Mit dir ist alles schöner - Kristina Günak - E-Book
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Mit dir ist alles schöner E-Book

Kristina Günak

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Beschreibung

Nachdem Franziska vor vielen Jahren aus der Enge ihres kleinen Heimatdorfes in die Großstadt flüchtete, ist sie nicht einmal zurückgekehrt. Nun steht sie hier, an der Ostseeküste, auf dem Campingplatz, den sie nach dem Tod ihres Vaters geerbt hat. Eigentlich will sie so schnell wie möglich wieder weg, doch der Platz ist zwar idyllisch, aber völlig marode und damit unverkäuflich. Auch die Camper sorgen sich um ihr geliebtes zweites Zuhause. Da hilft nur eines: gemeinsam die Ärmel hochkrempeln - unterstützt von Erik, dem schweigsamen Elektriker, der Franziska immer wieder aus der Patsche hilft. Und plötzlich fragt sie sich: Wo gehöre ich hin? Und was will ich wirklich vom Leben?

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23EpilogDanke

Über dieses Buch

Nachdem Franziska vor vielen Jahren aus der Enge ihres kleinen Heimatdorfes in die Großstadt flüchtete, ist sie nicht einmal zurückgekehrt. Nun steht sie hier, an der Ostseeküste, auf dem Campingplatz, den sie nach dem Tod ihres Vaters geerbt hat. Eigentlich will sie so schnell wie möglich wieder weg, doch der Platz ist zwar idyllisch, aber völlig marode und damit unverkäuflich. Auch die Camper sorgen sich um ihr geliebtes zweites Zuhause. Da hilft nur eines: gemeinsam die Ärmel hochkrempeln – unterstützt von Erik, dem schweigsamen Elektriker, der Franziska immer wieder aus der Patsche hilft. Und plötzlich fragt sie sich: Wo gehöre ich hin? Und was will ich wirklich vom Leben?

Über die Autorin

Kristina Günak wurde 1977 in Norddeutschland geboren. Nachdem sie jahrelang als Maklerin arbeitete, ist sie heute als Mediatorin und systemischer Coach tätig. 2011 erschien ihr erster Roman, und seither hat sie sich mit ihren humorvollen Büchern unter Liebesromanleserinnen einen Namen gemacht. Sie schreibt auch unter dem Pseudonym Kristina Steffan.

KRISTINA GÜNAK

MIT DIR IST ALLES SCHÖNER

ROMAN

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Katja Bendels

Titelillustrationen: © shutterstock: J.D.S | Cat_arch_angel | SvetlanaFlo

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2088-5

luebbe.de

lesejury.de

Kapitel 1

Es war seltsam still in der Penthouse-Wohnung. Carstens Laufschuhe lagen zusammen mit seinen handgefertigten Budapestern wie einfach hingeworfen auf dem Parkett. Einer der Lederschuhe war zur Seite gekippt und klemmte unter der Kommode. Was mindestens so ungewöhnlich war wie die Stille, denn diese Schuhe kosteten so viel wie ein Kurztrip nach Venedig, und eigentlich verwahrte Carsten sie einzeln, in maßgeschneiderten Leinenbeuteln.

Ich zog die Wohnungstür hinter mir ins Schloss und ließ langsam den Riemen meiner Tasche von der Schulter gleiten. Das schwere Ding fiel mit einem dumpfen Laut auf den Boden. Mein Herz schlug hektisch, als wäre ich selbst gerade joggen gewesen. Aber ich ging nie joggen.

Ich stand einfach da und lauschte der Stille in der Wohnung und dem Hämmern in meinem Brustkorb. Carsten war da, klar erkennbar an dem sonderbaren Schuhkunstwerk. Aber wenn er zu Hause war, lief eigentlich immer Musik. Meistens Jazz, oft Klassik, aber es war nie, wirklich nie, still. Mit Stille kam Carsten nicht so gut zurecht.

Mir war ein wenig schwindelig, und ich legte die flache Hand an die Wand, um mich abzustützen.

Heute Morgen war ich noch, leise vor mich hin pfeifend, an dieser weißgestrichenen Flurwand vorbeigetanzt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Heute hätte nämlich ein großartiger Tag werden sollen. Der Tag, an dem endlich mein absolutes Lieblingsprojekt starten sollte, auf das ich wochenlang hingearbeitet hatte.

Gesichter unserer Stadt – so hieß die großangelegte Werbekampagne für eine örtliche Versicherung, mit einem nicht unerheblichen Budget und einer ganz klaren künstlerischen Gewichtung. Es hatte mehr sein sollen als einfach eine durchschnittliche Werbekampagne, man wollte es sich etwas kosten lassen, ausgewählte Einwohner Hannovers porträtieren und somit die tiefe Verbundenheit zur Region zeigen.

Für mich war es der erste wichtige Auftrag nach langer Zeit. Corona hatte mich sämtliche Projekte gekostet. Danach war die ganze Fotobranche zwar wieder angelaufen, aber die großen Jobs waren an mir vorbeigezogen. Selbst die Wochenzeitungen, die hin und wieder mal einen Auftrag vergeben hatten, ließen ihre Fotos jetzt von ihren Praktikanten mit dem iPhone machen. Dieses Werbeprojekt hatte mir endlich wieder ein neues Ziel gegeben, auf das ich hatte hinarbeiten können. Abgesehen davon liebte ich es, Menschen zu porträtieren.

Vorsichtig nahm ich die Hand wieder von der Wand und blinzelte ein paarmal.

Ich würde allen absagen müssen. All den Menschen, die ich als Zugpferde für diese Kampagne hatte haben wollen. Ich hatte schon Kontakt mit ihnen aufgenommen, ein Vorgespräch geführt, sie überzeugt mitzumachen, was gar nicht so einfach gewesen war. Schon der Gedanke an diese Telefonate machte mich unendlich müde.

Der muffelige örtliche Friedhofsgärtner, die redselige Gemüsefrau vom Markt, die eloquente Boutique-Verkäuferin aus der Innenstadt mit einem abgeschlossenen Psychologie-Studium in der Tasche, die ihre fachlichen Kenntnisse jetzt nutzte, um Menschen bei der Auswahl ihrer Garderobe zu helfen, und ihren Job liebte.

Ich zog die Nase hoch, was laut und unschön klang, und blickte auf meine Füße. Ich sollte die Schuhe ausziehen und sie zu Carstens Kunstwerk hinzufügen. Er hatte es mir kategorisch verboten, den geölten, offenporigen Dielenboden mit Schuhen zu betreten, und üblicherweise hielt ich mich auch daran, denn das Leben war einfacher, wenn man Carstens Regeln beachtete. Es war ja schließlich seine Wohnung, in der ich vorübergehend Unterschlupf gefunden hatte.

Ich beugte mich runter und griff nach dem Riemen meiner Tasche. Leise ächzend hob ich sie hoch, was mich allerdings bereits so sehr erschöpfte, dass ich keine Kraft mehr hatte, auch noch die Schuhe auszuziehen. Und keine Lust. Mit Mühe streifte ich mir den Riemen wieder über die Schulter und lief, durch das Gewicht leicht gebeugt, in die Küche, die sich zum großzügigen Wohnbereich hin öffnete. Durch die komplette bodentiefe Verglasung hatte man einen freien Blick über die Dächer des bereits schlafenden Hannovers. Ein spektakulärer Ausblick.

Carstens Autoschlüssel lag auf der Theke. Daneben sein Portemonnaie und der Laptop. Die Gegenstände wirkten wie ein arrangiertes Stillleben auf der polierten Küchentheke aus Edelstahl.

Weiter links stand ein Strauß Blumen. Weiße Tulpen drängten sich dicht an dicht in einer eleganten Glasvase, von deren Existenz ich bisher nichts gewusst hatte.

Angeblich besaß jeder Mensch etwa zehntausend Gegenstände. Carsten besaß mindestens einhunderttausend Dinge, und viele davon waren mir auch nach fünf Jahren Beziehung nie zu Gesicht gekommen. Ich war mir allerdings sicher, dass sie alle keine Farbe hatten. Carsten mochte Farben nicht besonders. Aber er mochte Dinge, die er verwahren und zu besonderen Anlässen hervorholen konnte, wie seine kostbaren Rotweine oder sein Zweitauto.

Ob er mir den Strauß als Geschenk mitgebracht hatte? Eine kleine Aufmerksamkeit für das neue, großartige Projekt? Ich lehnte mich kurz gegen die Küchentheke. Ein bisschen schwindelig war mir immer noch.

Sogar das angesagte Stadtmagazin Metropole hatte mich vor einigen Wochen zu der Kampagne interviewt. Gesichter der Stadt hatte, bevor es überhaupt gestartet war, für Aufsehen gesorgt. Das Metropole brachte sonst nur Artikel über Bankenvorstände, Fußballspieler und Schriftsteller der Region. Die nahezu rein männlich besetzte Redaktion interviewte in der Regel nur männliche Protagonisten, aber mit mir hatten sie ausgiebig über meine geplanten Porträtfotos gesprochen. Ich war sogar von einem Kollegen fotografiert worden. Allerdings in Schwarz-Weiß, in einer weißen Bluse vor einer weißen Wand. Ich sah auf diesen Bildern aus, als wäre ich blutarm und unterernährt, und meine sorgfältig abgedeckten Sommersprossen hatten fröhlich aus dem Schwarz-Weiß-Grau hervorgeleuchtet. Ein grässliches Foto. Richtig gute Schwarz-Weiß-Fotos von Menschen zu machen, war nun mal eine Kunst, die besagter Kollege leider nicht beherrschte. Farblose Fotografien entfalteten nicht einfach so ohne Zutun einen künstlerischen Aspekt. Das war ein Mythos. Man musste sie akribisch planen und vorbereiten und benötigte verdammt gutes Licht. Hatte man das nicht, brauchte jedes Foto Farbe. So wie Blumen. Und Wohnungen.

Ich griff in die Tasche, zog meine knallroten Arbeitsunterlagen heraus und legte sie neben den klinisch sterilen Blumenstrauß. Ich liebte rosafarbene Tulpen. Sogar in Lila konnte ich ihnen etwas abgewinnen, aber Weiß war keine Blumenfarbe – nur für Beerdigungen.

Meine Mutter hatte mich gewarnt. Sie mochte Carsten nicht und fand ihn »komisch«, was ganz und gar den Tatsachen entsprach. Aber als ich in der Krise meine Wohnung beim besten Willen nicht mehr hatte finanzieren können, war mir nichts anderes übriggeblieben, als meine wenigen Sachen zusammenzupacken und zu ihm zu ziehen – natürlich nur vorübergehend. Aber wie das mit Provisorien manchmal so war …

Ich seufzte und zog auch noch das offizielle Schreiben meines Auftraggebers aus der Tasche. Es war total verknittert. Ich hatte es in einem ersten Anfall von Erschütterung reflexhaft zusammengeknüllt und dann panisch ganz nach unten in die Tasche gestopft. Als würde es dadurch verschwinden, dabei neigte ich nicht zu magischem Denken. Ich legte es ebenfalls auf die Theke und strich das Papier mit den Handflächen glatt.

Das Projekt, das ich höchstpersönlich und ganz allein als Freiberuflerin auf die Beine gestellt hatte, würde nun von einer großen Agentur aus Hamburg umgesetzt werden. Einfach so. Offenbar kannte der Chef der Versicherung den Chef der Agentur. Auf Wiedersehen, Frau Lichtenstein. Tolle Vorarbeit. War schön mit Ihnen.

Wieder griff der Schwindel nach mir, und etwas lag mir im Magen. Vielleicht war das endlich die Wut. Kurzerhand riss ich den Weinkühlschrank auf und nahm eine Flasche sehr teuren Rotwein aus dem für ihn reservierten Klimaabteil. Der Wein war nur zum Betrachten gedacht, bestimmt war er furchtbar teuer. Carsten sammelte haufenweise diese exklusiven Weine und sah sie sich hin und wieder mit einem Lächeln im Gesicht an. Ich hingegen friemelte jetzt den Verschluss ab und suchte den Korkenzieher. Das würde Carsten nicht gefallen. Aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen.

Ich fand den Öffner, und mit wenigen Handgriffen hatte ich die Flasche entkorkt. Carstens heilige Weingläser mochte ich nicht, deshalb griff ich mir ein Wasserglas, füllte es randvoll und nahm direkt einige gierige Schlucke. Dieser Tag schrie förmlich nach Alkohol. In rauen Mengen.

Normalerweise trank ich so gut wie nie, rauchte nicht, ernährte mich clean, manchmal sogar vegan, und vermied Zucker. Aber jetzt würde ich mich betrinken. Und endlich meinen Freund suchen, um ihm von der Katastrophe zu erzählen. Dafür führte man doch schließlich eine Beziehung.

Mit dem Glas in der Hand marschierte ich ins Wohnzimmer.

Weil meine cognacfarbenen Ballerinas unschöne Geräusche auf dem von Carsten liebevoll gepflegten Parkett von sich gaben, ging ich leise und auf den Zehenspitzen.

Die 240-Quadratmeter-Penthouse-Wohnung in bester Lage hatte vermutlich so viel gekostet wie ein ganzes Schloss, war aber ein nigelnagelneuer Neubau und komplett nach Carstens Wünschen gestaltet worden. Im Schlaftrakt, den ich nun betrat, befanden sich ein riesiges Bad mit freistehender Wanne, ein Workout-Zimmer, ein begehbarer Kleiderschrank und unser Schlafzimmer.

»Carsten?«, rief ich halblaut.

Es brummte von irgendwoher.

»Wo bist du?« Ich spähte ins leere Badezimmer und lief weiter.

Als Antwort brummte es wieder, und schließlich fand ich Carsten im Schlafzimmer, wo er im Anzug auf der Bettkante saß.

Er trug eine derartig bedröppelte Miene zur Schau, dass ich erschrocken im Türrahmen stehen blieb.

»Was ist los?«, fragte ich und umklammerte mein improvisiertes Weinglas ein wenig fester. Irgendwas stimmte hier nicht. Ich kam nur noch nicht drauf, was es war.

Carsten sah mich an und blinzelte. Seine Haare standen sonderbar igelig von seinem Kopf ab, als hätte er versucht, wie zwanzig auszusehen, dabei war er fast fünfzig. Letzte Woche hatte ich mich richtiggehend erschreckt, als er in einem schrill-gelben Hoodie (an und für sich schon komisch, weil eine Farbe) und einer verwegenen neuen Lederjacke vor mir gestanden hatte. Ich hatte mich nicht getraut, ihm zu sagen, dass diese Klamotten an seinen Sportkumpels aus der Crossfit-Box vermutlich cool, an ihm aber dämlich aussahen. Seine Freunde dort waren alle etwa halb so alt wie er.

»Nun ja, Franziska, ich habe nachgedacht«, sagte Carsten langsam, und ich nickte erwartungsvoll und ein wenig verwundert, weil er noch gar nichts zu meinen Schuhen gesagt hatte. Er rieb sich das glattrasierte Kinn und dachte eine ganze Weile darüber nach, worüber er eben nachgedacht hatte. »Es ist doch so, dass bei uns nach fünf Jahren Beziehung die Luft raus ist. Du bist doch auch sehr unzufrieden.« Er sah mich an, als erwarte er Zustimmung. »Mit allem«, fügte er hinzu, weil ich ihn nur verwirrt ansah und erstmal einen Schluck Wein trank. Da kam ich jetzt nicht mit.

»Wie meinst du das?«, fragte ich mit dünner Stimme.

Carsten räusperte sich und rieb mit den Handflächen über den feinen Damast der strahlend weißen Bettwäsche. »Ich denke, dass wir uns trennen sollten. Das ist besser für uns beide.« Er nickte mir aufmunternd zu und stand auf.

»Hä?«, fragte ich. Wie, trennen? Warum sollten wir uns trennen? Und wo sollte ich denn hin?

Es gab Situationen, in denen weigerte sich mein Gehirn, die zu verarbeitenden Informationen auf korrekte Art und Weise weiterzuleiten. Sie blieben dann irgendwo stecken und verklebten mir die Synapsen, was mich in eine Art Schockstarre versetzte, und manchmal half dann nur ein weiterer Schock, um alles wieder in Gang zu bringen. Bei mir bestand der zweite Schock darin, dass ich das Weinglas fallen ließ. Auf den blütenweißen Teppich im Schlafzimmer. Er war hochflorig und flauschig und ganz wunderbar kuschelig. Nun hatte er einen sehr dominanten Rotweinfleck, bei dessen Betrachtung mich endlich die Information erreichte, dass Carsten sich von mir trennen wollte.

Ich atmete dumpf aus und lehnte mich kraftlos gegen den Türrahmen.

Auch bei Carsten brachte der Rotwein auf dem Teppich einiges in Bewegung. Er rannte los und kam mit einem Handtuch zurück, um wie verrückt an dem Fleck rumzutupfen.

»Verdammt. Das bekommt man nicht mehr raus!«, ächzte er.

Kapitel 2

Der Fleck würde für immer auf diesem Teppich bleiben. Ich hatte mich verewigt. Als auch Carsten das klar wurde, ließ er ab von dem roten Corpus Delicti und eilte erneut an mir vorbei ins Bad. Zurück kam er mit einer prall gefüllten Sporttasche über der Schulter.

»Ich schlafe im Club«, teilte er mir mit. »Dann kannst du dich sammeln und packen. Ich bin sicher, das ist das Beste. Auch für dich.«

Ich schlafe im Club hieß übersetzt, dass er die Nacht in seinem Altherren-Club der Reichen, Mächtigen und Privilegierten im Danheimer Schloss verbringen würde. Dort traf er gleichgesinnte Herren, betrank sich mit erlauchten Spirituosen und konnte sich in aller Ruhe bauchpinseln und wieder aufbauen lassen. Da das zeitintensiv war und selbst die reichsten und mächtigsten Alphamännchen irgendwann fahruntüchtig wurden, gab es dort gleich mehrere Gästezimmer, die über Nacht gebucht werden konnten. Carsten hatte dort im vergangenen Jahr oft übernachtet. Ich glaube, ich passte schon eine ganze Weile nicht mehr in sein Leben, und er war bis jetzt nur zu höflich gewesen, um mir das zu sagen. Oder zu beschäftigt.

Ich hörte, wie er im Flur rumorte, und betrachtete den Fleck zu meinen Füßen. Carsten war nicht meine große Liebe. An die große Liebe glaubte ich ohnehin nicht. Die war wie der Yeti, oft beschworen, aber in Wahrheit dann doch nur ein Fake. Aber unser Arrangement hatte trotzdem fünf Jahre lang funktioniert.

Ich atmete tief durch und versuchte, dem Fleck meine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Ihn wertfrei zu betrachten, wie ich es beim Yoga gelernt hatte. Nach jahrelangem Achtsamkeitstraining hätte ich eigentlich in der Lage sein sollen, zu atmen und einfach nur diesen Fleck zu betrachten, um erstmal zur Ruhe zu kommen, aber es gelang mir nicht. Ich konnte nicht wertfrei sein, ich wollte einfach nur noch mehr Rotwein trinken.

Carsten hatte unsere farblose Beziehung, die durch die Pandemie zwangsläufig einen Nähe-Turbo-Boost erfahren hatte, genauso farblos beendet.

Als die Wohnungstür ins Schloss fiel, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Es konnte doch nicht an einem einzigen Tag alles kaputtgehen?

Aus dem ganzen Gefühlshäcksel am Grund meiner Seele kletterte eine tiefe Traurigkeit empor. Sie war so schlimm, dass sie mir fast den Atem nahm. Mit einer Hand umklammerte ich den Edelstahlgriff der raumhohen Schiebetür, hinter der sich der begehbare Kleiderschrank versteckte. Lautlos glitt sie auf. Die Beleuchtung schaltete sich ein und tauchte die langen Reihen an Anzügen und Hemden in ein geschmackvolles Licht.

Nach meinem überstürzten Einzug hatte Carsten mir hier, ganz links, direkt neben der Tür und seinem Reisegepäck eine Ecke freigeräumt. Dort lagerte mein altes Leben.

Zartrosafarbene Kissen von Zara aus Paris, eine Patchworkdecke von meiner Mutter, meine Leinenbettwäsche von 1832, leider auch in Zartrosa, womit sie für Carstens Wohnung nicht tauglich war, und alle meine Bücher. In Carstens Wohnung durften sich sichtbar nur hochwertige Coffee Table Fotobücher aufhalten, die alle vier Wochen gewechselt wurden.

Ich starrte auf den ganzen Kram, der so unerwartet zum Vorschein gekommen war. Hier irgendwo musste auch Bernie sein. Ich zog einen alten Koffer heraus, prall gefüllt mit alten Unterlagen, und wühlte weiter. Und da, ganz unten rechts in einer der Kisten, wurde ich fündig.

Da war er! Bernie. So groß wie ein Cocker Spaniel. Über achtunddreißig Jahre lang fadenscheinig geliebt. Er hatte keine Augen mehr, die Füllung quoll an allen Ecken und Enden heraus, aber es gab ihn noch. Den Teddy, den meine Mutter mir wenige Tage vor meiner Geburt in einem kleinen Laden in Laboe gekauft hatte. Den Teddy, der mich überallhin begleitet hatte, bis ich mein altes Ich hinter mir lassen musste und er in diese Kiste gezogen war.

Vorsichtig packte ich ihn an der Tatze und zog ihn hervor. Er roch staubig und nach Zuhause. Er roch nach meiner Mutter und schmiegte sich als gewohnter Umriss in meinen Arm.

Ich presste das staubige Kuscheltier an mich und wankte gemeinsam mit ihm zurück ins Wohnzimmer, wo ich mich der Länge nach erstmal auf dem Sofa ausstreckte. Mit einem Mal war ich unendlich müde. So müde wie schon lange nicht mehr.

Mein Handy weckte mich. Es klingelte direkt neben meinem linken Ohr. Das Geräusch ließ meinen Kopf explodieren, und es fühlte sich an, als müssten Teile meiner Hirnmasse überall herumfliegen. Nur mit äußerster Mühe schaffte ich es, ein Auge zu öffnen. Es war nicht mehr Nacht, und mein Gehirn war offenbar wirklich explodiert, denn das weiße Sofa und der weiße Teppich unter dem Couchtisch waren rot. Jetzt riss ich auch das andere Auge auf und entdeckte als Nächstes die umgefallene Weinflasche. Es war ein anderer Wein als der, mit dem ich den Abend begonnen hatte. Château Lafite-Rothschild stand auf dem Etikett. Vermutlich kostete er tausend Euro. Und ich hatte ihn getrunken. Oder ausgekippt. Das war noch unklar.

»Oh«, sagte ich mit trockenem Mund und richtete mich vorsichtig auf. Ich hielt immer noch das staubige Kuscheltier im Arm und legte es jetzt beiseite, um stattdessen nach dem Handy zu greifen. Eine fremde Handynummer blinkte mir entgegen. Ich räusperte mich mehrmals und musste dabei einen Würgereiz unterdrücken.

»Ja?«, meldete ich mich schließlich mit brüchiger Stimme. Ich klang, als wäre ich mindestens hundert, was sich gut mit dem deckte, wie ich mich fühlte.

»Heike? Sie ist dran!«, ertönte eine männliche Stimme, hinter der andere Menschen herummurmelten.

»Franziska«, sagte ich ganz automatisch und musste husten.

»Heike, hier ist Harald.« In der Stimme des Mannes lag eine sonderbare Dringlichkeit.

»Wer?«, fragte ich schwach. Ich kannte keinen Harald.

»Harald von den glücklichen Campern.«

Ich stöhnte. Harald Berkens. Vom Campingplatz meines Vaters, an der Ostsee. Die Spießerhochburg des gepflegten Urlaubers.

»Du klingst sonderbar. Geht es dir gut?«, erkundigte er sich besorgt, und ich fasste mir an den brummenden Schädel.

»Toll. Was kann ich für dich tun?« Je eher ich dieses Gespräch beendete, desto eher konnte ich die Scherben meines Lebens aufkehren und vielleicht retten, was noch zu retten war.

Harald schwieg einen Moment. Im Hintergrund murmelten immer noch viele Menschen. Es klang, als würde er in einer Bahnhofshalle stehen.

»Heike«, sagte Harald erneut und klang dabei ziemlich hilflos. So als warte er auf jemanden, der ihm soufflierte.

»Harald, mein Name ist Franziska. Worum geht es denn?«, fragte ich jetzt etwas energischer.

Harald räusperte sich geräuschvoll. »Heike, ich muss dir etwas sagen«, begann er noch einmal, ignorierte dabei meinen Wunsch nach korrekter Namensnennung und atmete jetzt auch noch geräuschvoll ein und aus. Es klang, als würde er sich Mut einatmen. »Dein Vater ist vergangene Nacht gestorben. Es tut uns allen sehr leid.« Er schluchzte laut auf.

Ich nahm das Handy vom Ohr und atmete ebenfalls ein und aus, um den immer heftiger werdenden Würgereiz zu unterdrücken.

Da am anderen Ende der Leitung jedoch ein wahrer Stimmentumult entstanden war, schien es ratsam, das Handy wieder ans Ohr zu heben.

»Was?«, fragte ich verschwommen. Mein Vater war nicht tot. Das konnte gar nicht sein. Ich wollte ihn seit zwei Tagen zurückrufen, er konnte nicht tot sein.

»Hier ist Gitte«, meldete sich jetzt eine Frauenstimme. »Bist du alleine?« Die Stimme klang kraftvoll. Energisch. Sie klang wie eine starke Person, die alles im Griff hatte.

»Er ist nicht tot. Das kann nicht sein. Ihr irrt euch.«

»Nein, Schätzchen. Es tut mir so leid. Er ist heute Nacht eingeschlafen. Einfach so. Bist du allein?«

»Ja«, sagte ich, und es klang wie ein Wimmern. Als wäre ich nicht achtunddreißig, sondern drei.

»Kann jemand zu dir kommen?«

Ich wollte der Frau sagen, dass sie kommen sollte. Dass ich ihr zutraute, alles in die Hand zu nehmen, doch stattdessen sagte ich: »Nein. Ich bin allein. Niemand kann kommen.«

Und so war es. Niemand konnte kommen. Ich war allein. Mutterseelenallein. Und nun auch vaterseelenallein.

Die Frau am anderen Ende redete weiter mit mir, doch ich konnte nichts mehr sagen, weil alle Worte mein Gehirn verlassen hatten. Hätte ich nicht zwischendurch ein paar brummende Geräusche von mir gegeben, hätte sie vermutlich einen Notarzt oder die Feuerwehr zu mir geschickt. Meine Adresse hatte sie mir nämlich schon abverlangt und offenbar notiert – für den Fall, dass ich »abklappte«, wie sie es ausdrückte.

»Du musst herkommen, es gibt viel zu besprechen und zu organisieren«, sagte sie gerade und klang dabei so, als wäre sie es gewohnt, dass die Menschen taten, was sie sagte.

Ich wollte gerade ansetzen und erklären, dass ich nicht einfach so zu ihnen an die Ostsee fahren konnte, dass ich Dinge tun musste, da fiel mir ein, dass es ja gar nichts zu tun gab. Es gab nur noch mich. In Carstens farbloser Wohnung mit den vielen Rotweinflecken.

»Ich komme«, hörte ich mich sagen.

Dann legte ich auf und machte mich schnurstracks auf ins Bad, um mich heftig zu übergeben. Anschließend kochte ich mir den stärksten Kaffee, zu dem Carstens Bezzera in der Lage war, packte ein paar Sachen ein, duschte und putzte mir die Zähne. Mit zittriger Hand verdeckte ich meine furchtbaren Sommersprossen unter dickem Make-up und tupfte ein wenig Rouge auf die Wangen. Während all dieser Tätigkeiten war ich wie betäubt. Als würde mich eine Schicht Watte umgeben.

So konnte ich nicht Auto fahren.

Zittrig kochte ich mir noch einen Kaffee und stand dann mit der Tasse in der Hand in der Küche. Ich starrte aus dem Fenster und versuchte, wieder klar im Kopf zu werden. Die Welt hinter der Scheibe war grau. Ein typischer Tag im März, an dem die Nacht sich auch mittags nicht ganz zurückziehen würde. In der Nachbarwohnung direkt gegenüber brannte Licht. Dort lebte eine schwedische Familie in einer farbenfrohen IKEA-Wohnung ohne Vorhänge. Ich sah ihnen ständig bei ihrem Alltag zu und hatte mittlerweile das Gefühl, alle Familienmitglieder gut zu kennen.

Gerade trabte der Vater mit einem halbangezogenen Kleinkind auf dem Arm durch das Wohnzimmer, Trinkflaschen, Rucksäcke und Winterjacken der größeren Kinder in der freien Hand schwenkend. Der Vater setzte das kleine Kind auf den Boden und lief jetzt seinen anderen Kindern hinterher, während seine Frau im schicken Kostüm ihm lachend zusah. Vielleicht hatte sie einen Scherz gemacht, denn er blickte grinsend auf und erwiderte etwas. Beide sahen sich verliebt an. Bei meinen intensiven Studien zu dieser Familie war ich zu dem Schluss gekommen, dass sie sich alle sehr mochten. Sie hatten sich.

Ich hingegen hatte niemanden. Noch nicht mal mehr einen Vater.

Ich stellte die Tasse auf die Küchentheke. Wenn ich noch einen einzigen Schluck trank, würde ich mich erneut übergeben. Also griff ich mir meine Reisetasche und ging.

Schon in der Tür, warf ich noch einmal einen letzten Blick zurück. Alles hier war hell und klinisch. Sogar die Blumen waren farblos. Alles, bis auf die Rotweinflecken auf dem Sofa und dem Teppich.

Wie eine Welle brach endlich die Wut über mich herein, und sie fühlte sich weit besser an als diese zittrige, wattige Leere. Ich ließ die Tasche fallen und marschierte zurück in die Küche. Hier griff ich wahllos einen der teuren Rotweine aus Carstens Sammlung, holte aus und donnerte sie gegen die Wohnzimmerwand. Ich musste all meinen Schmerz in den Wurf gelegt haben, denn die Flasche zerplatzte mit einem schaurigen Geräusch, und der Rotwein spritzte bis an die Decke.

»Mit Farbe lacht das Leben!«, rief ich und klang dabei völlig irre. Dann sah ich zu, dass ich in die Tiefgarage kam, wo mein geliebtes Cabrio auf mich wartete.

Ich brauchte sieben Stunden bis nach Vogelsang-Storch, dem klitzekleinen Ort mitten im Wald, wo der Campingplatz meines Vaters lag. Der nächste größere Ort war Laboe, und von dort war auch Kiel nicht mehr weit weg, aber Vogelsang-Storch war kaum mehr als eine Ansammlung klappriger Holzhütten und Wohnwagen. Mein letzter Besuch war Jahre her, aber ich erwartete keine großen Veränderungen, als ich mein altes 3er BMW Cabrio, das Einzige, das ich in der Krise nicht geopfert hatte, vor dem Schlagbaum abstellte und die Tür öffnete. Es war schon dunkel und empfindlich kühl. Der März hatte bisher keinen Frühling im Gepäck.

Langsam stieg ich aus und streckte mich kurz. Ich atmete tief durch und konnte das Meer riechen. Der Platz hatte einen eigenen Strand, und es duftete wie in meiner Kindheit. Schlagartig wurde mir wieder flau im Magen, und ich musste mich für einen Moment am Autodach festhalten.

»Da bist du ja!« Harald war, eingewickelt in einen dicken Schal und eine Daunenjacke, im schwachen Schein des Anmeldehäuschens aufgetaucht.

»Ich habe schon auf dich gewartet. Viel Verkehr gehabt, mein Mädchen?«, fragte er. Hannover war nämlich gar nicht so weit weg, etwa drei Stunden, aber es war Freitag, und die Autobahn entsprechend voll gewesen.

Ich starrte Harald an, unfähig mich zu rühren. Und er starrte zurück, ebenso regungslos. Abwartend. Die kleine Funzel der Außenbeleuchtung ließ seine Augen glitzern. Endlich schaffte ich es zu nicken.

»Dann komm mal mit ins Warme.« Etwas ungeschickt legte er vorsichtig, so als wäre er nicht sicher, ob das angemessen war, einen Arm um meine Schulter.

Und es war genau diese Berührung, die mich fast aus der Fassung brachte. Dabei war ich ja schon seit dem vergangenen Abend nicht mehr in meiner ursprünglichen Fassung. Die hatte ich in dem Moment verloren, als mein Projektleiter mir mit betretener Miene erklärt hatte, dass wir nicht länger zusammenarbeiten würden.

Und von da an hatte sich mein Leben einfach immer weiter zu einer einzigen riesigen Katastrophe entwickelt.

Ganz aus Versehen lehnte ich den Kopf gegen Haralds Brust, und er schloss die Arme um mich. Für einen kurzen Moment gelang es mir, durch die ganzen Felsbrocken, die auf meiner Brust herumlagen, hindurchzuatmen.

Doch dann knirschten energische Schritte über den Kies in unsere Richtung, und ich löste mich aus Haralds fester Umarmung.

»Wir wollten schon eine Suchmeldung aufgeben!« Eine Frau mit wilden, grauen Löckchen und einer rosafarbenen Brille war direkt neben uns stehen geblieben und beleuchtete mich mit ihrer Taschenlampe. »Ich bin Gitte. Wir haben telefoniert. Mein aufrichtiges Beileid. Du bist also Heike.«

Ich schluckte. »Nein«, sagte ich, während Harald im gleichen Moment »Ja« rief.

»Na, was nun?« Gitte brachte es fertig, uns nacheinander ins Gesicht zu leuchten. Ich hob eine Hand, um meine Augen vor ihrem Lichtkegel zu schützen.

»Das spielt jetzt keine Rolle«, erklärte ich und trat einen Schritt zurück, und endlich hörte Gitte auf, wie verrückt herumzuleuchten. Ich klang forsch, aber das war ich nicht. Im Gegenteil: Ich zitterte, innerlich wie mittlerweile auch äußerlich. Ich war todmüde, hatte den Kater meines Lebens, war völlig erschöpft und drohte jeden Augenblick in Tränen auszubrechen – spätestens wenn die Frau mit der rosafarbenen Brille noch einmal mit ihrer Taschenlampe herumwedelte und mich nach meinem Namen fragte. Heike gab es nicht mehr.

»Ich muss schlafen. Bitte«, sagte ich deswegen und ging zu meinem Auto, um meine hastig gepackte Tasche aus dem Kofferraum zu ziehen. Als ich unter Ächzen und Stöhnen das tonnenschwere Teil auf den Boden wuchtete, eilte Harald zu mir, um mir die Tasche abzunehmen.

»Du schläfst bei deinem Vater im Wohnwagen. Das Bett habe ich frisch bezogen«, sagte er und nickte, während er sich die Tasche über die Schulter hob. Er lief los, und ich blieb stehen, was Gitte zum Anlass nahm, mich wieder anzuleuchten. Regungslos sah ich Harald hinterher.

Schockschwerenot. Ich hatte bei meinem letzten Besuch in einer kleinen Pension in Laboe geschlafen, die zwar auch unterirdisch schlecht gewesen war, aber immer noch besser, als in einem Wohnwagen zu nächtigen. Die ganze Fahrt über hatte ich dort anrufen wollen. Es aber nicht getan, weil ich so darauf konzentriert gewesen war, nicht nachzudenken. Nun würde ich also hier schlafen müssen. Auf diesem verrotteten Campingplatz. In einem Wohnwagen.

»Ist er da drin gestorben?«, hörte ich mich fragen, während mir die Knie weich wurden. Ich konnte nicht hierbleiben. Das war unmöglich.

»Nein«, sagte Gitte, die immer noch neben mir stand und mich betrachtete. Wenigstens leuchtete sie jetzt in die andere Richtung. »Die Heizung war kaputt, und er hat im Anmeldehäuschen geschlafen. Auf der Karpfenliege. Da ist er gestorben.« Ihre Worte klangen furchtbar nüchtern. »Harald hat die Heizung im Wohnwagen gleich heute repariert. Damit du nicht auch im Anmeldehäuschen schlafen musst. Das hat kein Klo.«

»Natürlich nicht«, erwiderte ich. Kein Klo zu haben, war auf einem Campingplatz ja wohl mein kleinstes Problem.

Kapitel 3

Der Wohnwagen meines Vaters war so alt wie ich. Achtunddreißig Jahre. Und ich hatte mich wesentlich besser gehalten als die alte Klapperkiste, in der mein Vater die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Alles war eng und wirkte provisorisch, aber tatsächlich war es nicht kalt.

»Du möchtest sicherlich erstmal zur Ruhe kommen«, sagte Harald, als er mir meine Reisetasche auf den kleinen Tisch mit der umlaufenden Bank gestellt hatte. Für einen kurzen Moment kämpfte er mit den Tränen, dann fing er sich wieder. »Wir sehen morgen weiter. Du kennst ja noch nicht alle Dauercamper hier, und die möchten dich natürlich auch gerne kennenlernen. Und, na ja … es gibt sehr viel zu besprechen.« Mit einem traurigen Nicken drückte er mir die Schulter und schob seine lange Statur aus der enorm schmalen Tür des Wohnwagens hinaus. Er ließ sie mit einem Knall zufallen – anders konnte man sie nicht schließen –, und ich lauschte seinen stapfenden Schritten durch die eisige Nacht zu seinem eigenen Wohnwagen, der nur wenige Meter entfernt stand.

Mit einem tiefen Seufzen ließ ich mich auf die Sitzbank vor dem quadratischen Tisch fallen und sah mich um. Es sah aus, wie es immer ausgesehen hatte. Holzdekor in Eiche rustikal, wohin das Auge blickte, eine kleine Küchenzeile mit einem brummenden Mini-Kühlschrank, gegenüber eine so kleine Nasszelle, dass man, wenn man sie betrat, die Tür nur schließen konnte, wenn man sich ganz eng an die Wand drückte. Dann konnte man allerdings nicht mehr aufs Klo gehen. Also entweder schloss man die Tür und machte sich in die Hose, oder man ließ sie offen und passte aufs Klo. Leider konnten einem dann alle im Wohnwagen Anwesenden beim Toilettengang zusehen.

Mein Blick glitt weiter. Hinter der Nasszelle befand sich das Bett, das Harald mit rosa Blümchenbettwäsche bezogen hatte. Es war so hoch, dass man es über eine kleine Leiter erklimmen musste.

Überall lag Kram herum, der keinen Ort hatte.

Leben auf acht Quadratmetern.

Theoretisch musste man hier nicht mal aufstehen, um sich einen Kaffee zu kochen. Eingedampfter Raum. Enge. Kaum Platz zum Atmen.

Mein Vater war tot.

Ich schüttelte den Kopf, um die Watte darin loszuwerden.

Draußen klopfte es, und Gitte riss die Tür auf, jetzt mit einer Stirnlampe auf dem Kopf. Ich gab einen Schmerzlaut von mir und kniff geblendet die Augen zu.

»Warme Kohlrouladen von Giovanni und Georgie und eine Flasche Eierlikör von Trudi. Gute Nacht«, beschied sie knapp, und da ich die Augen immer noch nicht wieder aufmachen konnte, schob sie mich kurzerhand zur Seite, stellte offenbar irgendwelche Gegenstände auf den Tisch und knallte die Tür wieder zu.

Ich blinzelte vorsichtig und wartete eine Sekunde, bis sich meine Sicht wieder scharf gestellt hatte. Auf dem Tisch stand eine Flasche mit einem wenig vertrauenerweckenden pipigelben Inhalt, daneben ein geschlossener Topf, aus dem es nach Kohl und Hackfleisch stank.

»Oh Gott«, murmelte ich, packte das Ding, verfrachtete es kurzerhand in die Klokammer und schloss die Tür. Dann zog ich den kleinen Korken aus der Flasche und nahm vorsichtig einen winzigen Schluck, mehr aus Ermangelung einer Alternative, denn mein Magen knurrte, und ich hatte Durst. Dann musste ich allerdings direkt danach noch einmal kräftig nippen. Und dann gleich noch einen. Es schmeckte köstlich. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals in meinem Erwachsenenleben Eierlikör getrunken zu haben. Aber das spielte keine Rolle, denn nach dem dritten Schluck spürte ich eine brennende Wärme im Bauch, die sich mit drei weiteren Schlucken noch ausbauen ließ. Dabei war in dem Zeug sicherlich 40 % Alkohol, und vegan war es auch nicht.

Ich stöpselte die Flasche wieder zu und ging zum Bett hinüber. Dabei stieß ich mir zweimal die Hüfte und einmal das Knie. Mein Körper war diese klaustrophobische Enge einfach nicht gewohnt.

Ich deponierte die Flasche auf einem kleinen Regal, an dem auch eine Leselampe befestigt war, schlug die Bettdecke auf und zog mein Handy aus der Hosentasche. Mit dessen Taschenlampe leuchtete ich über das Bettzeug. Das auf den ersten Blick zwar sauber wirkte, mir auf den zweiten allerdings sein wahres Gesicht offenbarte. Es war vermutlich noch älter als ich und der Wohnwagen zusammen. Generationen vor mir mussten schon in diesen alten Fetzen geschlafen haben. Ein Schauer lief mir über den Rücken, und ich taumelte zurück zu meiner Tasche. Nicht jedoch, ohne mir nun auch noch den Kopf an einem der Oberschränke zu stoßen.

In meiner Tasche wühlte ich nach meiner Yogahose, den dicken Socken und dem warmen Kapuzenpullover, den ich immer nach dem Yoga überzog. Eingekeilt zwischen Eiche brutal – äh … rustikal –, dem Tisch, der Bank und der Seitenwand der Klokammer, in der jetzt der Kohl vor sich hin stank, gelang es mir, mich einbeinig stehend umzuziehen. Danach kroch ich ein wenig widerwillig zwischen die fadenscheinigen Laken. Ich klemmte mir noch mein exklusives und ergonomisches Nackenkissen unter den Kopf und zog die Kapuze des Pullis bis fast über die Augen. Auf dem Rücken liegend drapierte ich die Decke bis genau zum unteren Rand des Kapuzenpullovers. Kurz dachte ich darüber nach, auch noch meine Hände in den Ärmeln des Pullis zu verstecken, aber dann hätte ich nicht mehr nach der Flasche mit dem Eierlikör greifen können.

Denn als ich dort in diesem fremden Bett lag, das gar nicht fremd sein konnte, weil es ja das Bett meines Vaters gewesen war, wurde mein Blick von einem Gegenstand eingefangen. Einem alten Stück Plüsch, bei dessen Anblick ich mich unwillkürlich wieder aufrichtete, um die Eierlikörflasche an die Lippen zu setzen, während ich fest die Augen zukniff. Als ich sie wieder öffnete, saß er da und sah mich an. Moppidoppi. Ein dummer Name, ich hatte vergessen, wie er zustande gekommen war. Moppidoppi war ein albern grinsender Stoffhase, Bär Bernies bester Freund, der so alt war wie der Wohnwagen und ich. Doch während Bernie jetzt in einem Karton im dunklen Schrank bei Carsten sein Dasein fristete, war Moppidoppi hier.

Matt ließ ich mich zurück auf das Kissen fallen. Ich hatte keine Ahnung, wieso Moppidoppi auf dem Bett meines Vaters saß und mir zuzuzwinkern schien. Einen Moment lang schniefte ich, dann richtete ich mich ruckartig auf, um den Hasen am Arm zu packen und ihn zu mir unter die Bettdecke zu ziehen. Ich drückte ihn fest an mich und hoffte, diese furchtbare Nacht irgendwie zu überstehen.

Und es funktionierte. Als ich aufwachte, schien mir die Morgensonne ins Gesicht. Für einen Moment war das sehr schön, denn in diesem Winter war ich jeden Tag weit vor der Sonne aufgestanden. Mit geschlossenen Augen drehte ich das Gesicht in die Sonne und genoss die Wärme. Bis mir wieder einfiel, dass mein Vater gestorben war. Und noch während dieser schreckliche Gedanke langsam in mein Hirn sickerte, erinnerte ich mich auch wieder an die anderen Katastrophen, die mich heimgesucht hatten.

Ich schlug die Augen auf. Und betrachtete entsetzt das dreckige, stinkende Polyester-Ding in meinen Armen. Bei Tageslicht und ohne alkoholvernebeltes Gehirn betrachtet, sah Moppidoppi aus, als hätte er wochenlang in einer Jauchegrube vor sich hin gemodert. Er roch auch dementsprechend.

Auf allen vieren kroch ich an den Rand des Bettes und seilte mich vorsichtig zum Boden ab. Ich musste dringend auf die Toilette. Leider fiel mir die Anwesenheit der Kohlrouladen dort erst wieder ein, als mir ein durchdringender Gestank beim Öffnen der Tür entgegenschlug, woraufhin ich sie sofort wieder zuschmiss. Kurz raufte ich mir die Haare, dann schlüpfte ich mit den dicken Socken in meine Sneakers und suchte in meiner Reisetasche nach dem kleinen Spender mit antibakterieller Seife, den ich vorsorglich noch eingepackt hatte. Ich griff mir das Reisehandtuch und gab der Eingangstür des Wohnwagens einen Tritt, damit sie aufschwang.

Eisige Luft schlug mir entgegen und klärte schlagartig den Nebel in meinem Kopf.

»Verdammt«, sagte ich, während ich auf den mit Raureif überzogenen Boden vor dem Wohnwagen starrte. Ich konnte unmöglich bei dieser Kälte und in diesem desolaten Zustand einmal quer über den Campingplatz laufen. Ungeschminkt. Ohne Frisur. In meinen Schlafklamotten. Aber ich musste jetzt wirklich dringend den Eierlikör wegbringen, und wenn ich es nicht bis zum Toilettenhäuschen schaffte, würde ich noch einmal die Tür zum Wohnwagen-Klo öffnen müssen, um die Kohlrouladen irgendwo anders zu verstauen. Dann bestand jedoch die Gefahr, dass ich mich übergeben musste. Also auch keine Option.

Der Schritt nach draußen kostete mich sämtliche Überwindung. Die Kälte raubte mir die Luft zum Atmen, und der Boden knirschte unter den Sohlen meiner sündhaft teuren Sportschuhe. Aber mir drückte die Blase derartig, dass ich nun wirklich keine Wahl mehr hatte. Ich sprintete los in die Richtung, wo das holzverkleidete Waschhaus sich an den Rand des lichten Waldes schmiegte. Links die Männer, rechts die Frauen. Acht Toiletten in nach oben und unten hin offenen Kabinen, vier Duschen, fünf Waschbecken mit Porzellanablage und stumpfen Spiegeln, zwei Steckdosen.

In der Klohütte war es fast so kalt wie draußen. Und es roch unangenehm. Nach Pipi und einem scharfen Desinfektionsmittel. Ich biss mir fest auf die Lippen und erledigte in Windeseile mein Geschäft. Es war furchtbar kalt am Hintern, und ich konnte nur dankbar sein, dass sich wenigstens mein sonst so empfindlicher Darm unauffällig verhielt.

Kaum war ich aus der Kabine gestürzt, deren Tür ich nur mit dem Ärmel meines Pullis angefasst hatte, pumpte ich mir schon Desinfektionsseife auf die Handflächen und begann wie verrückt zu reiben. Jetzt waren meine Hände allerdings so glitschig, dass ich den Wasserhahn nicht mehr aufdrehen konnte.

»Brauchst du Hilfe?« Eine kleine, runde Frau im pink gestreiften Jogginganzug und mit bloßen Füßen in Badelatschen kam um die Ecke gebogen.

»Ja, könnten Sie?« Ich wies mit dem Kinn auf den Wasserhahn.

Sie drehte mir zwar das Wasser auf, starrte mich dabei aber düster an. »Wir duzen uns hier«, sagte sie streng.

»Ich duze mich nicht«, erklärte ich, während meine Finger erfroren. Das Wasser war so kalt wie der Morgen und mein Herz. Da die Seife nun abgespült war, drehte ich selbst am Temperaturregler, aber das Wasser blieb frisch wie ein Bergbach zur Schneeschmelze.

»Gibt kein Warmwasser.« Die Frau zog die Nase kraus. »Ist seit Tagen kaputt.«

Ich drehte das Wasser ab. »Wie bedauerlich.«

»Wer bist du? Gehört dir das schicke Auto vor der Schranke? Damit kann man doch keinen Wohnwagen ziehen.« Zweifelnd betrachtete die Frau mich einen Moment lang, dann traten plötzlich Tränen in ihre Augen. Sie schluchzte laut auf, und ich zuckte zusammen. »Du bist Heike! Klaus’ Tochter!«, rief sie heiser.

»Franziska«, erwiderte ich. Offenbar duzte ich mich doch. Und weil die Frau mich verwirrt ansah – und weil mir ihre Tränen zu Herzen gingen –, fügte ich noch hinzu: »Ja. Ich bin Klaus’ Tochter.«

»Ich bin Trudi«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich vermisse Klaus ganz furchtbar. Es tut mir so leid.« Und mit diesen Worten ging sie zu einer der Duschen, riss sich Hose und Trainingsjacke vom Körper und drehte das Wasser auf. Ihr Atem dampfte in der Kälte.

»Gut. Äh. Tschüss«, murmelte ich, schnappte mir meine Seife und das Handtuch und lief zurück zum Wohnwagen, der zwar nach Kohl stank, aber immerhin warm war.

Ich kroch zurück ins Bett. Mein Atem klang zittrig, und das lag nicht an der Kälte. Denn ich hatte in dem Moment, als die weinende Camperin unter der eiskalten Dusche gestanden hatte, plötzlich eins begriffen:

Dieser Campingplatz gehörte jetzt mir.

Unfähig, diesen Gedanken und alles, was mit ihm einherging, zu ertragen, griff ich nach meinem Handy. Ich musste mich ablenken. Außerdem waren in so kurzer Zeit so viele unfassbare Dinge passiert, dass zu hoffen war, das Schicksal würde wenigstens eine oder zwei davon wieder rückgängig machen. Vielleicht bahnte sich bei LinkedIn ein tolles neues Projekt an. Es musste eigentlich noch nicht mal toll sein, irgendein Auftrag würde schon reichen. Ich musste schnell Geld verdienen, hier wieder verschwinden und mein Leben fortsetzen. Das mit dem Campingplatz würde sich schon irgendwie klären.

Ich rief Safari auf und klickte mich durch meine Postfächer, doch überall herrschte gähnende Leere. Wenigstens hatte ich eine WhatsApp bekommen:

Liebe Franziska, leider bist du gestern Abend nicht zu deinem gebuchten Yoga-Kurs »Stille und Achtsamkeit« erschienen und hast auch nicht abgesagt. In diesem Kurs ist regelmäßige Präsenz wichtig, um die Gruppendynamik zu fördern und sich so auf die eigene Achtsamkeit-Praxis einzulassen. Ich muss dich jetzt leider aus dem Kurs ausschließen. Namaste. Frederike.

»Blöde Kuh«, schnaufte ich. Dieses verdammte Yogastudio benahm sich, als würde ich ihm gehören. Ständig stellten sie irgendwelche Regeln auf und erwarteten ganz selbstverständlich, dass man sie auch einhielt. Trinke vier Stunden vor deiner Yoga-Stunde nur warmes Wasser, trage kein Rot (stört irgendwelche Chakren), benutze nur diese besondere hyperneue, schadstofffreie und nachhaltig produzierte Yogamatte aus Kalifornien, die so viel kostete wie ein Kleinwagen und natürlich gleich dort im Studio zu erwerben war.

Hallo Frederike, tut mir leid. Mein Vater ist verstorben, schrieb ich zurück und erhielt postwendend eine Antwort.

Das tut mir sehr leid!

Und eine halbe Minute später: Leider kann die Mitgliedschaft erst nach Ablauf der zwölf vereinbarten Monate gekündigt werden.

Fassungslos starrte ich auf das Display. Dieser Yogakurs war der einzige Luxus, den ich mir noch gegönnt hatte.

Das war nicht fair.

Vom Universum und von Frederike. Ich legte das Handy wieder zur Seite und starrte an die Decke des Wohnwagens. Jetzt ließen sich die Gedanken nicht mehr aufhalten. Mein Magen zog sich einmal krampfartig zusammen, und ich versuchte ihn mit ein paar tiefen Atemzügen zu beruhigen. Mit der linken Hand tastete ich nach Moppidoppi, bekam ihn zu fassen und zog ihn zu mir heran. Durch die geschlossenen Plastikfenster konnte ich die Ostsee hören – ein beständiges, sanftes Rauschen. Ein paar vorwitzige Vögel begrüßten enthusiastisch den Tag.

Ich rollte mich in die Decke, drückte den Hasen noch fester an mich und presste das Gesicht ins Kissen. Es ging mir so schlecht, dass ich sogar vergaß, mir die Kapuze über den Kopf zu ziehen. Eine ganze Weile lag ich einfach so da. Regungslos. Normalerweise war ich immer in Bewegung, doch jetzt fehlte mir die Energie für alles.

Irgendwann klopfte es an die Tür.

Ich reagierte nicht, und so wurde sie wenig später aufgerissen, und Harald streckte den Kopf um die Ecke.

»Guten Morgen«, sagte er. »Konntest du schlafen?«

»Bisschen«, murmelte ich und drehte mich langsam zu ihm um.

Harald hielt eine Tasse hoch. »Hab dir was mitgebracht.«

»Oh. Kaffee!« Langsam tauchte ich aus meinem Bettzeugversteck auf.

Harald bewegte sich in meine Richtung, ohne einmal irgendwo anzustoßen. Er manövrierte seinen großen Körper durch die schmale Gasse zwischen Klokammer und Küche, kletterte die Leiterstufen hoch und setzte sich vorsichtig auf das kleine Stück Bettkante. »Nee. Heißer Kakao mit Sahne.« Er lächelte und hielt mir einen angeschlagenen Blümchenbecher entgegen. Abwehrend hob ich eine Hand. Ich konsumierte vor elf weder Zucker noch Kalorien. Das vertrug sich nicht mit den Zeiten meines Intervallfastens, das ich seit zwei Jahren strikt einhielt. Bis elf trank ich nur Espresso mit ein wenig Süßstoff und Quellwasser aus dem Harz. Mein Darm war, wie bereits erwähnt, ziemlich empfindlich, und ich war schon dankbar, dass er die Wein- und Eierlikör-Attacke ohne Murren überstanden hatte.

Aber Harald sah so erwartungsfroh aus und lächelte mich so arglos an, dass ich doch den Becher entgegennahm.

»Haste als Kind so gerne getrunken.«

Ich blickte auf die fettige Sahne, die als kleiner Haufen über den Rand ragte. Harald hatte mir früher tatsächlich immer heiße Schokolade gemacht. Wenn ich durchgefroren und klitschnass aus der Ostsee gerannt gekommen war, hatte er mich in ein dickes, flauschiges Badetuch gewickelt und mir Kakao gekocht. Er hatte sein ganzes Leben lang jede freie Minute auf diesem Platz verbracht, genau wie meine Eltern.

»Danke, Harald«, sagte ich leise und trank einen Schluck. Ich konnte spüren, wie das Fett und der Zucker und die ungesunde Kuhmilch meine Speiseröhre passierten und meinen gesamten Magen-Darm-Trakt in Aufruhr versetzten. Aber es schmeckte tröstlich, und so trank ich noch einen Schluck.

Harald blickte zum Fenster hinter mir, zur Decke, zur kleinen Küchenzeile und fragte dann leise: »Biste sehr traurig, Mädchen?«

Ich räusperte mich. Ich war so traurig wie noch nie in meinem Leben.

Alles war auf den Kopf gestellt.