Mittelalterliche Literatur lesen. Kanonische Texte in Porträts - Horst Brunner - E-Book

Mittelalterliche Literatur lesen. Kanonische Texte in Porträts E-Book

Horst Brunner

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Beschreibung

Horst Brunner lädt ein, die größten Klassiker der mittelalterlichen deutschen Literatur zu entdecken – auch ohne vorheriges Germanistikstudium: den "Erec"? den "Iwein"? den "Reinhart Fuchs"? das "Nibelungenlied"? den "Parzival"? den "Tristan"? den "Ackermann aus Böhmen" oder die frechen Liedern Oswalds von Wolkenstein. In verständlichen und anregenden Kapiteln widmet er sich je einem dieser kapitalen Werke und bringt uns die wunderbare Literatur des Mittelalters nahe.

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Seitenzahl: 436

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Horst Brunner

Mittelalterliche Literatur lesen

Eine Einführung

Reclam

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2016

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961091-7

Inhalt

EinleitungI Hartmann von Aue: Erec und IweinII Reinhart FuchsIII Das NibelungenliedIV MinnesangV Walther von der VogelweideVI Wolfram von Eschenbach: ParzivalVII Gottfried von Straßburg: TristanVIII Wolfram von Eschenbach: WillehalmIX Erzählungen aus dem 13. JahrhundertX Lieder aus dem 13. JahrhundertXI Heinrich Wittenwiler: Der RingXII Oswald von WolkensteinXIII Johannes von Tepl: Der AckermannBibliographie

Einleitung

Selbst Literaturkennern ist heutzutage kaum mehr bewusst, dass es bereits lange vor der Goethezeit eine erste große Epoche der deutschen Literatur gab: die der mittelalterlichen Dichtung um 1200. Damals wurde im Nibelungenlied ein jahrhundertelang mündlich überlieferter Epenstoff dauerhaft verschriftlicht, schufen Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg und andere aufsehenerregende Romane von teilweise weltliterarischem Rang, wurde durch den Kürenberger, Friedrich von Hausen, Reinmar den Alten, Heinrich von Morungen, Walther von der Vogelweide, Neidhart und weitere Autoren Lyrik unterschiedlicher Art auf höchstem Niveau gedichtet. Lebensweltlich standen dahinter, in der Zeit der Könige und Kaiser aus dem Haus Hohenstaufen, der ökonomische und kulturelle Aufbruch seit dem 12. Jahrhundert und das Interesse der damaligen weltlichen Oberschicht, des Adels und der Fürsten. Diese gesellschaftliche Elite allein war in der Lage, die Existenz der Dichter und die aufwendige handschriftliche Weitergabe ihrer Werke auf teurem Pergament zu sichern – der Buchdruck, in dessen Folge sich allmählich auch so etwas wie ein literarischer Markt entwickeln konnte, wurde bekanntlich erst um 1450 erfunden. Den adligen und fürstlichen Interessenten bot die heute meist unter dem Begriff ›Höfische Literatur‹ zusammengefasste Dichtung Unterhaltung mit künstlerisch hohem Anspruch in der von ihnen gesprochenen Sprache, zugleich wurden ihnen Idealbilder, Muster höfisch-adligen Daseins, aber auch die mit dieser Existenz verbundenen vielfältigen Probleme, bisweilen auch Abgründe, vor Augen gestellt. Bezüge der Texte unterschiedlicher Autoren untereinander, kritische oder lobende Auseinandersetzungen mit Kollegen, schöpferische Rezeption der Texte durch spätere Dichter lassen auf ein intensives literarisches Leben schließen. Überliefert und gelesen wurden die Werke dieser Epoche bis zum Ende des Mittelalters um 1500.

Außerhalb der mit ihnen befassten Sparte des akademischen Betriebs, der germanistischen Mediävistik oder Altgermanistik, sind die Texte heute so gut wie unbekannt. Gymnasialer Schulstoff ist die mittelalterliche Literatur höchstens noch in Nacherzählungen des Nibelungenliedes und des Parzival, allenfalls lernen Schüler noch ein paar winzige Häppchen aus dem Bereich der Lyrik kennen. Auch Studierende der Germanistik sind auf diesem Gebiet nur sehr selten in größerem Umfang belesen, meist beschränkt ihre Kenntnis sich auch am Ende des Studiums auf die nur wenigen Texte, die in Seminaren oder Vorlesungen gründlicher behandelt wurden bzw. auf solche, die Examensstoff waren. Das sonstige gebildete Publikum kennt meist nicht mehr als ein paar Namen und Titel, das Nibelungenlied, Walther von der Vogelweide, vielleicht Wolfram von Eschenbach. An außerdeutscher Literatur des Mittelalters sind höchstens (ebenfalls meist nur dem Namen nach) Dantes Commedia divina und vielleicht Boccaccios Decamerone bekannt, so gut wie gar nicht die im Mittelalter lange Zeit maßstabsetzende altfranzösische Literatur. Eher noch geläufig sind Namen antiker Autoren wie Homer, Sophokles, Vergil, Ovid.

Dieses Buch richtet sich in erster Linie an Leserinnen und Leser, nicht zuletzt auch an Studierende, die interessiert daran sind, ihren literarischen Horizont zu erweitern. Ich möchte sie durch einführende Essays in die wichtigsten Texte davon überzeugen, dass es möglich ist und sich lohnt, auf Forschungsreise in den (außer von wenigen Experten) kaum begangenen, daher weitgehend unbekannten Kontinent der deutschen Literatur des Mittelalters zu gehen. Und ich verspreche ihnen, dass es bei dieser Expedition viel Interessantes, Aufregendes, Überraschendes zu entdecken gibt, auch viele Texte, in denen Fragen verhandelt werden, die das eigene, heutige Leben noch immer betreffen. Die offene Titelformulierung Mittelalterliche Literatur lesen verzichtet bewusst auf ein die Satzart festlegendes Satzzeichen. Man kann sie als Fragesatz auffassen: Lohnt es sich, mittelalterliche Literatur zu lesen? Die Frage ist meiner Ansicht nach unbedingt zu bejahen. Oder als Aufforderungssatz: Lesen Sie mittelalterliche Literatur! Tun Sie es, es winkt reicher Ertrag!

Vorgestellt werden in den Kapiteln I–X in ungefährer chronologischer Reihenfolge erzählende Texte, das Nibelungenlied als bedeutendster heldenepischer Text, ferner Romane, sogenannte ›Höfische Romane‹, unterschiedlicher Art, in einem Kapitel auch kürzere Erzählungen; dazu kommen unterschiedliche lyrische Texte. In den Kapiteln XI–XIII würdige ich, gewissermaßen als Zugabe, drei herausragende Autoren der Zeit um 1400. Die Essays möchten zu eigener Lektüre anregen, sozusagen Appetit machen. Dabei gehe ich unterschiedlich vor. In den Essays über lyrische Dichtungen erläutere ich exemplarisch vollständig übersetzte Texte: Sie sollen dazu inspirieren, weitere Dichtungen aus diesem Bereich kennenzulernen. Die Essays über die erzählenden Texte und den Ackermann versuchen, die teilweise umfangreichen Werke überschaubar zu machen, sie behandeln die wichtigsten Fragen, die einen bei der Lektüre vermutlich (neben anderen) beschäftigen können. Sämtliche Textzitate habe ich übersetzt. Gelesen werden können die Essays im Übrigen durchaus auch abweichend von der im Buch vorgegebenen Reihenfolge. Dabei bietet sich Gruppenbildung an, etwa Kapitel VI und VIII: die Romane Wolframs von Eschenbach; Kapitel I und VI: Artusromane; Kapitel IV, V, X, XII: Lyrik; Kapitel II, III und XI: Dichtungen mit ausgesprochen negativer Weltsicht; Kapitel XI–XIII: spätmittelalterliche Texte. Zum ersten Einstieg empfehlen kann man vielleicht besonders die Kapitel II und IX.

Heutigen Lesern kommen die vor weit mehr als einem halben Jahrtausend entstandenen Texte nicht nur durch ihre Sprache fremdartig vor. Die damalige Liebeslyrik basiert großenteils auf Vorstellungen und Konzepten, die uns merkwürdig erscheinen: im vorherrschenden Typ des Liebesliedes wirbt der Mann mit allem Aufwand um die Gunst einer Dame, die dennoch für ihn unerreichbar bleibt, die nach den Regeln des Spiels, das da gespielt wird, unerreichbar bleiben muss. Eher noch befremdlicher ist die in den epischen Werken dargestellte Welt. Sie handeln von Menschen und von kulturellen, politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnissen, die sich fundamental von den heutigen unterscheiden. Die Protagonisten gehören ausnahmslos dem Adel an, es sind Könige, Fürsten, Ritter und deren Damen. Nichtadlige begegnen dort, wo sie überhaupt vorkommen, als Randfiguren, sie erscheinen fast immer als Schurken oder werden lächerlich gemacht. Es gibt kaum Städte, größere schon gar nicht. Das Geschehen spielt sich vielfach im Wald, auf freien Flächen in der Landschaft und vor allem auf Burgen ab. Die männlichen Figuren und ihre Damen – die meist als viel schöner beschrieben werden als die Realität erlaubt – bewegen sich über größere Strecken fast ausnahmslos zu Pferd, selten zu Fuß, auf schlechten oder gar nicht vorhandenen Straßen und Wegen. Essgewohnheiten, Getränkearten, Bekleidung und Bewaffnung weichen fundamental vom heute Üblichen ab und bedürfen der Erläuterung. Fast alle auftretenden männlichen Figuren sind Kriegsleute, Ritter, die schwergepanzert und bewaffnet mit Lanze, Schwert und Schild meist zu Pferd kämpfen. Häufig spielen Turniere und höfische Feste eine Rolle, gelegentlich auch die Jagd, fast nie aber das, was man heute als Arbeitswelt bezeichnet. Wenn einmal ein Arzt gebraucht wird, hilft einer der Ritter aus, der ein bisschen was von der Heilkunst versteht, oder es treten Damen auf, die über Wundermittel verfügen. Berufe, mit denen ein heutiger Leser sich identifizieren könnte, begegnen so gut wie gar nicht.

Auch in Texten späterer, uns zeitlich näher stehender Epochen findet man freilich in der Regel eine fremde Welt vor, die der Erklärung bedarf. Die Gegebenheiten, in die uns Romandichter wie etwa Goethe, Dickens, Balzac, Tolstoi, Fontane, selbst Thomas Mann führen, sind längst nicht mehr die unseren, auch hier braucht man unbedingt Erläuterungen und Kommentare. Der Grund, weshalb wir Werke aus vergangenen Epochen – auch solche aus dem Mittelalter – noch immer lesen, ist schlicht der, dass große Texte künstlerisch stets so geformt sind, dass man bei der Lektüre auch heute noch Freude empfinden kann. Dazu kommt, dass es in ihnen um Probleme geht, die Menschen zu allen Zeiten, auch heute, betreffen, und darum, diese so weit wie möglich gedanklich zu bewältigen. Solche Probleme sind das Bemühen um ein sinnvolles Leben, sind Geburt, Sterben und Tod, Krieg und Frieden, sind die Beziehungen zwischen Mann und Frau, ist das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und seiner politischen und sozialen Umwelt, ist die mittlerweile weit über tausendjährige Auseinandersetzung zwischen Ost und West im Zeichen von Islam und Christentum, sind Vorstellungen von persönlicher Entwicklung oder Karriere mit allen Möglichkeiten des Aufstiegs, aber auch des Scheiterns, sind religiöse und ethische Fragen und manch anderes.

Die nur durch ein Germanistikstudium zu erwerbende Kenntnis des Mittelhochdeutschen, der Sprachstufe des Deutschen vom 11. bis zum 14. Jahrhundert, ist für die Lektüre mittelalterlicher Texte keineswegs zwingend notwendig. Man muss die Texte nicht im Original lesen, sowenig die meisten von uns altgriechische, lateinische, englische, französische oder russische Literatur im Original lesen. Es gibt zu allen Werken, die ich in diesem Buch vorstelle und zu deren Lektüre ich anregen möchte, brauchbare, oft sehr gute Übersetzungen in das heutige Deutsch, häufig sogar mehrere zur Auswahl, die den Zugang ausgesprochen einfach machen, denn in der Regel sind sie auch kommentiert. Alles, was uns heute sprachlich oder sachlich nicht mehr ohne weiteres vertraut ist, wird dadurch leicht verständlich gemacht. Die genauen bibliographischen Nachweise finden sich im Literaturverzeichnis am Ende des Buches.

Anmerken muss ich, dass die meisten modernen Übersetzungen, anders als wir dies bei Übersetzungen neuzeitlicher Werke aus anderen Sprachen gewohnt sind, heute als zweisprachige Ausgaben – links mittel- bzw. frühneuhochdeutsch, rechts neuhochdeutsch – vorliegen. Das hat schlicht mit dem Buchmarkt zu tun. Die Verlage zielen bei Übersetzungen aus den älteren deutschen Sprachstufen in aller Regel auf Studierende der Germanistik und einiger weniger weiterer Fächer. Die Übersetzungen sind meist als Hilfsmittel gedacht, um leichteren Zugang zu den Originaltexten zu ermöglichen. Auf ein größeres Lesepublikum wagen die Verlage bisher meist gar nicht erst zu hoffen.

Der unbefangene Leser stellt, vielleicht überrascht, fest, dass mittelalterliche Romane und Epen durchweg in paarweise gereimten vierhebigen Versen oder – wie das Nibelungenlied – in Strophen abgefasst sind. Manche Germanisten, denen die mittelalterliche Literatur nur wenig vertraut ist, schließen fälschlich daraus, dass es den Roman erst seit dem 15. Jahrhundert gab, als man die Texte nämlich in der Prosaform abfasste. Die Ursache für die Vers- und Strophenform ist darin zu suchen, dass im Mittelalter Dichtungen aller Art in erster Linie entweder für den gesprochenen oder, so die Heldenepik und alle Arten von Lyrik, für den gesungenen Vortrag gedacht waren, nicht für die stille Lektüre. Textlektüre war Aufführung vor Publikum, nicht Rückzug ins Private. Die Prosa blieb in erster Linie der Gebrauchsliteratur vorbehalten, Predigten, Urkunden, Rezepten, historischen Aufzeichnungen und Ähnlichem. Angesichts der hohen Kosten der oft anspruchsvollen handschriftlichen Buchherstellung auf aufwendig bearbeiteten Tierhäuten, Pergament, war die Zahl verfügbarer Bücher stets sehr gering. Das weit billigere Papier kam in Deutschland erst nach 1350 nennenswert in Gebrauch. Außerdem gehörte es nicht zu den Tugenden vornehmer Kreise, selbst lesen (und schreiben) zu können. Dafür hatte man Spezialisten, etwa Hofkleriker, Schreiber, in glücklichen Fällen die Autoren selbst. Übersetzt werden mittelhochdeutsche Texte heute, anders als im 19. Jahrhundert, in dem man in der Regel gereimte Nachdichtungen herstellte, fast ausschließlich in Prosa, allerdings vorwiegend so, dass die Übersetzung dem Originaltext zeilengetreu folgt. Das ergibt auch auf der rechten Buchseite ein Bild, als würde es sich um Verse handeln. Den meisten Lesern erscheint das zunächst ungewohnt, aber man liest sich ein.

Einräumen muss ich noch, dass die Verfügbarkeit neuhochdeutscher Übersetzungen das in diesem Buch vorgestellte Repertoire der Texte etwas einschränkt. Leider liegen noch nicht alle Dichtungen, die ich gern empfohlen hätte, in Übersetzungen vor. Dies gilt zum Beispiel für den Trojanerkrieg Konrads von Würzburg, den glanzvollsten und bedeutendsten Roman des späten 13. Jahrhunderts; oder auch für die unter dem Titel Seifrid Helbling herausgegebene Sammlung vorwiegend zeitkritisch-satirischer Gedichte in den schwärzesten Farben, die ein unbekannter, literarisch hochgebildeter Autor Ende des 13. Jahrhunderts im Herzogtum Österreich verfasste (von ihr gibt es, leider, nur eine japanische Übersetzung von Kōzō Hirao, erschienen 1990).

Sichtbar wird an meiner Auswahl indes auch, dass die erste deutsche Literaturblüte bald nach 1300 abbrach. Der literarische Geschmack der vornehmen Kreise, die bis dahin die traditionelle Liebeslyrik und die Romankunst gefördert hatten, änderte sich zu dieser Zeit. Zwar wurden viele der alten Texte weiter überliefert und wohl auch noch vorgetragen, man interessierte sich nun jedoch mehr für geistliche und für handfestere historisch-chronikalische Literatur und förderte sie. Neue Romane wurden zunächst so gut wie gar nicht mehr geschaffen, auch die Lyrik veränderte sich und verlor insgesamt an Niveau. Erst um 1400 gab es wieder einige wenige bedeutende, auch heute noch unbedingt lesenswerte Autoren – Oswald von Wolkenstein, Heinrich Wittenwiler, Johannes von Tepl. Bis auf Johannes von Tepl blieben sie in ihrer Zeit weitgehend oder vollständig unbeachtet. Danach trat erneut eine lange schöpferische Pause ein, viele Texte zwar, aber kaum »große« Literatur – und um 1500 ging das Mittelalter allmählich zu Ende. Es begann die Frühe Neuzeit, eine auch literarisch aufregende Epoche im Zeichen des Buchdrucks, des Humanismus und der Reformation. Sie ist freilich nicht mehr Thema dieses Buches.

 

Für freundschaftliche kritische Lektüre des Manuskripts bzw. von Teilen des Manuskripts und manche Anregungen bin ich Dorothea Klein, Johannes Janota und Mathias Herweg dankbar verbunden.

IHartmann von Aue: Erec und Iwein

Um 1180/85 führten Heinrich von Veldeke mit dem (in diesem Buch nicht besprochenen) Eneasroman, der mittelalterlichen Fassung von Vergils Aeneis, und Hartmann von Aue mit dem Erec – nach französischen Vorlagen – den Höfischen Roman in Deutschland ein. Der Erec ist eine Erzählung, die den Leser glücklich macht. Ein aufregender Beginn, eine leicht überschaubare Struktur, attraktive Protagonisten, abwechslungsreiche Abenteuer mit Höhen und Tiefen, Liebesfreude und Liebeswirren und ein glückliches Ende, vor allem aber auch eine souveräne, gelegentlich heitere oder sogar lustige Erzählweise – was will man mehr? Ein zweiter Roman Hartmanns, der Iwein, entstanden um 1200, ist intellektuell und künstlerisch anspruchsvoller, inhaltlich problematischer, gleichwohl ebenfalls unterhaltsam. Themen beider Romane sind: Liebe, vor allem unterschiedliche Ehekonstellationen, Abenteuer, Herrschaft – hinter ihrer mittelalterlichen Einkleidung ist die ungebrochene Aktualität dieser Themen ohne weiteres erkennbar.

1

Der Anfang des deutschen Erec ist in der Überlieferung verloren gegangen. In der altfranzösischen Fassung wird erzählt: Der Bretonenkönig Artus feiert in Karadigan mit vielen Rittern und ihren Damen das Osterfest. Artus will einen alten Brauch wiederbeleben: die Jagd auf den Weißen Hirsch. Wer den Hirsch erjagt, darf die seiner Ansicht nach schönste Frau am Hof küssen. Der junge Ritter Erec, Sohn König Lacs von Destregales, beteiligt sich nicht an der Jagd, da er noch keine Geliebte hat. Ungerüstet, nur mit dem Schwert bewaffnet, begleitet er Königin Ginover auf einem Spazierritt. – Dann Hartmann von Aue: Die Königin und ihr Gefolge sehen im Wald einen unbekannten bewaffneten Ritter daherreiten, begleitet von einer Dame und einem Zwerg mit einer Peitsche. Ginover schickt eine ihrer Damen aus, die den Namen des Ritters erfragen soll. Der Zwerg weist sie barsch ab und schlägt sie mit der Peitsche. Nun will Erec die Auskunft einholen, doch es ergeht ihm nicht besser. Seiner unzureichenden Bewaffnung wegen wagt er nicht, sich zu rächen. Mit Erlaubnis der Königin folgt er dem unbekannten Ritter und hofft auf eine Gelegenheit zur Vergeltung.

Der fremde Ritter reitet zu der Herzog Imain gehörenden Burg Tulmein. Der Erzähler berichtet: Dort findet alljährlich ein Fest statt, bei dem ein Sperber auf einer silbernen Stange als Preis für die schönste Dame ausgesetzt wird. Den hat der Ritter bereits zweimal gewonnen, nun kann er ihn endgültig erhalten – zwar ist seine Dame keineswegs die schönste der anwesenden Frauen, aber seine Kampfkraft ist allgemein gefürchtet. Der mittellose Erec findet am Abend Unterkunft in einem alten Gemäuer. Dort lebt der alte, verarmte Graf Koralus mit seiner Frau Karsinefite und der wunderschönen Tochter Enite. Erec wird freundlich aufgenommen und bewirtet, Enite wird vom Vater befohlen, sein Pferd zu versorgen. Erec erklärt seine Lage, der alte Ritter leiht ihm seine Rüstung, Schild und Lanze. Enite – die er zu heiraten verspricht – soll ihn begleiten. Anderntags wird der arrogante Ritter Iders nach hartem Kampf besiegt, der böse Zwerg Maledicur zur Strafe blutig geprügelt. Iders wird mit seinem Gefolge zur Königin geschickt, um sich zu entschuldigen und sich ihr zu unterstellen.

Enite erhält zum Abschied von ihrer Cousine ein schönes, vom Erzähler eingehend beschriebenes Pferd, doch lehnt Erec es ab, ihr schöne Kleider anlegen zu lassen. Beim Ritt an den Artushof tauschen Erec und Enite erstmals liebevolle Blicke. Am Hof wird Enite durch die Königin prächtig eingekleidet, dann wird sie an die Tafelrunde geführt. Sie ist von hinreißender, allgemein bewunderter Schönheit. Artus, der bei der Jagd auf den Weißen Hirsch erfolgreich war, küsst sie mit allgemeiner Zustimmung als die Schönste am Hof. Bald findet mit einer großen Zahl von Gästen die Hochzeit der Liebenden statt, die mehrere Wochen dauert. Zum Abschluss gibt es ein Turnier, durch das Erecs neu gewonnener Ruhm befestigt wird: er geht als Sieger vom Platz. Nun verabschiedet sich das Paar vom Artushof. Am väterlichen Hof in Karnant werden beide begeistert empfangen, König Lac überträgt die Herrschaft seinem Sohn und dessen Gemahlin.

Der zweite Teil beginnt mit dem Alltagsleben des Paares. Erec ist so verliebt, dass er die meiste Zeit mit Enite im Bett verbringt – Hartmann bezeichnet das als verligen. Darüber vernachlässigt er alle seine Ritter- und Herrscherpflichten. Zwar stattet er seine Ritter gut aus, er selbst aber nimmt an keinem Turnier mehr teil. Man beginnt ihn zu verachten, die Ritter verlassen den langweiligen Hof. Enite hört davon und fühlt sich schuldig. Während einer Mittagsruhe, als sie glaubt, Erec schlafe, klagt sie. Erec vernimmt das, der Ernst der Lage wird ihm bewusst. Sogleich bricht er in aller Heimlichkeit zusammen mit Enite auf, um sein Renommee durch Taten wieder herzustellen. Enite muss vor ihm her reiten, er befiehlt ihr mit größter Strenge, nicht zu sprechen, ohne gefragt zu sein. Das Paar erlebt nun eine Reihe von Abenteuern, gegliedert in zwei Dreiergruppen: (1) Erec kämpft nachts – entgegen dem Schweigegebot gewarnt von Enite, da er unter dem Topfhelm die Gefahr nicht rechtzeitig erkennen kann – zunächst gegen drei, dann gegen fünf Räuber, Inbegriff roher, unritterlicher Gewalt; die erbeuteten acht Pferde muss Enite versorgen, was sie klaglos tut. (2) Anderntags werden Erec und Enite mit einem (namenlosen) Grafen bekannt. Er versucht, Enite ihrer Schönheit wegen ihrem Mann abspenstig zu machen und will diesen umbringen. Dank der Loyalität, Liebe und List Enites wird die Gefahr glücklich bestanden. Auch hier setzt Enite sich über das Schweigegebot hinweg. Die acht Pferde werden bei dieser Gelegenheit verschenkt bzw. in Zahlung gegeben. (3) Erec muss einen ritterlichen Zweikampf gegen den ihm beinahe ebenbürtigen tapferen zwergenhaften irischen König Guivreiz le petit bestehen, der ihn angreift; wieder bricht Enite das Schweigegebot. Guivreiz wird zum Freund. Doch bleibt Erec nur kurz auf seiner Burg, ruhelos zieht er weiter.

Anschließend trifft das Paar auf den Artushof, der sich zur Lustbarkeit auf einem freien Plan im Wald aufhält. Bei der Zwischeneinkehr sollen Erecs Kampfwunden durch ein wunderbares Pflaster geheilt werden – dies geschieht freilich nur unzureichend, da er bereits am nächsten Tag wieder aufbricht. Nunmehr kommt es zur zweiten Abenteuer-Triade, die inhaltlich weitgehend der ersten entspricht, bei der die Gefährlichkeit aber gesteigert ist: (1) Erec befreit aus Erbarmen den schrecklich misshandelten Ritter Cadoc aus den Händen zweier Riesen. Bei diesem Kampf wird er so schwer verwundet, dass er ohnmächtig daliegt. Enite hält ihn für tot, sie beklagt ihn in langer Rede, schließlich will sie sich mit seinem Schwert selbst umbringen. (2) Durch ihr Wehklagen wird Graf Oringles von Limors (»der Tod«) angelockt. Er beschließt sofort, die wunderschöne Witwe zu heiraten. Die vermeintliche Leiche und die Frau werden auf seine Burg gebracht, der Graf beraumt umgehend ein Hochzeitsmahl an. Als Enite die Heirat verweigert, schlägt er sie. Ihr Schreien bewirkt, dass Erec erwacht. Er springt auf, erschlägt den Grafen und treibt die Übrigen in die Flucht. Dann entfliehen beide auf Erecs Pferd. Nunmehr versöhnt sich das Paar. Erec hat Enites in Zweifel gezogene Treue erkannt, ihre Prüfung ist beendet. (3) Inzwischen hat Guivreiz vom Schicksal seines Freundes gehört. Er bricht in der Nacht umgehend auf, um Enite und Erecs Leiche von Oringles zu fordern. Unterwegs trifft er auf die beiden. Da man einander nicht erkennt, stürzt der noch sehr geschwächte Erec sich voller Leichtsinn in den völlig überflüssigen Zweikampf – und unterliegt. Nur Enites Geschrei rettet ihm das Leben.

Damit ist die Abenteuerreihe des zweiten Teils vorerst beendet. In Guivreiz’ herrlichem Wasserschloss Penevrec werden die Wunden geheilt, das Paar erholt sich von den Strapazen. Nach vierzehn Tagen brechen Erec, Enite und Guivreiz an den Artushof auf. Enite, die ihr Pferd auf der Burg des Oringles verloren hatte, erhält von Guivreiz ein vom Erzähler ausführlich beschriebenes Wunderpferd. Unterwegs besteht Erec ein letztes, sein größtes Abenteuer. Es findet sich in dem paradiesisch schönen, jedoch unzugänglichen Garten Joie de la curt, »die Freude des Hofes«, nahe der wehrhaften Burg Brandigan. Dort haust der gewaltige Ritter Mabonagrin zusammen mit seiner Dame in symbiotischer Liebesgemeinschaft – Widerspiegelung der Liebesgemeinschaft Erecs und Enites vor dem Aufbruch zur Abenteuerfahrt. Mabonagrin hatte, höchst töricht, seiner Dame den dauernden isolierten Aufenthalt im Garten einst versprochen. Erst wenn er im Kampf besiegt wird, darf er den Garten verlassen. Er hat freilich bereits 80 Ritter getötet, die es wagten, in den Garten einzudringen, und ihre Köpfe auf Pfählen zur Schau gestellt – die trauernden Witwen leben am Hof in Brandigan. Trotz aller Warnungen stellt Erec sich dem schweren Kampf, in dem er schließlich siegt. Mabonagrin ist sehr froh darüber, endlich wieder unter den Menschen leben zu dürfen, seine Dame freilich, in der Enite eine Cousine erkennt, ist betrübt. Doch der Garten der höfischen Freude steht nunmehr wieder allen offen. Wirkliche höfische Freude gibt es nur in der Gemeinschaft höfischer Menschen.

Am Artushof wird Erec hoch geehrt, die von ihm hingeführten 80 Witwen gewinnen ihre Lebensfreude zurück. Dann reisen Erec und Enite in ihr eigenes Reich, wo sie festlich empfangen werden. Erec ist zum vorbildlichen Herrscher gereift. Die Harmonie zwischen Liebe und Herrscherpflichten ist nun dauerhaft hergestellt:

Der König erfüllte ihren [Enites] Willen, wo immer er konnte, doch stets so, wie es ihm richtig schien, nicht wie zuvor, als er sich um ihretwillen nicht mehr aus dem Bett bewegt hatte. Denn er lebte nach den Geboten der Ehre, so dass Gott ihn mit väterlichem Lohn begabte und ihn und seine Frau nach der weltlichen Krone mit dem ewigen Leben. (V. 10 119–29)

2

Vorlage für Hartmanns Roman war der Roman Erec et Enide, den der altfranzösische Dichter Chrestien (Chrétien) de Troyes um 1170 vielleicht für den Königshof Heinrichs II. Plantagenet und seiner Gemahlin Eleonore von Aquitanien, der berühmtesten Literaturmäzenin des 12. Jahrhunderts, verfasst hatte. Der König – Vater der aus der Robin-Hood-Geschichte bekannten feindlichen Brüder Richard Löwenherz und Johann Ohneland – regierte über das riesige angevinische Reich, das England und den gesamten Westen Frankreichs von der Normandie über die Bretagne bis zur Gascogne umfasste, später auch noch Wales; Hofsprache war Französisch, Englisch spielte nur eine untergeordnete Rolle. Chrestien begründet mit seinem Erecroman die literarische Gattung des im Mittelalter überaus beliebten Artusromans.

Im Zentrum der Artusromane stehen stets der Bretonenkönig Artus und sein Hof. Artus hat in seiner berühmten Tafelrunde eine glänzende Schar von Rittern aus vielen Ländern versammelt, aus der einzelne, Erec, Yvain, Perceval usw., als Haupthelden eigener Romane auftreten. Artus war vielleicht eine historische Persönlichkeit, ein britischer Kleinkönig des 6. Jahrhunderts, der gegen die sächsischen Aggressoren kämpfte. Durch die um 1138 verfasste Historia regum Britanniae (»Geschichte der britischen Könige«) des Oxforder Magisters Geoffrey of Monmouth, eine phantasievolle Geschichtskonstruktion im Dienst des anglonormannischen Königshauses, wurde er zu einer Figur von epochaler Bedeutung, gleichrangig mit Karl dem Großen und ausgestattet mit einer ausführlichen, teilweise in mythische Bereiche führenden Biographie. Im Unterschied zu Geoffreys pseudo-historischer Darstellung ist Chrestien freilich an Geschichte nicht im Geringsten interessiert. Er stellt Artus als überzeitliches Idealbild eines Ritterkönigs dar und baut eine eigenen Regeln verpflichtete epische Welt um ihn herum auf. Sie verbindet nicht nur Chrestiens eigene Romane miteinander, sondern, da das Schema sich beliebig weiter ausphantasieren ließ, auch die Romane anderer, späterer Autoren, die nicht nur in französischer, sondern auch in deutscher, altnordischer, italienischer und englischer Sprache schrieben.

Die Artusromane spielen in einer auch durch den Namen von König Artus historisch nicht weiter festgelegten Zeit und in einem geographischen Raum, in dem zwar auch reale Orts- und Ländernamen vorkommen, die aber bunt gemischt sind mit solchen, von denen man in der Realität noch nie etwas gehört hat. Die Autoren führen ihre Hörer und Leser in eine märchenhaft-phantastische Welt voll symbolischer Bedeutungen, mit geheimnisvollen Wäldern und unerwarteten Begegnungen, mit Burgen voll gefährlicher Abenteuer, seltsamer Ereignisse und merkwürdiger Geschöpfe, manchmal auch schrecklicher Monstren. Ruhender Mittelpunkt ist der Artushof. Er ist das Zentrum der schönen höfischen Lebensform, der Ort vorbildlichen Verhaltens, der Erziehung zu vollkommenem Benehmen, auch der Ort, an dem man den von einzelnen Rittern errungenen Ruhm zur Kenntnis nimmt. Vom Artushof gehen in der Regel die Abenteuerfahrten der Protagonisten aus. Auf ihnen hat der Ritter sich durch den Kampf gegen finstere Mächte, Riesen, Räuber, böse Zwerge, Drachen usw. und durch das Eintreten für Schutzbedürftige zu bewähren, wodurch er Ruhm und Ehre und meist auch eine schöne Frau gewinnt. Artus selbst ist ein vorwiegend milder, eher passiver König, der nur selten in den Kampf zieht, er ist jedoch der Garant bestehender Einrichtungen und Gebräuche. Sein Sinn ist auf Bewahrung und, wie es traditionell Königspflicht war, auf die Durchsetzung von Frieden und Recht (pax et iustitia) gerichtet. Stehende Figuren am Hof sind die Königin Ginover, der Musterritter Gawan/Gawein, der Neffe des Königs, und der durch sein Schandmaul gefürchtete, jedoch auch mutige, im Kampf allerdings meist erfolglose Truchsess Keie.

Die Artusromane – darin besteht ihre gesellschaftsgeschichtliche Bedeutung – erzählen bei aller Phantastik von einer Welt, in der ausschließlich adlige Protagonisten auftreten; Figuren aus niederen Ständen begegnen allenfalls am Rand, in der Regel als Schurken. Als Leitgedanken adligen Verhaltens herausgestellt werden das unablässige Streben nach Ruhm und Ehre, Tapferkeit, vorbildlich-höflicher Umgang mit Damen, das Eintreten für Schwache, Arme und Bedrängte, die Schonung des besiegten Gegners, sofern er vom gleichen Stand ist, maßvolles Benehmen, Großherzigkeit und Freigebigkeit, die Verteidigung von Frieden und Gerechtigkeit. Die Artusromane lieferten den unterschiedlichen Adelsschichten des 12. und 13. Jahrhunderts – Fürsten, Hochadel, niederer Adel –, so differenziert ihr tatsächlicher ökonomischer und politischer Rang auch war, ein gemeinsames Idealbild oder auch eine Ideologie, an der sie sich orientieren konnten und sollten, ein Bewusstsein ihrer selbst als herausgehobener Stand. Seit etwa 1180, seit der Entstehungszeit von Hartmanns Erec, diente im Deutschen der Begriff »Ritter« nach französischem Vorbild (chevalier) als Bezeichnung, in der alle Schichten des Adels, vom König bis zum kleinen Amtsträger, zusammengefasst wurden. Überholt sind viele der Rittertugenden bis heute nicht; noch heute bezeichnet »ritterlich« eine positiv herausgehobene Art des Verhaltens.

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Obwohl Hartmann von Aue schon seinen Zeitgenossen als herausragender Autor galt, ist über seine Person doch so gut wie nichts bekannt. Aufgrund seiner Sprache hält man ihn für einen Alemannen. Er selbst bezeichnet sich als literarisch hochgebildeten Ritter und Ministerialen (dienstman), d. h. als Amtsträger, doch in wessen Diensten? Nach welchem Aue er sich nennt, wissen wir ebenfalls nicht, da es im alemannischen Bereich zahlreiche Orte dieses Namens gibt. Für sein umfangreiches Werk, das außer den beiden Artusromanen zwei Erzählungen, Armer Heinrich (vgl. hier) und Gregorius, ferner ein Streitgespräch über das richtige Verhalten in Liebesangelegenheiten (Klage), und bedeutende Lieder (vgl. hier) umfasst, brauchte er mit Sicherheit einen Mäzen. Meist ist man heute der Ansicht, Hartmann habe für den Hof der Herzöge aus dem im deutschen Südwesten mächtigen Haus Zähringen gedichtet. Durch sie könnten ihm die französischen Vorlagen für die Artusromane und den Gregorius zugekommen sein. Doch ist dies alles ungesichert. Als Schaffenszeit Hartmanns gilt der Zeitraum zwischen etwa 1180 und 1205, er war somit etwa zwanzig Jahre älter als seine großen Kollegen Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg.

Hartmanns Erec ist – obwohl der Anfang in der einzigen annähernd vollständigen Handschrift, dem für Kaiser Maximilian I. Anfang des 16. Jahrhunderts geschriebenen Ambraser Heldenbuch (Wien, Österreichische Nationalbibliothek), fehlt – mit 10 135 Reimpaarversen erheblich länger als der Roman Chrestiens, der lediglich 6958 Verse umfasst. Hartmanns Text weicht, obwohl er das Konzept der Vorlage weitgehend beibehält, in einer Fülle von Details von Chrestien ab. Es wäre ein grundlegender Irrtum, wollte man annehmen, Hartmanns – und anderer Autoren – deutsche Fassungen französischer Vorlagen seien nichts weiter als Übersetzungen. Der Gedanke der Übersetzung, wie er uns vertraut ist – und wie er durchaus auch im Mittelalter existierte –, lag den deutschen Romanautoren völlig fern. Es ging keineswegs darum, eine möglichst getreue, adäquate Wiedergabe des »Originals« in der Zielsprache zu erreichen. Von zentraler Bedeutung war vielmehr die aus der lateinischen Rhetorik vertraute Vorstellung des Wettstreits (aemulatio) mit dem Vorgänger. Man bemühte sich darum, den Text besser zu machen, oft auch ganz anders, möglichst überzeugender. Dabei geht es um die Sinngebung, die logische Entfaltung von Motiven und Figuren, nicht zuletzt um die rhetorische Ausgestaltung. So finden sich oft an Stellen, an denen der Vorgänger wenig oder gar keinen rhetorischen Aufwand getrieben hatte, ausführliche, kunstvolle Beschreibungen, oft werden Einzelheiten verdeutlicht, verbessert, verändert, hinzugefügt – nicht zuletzt mussten Inhalt und Struktur der Erzählung auch dem Verständnis des deutschen Publikums nähergebracht werden. Bei Hartmann auffällig ist das Hervortreten der Erzählerfigur, die in lehrhafter Weise kommentiert, berichtet, künftige Begebenheiten vorwegnimmt, die auch das Erzählen selbst zum Thema macht. Ihm ging es, anders als Chrestien, nicht in erster Linie darum, das Publikum durch Spannung in Atem zu halten. Vielmehr wollte er es dazu bringen, die Protagonisten und Ereignisse in Ruhe, reflektierend, zu betrachten, sich über richtige und falsche Verhaltensweisen belehren zu lassen sowie sich von den rhetorischen Fähigkeiten des Autors zu überzeugen.

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Hauptprotagonisten des Romans sind allein Erec und Enite, alle weiteren Figuren treten dahinter weit zurück oder haben nur episodische Bedeutung. Im Zentrum steht ein Ehemodell. Der Königssohn Erec lebt seit seiner Kindheit am Hof von König Artus – das entspricht der zeitüblichen Ausbildung junger männlicher Adliger an einem fremden Hof. Erec ist zu Beginn kein Knappe mehr, sondern bereits Ritter, hat sich aber noch nicht durch besondere Taten hervorgetan. Auf die handgreifliche Beleidigung durch den Zwerg Maledicur im Angesicht der Königin und ihrer Damen reagiert er zwar zunächst situationsgemäß besonnen (anders als später beim zweiten Kampf mit Guivreiz) – er ist ungerüstet und ohne Schild und Lanze –, doch darf er die Kränkung keinesfalls auf sich sitzen lassen. Durch Koralus erhält er die Möglichkeit zur Rache. Gegen den starken Ritter Iders kämpft er dann klug, ja vorbildlich. Er siegt schließlich, gestärkt durch den Blick auf die wunderschöne Enite. Den standesgleichen Gegner lässt er am Leben. Er schickt ihn an den Artushof, damit er dort Erecs Sieg bekannt mache – der Artushof ist, wie angedeutet, so etwas wie das Katasteramt ritterlicher Ruhmestaten.

Der Auftritt Enites am Artushof wird überlegt inszeniert. Zwar erlaubt Erec, dass sie in Tulmein ein schönes Pferd erhält, doch soll sie erst, so der Hintergedanke, von Ginover neu eingekleidet werden – auch in Lumpen tritt ihre strahlende Schönheit zutage. Trotz der glanzvollen Aufnahme des Paares am Artushof betrachtet Erec sich noch nicht als wirklich etablierten Ritter. Dies wird er erst durch seinen Auftritt bei dem Turnier, das den 1. Teil des Romans abschließt. Nunmehr steht er neben Gawein in der ersten Reihe der berühmten Ritter: seine Weisheit wird mit der Salomons, seine Schönheit mit der Absalons, seine Stärke mit der Samsons, seine Freigebigkeit mit der Alexanders des Großen verglichen (V. 2815–21).

Es gelingt Erec, der inzwischen König geworden ist, zunächst freilich nicht, seine Position in der Ritterhierarchie zu behaupten. Die übermäßige Liebe zu Enite führt ihn in die Krise. Statt auf Turniere zu ziehen, bleibt er lieber mit seiner Frau im Bett. Ohne es selbst zu merken, verliert er jedes Ansehen. Als ihm dies durch Enite, gegen ihren Willen, eröffnet wird, reagiert er freilich sofort. Er zieht umgehend auf eine Bewährungs- und Abenteuerfahrt, die er, ohne dies auszusprechen, zugleich als Prüfung seiner Ehe versteht. Die Bettgemeinschaft ist vorerst beendet. Enite muss ihn in schöner Kleidung, gewissermaßen als Lockvogel, begleiten, ihr wird ein striktes Schweigegebot auferlegt – sie weiß nicht, wie ihr geschieht, seine Absichten bleiben unerklärt. In der ersten Abenteuersequenz warnt sie ihn – durch Verstoß gegen das Schweigegebot – dennoch jedes Mal, nicht ohne Angst vor seiner harschen Reaktion. Zur Strafe muss sie zeitweise den niedrigen Dienst eines Pferdeknechts ausüben. Der erste Kampf gegen Guivreiz zeigt, dass Erec nicht nur Räubern und einem üblen Frauenverführer und dessen scheinbarer Übermacht im Kampf gewachsen ist, sondern auch einem ritterlichen Gegner von großer Stärke und Kampferfahrung. In der zweiten Sequenz wird Erec selbst aktiv. Der glücklich befreite Cadoc wird an den Artushof gesandt, um Erecs Tat dort bekannt zu machen. Im zweiten Kampf gegen Guivreiz unterliegt Erec, Enite rettet ihm das Leben – er selbst bezeichnet sein Verhalten als Torheit, denn in seinem geschwächten Zustand hätte er den Zweikampf niemals führen dürfen (V. 7010 ff.). Nun erfährt man, dass Erec nicht nur sich selbst erneut bewähren, sondern auch Enite prüfen wollte.

Erecs Abenteuer- und Bewährungsweg wird endgültig abgeschlossen durch das gefährlichste aller Abenteuer, »Joie de la curt«, durch das er, nun voll Selbstgewissheit, ein weiteres Mal prüft, ob er wieder zu seiner alten Ritterexzellenz zurückgefunden hat. Im Schicksal des Ritters Mabonagrin und seiner (namenlosen) Dame spiegelt sich, wie erwähnt, die Gesellschaftsfeindlichkeit des früheren Verhaltens Erecs und Enites. Der mitleidige Umgang Erecs mit dem Schicksal der 80 Witwen zeigt erneut, dass es zu den Aufgaben des Ritters gehört, gesellschaftsdienlich zu wirken – das hat Erec nun begriffen. Am Ende werden Erecs Zuwendung zu Enite und seine Aufgaben als Ritter und König im Gleichgewicht gesehen.

Enite erscheint als eine ihrem Mann bedingungslos ergebene Frau, die ihre ganze Existenz nach ihm ausrichtet. Ein derartiges Frauenbild wird heutzutage als anstößig, ja äußerst bedenklich empfunden, es dürfte auch im 12. Jahrhundert eher ein männliches Wunschbild gewesen sein. Gleichwohl gewinnt Enite im Lauf des Romans Größe als Liebende und Leidende. Chrestien mit seinem Yvain und Hartmann mit dem Iwein gaben, wie wir sehen werden, etwas später so etwas wie eine Antwort auf dieses Frauenbild. Enite ist von makelloser adliger Abkunft, die Familie ist jedoch völlig verarmt. Sie verfügt über größte Schönheit, die Männern sehr gefährlich wird, nicht zuletzt Erec. Indes ist sie zurückhaltend und schüchtern, alles andere als selbstbewusst oder selbstverliebt. Erec erlöst sie durch seine Liebe und die Heirat aus ihrem Aschenputteldasein. Beim Turnier bangt sie um ihn und sie ist stolz auf seine Tapferkeit. Auf der Abenteuerfahrt handelt und leidet sie ausschließlich aus Liebe, stets im Gefühl ihrer herkunftsbedingten Unterlegenheit. Ihre Liebe erweist sich im mehrfachen Bruch des Schweigegebots, aber auch in der Listigkeit, mit der sie – trotz der schlechten Behandlung durch Erec – an ihrer Ehe gegenüber den Anschlägen des ersten Grafen festhält, schließlich im Widerstand gegen die Heiratsabsicht des zweiten Grafen, als sie davon ausgehen muss, zur Witwe geworden zu sein. In umfangreichen Monologen gewinnt sie Profil: sie klagt über Erecs Pflichtvergessenheit und darüber, dass man ihr die Schuld gibt (V. 3029–32); sie ruft Gott um Beistand an, bevor sie das Schweigegebot zum ersten Mal bricht (V. 3149–79); trotz ihrer Angst vor Erec entschließt sie sich auch weitere Male zum Bruch des Gebots (V. 3353–77, 3974–92). Enites größte Szene ist die Klage über Erecs (Schein-)Tod nach dem Kampf für Cadoc (V. 5775–5854, 5875–6109): Sie klagt Gott wegen des Todes ihres Mannes an. Er sei ihr gegenüber erbarmungslos, da er sie nicht auch sterben lässt, denn sie möchte von ihrem Mann nicht getrennt sein. Die wilden Tiere sollen sie töten. Sie schwört allen Männern ab, ausgenommen dem Tod, der sie lieben solle, solange sie noch jung und schön sei. Sie beschimpft ihn, weil er sie nicht haben will. Sie klagt sich an, da sie durch ihr Reden die Abenteuerfahrt verursacht habe. Ihr Unterlegenheitsgefühl drückt sie im Bild von der Linde am Weg aus, die, wenn man sie in den Obstgarten verpflanzt, nicht gedeiht. Schließlich entschließt sie sich zum Selbstmord und verflucht Erecs Schwert, mit dem sie sich töten will. Nach dem Ende der Bewährungsfahrt tritt Enite ganz hinter Erec zurück.

Eine eigenartige Rolle in Enites Geschichte spielen Pferde. Zu Beginn, in der Zeit der ärmlichen Existenz ihrer Familie in einer Ruine, wird ihr, entgegen dem Einspruch Erecs, von ihrem Vater befohlen, das Pferd des Ritters zu versorgen; ein weiteres Mal als Pferdeknecht muss sie nach Erecs Sieg über die acht Räuber agieren. Damit sind Tiefpunkte ihrer Geschichte markiert. Vor dem Aufbruch an den Artushof im 1. Teil, von Tulmein aus, und im 2. Teil, von Penevrec aus, erhält sie edle Zelter, zuerst einen Schimmel, dann das vielfarbige Wunderpferd, geschenkt – animale Zeichen dafür, dass die schlechten Zeiten hinter ihr liegen. Von der Burg des Oringles fliehen beide Eheleute auf einem Pferd, dem Erecs: die eheliche Entzweiung ist beendet.

Die didaktische Botschaft des Romans erscheint vergleichsweise einfach. Der Ritter darf nicht nachlassen, sich durch ruhmvolle Taten für die menschliche Gemeinschaft zu qualifizieren: hier geht es um die Ausrottung von Räubern und Riesen, den Kampf gegen Adlige, die sich nicht gemäß den höfischen Regeln verhalten, um ehrenvolle Zweikämpfe mit gleichrangigen Gegnern, um den Schutz von Witwen, um die rechte Balance zwischen sexuellem Begehren und den Herrscheraufgaben. Die passende Gemahlin sollte nicht nur durch Schönheit, sondern auch durch unwandelbare Treue und Ergebenheit ausgezeichnet sein, ihr ganzes Wesen sollte sich an den Vorstellungen des Mannes orientieren.

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So weit, so schlicht. Wenigstens auf den ersten Blick. Schlicht wäre der Erec in der Tat, ließen spannende Handlung und interessante, weil auch problematische Charaktere und vor allem Hartmanns Erzählkunst die Lektüre nicht dennoch zu einem komplexen Lesevergnügen werden.

Von größter Wichtigkeit für Hartmanns Darstellung ist der bereits erwähnte allgegenwärtige Ich-Erzähler. Er bietet »Einsichten«, kommentiert das Geschehen, nimmt kommende Ereignisse vorweg und liefert vor allem auch musterhafte und interessante Beschreibungen. So erfährt man etwa gleich zu Beginn, dass Erecs Reaktion auf die Beleidigung durch den Zwerg sozusagen normal ist: »Er (Erec) handelt wie jeder, dem ein Leid angetan wurde: er bemüht sich eifrig darum, es auf passende Weise zu vergelten« (V. 167–69); im Hinblick auf die Schönheit der Frau heißt es: die Gestalt ist wichtig, nicht die Bekleidung (V. 646–49); oder: man soll Fahrende, die bei einem Fest auftreten, gleich gut behandeln, sonst verfluchen die zu kurz Gekommenen das Fest (V. 2169–72). Vorbildliche Handlungen werden herausgehoben: vor Rittertaten geht man erst einmal in die Messe (V. 665–67); auch der Tapfere soll die Furcht vor der Gefahr kennen und zu Gott beten (V. 8619–44). Der Hörer oder Leser erfährt etwas über die Allmacht der Liebe, die geeignet ist, auch den Rechtschaffensten zu unredlichen Handlungen zu verführen – man muss wissen, wie man mit ihr umgeht (V. 3668–3716). Er lernt auch, dass man einen aus dem Sattel gestochenen ebenbürtigen Gegner erst einmal aufstehen lässt, bevor man weiterkämpft (V. 824–32).

Zeitgenössische Hörer und Leser dürften ihre Freude an der ausführlichen Schilderung des Turniers im 1. Teil gehabt haben. Das Turnierwesen war in Deutschland um die Mitte des 12. Jahrhunderts aufgekommen, eine umfangreiche literarische Beschreibung dieser Art gab es bis dahin nicht. Ganz neu für Hartmanns Publikum war der ausführliche Namenskatalog der Artusritter, den Hartmann weit über Chrestiens Vorlage hinaus bietet (V. 1629 ff.). Manche Namen begegneten später als handelnde Figuren in Hartmanns zweitem Artusroman, in Wolframs von Eschenbach Parzival und in weiteren deutschen Romanen: Lanzelot, Gurnemanz, Iwein, Tristram, Garel, Titurel, Ither, Segremors usw. Besonders herausgehoben werden die stehenden sprichwörtlichen Figuren der Artusromane, die Hartmann hier in die deutsche Literatur einführt: der Musterritter Gawein und, an späterer Stelle (V. 4633 ff.), der Seneschall Keie – seine Darstellung ist geradezu ein Kabinettstück psychologischer Beschreibung eines zwiespältigen, genauer gesagt: eines vierspältigen Charakters. Der Namenskatalog der Artusritter verrät ebenso wie der folgende Katalog der Hochzeitsgäste am Artushof spielerische Freude an der Häufung exotischer, fremdklingender Namen. Noch heute ein Vergnügen! Gegruselt und wohl auch amüsiert haben dürfte sich das Publikum bei der Beschreibung der verstorbenen Schwester des Artus, Famurgan, von der das Heilpflaster stammt, mit dem Ginover den verwundeten Erec bei der Zwischeneinkehr am Artushof zu heilen versucht. Famurgan galt als wunderwirkende Zauberin, deren unerhörte magische Kräfte der Erzähler detailliert berichtet.

Zu den nicht nur eindrucksvollen, sondern oft auch vergnüglichen rhetorischen Glanzstücken Hartmanns gehören vor allem Vergleiche und Beschreibungen. So äußert der Erzähler sich zu Enite: ihre Schönheit übertrifft die aller anderen so wie der strahlende Mond den nächtlichen Glanz der Sterne auslöscht (V. 1766–83); ihre Einkleidung durch Ginover mit kostbaren Stoffen und Utensilien wird, wohl zur Freude des weiblichen Publikums, in allen Einzelheiten dargelegt (V. 1537–78). Erecs mutiges Herz ist stärker als ein Diamant: während dessen unglaubliche Härte durch ein bestimmtes Blut erweicht werden kann (gemeint ist das als besonders hitzig geltende Blut des Ziegenbocks), kann Erecs Mut nur durch den Tod bezwungen werden (V. 8426–41); das Motiv des diamanterweichenden Bocksblutes findet sich wieder in Wolframs Parzival: Parzivals Vater Gahmuret findet den Tod, nachdem sein Diamanthelm heimtückisch mit Bocksblut erweicht wurde. Das Wasserschloss Penevrec des Königs Guivreiz wird als Jagdparadies geschildert (V. 7124–94), die Stadt Brandigan, auf der »Joie de la curt« liegt, als prachtvolle, uneinnehmbare Burg (V. 7831–88), das Zelt von Mabonagrins Dame und die Dame selbst erscheinen mit Details von erlesener Kostbarkeit (V. 8901–57).

Pferde beschreibt Hartmann zweimal. Im 1. Teil findet sich die knappe Beschreibung des Schimmels, den Enite vor dem ersten Aufbruch zum Artushof bekommt (V. 1423–53). Die weitaus umfangreichste und glanzvollste Beschreibung des ganzen Romans widmet Hartmann dann dem Pferd, das Enite in Penevrec erhält (V. 7274–7766). Das Fell des Wunderpferdes, das Guivreiz einst einem wilden Zwerg geraubt hatte, um es seinen beiden Schwestern zu schenken, ist links weiß, rechts schwarz, getrennt durch einen grünen Strich, Gleiches gilt für die gelockte Mähne und den Schwanz; das Pferd hat die richtige Größe, kleine Ohren, einen langen Hals, schlanke Beine, das Fell ist auch ohne besondere Pflege schön und glatt, sitzt man darauf, glaubt man zu schweben. Der Sattel wurde von Meister Umbrîz in dreieinhalb Jahren höchst kunstvoll gefertigt. Nun mischt sich jemand aus dem Publikum ein: »Still, lieber Hartmann, ich errate, wie er aussah.« Die folgende Beschreibung aus dem Publikum greift zwar hoch, trifft aber doch nicht das Richtige – der Erzähler spottet darüber und berichtet dann weiter. Der Sattel ist aus Elfenbein, Edelsteinen und Gold, hineingeschnitten ist die Geschichte des Untergangs von Troja, ferner die Geschichte des Eneas, die, kurz vor dem Erec, Heinrich von Veldeke in seinem Eneasroman dem höfischen Publikum bekannt gemacht hatte. Auf der Pferdedecke finden sich die Wunder der Welt: die Erde mit ihren Tieren und dem Menschen; das Meer mit den Fischen und den Meerwundern – wer ihre Namen wissen will, der soll selbst ins Meer tauchen, was wenig Nutzen, aber viel Schaden bringt; die Luft mit den Vögeln; das Feuer mit Drachen und weiteren Feuerwesen. Die Kanten der Decke sind mit einer edelsteingeschmückten Borte besetzt; die Steigbügel bestehen aus goldenen Drachen; auf dem wunderschönen Sattelkissen erblickt man die traurige Liebesgeschichte von Pyramus und Thisbe; statt Fransen hat das Kissen kostbare Edelsteine, ebenso der Brustriemen, an der Stirn des Pferdes leuchtet ein Karfunkelstein, der nachts Licht gibt.

Zu den rhetorischen Partien tritt bisweilen humoristischer Schabernack, geeignet, das Vergnügen des Publikums zu steigern. So erfährt man im Zusammenhang mit Erecs Einkehr bei Koralus, wie sein Bett – nicht aussah und was er zu essen – nicht bekommt:

Nun wurde der Gast so gut versorgt, wie sie konnten. Edle Teppiche ausgebreitet und darauf kostbares Bettzeug gelegt, das beste, das es auf der ganzen Welt gab, mit Samt bezogen und mit Gold verziert, so dass ein einzelner Mann das Bett nicht hochheben könnte und man es zu viert ausbreiten müsste, und darüber ausgebreitet, wie es großen Herren gebührt, seidene, reich bestickte Steppdecken – die gab es dort an jenem Abend nicht. Sie brachten sauberes Stroh herbei, darüber reichte ihnen ein schmuckloses Bettzeug mit einem weißen Leintuch. Außerdem gab es dort ritterliche Speise, alles was ein Mann mit erlesenem Geschmack sich an Gutem ausdenken könnte, davon hatten sie jede Menge und reichliche Fülle – doch auf den Tisch brachte man es nicht. Ihnen schenkte der aufrichtige Wille genug, den man dort im Haus fand. Er ist Unterpfand alles Guten. (V. 366–95)

Andere Beispiele sind die Schilderung der überhasteten Flucht der Leute des Oringles, nachdem der vermeintlich tote Erec wieder zum Leben erwacht ist (V. 6624–81), die Szene des Einritts in Brandigan (V. 8056–72), schließlich die Schilderung der 80 Witwen auf Brandigan, eine Registerarie, bei der nicht ganz klar ist, ob die Damen aus dem Blickwinkel Erecs oder, was ich für wahrscheinlicher halte, des Guivreiz gesehen werden:

Er ließ die Augen über sie hingehen. Gleich die erste erschien ihm schön, die zweite aber doch schöner – indes die dritte übertraf sie wiederum, die vierte kam jedoch, was die Schönheit anging, doch noch vor ihr; der fünften aber musste er den Schönheitspreis zusprechen – so lange wenigstens, bis er die sechste sah. Die siebte freilich löschte diese ganz aus, aber nur, bis er die achte sah; die neunte schien ihm ihrer aller Krönung, die zehnte aber von Gott mit noch mehr Schönheit begabt – doch die elfte drängte sie zurück, wenn da nicht die zwölfte gewesen wäre: vollkommen erschienen wäre die dreizehnte, hätte nicht die vierzehnte ihr den Rang streitig gemacht. Die fünfzehnte war das Ideal – doch war ihre Schönheit gar nichts gegen die sechzehnte Dame; aber noch lieber sah er die siebzehnte an, die da saß. Die achtzehnte gefiel ihm freilich noch besser als irgendeine der übrigen Damen, wenigstens bis er die neunzehnte sah. Die zwanzigste indes musste ihm noch besser gefallen als alle übrigen. Wer könnte sie alle beschreiben? (V. 8260–88)

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Der Iwein ist in manchem anders. Das Ehemodell ist grundlegend verändert, die Figuren sind weit problematischer, die Struktur ist komplexer, zudem sind Fristen und Termine von auffallender Wichtigkeit – was man eher in einer modernen Erzählung erwarten würde, nicht aber in einem mittelalterlichen Roman. Als Vorlage, der Hartmann inhaltlich weitgehend folgt, diente Chrestiens de Troyes um 1180 entstandener Yvain (6818 Verse).

Vorangestellt hat Hartmann von Aue seinem Erfolgsroman (8166 Verse) – heute sind noch 33 vollständige oder fragmentarisch erhaltene mittelalterliche Textzeugen bekannt – einen kurzen Prolog: »Jeder, der mit allen Sinnen nach wahrer Vollkommenheit strebt, der gewinnt Glück und Ansehen« (V. 1–3). Beispiel dafür sei der unvergängliche Ruhm des Königs Artus, dem es nachzueifern gilt. Anschließend nennt Hartmann den eigenen Namen und verweist auf seine Liebe zur Dichtkunst, der er freilich, ganz Ritter, nur in Mußestunden nachkomme.

Auch der Iwein beginnt am Artushof. Der etwas unbedarfte Ritter Kalogrenant erzählt von einem Abenteuer, bei dem er zehn Jahre zuvor schmählich versagt hatte. An einer Zauberquelle im Wald von Breziljan hatte er Wasser auf einen Stein gegossen, worauf sich ein ungeheures Unwetter erhoben hatte: Gewitter, Hagel, Regen, die Bäume brachen nieder oder verloren wenigstens ihre Blätter, die Tiere kamen um oder flüchteten. Sogleich war der Landesherr dahergesprengt und hatte ihn ohne viel Federlesens aus dem Sattel gestochen. Die Erzählung lockt sofort den Ehrgeiz des jungen, noch wenig erprobten Ritters Iwein, Sohn des Königs Uriens. Als König Artus beschließt, mit seinem Hofstaat in vierzehn Tagen zu der Quelle zu reiten, bricht Iwein sofort heimlich auf, um das Abenteuer allein zu bestehen. Er kämpft mit dem heranreitenden Landesherrn Askalon (der Name begegnet erst in V. 2274), verwundet ihn und tötet ihn schließlich auf der Flucht im Torhaus seiner Burg, wird aber selbst zwischen den Fallgattern gefangen. Lunete (der Name in V. 2717), die Zofe der Landesherrin, rettet ihn mit einem unsichtbar machenden Ring (sie verpflegt den Hungrigen übrigens auch mit rasch hergerichteter gâchspîse, dem mittelhochdeutschen Äquivalent von fast food, vgl. V. 1222). Schließlich arrangiert sie die rasche Heirat mit der soeben verwitweten schönen Laudine (der Name in V. 2421), in die Iwein sich auf den ersten Blick unsterblich verliebt hatte. Angesichts des heranrückenden Artusheeres braucht Laudine unbedingt einen Beschützer der Quelle, wer wäre geeigneter für diese Rolle als der, der den vorigen Beschützer besiegt und erschlagen hatte? Iwein stößt den angreifenden Keie erst vom Pferd, dann tritt er Artus ruhmreich als Ehemann und neuer Landesherr entgegen. Als Artus nach sieben Tagen das Land wieder verlässt, wird Iwein von Gawein unter ausdrücklichem Hinweis auf das Fehlverhalten Erecs eindringlich ermahnt, sich nicht ebenfalls zur Ruhe zu setzen, sondern seinen Ruhm durch Turniererfolge zu mehren. Iwein erbittet und erhält ein Jahr Urlaub, wobei Laudine ihn nachdrücklich auffordert, die Frist einzuhalten.

Es kommt, wie zu erwarten: über seinen Turniererfolgen versäumt Iwein den Termin. Bei einem Fest am Artushof erscheint Lunete, die ihm die Gunst der Königin aufkündigt. Iwein, zuvor schon melancholisch gestimmt, wird wahnsinnig und lebt wie ein wildes Tier im Wald. Nachdem die Gräfin von Narison ihn mit einer Wundersalbe (der aus dem Erec schon bekannten Zauberin Famurgan) geheilt hat, besteht er eine Reihe von Abenteuern. Dabei handelt es sich durchweg um Befreiungs- und Gerichtskämpfe, Auseinandersetzungen also im Dienst für andere, noch dazu meist unter Termindruck: (1) Er befreit die Dame von Narison aus ihrer Bedrängnis durch den Grafen Aliers (den er nicht tötet wie zuvor Askalon). (2) Er rettet einen Löwen, der mit einem Drachen kämpft. Der Löwe folgt ihm fortan als treuer Helfer in den Kämpfen – Iwein, dessen wahre Identität weitgehend verborgen bleibt, wird zum Löwenritter. (3a) Er findet die in einer Kapelle eingesperrte Lunete, die anderntags seinetwegen hingerichtet werden soll, falls sie nicht einen Ritter findet, der es wagt, gegen drei gleichzeitig zu kämpfen. Iwein verspricht rechtzeitiges Erscheinen. (4) Am nächsten Tag muss der Löwenritter erst noch für einen Schlossherrn gegen den wüsten Riesen Harpin kämpfen. (3b) Er kommt mit Müh und Not gerade noch rechtzeitig, um mit Hilfe des Löwen Lunetes Feinde zu besiegen und ihr Laudines Gunst wieder zu gewinnen. Die Königin spricht zwar mit ihm, kann den gepanzerten Ritter jedoch nicht identifizieren.

Darauf folgt eine zweite Reihe von Fristabenteuern: (4a) Der Löwenritter verpflichtet sich, termingerecht für eine der Töchter des Grafen vom Schwarzen Dorn in ihrer Erbschaftssache bei einem Gerichtskampf am Artushof einzutreten. (5) Zuvor muss er auf einer Burg einen Kampf gegen zwei gewaltige Riesen bestehen. Er befreit dadurch 300 Damen, die dort unter elenden Bedingungen in einer Textilmanufaktur arbeiten müssen – hier gibt es tatsächlich einmal einen Blick in die reale mittelalterliche Arbeitswelt. (4b) Schließlich findet der Gerichtskampf statt. Ohne dass beide einander erkennen, muss Iwein gegen den Vorkämpfer der anderen Schwester antreten, den inkognito kämpfenden Gawein. Als beide schließlich ihre Namen nennen, wird der lange unentschiedene schwere Kampf sogleich abgebrochen. Artus entscheidet die Erbauseinandersetzung.

Iwein wird am Artushof als der mittlerweile berühmte Löwenritter identifiziert und sogleich wieder aufgenommen. Aber: er ist noch nicht mit Laudine versöhnt. Er macht sich auf zur Wunderquelle, bei der er nun fortwährend Unwetter heraufbeschwört. Laudine hat niemanden, der es wagt, gegen den Eindringling vorzugehen. Lunete greift zur List: In dieser Situation könne nur der Löwenritter helfen, den aber könne man nur gewinnen, wenn er, wie er angegeben hatte, zuvor mit seiner Dame versöhnt werde. Laudine verpflichtet sich, alles zu tun, um das zu erreichen – ohne zu ahnen, dass sie selbst die betreffende Dame ist. So in die Falle gelockt, muss sie sich widerwillig mit Iwein versöhnen. Schließlich aber wird doch ein das Publikum einigermaßen befriedigendes Happy end herbeigeführt: nachdem Iwein ihre Verzeihung erfleht hat, bittet auch Laudine fußfällig um Vergebung (vgl. hier). Der Roman schließt:

Ich weiß aber nicht, wie es den beiden seither ergangen ist. Es wurde mir von dem, dem ich die Geschichte verdanke, nicht mitgeteilt. Deshalb weiß ich euch darüber nichts weiter zu sagen als: Gott schenke uns Glück und Ansehen. (V. 8159–66)

Mit diesem Wunsch greift Hartmann auf den Beginn des Prologs zurück.

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Erec und Iwein sind nahe verwandt, die beiden Romane können in struktureller Hinsicht geradezu als Dubletten angesehen werden. Beide erzählen vom Auszug eines jungen Artusritters, von einem siegreichen Zweikampf, durch den er ersten Ruhm und eine Gemahlin gewinnt. Darauf folgt eine Krise, die durch einen langen erfolgreichen Abenteuerweg, vorwiegend im Dienst für andere, bewältigt werden muss. Am Ende steht ein als dauerhaft anzusehendes glückliches Ende. Die Ehekonzepte beider Romane sind freilich völlig gegensätzlich: im Iwein dominiert ganz eindeutig die Frau, nach ihren Vorstellungen hat der Mann sich zu richten.