalerweise parkten hier die Transporter, um die Lieferungen abzuladen, doch zum Samstagabend sah man stattdessen nur Beton und leere Getränkekästen, die sich an den weißen Wänden der Außenfassade stapelten.

Immer noch schlug ihr Herz pausenlos, als hätte jemand ein kleines Rädchen daran angeschlossen, das die Abstände zwischen den einzelnen Schlägen verkürzte. Die Worte ihres Chefs hallten in ihrem Kopf. Wenn das so weiter geht, bleibt mir nichts anderes übrig als die Stelle an jemand anderes zu vergeben, beendete sie seinen Satz. Ihr Körper bebte. Elinor stützte ihre Ellbogen auf den Knien ab und verstecke ihr Gesicht in ihren Händen. Sie hatte keine Ahnung, was sie machen sollte. Noch vor ein paar Minuten hatte sie keine Ahnung, wie es sich anfühlen würde, ihn noch einmal so nah zu sehen. Nun wusste sie es - es war wie ein Schlag in die Magengrube und sie hörte förmlich die Stimme, die ihr immer und immer wieder dieselben Wörter zuflüsterte. Es gibt keinen Ausweg. Du musst wieder weg. Pack deine Sachen und verschwinde von hier.

Doch das konnte sie nicht. Nicht schon wieder. Und als ihr bewusst wurde, in welchem Schlamassel sie steckte, konnte sie nicht anders, als die Tränen laufen zu lassen und all die angestaute Energie aus ihrem Körper freizulassen. Das, was sie sich sonst nicht leisten konnte.

»Hey«, unterbrach eine tiefe männliche Stimme die Stille um sie herum. Elinor fuhr hoch und schaute zu dem großen Typen in schwarzer Kleidung, der direkt vor ihr stand. Mitten im Dunkeln.

»Schlechter Tag, was?«

Erstarrt blickte sie auf die Silhouette, die sich allmählich näherte, unfähig, sich zu bewegen. Der Mann trat noch ein paar Schritte an sie heran, doch ihr Körper schien jeglichen Fluchtinstinkt verlernt zu haben. Erneut spürte sie die Hitze und den kalten Schweiß.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«

2. Kapitel – Joshua

Joshua hätte sich ohrfeigen können für diese Frage. Was zum Henker sollte sie darauf antworten? Vielleicht »Ja, alles blendend, ich sitze nur gern im Dunkeln hinter einer Bar und lasse all meine Tränenflüssigkeit aus ihren Drüsen fließen« oder »Ja, ich weine nur, weil ich gerade Lust dazu hatte und eigentlich geht es mir gut.«

Joshua wartete einen Augenblick, doch sie schaute ihn nur mit schockiertem Ausdruck an. Sein Blick schweifte unauffällig über den zarten, gebrechlich wirkenden Körper der jungen Frau vor ihm. Ihre roten Haare waren in einem Knoten zusammengebunden und einige lose Strähnen fielen ihr über die Stirn. Ihr Gesicht glänzte im schwachen Licht der Laterne und leichte Spuren von verwischter Mascara zeichneten sich auf ihrer Haut ab.

Sie wischte die Tränen weg und setzte einen nahezu gefühlslosen Ausdruck auf. »Klar. Ich sitze nur gern im Dunkeln hinter einer Bar und weine.«

Joshua deutete auf die Bordsteinkante neben ihr. »Darf ich?«

Überrascht und unsicher schaute sie erst ihn an und dann auf die Stelle, auf die er zeigte. »Nein.«

Nun war er derjenige, der überrascht war. Oder auch nicht, wenn man bedachte, dass er sie mitten in der Nacht in einer einsamen Gasse gefragt hatte, neben ihr Platz zu nehmen.

»Okay. Ich bleibe hier stehen, in Ordnung?«

Nun zog sie eine Augenbraue hoch und selbst in dem schlechten Licht konnte er sehen, wie sie einen Blick zur Tür warf. Als würde sie abschätzen, ob die Sekunden, die sie bis dahin brauchte, ausreichen würden, um von ihm wegzukommen. »Nein, es ist nicht in Ordnung. Das ist Privatgelände. Hast du das Schild nicht gesehen?« Sie nickte in die Richtung, aus der er noch vor wenigen Minuten gekommen war.

»Doch. Ich habe das Schild gesehen«, antwortete er ruhig.

»Dann kannst du also nicht lesen. «

Er schwieg und sah sich um. Die Fassade des Gebäudes gegenüber bröckelte allmählich ab und braune Flecken zeichneten sich dort ab, wo die Bierflaschen in Kästen gelagert waren.

»Es wäre kein guter Ort, um jemanden zu ermorden«, sagte sie und überraschte ihn mit diesem Satz. Ihre Stimme klang fest und sarkastisch, aber er nahm das Zittern ihres Körpers sogar von einigen Metern Entfernung wahr. »Nicht? Ich finde, dieser Ort erfüllt sämtliche Voraussetzungen dafür. Eigentlich ein perfekter Drehort für einen Thriller.« Er hätte sie beruhigen können. Er hätte ihr versichern können, dass er das natürlich nicht vorhatte. Und dann sagte er so etwas.

»Die Hauptstraße ist gleich nebenan. Jeder würde es hören, wenn jemand schreit.«

»Ja, wahrscheinlich. Bloß gut, dass ich kein Serienmörder bin, sonst hätte ich ganz schön versagt, wenn ich mir von einem potenziellen Opfer erklären lassen muss, wie ich meinen Job zu machen habe.« Er lächelte schwach, doch die junge Frau starrte weiterhin abwechselnd zu ihm und zu der schweren, weißen Tür.

Langsam setzte er sich drei Meter entfernt von ihr auf den kalten Beton. »Ist schon seltsam, oder?«, fragte er leise und schaute sie aus dem Augenwinkel an.

Sie runzelte die Stirn, als ob sie gerade darüber nachdachte, warum sie mit dem fremden Mann reden sollte, der mitten in der Nacht in einer einsamen Gasse neben ihr saß. »Was genau meinst du jetzt? Die Tatsache, dass wir beide hier sind oder die Tatsache, dass du eine Frau in einer dunklen Gasse über potenzielle Mordplätze aufklärst?«, fragte sie und er konnte in ihrer Stimme hören, wie ungern sie in diesem Moment mit ihm sprach. Warum auch? »Es ist seltsam, wie das Leben einem so oft einen Strich durch die Rechnung macht.«

Nun sah sie doch zu ihm auf. »Wie kommst du darauf, dass mir das Leben einen Strich durch die Rechnung gemacht hat?«

»Möglicherweise, weil du mit einer Panikattacke aus der Hintertür gestürmt und danach auf der Bordsteinkante zusammengesackt bist?«

Schockiert sah sie ihn an. »Ich hatte keine Panikattacke.«

»Nein? Was war es dann?«

»Das geht dich nichts an.«

»Stimmt.«

»Vielleicht bin ich vor Freude zusammengesackt. Darüber, dass ich die Ruhe nach dieser anstrengenden Schicht genießen durfte, bis sich jemand zu mir gesetzt hat, der meint, irgendwelche Lebensweisheiten oder Mordpläne mit mir austauschen zu müssen«, sagte sie letztendlich doch.

Joshua lächelte schwach über ihre schnippische und sarkastische Art. Dann sah er sie wieder ernst an. »Ich weiß sehr gut, was eine Panikattacke ist. Und ich weiß sehr gut, dass du eben eine hattest, als ich die Nebenstraße entlanggelaufen bin«, versuchte er, so ruhig wie möglich zu erklären.

Nun sprang sie auf und statt des traurigen Gesichtes war nur noch Wut zu sehen. »Ich habe keine Ahnung, weshalb du mich beobachtet hast. Ich habe keine Ahnung, weshalb du dich neben mich gesetzt hast, und ich habe keine Ahnung, weshalb du so ein dringendes Bedürfnis verspürst, mir meine Diagnose mitzuteilen. Aber es geht dich einen Dreck an. Ich muss jetzt wieder rein. Meine Ruhepause ist wohl vorbei.« Sie drehte sich zur Tür und wollte gehen, als er sie noch einmal unterbrach.

»Du hast recht«, antwortete er ruhig. »Tut mir leid. Ich hätte mir keine Meinung darüber bilden sollen«, setzte er an, unsicher, woher dieses Bedürfnis, an ihrer Seite zu sein, überhaupt kam. »Ich kann dir helfen«, sagte er mit leiser Stimme und erhob sich vom kalten Beton, um auf einer Höhe mit ihr zu sein.

Ein sarkastisches Lachen ertönte und der Blick, den sie ihm unter Tränen zuwarf, passte überhaupt nicht zu der sonst so zarten, hübschen Frau. Ja, sie war hübsch. Und ja, irgendwie hatte er das Gefühl, für sie da sein zu müssen.

»Klar. Erst schmiedest du Mordpläne und dann willst du mir helfen?«, lachte sie sarkastisch auf, doch dann verfinsterte sich ihre Miene wieder.

»Ich habe nie von Mordplänen gesprochen.«

Eine Weile sah sie ihn an. »Niemand kann mir helfen. Und außerdem: Wer bist du überhaupt, dass du denkst, du könntest derjenige sein, der es kann?«

Die Frage war berechtigt. Zögernd streckte er ihr die Hand entgegen. »Ich bin Joshua. Freut mich, dich kennenzulernen. Jetzt weißt du zumindest schon mal die Antwort auf deine erste Frage.«

Mit leerem Blick starrte sie erst auf seine Hand und dann zu ihm. Sie schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf, bevor sie die schwere Tür zur Bar öffnete und nach drinnen verschwand. Einfach so. Ohne ein Wort. Was hatte er auch anderes erwartet?

3. Kapitel – Elinor

Elinor starrte auf den Wecker auf ihrem Nachttisch. Sechs Uhr zeigte das Display an. Kurz überlegte sie, wann sie am vorherigen Tag im Bett gewesen war, nur um dann festzustellen, dass es nicht der vorherige war, sondern dieser. Genauer gesagt zwei Uhr am frühen Morgen. Was bedeutete, dass sie gerade mal vier Stunden geschlafen hatte. Was außerdem bedeutete, dass sie sich eine Kanüle mit ununterbrochenem Kaffeezufluss legen müsste, um den Tag halbwegs zu überstehen.

Die Sonne schien durch die weißen Gardinen ihres Schlafzimmers und warf schwaches Licht auf ihre Bettdecke. Sofort dachte sie an die Worte ihrer Tochter, sobald sich auch nur ein winziger Sonnenstrahl durch die Wolken kämpfte. Die Sonne scheint, wir müssen Eis essen gehen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann Tia diesen Satz das erste Mal verwendet hatte. Seitdem ist es jedoch ein Ding zwischen ihnen geworden.

Das Einzige, was sie noch nicht unterscheiden wollte, war Sommer und Winter, was dazu führte, dass sie auch bei Minusgraden auf diese Idee kam. Elinor musste schmunzeln über die Erinnerung, doch gleichzeitig dachte sie daran, dass es mittlerweile eine ganze Weile her war, dass das die einzige Sorge in ihrem Leben gewesen war. Eine ganze Weile, in der die Sonne nicht mehr schien. Zumindest nicht für Elinor.

Müde setzte sie sich auf und versuchte, die Gedanken in ihrem Kopf zu sortieren. Was ein Fehler war, denn sofort erinnerte sie sich an sein Gesicht, das am vorherigen Abend zu einer erneuten Panikattacke geführt hatte. Sie spürte die Angst in ihr hochkriechen und nahm drei tiefe Atemzüge, um eine weitere Attacke zu verhindern. Sie konnte es sich nicht leisten. Sie musste funktionieren.

Elinor rappelte sich auf und holte sich eine kurze Hose und ein schwarzes Shirt aus ihrem Kleiderschrank, als sich der kleine Deckenberg auf der anderen Seite ihres Bettes bewegte. Es war erst ein kleines Rascheln, doch dann lugte eine gigantische Mähne zerzausten Haares unter dem Stoff hervor.

Elinor musste lächeln, als sie in das verschlafene Gesicht sah. Sie hatte rotblondes, dickes Haar, blaue Augen und der Sommer ließ ihren Hautteint immer dunkler werden.

Verwirrt und immer noch mit halb geschlossenen Lidern sah sich Tia um und blickte aus dem Fenster. Dann schaute sie zu ihrer Mutter und grinste sie an. »Die Sonne scheint, wir müssen Eis essen gehen«, sagte sie und schwang motiviert ihre zarten Beine aus dem Bett.

Liebevoll umarmte Elinor das kleine Mädchen und strich ihr ein paar Mal über den Rücken. »Guten Morgen, meine Süße«, flüsterte sie ihr zu und kämmte mit ihren Fingern einige der verfitzten Strähnen aus ihrem Gesicht. »Ich habe eine Idee«, fuhr sie fort, während sie die Anziehsachen für Tia aus ihrem Regal suchte. »Wenn ich dich heute aus dem Kindergarten abhole, können wir auf dem Weg nach Hause an einem Eisladen vorbeilaufen. Was hältst du davon?«

»Bei Mo´s Eisladen?«

»Ja, bei Mo´s Eisladen«, wiederholte sie den Namen des Lieblingsladens von Tia.

»Das ist eine gute Idee«, sagte sie und betrachtete skeptisch das lilafarbene Baumwollkleid, was sie sonst so gern anzog. »Ich möchte das nicht anziehen.«

»Wieso nicht? Das ist doch dein Lieblingskleid.«

»Ist es auch, aber ich mag die Farbe nicht mehr.«

»Lila?«

»Ja. Mag ich nicht mehr. Das ziehen nur Mädchen an.«

Kurz überlegte Elinor, ihr zu sagen, dass sie genau das war, doch vielleicht gehörte das einfach zu den Ausprobierphasen einer Fünfjährigen. »Was möchtest du dann anziehen?«, fragte sie stattdessen.

»Die schwarze Hose. Und das gelbe T-Shirt mit den Blumen drauf«, antwortete Tia und zeigte auf die Stelle im Kleiderschrank.

Elinor kramte beides aus den Tiefen des Faches und reichte es ihr. »Ich mache uns schon mal Frühstück, während du dich anziehst.«

»Brauchst du nicht. Wir frühstücken jetzt immer zusammen in unserer Kindergartengruppe. Wir müssen nur eine halbe Stunde eher da sein als sonst, hat Frau Schmidt gesagt.«

Entsetzt starrte Elinor erst ihre Tochter an, dann die Uhr an ihrem Handgelenk. »Was? Wieso? Warum weiß ich davon nichts?«

»Das steht auf dem Zettel, den ich dir vorgestern gegeben habe«, zuckte Tia nur mit den Schultern und zog sich die Sachen an.

»Ich … Welcher Zettel?«

»Du hast ihn auf die Kommode im Flur gelegt.«

Der Zettel. Sie hatte ihn sogar gelesen, doch dann war vermutlich irgendetwas dazwischengekommen, und all die Informationen darauf hatten sich aus ihrem Kopf gelöscht. »Du hast recht, ich habe ihn völlig aus den Augen verloren. Aber das macht nichts, wir schaffen das noch«, versicherte sie eher sich selbst als ihrer Tochter, die seelenruhig damit beschäftigt war, ihr dickes Haar zu einem Zopf zusammenzubinden.

Schnell rannte Elinor in die Küche, füllte etwas Wasser in Tias Flasche und schnippelte ein bisschen Obst und Gemüse in eine Tupperdose. Sie belegte zwei Brote mit Butter und Käse und verstaute sie ebenfalls.

Zur selben Zeit kam Tia fertig angezogen und frisiert aus dem Bad.

»Zähne geputzt?«, fragte Elinor.

Tia nickte.

»Prima. Dann Jacke und Schuhe anziehen und los geht´s.«

»Wieso haben wir es denn so eilig?«, fragte Tia leicht verwirrt, jedoch folgte sie den Anweisungen.

»Na ja, damit du es pünktlich zum Frühstück schaffst. Morgen ist es nicht mehr so stressig. Da wecke ich dich etwas früher, okay?«, versicherte Elinor und zog auch sich eine Jacke über. Noch früher aufstehen. Sie musste ernsthaft über diese Koffeinkanüle nachdenken. Kurz überlegte sie, sich noch eine Banane oder einen Joghurt einzupacken, doch nach einem weiteren Blick auf ihre Armbanduhr entschied sie sich dagegen.

Es war 6:45 Uhr. In einer viertel Stunde würde das Frühstück in Tias Kindergarten beginnen, laut dem Zettel, der seit Tagen vergessen auf der Kommode gelegen hatte. Sie hatte kein Auto, was es ihr an einigen Tagen zusätzlich erschwerte, erst ihre Tochter bei der Erzieherin abzugeben und dann noch pünktlich zu ihrem ersten Seminar an der Uni zu erscheinen. Die meisten ihrer Dozenten waren es jedoch schon gewohnt, dass sie immer zehn Minuten später erschien.

»Wieso ziehst du so, ich kann nicht so schnell gehen«, beschwerte sich Tia, während sie versuchte, mit ihren kleinen Beinen mitzuhalten.

»Tut mir leid. Wir müssen uns nur ein wenig beeilen, wir kommen sonst zu spät.«

»Ich komme sonst zu spät. Weil du den Zettel nicht gelesen hast. Hättest du mir zugehört, könnten wir jetzt gemütlich in den Kindergarten laufen.«

Wie recht sie damit hatte. Elinor blieb stehen und schnallte ihren Rucksack vor die Brust. Dann hockte sie sich mit dem Rücken vor ihre Tochter und streckte die Arme zu ihr aus. »Huckepack?«

Die kleinen Arme ihrer Tochter krallten sich an ihren Schultern fest und mit einem Schwung schaffte sie es auf Elinors Rücken. Wenigstens kamen sie jetzt nur noch fünf statt zehn Minuten zu spät.

Am Kindergarten angekommen, empfing eine der jüngeren Erzieherinnen sie mit einem breiten Strahlen. »Da ist ja meine Kleine!«, rief sie und Tia rannte freudig zu ihr, um sie zu umarmen.

Elinor war froh, dass sie sich in ihrer Gruppe wohlfühlte. Das machte es um einiges leichter, denn somit musste sie sich nicht allzu schuldig fühlen, dass sie ihre fünfjährige Tochter manchmal erst sechzehn Uhr aus der Kindereinrichtung abholte. »Ich hole dich heute um drei ab und dann gehen wir zur Eisdiele, ja?«, versprach sie, bevor Elinor ihr einen Kuss auf das rotblonde Haar drückte und sie ein letztes Mal umarmte. »Hab dich lieb«, verabschiedete sie sich, doch Tia war bereits durch die Tür verschwunden.

. . .

Es war schwierig sich zu konzentrieren, wenn der knurrende Magen ständig die Gedankengänge unterbrach. Der Dozent des Seminars erklärte etwas, aber seine Wörter schienen an ihr vorbeizufliegen. Doch vielleicht war es auch nicht ihr knurrender Magen, der genau das verursachte, sondern das Gesicht, das seit vorheriger Nacht in ihrem Kopf herumschwirrte. Das Gesicht, was in ihrem Kopf überhaupt nichts zu suchen hatte.

Immer noch fragte sie sich, was sie tun sollte. Was wollte er? Und immer noch dachte sie krampfhaft darüber nach, was ihr nächster Schritt sein würde, was sehr unüblich war, denn normalerweise hatte sie auf alle drei Fragen eine Antwort.

Normalerweise würde sie schnurstracks nach Hause gehen, in die Wohnung, die sie sich mit einem Nebenjob neben ihrem Vollzeitstudium gerade so leisten konnte, würde Tias und ihre Sachen packen und in die nächste Stadt ziehen. Es war schon schlimm genug, dass sie diesen Satz überhaupt mit normalerweise beginnen musste, doch es war genau das. Ihre Realität. Normal. Sie war froh, dass ihr Seminar in diesem Moment zu Ende war, also packte sie ihre Sachen und ging zu dem kleinen Café um die Ecke.

»Was darf´s bei Ihnen sein?«, fragte die ältere Frau hinter dem Tresen und blickte sie gelangweilt an.

»Ein Cappuccino, bitte. Mit doppeltem Espresso, viel Zimtsirup und viel Milchschaum«, antwortete Elinor und legte einen Fünf-Euro-Schein auf den Tresen.

Die Verkäuferin schaute sie einen Augenblick an, als würde sie darauf hoffen, dass die Wörter stimmt so folgten, doch das taten sie nicht.

Sie wünschte, sie könnte es sagen. Stattdessen brauchte sie jeden einzelnen Cent, um die nächste Monatsmiete bezahlen zu können. Es war schon eine Ausnahme, dass Elinor sich überhaupt etwas leistete. Normalerweise trank sie den billigsten Filterkaffee und ernährte sich von Nudeln und Kartoffeln. Das restliche Geld, was nach Abzug der Miete und der Nebenkosten übrigblieb, ging für etwas Obst und Gemüse und selten auch für neue Kleidung für ihre Tochter drauf. Und da war es wieder. Ihr normalerweise, was genau das Gegenteil von den meisten anderen ihres Alters war.

Beschämt nahm sie das Kleingeld von der Frau entgegen und steckte es in ihr Portemonnaie zurück. Vielleicht würde das reichen, um wenigstens Tia nach dem Kindergarten eine Kugel Eis zu kaufen. Sie stöpselte sich ihre Kopfhörer in die Ohren und verdrängte die Geräusche um sich herum.

Mit ihrem warmen Getränk in der Hand verließ sie das Café mitten auf dem Campus und visierte einen der Tische an, die von der Sommersonne angestrahlt wurden.

Gerade als sie sich setzen wollte, spürte sie einen enormen Ruck durch ihren Körper fahren, als jemand sie anrempelte, und noch einen weiteren Schmerz, als die heiße Flüssigkeit ihres Bechers ein höllisches Prickeln auf ihrer Haut verursachte. »Was zur …« Sie drehte sich um, doch als sie sah, was der Grund für diese ruckartige Bewegung war, unterbrach sie mitten im Satz.

Vor ihr stand derselbe Typ, den sie am vorherigen Abend getroffen hatte. Derselbe Typ, der ihr mitten in der Nacht in der hintersten Ecke außerhalb einer Bar gesagt hatte, wie seltsam es war, dass das Leben einem so oft einen Strich durch die Rechnung machte. Was ironisch war, denn genau in dieser Situation war er derjenige, der genau das tat.

»Tut mir leid«, stutzte er, nachdem er, genauso wie sie, realisiert hatte, wer vor ihm stand. Schnell setzte er seinen Rucksack ab und holte ein Taschentuch aus einem kleinen Fach. Dann griff er wie selbstverständlich nach ihren Händen und wischte ihr die braune Brühe von der Haut, die eigentlich in ihrem Körper hätte sein sollen und nicht außerhalb. Immer noch geschockt verfolgte sie seine Bewegungen. Die großen Hände, die sie hielten. Die muskulösen Unterarme, an denen die Ärmel hochgekrempelt waren. Als er fertig war, ließ er ihre Handgelenke vorsichtig los und deutete auf den leeren Becher, der umgekippt auf dem Holztisch lag. »Das Zeug riecht eklig.«

Entsetzt starrte sie ihn an. »Ich hatte es auch nicht gekauft, damit es deinem Geschmack entspricht«, fuhr sie ihn an.

Er zögerte. »Tut mir leid wegen des Kaffees.«

Enttäuscht nickte sie. »Mir auch.« Vier Euro für einen Cappuccino, den sie noch nicht einmal getrunken hatte.

»Aber der wäre sowieso nicht gut gewesen.«

»Es ist Kaffee. Kaffee aus einer Maschine. Es ist mir völlig egal, ob der gut ist oder nicht. Hauptsache er sorgt dafür, dass ich nicht in der nächsten Sekunde vor Müdigkeit umkippe.«

»Lange Nacht gehabt?«

Kurz überlegte sie, ihm zu sagen, dass sie bis spät in die Nacht gearbeitet hatte, doch dann fiel ihr ein, dass er das ja bereits wusste. Und dann fiel ihr auf, dass es ein Witz sein sollte. Gott, sie hätte den Kaffee dringend nötig gehabt. »Kann man so sagen.«

Der Typ nickte und warf einen Blick auf die Uhr. Dann schaute er wieder auf den leeren Kaffeebecher. »Darf ich dir einen neuen Kaffee ausgeben?«

»Nein, ist schon okay. Ich werde mir nachher noch mal einen kaufen.« Würde sie nicht, denn dafür reichte ihr Geld nicht mehr aus.

»Ich bestehe darauf«, sagte er mit fester Stimme und sah sie ernst an. »Nicht, dass ich dich heute erneut in einem schrecklichen Zustand irgendwo in einer einsamen Gasse treffe, weil so ein Idiot deinen Kaffee verschüttet hat«, fügte er hinzu, ohne dass sich seine Mundwinkel auch nur ein kleines Stück nach oben bewegten.

Auch wenn die Situation, auf die er anspielte, überhaupt nicht lustig war, musste sie kurz lächeln. Dann nickte sie. »Meinetwegen. Aber ich hätte gern genau so einen Kaffee«, deutete sie auf den leeren Becher.

»Ich dachte, es sei dir egal, wie er schmeckt.«

»Das war gelogen.«

»Mhm.« Er betrachtete sie einen Augenblick lang. Dann deutete er auf ihre Kopfhörer. »Was hörst du?«

»Musik.«

»Ich hätte fast damit gerechnet, dass du dir einfach nur noisecancelling Kopfhörer in die Ohren steckst, um deine Ruhepause zu genießen«, wiederholte er ihre Worte vom vorherigen Abend. Die Art, wie er diesen Satz betonte, wurmte sie. Es wurmte sie überhaupt, dass er sie nachäffte.

»Kennst du vermutlich nicht.« Als er sie nur schweigend ansah, fuhr sie fort. »Chris Isaac.«

»Darf ich?«

Zögernd reichte Elinor ihm die Stöpsel und beobachtete, wie er sie in seine Ohren steckte. Er hörte zu, doch bewegte sich nicht. Noch nicht mal ein Kopfnicken. Doch was sie noch viel mehr verwirrte, war, dass er sie während der ganzen drei Minuten ansah. In die Augen. Ohne ein einziges Mal zu zucken.

»Mhm«, unterbrach er den Augenkontakt und reichte ihr die Kopfhörer, nachdem der Song beendet war.

»Was?«

»Gar nichts. Also - es gibt hier einen viel besseren Laden gleich um die Ecke mit dem besten Kaffee auf dem gesamten Campus. Ich habe noch eine halbe Stunde Zeit. Vielleicht schaffst du es ja, den Kaffee dieses Mal auch zu trinken, statt ihn dir über die Haut zu kippen.«

Wow, der Typ war nicht nur Profi darin, Themen zu wechseln, sondern hatte auch noch einen unglaublich schlechten Sinn für Humor. »Sehr witzig«, sagte sie, doch dann erhob sie sich und lief ihm hinterher. Sie wusste selbst nicht, wieso. Definitiv nicht, weil sie seine Gesellschaft so genoss. Aber der Gedanke an frischen Kaffee war verlockend, also folgte sie ihm.

Keine Minute später hielten sie vor einem Laden mit einem unübersehbaren Schild an der Tür. Geschlossen, stand in Großbuchstaben darauf. Enttäuscht sah sie ihn an. »Das war´s dann wohl mit dem besten Kaffee auf dem Campus.«

Er lächelte nur leicht, bevor er einen Bund Schlüssel aus der Hosentasche kramte und die Tür öffnete.

Verwirrt blickte sie erst ihn an, dann die offene Tür, die er für sie aufhielt, bevor sie zögerlich das Café betrat. »Du arbeitest hier?«

»Nein, ich besitze nur die Schlüssel zu dem Laden, weil ich sie im Lotto gewonnen habe«, antwortete er sarkastisch. Dann ging er hinein und warf seine Jacke auf einen der Barhocker.

Immer noch stand Elinor in dem Eingangsbereich, unschlüssig, was sie von dieser ganzen Situation halten sollte.

»Du kannst dich auch gern setzen. Oder bleibst du an der Tür stehen, weil du denkst, ich könnte dich gleich überfallen und gegen die Wand drängen?«, witzelte er und stellte zwei Tassen unter die Maschine.

Elinor erstarrte. Überfallen. Gegen die Wand drängen. Jede einzelne Faser in ihrem Körper zog sich zusammen, als die Wörter des Fremden in ihrem Kopf ankamen. Sie spürte, wie ihre Atemzüge schneller wurden. Sie spürte, wie die Panik sich langsam an die Oberfläche bahnte. Und wieder konnte sie nicht anders, als einfach nur dazustehen und wie in einer Schockstarre auf den in schwarz gekleideten Typen zu schauen, während die schrecklichen Erinnerungen wie in Diashow durch ihren Kopf schwirrten.

Elinor nahm eine kleine Bewegung wahr. Dann eine Berührung, als der Typ für einen kurzen Moment ihren Arm streifte. Sie zuckte zusammen. Eine enorme Hitze breitete sich aus und ihr wurde übel.

»Hey.« Eine Hand legte sich um ihren Unterarm. »Atme. Tief ein und aus. Bleib bei mir, okay?«, sagte er in einer ruhigen, langsamen Stimme, doch das Einzige, was Elinor wahrnahm, war das Rauschen ihres Blutes in ihrem Körper und ihr Herzschlag, der sich in den letzten Sekunden nahezu verdoppelt hatte. Ihre Knie drohten, jede Sekunde nachzugeben. Sie spürte, wie sie zitterte. Wie sich der Boden unter ihr bewegte. Und kurz bevor sie zusammenbrechen konnte, spürte sie feste Arme um sich herum. Arme, die sie hielten. Arme, die ihr Wärme gaben. Arme, die für einen kurzen Moment die Last ihres Körpers von ihren Beinen nahmen.

Die Gedanken rauschten durch ihren Kopf. Sie war hin und hergerissen von der Situation, in der sie in diesem Moment steckte. Die Situation, in der irgendein Fremder sie im Arm hielt und darauf wartete, dass die Panikattacke vorbeizog. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie wie zur Salzsäule erstarrt dastand, doch nach einer gefühlten Ewigkeit löste sie sich aus seinen Armen. Verwirrter und aufgewühlter als zuvor. Und doch mit einem Herzschlag, der sich durch diese Umarmung wieder normalisiert hatte. Elinor blickte zu Boden. Sie musste hier raus. Sie wollte allein sein. »Ich sollte jetzt gehen«, brachte sie nur hervor, bevor sie in Windeseile durch die Tür verschwand und den Typen, der sich bei ihrer ersten Begegnung als Joshua vorgestellt hatte, in dem Café stehenließ.

Sie wusste nicht wohin. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Und wieder war sie aufgeschmissen. Wieder hatte sie eine Panikattacke gehabt. Und noch nicht mal ein warmes Getränk und einen kleinen Happen im Magen hatte man ihr an diesem verdammten Vormittag gegönnt.

4. Kapitel – Joshua

Joshua starrte auf die Tür, aus der sie vor wenigen Sekunden gestürmt war und fragte sich, was ihre Reaktion verursacht hatte. War er es gewesen, mit dem, was er gesagt hatte? Er fragte sich, was ihre Geschichte war. Woher sie kam. Er fragte sich recht viele Dinge, dafür, dass sie sich erst zwei Mal über den Weg gelaufen waren. Er wusste noch nicht mal ihren Namen, doch auf irgendeine Weise schwirrte sie in seinem Kopf herum. Öfter, als es ihm recht war.

Joshua ließ die zweite Kaffeetasse auf dem Tresen stehen und bereitete nur sich selbst einen Cappuccino zu. Er hatte noch zwanzig Minuten, bis er das Café eröffnen musste und da er in dieser Schicht allein arbeitete, schrieb er eine Nachricht an seine beste Freundin Nora.

Joshua: »Kaffee?«

Nora: »Klar. Jetzt gleich?«

Joshua: »Jap.«

Nora: »Ich mache mich auf den Weg.«

Er mochte diese unkomplizierten Nachrichten mit ihr. Sie verstanden sich ohne Worte, was vermutlich daran lag, dass sie sich seit ihrer Jugend kannten und sogar für einige Jahre zusammen in einer WG gewohnt hatten.

Nur wenige Minuten später hörte er die Glocken, die jedes Mal läuteten, wenn jemand durch die Tür trat. »Hast du appariert?«, drehte er sich überrascht zu ihr um.

»Habe ich was?«

»Appariert. Wie in Harry Potter. Du weißt schon, wenn sie durch irgendwelche Kaminöfen in wenigen Sekunden von Ort zu Ort springen.« Er kam hinter dem Tresen hervor und umarmte Nora zur Begrüßung.

»Ach so, nein. Ich war einfach gerade in der Nähe.« Sie setzte sich auf ihren Barhocker – jedes Mal der ganz links – und nahm die Tasse, die Joshua ihr reichte, dankbar entgegen. Die Tasse, die die junge Frau hätte bekommen müssen.

»Schön, dich wiederzusehen. Du hast einen richtigen Bart bekommen«, lachte sie. Dann fuhr ihr Blick einmal seinen Körper entlang. »Und etliche Kilo zugelegt. Auf eine gute Weise, meine ich natürlich. Gott, es ist viel zu lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben.«

»Du siehst auch gut aus«, gab er sarkastisch wieder und setzte sich neben sie an die Bar. »Wie geht’s dir?«

»Gut. Die Arbeit ist anstrengend. Aber die Kinder sind in Ordnung. Oh, und Schnurrsula geht es auch gut. Er testet gerade unsere Grenzen.«

»Also hält euch der Kater gut auf Trab?«

»Mich eher, ja. Besonders aktiv wird er am Abend und da ist Colin meistens im Restaurant. Und Erziehung ist für Katzen ein Fremdwort. Aber egal, wie geht es dir? Trauerst du schon um dein letztes Semester an der Uni?«

»Kein Stück.«

»Was, so schlimm?«

»Keine Ahnung. Einerseits finde ich es gut, in einigen Monaten meine Abschlussarbeit abgeben zu können, aber andererseits …«, zögerte er. »Ich weiß nicht. Ich habe momentan das Gefühl, an derselben Stelle stehenzubleiben. Ich weiß nicht, was ich danach tun soll. Ich weiß nicht, wo ich mich im Leben sehe oder wohin es mich verschlägt. Keine Ahnung.«

»Das ist das Leben, Joshua. Nicht immer weiß man, was als nächstes kommt. Doch selbst wenn du die Zeit bis ins späte Alter planen würdest, könntest du dir nie sicher sein, dass all das auch so verläuft, wie du es dir vorgestellt hast.«

»Schon möglich.«

»Hey, das waren doch eigentlich deine Worte, oder? Warte ab und schaue dabei zu, wie das Leben deine Geschichte schreibt. Also höre auf Joshua«, schmunzelte sie. »Außerdem sehe ich dich bald öfter und kann dir regelmäßig in den Hintern treten.«

Joshua schaute auf. »Noch öfter? Wir sehen uns schon mindestens zwei Mal die Woche, wenn du nicht gerade im Dauerurlaub bist.«

»Ich war nicht im Dauerurlaub.«

»Klar, du warst zwei Wochen in der Karibik. Also, spuck aus, warum noch öfter?«

Nora strahlte ihn an. »Colin hat ein zweites Restaurant gleich um die Ecke gekauft. Du wirst mich also demnächst öfter ertragen müssen.«

»Solange du mir in den Pausen etwas zum Essen mitbringst.«

»Gut, dass das das Einzige ist, was dir dabei in den Sinn kommt, aber ja.«

»Nicht nur das natürlich. Ich freue mich auch auf die Freigetränke, die ich als spezieller Kunde bekommen werde«, grinste er.

»Du bist blöd.« Nora nahm ein paar Schlucke von ihrem Cappuccino, dann sah sie wieder zu ihm auf. »Wie lief eigentlich dein Date vor zwei Wochen?«

Sofort verspannte Joshua sich. »Schlechtes Thema.«

»Wieso?«

»Das war miserabel. Ich mochte sie nicht. Unsere spärlichen Gespräche fühlten sich an, als würde ich mit einem Roboter mit Frauenstimme sprechen. Monoton. Desinteressiert. Nach zehn Minuten haben wir das Date beendet.«

»Schade.«

Er zuckte nur mit den Schultern. »Es war ein Fehler, mich darauf einzulassen.«

»Ach komm schon, sei nicht gleich so ein Miesepeter. Aufgeben steht dir nicht. Irgendwann wirst du schon deinen Deckel zum Topf finden.«

»Ich will gar keinen Deckel zu meinem Topf finden.«

»Wieso nicht?«

»Weil ich bisher auch ohne Deckel im Leben ganz gut zurechtgekommen bin.«

»Ist das so, ja?«

»Jap.«

»Ich denke trotzdem, dass es dir guttun würde, jemanden an dich heranzulassen. Ich meine, das kannst du doch bei mir auch.«

»Bei dir ist es etwas anderes. Aber nein, sonst nicht. Das miserable Date war eine einmalige Sache. Alles andere will ich mir und allen anderen Personen in meinem Leben ersparen«, sagte er leise und rührte in seinem mittlerweile kalten Kaffee herum.

»Also bleibst du dein Leben lang einsam und allein?«

»Nein. Vielleicht adoptiere ich Schnurrsula.«

Nun lachte Nora. »Oh nein. Selbst wenn ich ihn weggeben würde, dann sicher nicht zu dir. Wer weiß, welchen Blödsinn er dann lernt. Aber mal im Ernst – du bist nicht dafür gemacht, allein zu sein. Niemand ist das. Du brauchst jemanden an deiner Seite, dem du vertrauen kannst. Der dich liebt. Liebe, Vertrauen und Zuneigung ist genauso essenziell wie Essen oder Atmen.«

Joshua schüttelte den Kopf. »Du solltest mal darüber nachdenken, deine Abendlektüre umzustellen und nicht mehr so viele Psychoratgeber zu lesen. Aber wie ich schon sagte, ich brauche keinen Deckel zu meinem Topf.« Diese Art von Gespräch ermüdete ihn. Immer wieder meinten Leute zu wissen, was er brauchte und was nicht. Doch das taten sie nicht. Nur er wusste das und er hatte sich geschworen, nicht noch einmal durch so eine Hölle zu gehen. »Vielleicht«, antwortete er stattdessen. Er wusste, dass Nora es gut mit ihm meinte. Sie kannte seine Vergangenheit und seine Geschichte. Die, von der er sonst niemandem erzählte. Und doch konnte sie nicht all seine Gedankengänge und Handlungen verstehen. »Also …«, versuchte er, das Thema zu wechseln. »Was machst du jetzt noch in deinen Ferien?«

Für einen kurzen Moment betrachtete Nora ihn mit skeptischem Blick. Offensichtlich gefiel ihr nicht, wie er abschweifte, doch sie schien es vorerst zu akzeptieren. »Wir werden einige Arbeiten im neuen Restaurant erledigen. Wenn du magst, kannst du gern vorbeikommen. Es ist zwar noch eine halbe Baustelle, aber es sieht jetzt schon toll aus. Und groß. Fast doppelt so groß, wie Our Moon.«

»Habt ihr schon einen Namen?«

»Noch nicht. Aber wir sind jederzeit offen für Vorschläge«, lächelte sie und warf einen Blick auf ihre Uhr. »Ich muss auch langsam wieder los. Wir haben in einer halben Stunde einen Termin mit dem Architekten, um weitere Baumaßnahmen zu besprechen.«

»Klingt wichtig.«

»Eher langweilig«, verzog sie das Gesicht und griff nach ihrer Tasche auf dem Tresen. »Willst du nächste Woche Samstag zu meinen Eltern zum Abendessen kommen? Sie vermissen dich schon. Um ehrlich zu sein, fragen sie öfter nach dir als nach mir«, lachte sie.

»Kann man ihnen das verübeln?«, grinste er.

»Ja, das sollte man ihnen verübeln. Jedes Mal bekomme ich von meiner Mutter gesagt, dass kein Nachtisch mehr übrig ist, nur damit sie mir dann zum Abschied eine Dose in die Hand drückt, mit einem Zettel, auf dem für Joshua steht«, schüttelte sie den Kopf.

»Das ist nur fair, finde ich. Da komme ich doch sehr gern.«

»Die Uhrzeit schreibe ich dir noch.« Nora umarmte ihn zum Abschied und hielt ihn ein paar Sekunden länger fest als üblich. »Mache es dir nicht so schwer, Joshua. Du hast dich schon genug bestraft im Leben.« Und damit verließ sie das Café.

5. Kapitel – Elinor

Elinor kratzte die letzten Münzen in ihrem Portemonnaie zusammen und reichte sie dem älteren Herrn an der Eistheke. Damit hätte sie nun die finanzielle Grenze des Monats erreicht. Sie nahm die Waffel mit einer Kugel Schokoeis entgegen und gab sie ihrer Tia, die mit strahlenden Augen neben ihr stand.

Sie setzten sich auf eine der Bänke gegenüber dem Eisladen und genossen die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Dann blickte Elinor zu ihrer Tochter, dessen Gesicht bereits nach wenigen Sekunden völlig braun verschmiert war und musste lachen. »Wie war dein Tag heute?«, fragte sie, nachdem sie die Eiscreme von ihrer Wange gewischt hatte.

»Schön. Erst haben wir gefrühstückt und dann waren wir draußen und haben mit Kreide gemalt.«

»Was habt ihr denn gemalt?«

»Ganz viel. Wir haben uns ein Haus gemalt mit einem großen Garten und einem Pferd. Aber dann kam Luis und hat mal wieder alles zerstört, weil er so einen komischen Clown mitten in unser Bild gemalt hat.«

»Das ist ärgerlich. Hast du ihm gesagt, dass das nicht in Ordnung war?«

»Nein«, schüttelte Tia den Kopf. »Aber ich habe ihn mit Kreide beschmiert. Dann sah er aus wie ein Clown«, erzählte sie völlig selbstbewusst und konzentrierte sich weiter auf ihr Eis.

Elinor musste ein Lachen unterdrücken. Ihre Tochter wusste sich zu wehren und das machte sie stolz. Sie ließ sich nicht unterkriegen von anderen in ihrem Alter und ist trotz der Vergangenheit zu einem selbstbewussten kleinen Mädchen herangewachsen.

»Können wir heute Abend Rapunzel - neu verföhnt schauen?«, fragte Tia, nachdem sie ihr Eis fertig gegessen hatte.

»Schon wieder?«

»Wieso schon wieder? Ich habe den erst am Montag geschaut.«

Und am Dienstag und am Mittwoch. Aber das Gefühl für Wochentage hatte sich bei ihr offensichtlich noch nicht vollständig entwickelt. »Das geht leider nicht. Margarete passt heute Abend auf dich auf.«

»Schon wieder?«, war nun Tia diejenige, die das fragte.

Bei dem Blick ihrer Tochter schämte Elinor sich fast dafür, diese Frage aus ihrem Mund zu hören. »Ich muss auf Arbeit. Aber das ist das letzte Mal in dieser Woche. Danach habe ich jeden Abend frei und wir können den Film gemeinsam schauen, Deal?«, tröstete Elinor sie mit einem schwachen Lächeln und strich ihr sanft über die rotblonden Haare, die in leichten Löckchen bis zu ihren Schultern hingen. Auch wenn ihre Tochter das in dem Moment so hinnahm, war es für sie selbst jedes Mal ein Schlag in die Magengrube, wenn sie Tia erneut zur Nachbarin geben musste. Margarete, oder auch Tante Margarete, wie Tia sie nannte, liebte ihre Tochter. Sie hatte zwar eigene Enkelkinder, doch die lebten einige Stunden entfernt von ihr. Als Elinor mit Tia damals in die kleine Wohnung nebenan gezogen war, hatte die ältere Dame direkt an der Tür geklingelt und sie mit einer Dose frischgebackenen Keksen begrüßt. Schon in diesem Moment hatte sie das Herz ihrer Tochter erobert.

»Ist gut. Weißt du, was Tante Margarete mir das letzte Mal gesagt hat?«, fragte Tia mit strahlenden Augen.

»Nein, was denn?«

»Sie hat mir versprochen, dass ich das nächste Mal Tigger mitnehmen darf, wenn ich bei ihr schlafe.«

Tigger war Tias Lieblingskuscheltier, ohne das sie nie aus der Haustür ging. Ein orange-schwarz gestreifter Tiger, der sogar schon etliche Male in die Badewanne musste, was die ausgeblichene Farbe im Fell erklärte. »Das klingt doch super. Aber nicht, dass er dann so laut schnarcht, dass Tante Margarete nicht schlafen kann«, witzelte Elinor und brachte Tia zum Lachen. Es kam selten vor, dass Elinor so richtig lachen konnte, doch hin und wieder gab es diese Momente, die ihr ein Stück Unbeschwertheit zurückgaben. Momente mit ihrer Tochter, in denen sie alles vergessen konnte.

. . .

»Ich komme gegen Mitternacht und hole sie ab«, sagte sie zu Margarete und reichte ihr den kleinen roten Rucksack ihrer Tochter, der bis auf einen Schlafanzug und einer Zahnbürste überwiegend mit Kuscheltieren gefüllt war.

»Ist gut. Ich habe schon extra Nudelauflauf für meine Kleine gemacht«, lächelte die ältere Dame und drückte Tia einen Kuss auf die Wange.

Immerhin hatte ihre Tochter ein warmes Abendessen, was nicht nur aus Käsebrot und Apfel bestand. »Da wird sie sich freuen.«

»Oh, warte noch einen Moment, bevor du gehst«, sagte Margarete, dann verschwand sie in der Küche.

Elinor nutzte die Zeit, um sich von Tia zu verabschieden und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Hab dich lieb. Ich hole dich nachher wieder ab, in Ordnung? Da schläfst du wahrscheinlich schon tief und fest.«

»Ich hab dich auch lieb«, antwortete Tia, bevor sie sich umdrehte und zu der Spielecke lief, die Margarete vor wenigen Wochen für sie eingerichtet hatte.

Elinor blickte auf die Uhr und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Sie hatte nur noch zwanzig Minuten, bis ihre Schicht in der Bar anfangen würde. Zu Fuß brauchte sie genau siebzehn, wenn sie schnell lief. Kurz überlegte sie, ob sie eine Verabschiedung in die Wohnung rufen sollte, als Margarete schon mit einem großen Glasbehälter zurückkam. »Damit du mir nicht von den Rippen fällst«, sagte sie und reichte ihr eine große Portion Nudelauflauf.

Es war äußerst schwierig, die Tränen zurückzuhalten, die in jeder Sekunde drohten, über Elinors Wangen zu rollen. Sie war dankbar für ihre Nachbarin, nicht nur, weil sie Tia zu sich nahm und sie bekochte, wenn Elinor eine Schicht hatte, sondern auch, weil sie die Einzige in ihrem Leben war, die sie nicht verurteilte. Und weil sie die Einzige an diesem Tag war, die ihren knurrenden Magen wenigstens für ein paar Stunden zum Schweigen bringen würde. »Danke«, flüsterte sie. »Für alles. Ich weiß nicht, wie ich das je wieder gutmachen kann.«

Margarete schüttelte den Kopf und lächelte. »Mach dir keinen Kopf deswegen. Jeder braucht nette Nachbarn. Wir müssen doch aufeinander aufpassen, richtig?«

»Richtig. Vielen Dank! Drück Tia von mir.«

»Oh keine Sorge, das mache ich. Bis nachher«, verabschiedete sich Margarete und schloss die Tür hinter sich. Dann sprintete Elinor die Treppen des Hausflurs hinunter auf die Straße, in der Hoffnung, noch halbwegs pünktlich zu ihrer Schicht zu erscheinen.

6. Kapitel – Joshua

Wieder eine Gruppenarbeit. Wie sehr er diesen Mist hasste. Entweder hatte man Studenten, die übermotiviert mehr machten, als sie sollten oder welche, die eigentlich völlig überflüssig waren. Dazwischen gab es nichts.

Joshua schaute sich in dem Seminarraum um. Es saßen um die zwanzig Leute an den Tischen verteilt und alle gestikulierten wie in der Grundschule, wenn es darum ging, mit seiner besten Freundin oder seinem besten Freund in eine Gruppe zu kommen, nur damit man nicht mit dem unbeliebten Banknachbarn arbeiten musste. Als sich alle mit ihren Gruppenmitgliedern zusammengesetzt hatten, saß Joshua immer noch unverändert auf seinem Stuhl. Ohne Gruppe. Ohne Partner. So, wie er es wollte.

Er hob einen Arm und zog die Aufmerksamkeit des Dozenten auf sich. »Kann man auch allein arbeiten?«

Der Dozent blickte ihn eine Weile an. Mit seinen grauen, dünnen Haaren und dem altmodischen Anzug erinnerte er Joshua eher an die Peaky Blinders und nicht an einen Informatikdozenten. Er kam ein Stück näher, vermutlich um nicht brüllen zu müssen und schüttelte den Kopf, als er an Joshuas Tisch trat. »Nein. Sie müssen mit mindestens einer Person zusammenarbeiten, sonst ist das Projekt nicht schaffbar in diesem Semester.«

»Gibt es keine Ausnahmen? Ich mache etwas weniger als die anderen Gruppen und arbeite dafür allein?«

»Haben Sie es sich mit Ihren Kommilitonen verscherzt oder warum bestehen Sie unbedingt darauf, allein zu arbeiten?«

»Nein, ich habe es mir mit niemandem verscherzt, ich habe nur keine Lust, Kompromisse schließen zu müssen«, antwortete Joshua genervt.

»Tut mir leid, aber Kompromisse gehören zum Leben dazu, also kann ich auf Ihren Sonderwunsch nicht eingehen. Vielleicht findet sich noch jemand, der mit Ihnen zusammenarbeiten möchte. Ansonsten können Sie an der Prüfungsleistung nicht teilnehmen.«

Joshua ist die Formulierung des Dozenten nicht entgangen. Vielleicht finden Sie noch jemanden, der mit Ihnen zusammenarbeiten möchte. Dabei war es genau andersherum. Er war derjenige, der mit niemandem kooperieren wollte. Einen Moment lang schaute Joshua den älteren Herrn an, bevor er kurz nickte und sich von seinem Platz erhob. Dann lief er schnurstracks aus dem Seminarraum. Soll er sich seine Gruppenarbeit sonst wohin stecken. Zugegebenermaßen war es nicht sein Tag. Seine Laune war unten im Keller und wenn er daran dachte, wie dringend er diese Prüfungsleistung vor seiner Bachelorarbeit brauchte, und deshalb keine Wahl hatte als den Anforderungen des Dozenten nachzukommen, verging ihm schon die Lust für das restliche Semester.

Joshua drückte die Tür mit Schwung auf und rannte nahezu das Mädchen über den Haufen, was offenbar in den gleichen Seminarraum wollte, aus dem er gerade herauskam. Er griff nach ihren Armen, bevor sie mit dem Kopf auf dem kalten Boden aufkommen konnte und zog sie zurück auf die Beine. »Etwas eilig, mhm?«, brummte er und stoppte kurz in seiner Bewegung, als er ihr Gesicht sah.

Die junge Frau mit den roten Haaren stand vor ihm. Dieses Mal waren ihre Wellen nicht in einem Knoten zusammengebunden, sondern hingen locker über ihre Schultern. Seine Hände waren immer noch an ihren Handgelenken und er war ihr so nah, dass er die winzigen Sommersprossen auf der Nase registrieren konnte, die perfekt zu der Farbe ihrer Haare passten. Und zu den zugegebenermaßen wunderschönen grünen Augen, die ihn nun wütend anfunkelten.

»Dasselbe könnte man von dir behaupten, schließlich hättest du mir gerade fast die Tür ins Gesicht geschlagen«, fuhr sie ihn an und zog ihre Hände aus seinem Griff.

»Oh, tut mir leid, dass ich nicht durch Holztüren schauen kann, ansonsten hätte ich natürlich gewusst, dass du direkt dahinterstehst.«

Sie lachte sarkastisch. »Eine Entschuldigung hätte es auch getan. Aber da bin ich wohl an die falsche Person geraten. Was machst du überhaupt schon wieder hier?«

»Was ich schon wieder hier mache?«

»Ja. Es wird langsam auffällig. Du bist mir in den letzten drei Tagen drei Mal über den Weg gelaufen und so langsam habe ich das Gefühl, dass wir uns nicht zufällig immer und immer wieder begegnen.«

»Nein?«

»Nein. Ich denke, du verfolgst mich«, beschuldigte sie ihn und stemmte ihre Arme in die Hüften.

Joshua lachte ungläubig. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Da dachte er, der Tag konnte nicht schlimmer werden und dann stand sie vor ihm. »Ich verfolge dich? Keine Ahnung, was du hier machst, aber ich studiere hier. Und wenn du nicht gerade einem gelangweilten Professor zum Thema künstliche Intelligenz zuhören willst, bist du hier falsch.«

Langsam ließ sie ihre Hände sinken und lehnte sich an den Fensterrahmen hinter der Tür, als würde sie ihre Angriffshaltung fallen lassen. »Doch, genau das will ich. Muss ich, denn offenbar studieren wir dasselbe.«

»Oh, dann bist du also nicht falsch, sondern zu spät.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Sehr spät. Dir ist schon bewusst, dass das Seminar vor einer halben Stunde begonnen hat«, sagte er und lehnte sich gegenüber von ihr an die Wand.

»Jap, ist mir durchaus bewusst. Mir kam etwas dazwischen.«

»Mhm. Plausible Entschuldigung fürs Zuspätkommen. Ich denke, das wird der Dozent so akzeptieren.«

Mit ihren grünen Augen schaute sie ihn an. »Bist du immer so?«

»Was? Freundlich?«

»Sarkastisch.«

»Nein.«

Fragend sah sie ihn an, als würde sie auf eine Erklärung warten, aber er ging nicht weiter darauf ein. »Du kannst dich auf eine Gruppenarbeit gefasst machen, wenn du da reingehst«, sagte er nur und deutete mit einem Kopfnicken auf die Uhr. »Oh, und da du zu spät bist, stehen deine Chancen, in eine gute Gruppe zu gelangen, recht schlecht.«

Sie nickte. »Und was ist mit dir? Hat keiner den sarkastischen Teufel in schwarzer Kleidung gewählt oder weswegen gehst du eine Stunde vor Seminarende?«

Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals sarkastischer Teufel genannt worden zu sein und er stutzte. »Andersherum. Ich muss darüber nachdenken, ob ich nicht einfach mein Studium kurz vor Ende schmeiße, damit ich nicht mit irgendwelchen übermotivierten Studenten zusammenarbeiten muss.«

»Klingt ja nach einer einfachen Lösung«, sagte sie, setzte sich ihren Rucksack auf und ging zur Tür.

Dieser Kommentar wurmte ihn. Es wurmte ihn, dass sie unbedingt das letzte Wort haben musste. Sie wurmte ihn. Und doch fand er diese Frau unglaublich interessant. »Hey, warte.«

Die Frau drehte sich um und sah ihn mit einem gleichgültigen Blick an.

»Wie wäre es, wenn wir eine Gruppe bilden?«

»Das ist ein Scherz, oder?«

»Sehe ich aus, als würde ich scherzen?«, fragte Joshua trocken.

»Nein, leider nicht. Aber nein, danke. Ich arbeite lieber allein.«

»Diese Idee hatte ich auch schon, aber die Option gibt es leider nicht.«

Einen kurzen Moment schien sie seine Antwort zu überdenken, als müsste sie sichergehen, ob er es dieses Mal wirklich ernst gemeint hatte. »Wieso sollte ich mit dir zusammenarbeiten?«, fragte sie und trat einen Schritt näher an ihn heran.

»Weil wir die letzten sind, die keine Gruppe haben?«

»Ich könnte mich auch einfach zu einer schon bestehenden Gruppe dazugesellen.«

»Gut. Tue dir keinen Zwang an. Aber hast du mal einen Blick in den Raum geworfen? Du hast die Wahl zwischen Pest und Cholera. Dir würde was entgehen, wenn du mein Angebot ablehnst.«

»Wow. Dein Ego muss ziemlich schwer zu tragen sein«, warf sie ihm entgegen, doch er zuckte nur mit den Schultern. »Und warum willst du mit mir zusammenarbeiten? Bin ich die Schweinegrippe und deswegen nur das halbe Übel oder wie passe ich in deinen Vergleich?«

Ihr schnippischer Kommentar amüsierte ihn tatsächlich ein wenig. »Nein. Aber eine Frau wie du passt unglaublich gut zu meinem schweren Ego.«

Sie sah ihn nur an, also fuhr er fort. »Vielleicht möchte ich dich auch einfach nur kennenlernen«, antwortete er leise und trat einen Schritt auf sie zu.

»Und was ist, wenn ich das nicht möchte?«

»Dann würde ich mich auch erst einmal mit deinem Namen zufriedengeben«, brachte er hervor und das erste Mal an diesem Tag wölbten sich seine Mundwinkel zu einem leichten Grinsen.

Wieder sah sie ihm in die Augen und runzelte die Stirn. Dann streckte sie ihm die Hand entgegen. »Elinor Frey. Aber bilde dir ja nichts darauf ein. Du bist nur leider meine einzige Wahl.«

Er erwiderte ihren Handschlag und hielt sie einen Moment länger als üblich fest. »Schön, dich kennenzulernen, Elinor Frey.«

Und damit verschwand sie durch die Holztür.

7. Kapitel – Elinor

»Kannst du bitte einen Kasten Zitronenlimonade von unten mitbringen? Die Flaschen im Kühlschrank müssen neu aufgefüllt werden«, bat ihr Chef, nachdem Elinor nach einer kurzen Toilettenpause gefragt hatte.

Es war Freitagabend und die Bar war mindestens doppelt so voll wie unter der Woche. Die Menschen drängten sich förmlich an den Tresen und sorgten dafür, dass Elinor und die anderen drei Mitarbeiter nicht länger als ein paar Minuten Verschnaufpause hatten. Schnell lief sie die Treppen zu den Toiletten hinunter, schloss die Tür hinter sich und wählte die Nummer ihrer Nachbarin.

Nach einigen Sekunden hob sie ab. »Hallo?«

»Hallo Margarete. Ich wollte sichergehen, ob alles in Ordnung bei euch ist.«

»Natürlich. Tia hat gegessen und sitzt nun mit Tigger vor dem Fernseher.«

»Ist sie noch traurig?«

»Nein, ich glaube, sie hat sich wieder beruhigt.«

Erleichtert atmete Elinor auf. »Kann ich sie kurz sprechen?«

»Natürlich. Einen Moment.«

Es raschelte kurz in der Leitung, doch dann hörte sie die zarte Stimme ihrer Tochter. »Hallo, meine Kleine. Ich habe gehört, ihr schaut fern?«

»Ja, wir gucken Rapunzel. Tante Margarete findet den Film richtig toll.«

»Das glaube ich.« Für einen Moment war sie nicht sicher, was sie sagen wollte, und strich ein paar Mal über die Rückseite ihres Telefons, als könnte sie damit ihre Tochter berühren. »Es tut mir leid, Tia. Ich weiß, ich habe dir gesagt, dass ich am Wochenende nicht arbeiten muss, aber ich musste einspringen und mein Chef …«

»Dein Chef ist böse und feuert dich, wenn du nicht machst, was er sagt?«, beendete Tia ihren Satz.

Es überraschte sie immer wieder, wie viel ihre Tochter schon vom Leben mitbekam. Mehr als Elinor dachte. Und mehr als ein fünfjähriges Kind überhaupt sollte. »Ja, so ungefähr«, antwortete sie leise. Sie schämte sich dafür. Sie schämte sich, dass sie ihrer Tochter schon so früh eine solche Last aufbürden musste. Sie schämte sich dafür, dass sie nicht so für sie da sein konnte, wie sie es gern hätte. Aber sie tat alles dafür, dass sie genau das irgendwann kann. Sie müsste nur noch das eine Jahr in der Uni schaffen, bis sie endlich einen Abschluss in der Hand halten würde. Ein Abschluss, der ihr und ihrer Tochter ein Leben ermöglichen könnte, was sie verdient hätten.

»Schon gut, Mami. Ich bin dir nicht böse.«

»Ich mach es wieder gut, versprochen. Wenn du möchtest, fahren wir morgen an den See.«

»Das klingt toll. Ich freu mich schon«, antwortete Tia.

»Ich mich auch. Ich hole dich in ein paar Stunden von Tante Margarete ab, okay? Und dann kuscheln wir uns mit Tigger ins Bett und schlafen, bis wir nicht mehr können«, lächelte Elinor, obwohl ihr bewusst war, dass ihre Tochter es nicht sehen konnte. Aber der Gedanke an den nächsten Tag und die gemeinsame Zeit mit Tia sorgten immerhin kurz für ein wohliges Gefühl.

»Okay. Bis dann«, sagte sie noch, doch dann legte Tia schon auf.

Elinor schaute auf die Uhr auf dem Sperrbildschirm ihres Telefons. Zweiundzwanzig Uhr. Noch mindestens drei Stunden, bis ihre Schicht vorbei sein würde. Ein letztes Mal atmete sie tief durch, bevor sie sich den Limonadenkasten schnappte und zurück in den Trubel der überfüllten Bar zurückkehrte.

. . .

Elinor band sich ihre Schürze ab und packte sie in das Schließfach des Mitarbeiterraumes. Es war mittlerweile zwei Uhr, mal wieder hatte sie ihre Schicht um eine Stunde überziehen müssen. Und mal wieder kam sie viel zu spät, um Tia von ihrer Nachbarin abzuholen.

Sie zog sich ihre Jacke über, denn obwohl es bereits Juni war, brachten die Abende manchmal kühle Temperaturen mit sich. »Wir sehen uns dann morgen«, sagte ihr Chef, als er die leeren Getränkeflaschen verräumte und neue auffüllte.

Schockiert sah Elinor ihn an. »Morgen? Ich … Ich habe morgen frei. Ich kann wirklich nicht, ich habe meiner Tochter versprochen, dass …« Sie unterbrach ihren Satz, als sie ihren Chef lachen sah.

»War nur Spaß. Genieß dein Wochenende und grüß Tia von mir.« Ein letztes Mal lächelte er ihr zu, bevor er durch den Hinterausgang verschwand. Nick und sie kannten sich theoretisch seit Schulzeiten. Er war damals einige Klassenstufen über ihr gewesen und als sie mit ihrem Informatikstudium begonnen hatte, gehörte ihm bereits die Bar. Er war damals derjenige gewesen, der sie davor bewahrt hatte, noch tiefer zu sinken. Vor Gericht hatte sie zwar damals gewonnen, doch trotzdem war sie so am Ende gewesen, dass sie ihren vorherigen Job verloren hatte und fast auch ihren Platz an der Universität. Kurz bevor alles noch weiter aus dem Ruder laufen konnte, hatte Nick ihr einen Teilzeitjob in seiner Bar angeboten. Sie konnte sich eine kleine Wohnung besorgen, die für ihre Tochter und sie reichte, und das erste Mal gab ihr jemand das Gefühl, stark zu sein. Auch wenn das vielleicht nicht Nicks Intention gewesen war, hatte er ihr damals dabei geholfen, wieder einen kleinen Teil an Selbstbewusstsein zu erlangen. Kraft, um ihrer Tochter ein halbwegs normales Leben zu ermöglichen.

Elinor schnappte sich ihre Tasche und wollte gerade die Treppe zur Bar hinaufgehen, als sie plötzlich den Türöffner hörte. Sie schaute durch das Fenster des Hinterausgangs, doch Nicks Auto war bereits weg. Hatte er vergessen, den Haupteingang abzuschließen?

Langsam ging sie die restlichen Stufen nach oben und sah durch das Fenster der Durchgangstür, die in den Hauptbereich der Bar führte. Das Licht war an, doch niemand war zu sehen. Sie öffnete die Tür und sah sich genauer um, doch es blieb still.

Erst als sie sichergegangen war, dass niemand mehr da war, realisierte sie, wie schnell ihr Herz raste. Ihr Körper war so angespannt, dass sie sich kaum traute, weitere Schritte zu gehen. Ein letztes Mal überzeugte sie sich davon, dass die Bar leer war, dann schaltete sie das Licht aus und ging durch den Haupteingang hinaus. Sie holte ihre Schlüssel aus der Tasche, um abzuschließen, als eine tiefe, drohende Stimme in ihrem Nacken ihren gesamten Körper zu Eis erstarren ließ.

»Wusste ich es doch, dass ich dich hier finden werde«, ertönte es hinter ihr im Dunkeln.

Wie in Zeitlupe drehte sie sich um. Sie kannte die Stimme gut. Zu gut. Und sofort löste dieser Ton schlimme Erinnerungen in ihr aus, die ihr Herz zum Stehen brachten. Das Außenlicht der Bar warf gerade so viel Helligkeit auf den Fußweg, dass sie seine harten Gesichtszüge erkennen konnte. Sein Kiefer war angespannt und ein böses Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. Seine blauen Augen funkelten sie an, als würden sie damit ihren Körper zum Brennen bringen wollen. Es hatte eine Zeit gegeben, als dieses Gefühl noch positiv war. Als diese Augen noch ein kribbelndes und schönes Gefühl ausgelöst hatten. Doch nun war es das Gegenteil davon.

»Was willst du hier?«, brachte Elinor mit leiser und stockender Stimme hervor.

»Was ich hier will?«, fragte Daniel und trat einen Schritt auf sie zu.

Ihr Instinkt drängte sie weiter zurück, doch die Metallgriffe der Tür bohrten sich schmerzhaft in ihren Rücken. Sie drehte ihren Kopf zur Seite, um nur ein kleines Stück Abstand von ihm zu bekommen, doch sofort überwand er diese Distanz.