Mitternachtsgeschichten -  - E-Book

Mitternachtsgeschichten E-Book

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Beschreibung

Wenn Dunkelheit die Welt zudeckt, wenn die Schatten tiefer und die Lichter heller werden, wenn die Uhren einen kleinen Moment lang den Atem anhalten: dann ist Mitternacht. Ein Augenblick zwischen Gestern und Morgen, der zu kurz ist, um ein Heute zu sein. Ein Übergang, an dem alles passieren kann. Ob Geistererscheinungen, Wandlungen, Verbrechen oder heroische Taten. In 23 Beiträgen erzählen die Autor*innen von diesem Moment, in dem sich die Welt ändern kann. Oder die Uhren einfach weiterticken.

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Das Buch

Wenn Dunkelheit die Welt zudeckt, wenn die Schatten tiefer und die Lichter heller werden, wenn die Uhren einen kleinen Moment lang den Atem anhalten: dann ist Mitternacht. Ein Augenblick zwischen Gestern und Morgen, der zu kurz ist, um ein Heute zu sein. Ein Übergang, an dem alles passieren kann. Ob Geistererscheinungen, Wandlungen, Verbrechen oder heroische Taten.

In 23 Beiträgen erzählen die Autorinnen von diesem Moment, in dem sich die Welt ändern kann. Oder die Uhren einfach weiterticken.

Dieses Buch enthält Inhaltshinweise / Content Notes.

Siehe auch:

www.muenchner-schreiberlinge.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Münchner Schreiberlinge e.V.

Heiko Hentschel

Ich bin Mitternacht

Dani Aquitaine

Mitternachts-Gin

Sarah Malhus

Project Opera

Jon Barnis

Maloy der Bote

Isa Mondrey

Die Saat der Sehnsucht

Cara Osnik

Der Buchdieb

Florian Waldner

Den Unterschied merkt niemand

Matthias Sebastian Biehl

Die Grube

Jule Jessenberger

Verflucht auf dem Mitternachtsfriedhof

Sara G. Haus

Der Park

Marina K. Wolf

Die Maske

H.C. Schneider

Ophelia

Maria E. Seychaska

Der Klang der Zeit

Claire Cursed

Die Hundetage sind vorbei

Eva Brune

Totenstille

Carla Eisfeldt

Eine geistreiche Konversation

Magdalena Freitag

Der Neuankömmling

Roxane Bicker

Oma Lisbeth und die Wichteplage

Marie Tėres

Zweite Gesichter

Julia Winterthal

Mitternachtfalter

Tanja Binder

Henry und die Freunde des ewig Bösen

Tea Loewe

Zum Ende des Tages

Saskia Dreßler

Nach oben

Nachwort – Eine wahre Mitternachtsgeschichte

Danksagung

Die Autor* innen

Inhaltshinweise/ Content Notes

Vorwort

Die Mitternacht ist seit jeher ein Moment, in dem einiges geschehen kann. Zwischen zwölf Schlägen einer Uhr ist viel Raum für dunkle Rituale, lange Küsse, fadenscheinige Versprechungen oder einfach nur einen langen Atemzug, bevor man eine Zwölf-Stunden-Schicht antritt.

Die Geisterstunde kurbelt unsere Phantasie an. Schwebt dort ein Gespenst über dem Hügel oder ein Nebelstreif? Hat die Person da Tomatensaft am Mundwinkel oder etwas anderes? Und war diese Tür gerade auch schon da oder erschien sie mit dem letzten Glockenschlag? Die Grenzen zwischen Realität und Vorstellung verschwimmen und alles scheint möglich zu sein ...

Die 23 Texte, die wir in dieser Anthologie zusammengetragen haben, erzählen von Ereignissen, die sich so nur zwischen Gestern und Morgen zutragen können. Seht mit uns gemeinsam auf die Uhr – und schlägt sie Mitternacht, seid auf der Hut! Auf euch könnte ein Heiratsantrag lauern oder der sichere Tod, doch in jedem Fall Lesevergnügen.

Die Münchner Schreiberlinge e.V.

sind ein Verein von engagierten, aufgeschlossenen Autorinnen.

Kennengelernt haben wir uns in Schreibkursen, Leserunden, Buchveranstaltungen und treffen uns seit Anfang 2017 regelmäßig einmal die Woche zum gemeinsamen Austausch, Schreiben und Lesen.

Einige von uns haben bereits Bücher veröffentlicht, andere schreiben nur für sich und genauso vielfältig wie wir sind auch unsere Texte und Genres.

Mehr zu uns und unseren Aktivitäten findest du in den Social Media.

Hast du einen Bezug zu München und möchtest dich uns anschließen oder uns unterstützen? Hier findest du alle Informationen zu unserem Verein:

www.muenchner-schreiberlinge.de

Heiko Hentschel

Ich bin Mitternacht

Ich bin Mitternacht.

Die Zeit zwischen der letzten und der ersten Sekunde.

Neuer Tag, neue Chance, neue Entscheidung.

Alles kann passieren und alles wird passieren.

Ein Säugling schreit zum ersten Mal.

Voller Kraft, voller Leben, voller Fragen.

Wer bin ich?

Wer könnte ich morgen sein?

Ein Funke entsteht.

Ein Feuer, ein Streit, ein Kuss.

Gib mir mehr davon.

Und die Zigarette danach.

Eine Faust schlägt.

Aufwärtshaken, Wegducken, Jab.

Es brennt und beißt, heiß und dumpf.

Bis alles taub wird und Glück ein Eisbeutel ist.

Eine Kühlschranktür öffnet sich.

Kaltes Licht, wildes Suchen, endlich Käse.

Gelobtes Land.

Wolltest du nicht fasten?

Eine Treppe knarzt.

Zu spät, zu betrunken, zu laut.

Heimlich am Elternschlafzimmer vorbeischleichen.

In vier Stunden ist Klausur.

Tasten klicken.

Irgendwer schreibt, denkt, hadert.

Mit sich, dem Plot, dem nächsten Punkt.

Komm zum Punkt!

Ein Fremder zögert.

In der Nacht.

Im Gebüsch am Wegesrand.

Deinem Nachhauseweg.

Gläser klirren.

Ein Hoch.

Auf dich, auf uns, auf Morgen!

Guten Morgen.

Ich kann alles sein.

Im Moment dazwischen.

Bis die erste Sekunde verrinnt.

Und Möglichkeiten zu Gewissheiten werden.

Dani Aquitaine

Mitternachts-Gin

»Mist.« Ich starrte in den Kühlschrank. Hatte ich den Rotwein gestern wirklich geleert? Zwei Tatsachen sprachen dafür: Zum einen, dass die Flasche verschwunden war, zum anderen, dass ich mich nicht daran erinnerte. Auf dem Tisch hinter mir bimmelte das Handy. Genervt warf ich die Kühlschranktür zu. Heute Abend würde ich es ausnahmsweise ohne alkoholische Unterstützung schaffen müssen, das öde Gutachten meines Chefs in ein ansprechendes Exposé zu verwandeln.

Ich hatte Ingenieurwissenschaften studiert und der einzige Grund, warum ich mir diese fade Arbeit freiwillig antat, war, dass Chef Brickmann in anderthalb Jahren in den Ruhestand abtauchen würde. Ich rechnete mir gute Chancen aus, seinen Posten zu übernehmen.

Seufzend ließ ich mich auf den Küchenstuhl fallen. Ich ignorierte das Verlangen nach Wein und sortierte die Unterlagen. Die Messenger pfiffen beharrlich.

Simone: Müssen Mamas Hecke schneiden, die Gemeinde will so einen Fuzzi schicken, der einer Beschwerde von ein paar Kampfradlern nachgeht. Die bleiben angeblich an den Ästen hängen.

Etwas Wein würde jetzt echt helfen. Mit zusammengebissenen Zähnen tippte ich an der Projektbeschreibung herum.

Susi: Ich muss schon am Freitag aus der Wohnung raus. Du bist meine letzte Hoffnung.

Mai: Nicht vergessen – morgen Teamevent. Denk an die Salate!

Die Sucht zerrte penetrant an meinen Armmuskeln, floss in meine Finger hinein, die Brickmanns Text verkrampft in die Tastatur paraphrasierten. Ich stellte das Handy lautlos. Vibrationen erschütterten die Tischplatte, bis ich nachgab.

Tom: Kann ich dir meine Masterarbeit schicken? Wegen Kommas und so? Brauchte die Arbeit morgen zurück.

Simone: Und der Versicherungstyp sagt, Mamas Rente wird hinten und vorne nicht reichen. Müssen was tun, aber kenne mich null aus. Meld dich mal.

Ich vergrub das Gesicht in den Händen, atmete tief durch. Es half nichts. Nicht heute. Ruckartig erhob ich mich und stieg in den Keller hinab. Mein Vermieter war ein netter, älterer Herr, deswegen hatte ich ein schlechtes Gewissen, bei ihm einzubrechen. Wobei »einbrechen« das falsche Wort war. Er wohnte im Vorderhaus, ich im betagten Rückgebäude, und die Keller waren miteinander verbunden. Ich verschob nur den Schuhschrank, schon konnte ich die Tür zu Herrn Webers Untergeschoss öffnen – und stand direkt vor seinem Weinregal.

Stachelbeersirup, Spinnweben, Staub und Schlieren vertrockneten Sherrys. »Mist.« Doch halt! Ganz unten lag eine bauchige Flasche mit einer goldenen Schleife. »Honig-Gin« las ich auf dem vergilbten Etikett. Vielleicht ein vergessenes Geschenk? Womöglich noch genießbar? Wenn er den Gin hätte trinken wollen, hätte er es schon längst getan, beschwatzte die Sucht mein schlechtes Gewissen. Ich ersetze ihn durch etwas Besseres.

Wie utopisch mein Vorhaben war, begriff ich erst, als ich die Flasche auf dem Küchentisch öffnete. Mit einem saftigen Schmatzen löste sich der Korken. Regenbogenbunter Rauch und Glitzer schossen aus dem Flaschenhals wie ein Tischfeuerwerk. Hustend sprang ich zurück, raffte Laptop und Unterlagen an mich und riss das Fenster auf. Was zur Hölle war das für ein Partygeschenk! Gut, dass ich den Gin an mich genommen hatte, der alte Weber hätte bei dem Spektakel einen Herzinfarkt bekommen!

Als sich der Rauch verzogen hatte, saß am Küchentisch eine Gestalt, die ... interessant aussah. Eine Mischung aus Biene und Dragqueen. Viele Streifen und funkelndes Make-up. Lange honiggelbe Fingernägel klackerten am Glas, als mein Gast eine goldene Flüssigkeit aus der Ginflasche in zwei Schnapsgläser schenkte, die ich definitiv nicht hingestellt hatte. Er zeigte auf den Stuhl ihm gegenüber. »Setz dich.«

Perplex folgte ich der Anweisung, ohne einen Ton herauszubringen. Mein Smartphone vibrierte hartnäckig in dem Stapel Bürokram, den ich an die Brust gedrückt hielt.

»Ich bin not amused. Ich hatte mich auf ein paar entspannte Jahrzehnte in Webers Keller eingestellt, und jetzt kommst du und stiehlst den Gin.«

Ich öffnete den Mund. »Woher ...«

»Aus der Flasche«, leierte er, so als hätte er das schon zu oft erklären müssen. »Ich bin ein Dschinn. Ein Gin-Dschinn.« Fingerlange Wimpern flatterten. »Kannst mich Jim nennen.«

Mit zitternden Händen legte ich die Unterlagen zurück auf die Tischplatte. Ich musste mich an dem Qualm vergiftet haben. Ich war tot. Oder war es eine Art Drogendampf gewesen? Dann war ich vielleicht nur high. Oder der Typ war ein schizophrener Nerd, der bei mir eingestiegen war, während ich den Keller nach Alkohol durchforstet hatte. Ja. Ja, das schien mir am plausibelsten.

»Trink nur«, nickte Jim.

Ich hatte mal gelesen, dass man bei Psychosen am besten mitspielen sollte, also griff ich zumindest nach dem Glas. Meine Lust auf Alkohol hatte sich jedoch schlagartig verflüchtigt. »Und jetzt habe ich drei Wünsche frei?«, schauspielerte ich.

»Einen!«, verbesserte der Gin-Dschinn eilig. »Und wünsch dir bitte keinen Scheiß.« Er schüttelte den Kopf, dass die handtellergroßen Creolen nur so klingelten. »Die Leute wünschen sich immer Scheiß. Du machst dir keine Begriffe, was ich schon durchmachen musste.« Er kippte den Schnaps und fasste den Papierstapel ins Auge. »Hast du da eine Blaue Holzbiene drunter eingeklemmt oder terrorisiert dich dein Kommunikator?«

Ich hob das vibrierende Smartphone hoch. »Nur mein Chef, meine Schwester und ein paar Freunde.«

Mein Gast wedelte mit den Händen. »Nur zu, geh ran, Herzchen.«

»Auf keinen Fall!«

»Warum?«

Energisch drückte ich den Anruf weg. »Ich hab keine Zeit. Ich muss etwas fertigarbeiten, es geht auf Mitternacht zu und ich hab einen anstrengenden Tag vor mir. Ich wünschte echt –«

»Vorsicht!«, flötete Jim dazwischen.

Ich atmete aus. »Ich muss jetzt weitermachen. Du kennst den Weg zur Tür?«

Mein Gast verschränkte die Arme. »Ich will nicht zur Tür.« Sein süßlicher Tonfall war verschwunden. »Bestenfalls will ich in die Flasche zurück. Dazu ist es aber nötig, dass du einen vernünftigen Wunsch äußerst, der nicht die gesamte Menschheit in Schieflage bringt«, raunzte er.

»Das ist dein Ernst, oder?« Mit hängenden Armen starrte ich mein schillerndes Gegenüber an. »Na gut. Wenn du dann verschwindest.« Mein Handy hatte wieder zu summen begonnen. Ich wusste genau, was ich mir von Herzen wünschte, obgleich ich dem psychotischen Möchtegern-Dschinn natürlich kein Wort glaubte. Erschöpft stieß ich aus: »Ich wünsche mir einfach meine Ruhe.«

Jim kratzte sich ausgiebig am Adamsapfel und schürzte die goldglänzenden Lippen. »Hm, ja. Ja, das könnte gehen«, murmelte er und zog eine Taschenuhr aus dem Dekolleté. »Punkt Mitternacht. Perfekt.« Er grinste mich mit schimmernden Zähnen an. »Dein Wunsch sei mir Befehl. Ruhe für dich. Ab ... jetzt! Buona notte, Herzchen.«

Er klatschte zweimal in die Hände – und verschwand mit dem gleichen Glitzerspektakel, mit dem er aufgetaucht war. Nur die Flasche schwankte leicht.

Ich weiß nicht, ob es an den Spezialeffekten lag, dass mir plötzlich ein mulmiges Gefühl auf den Magen drückte. Immerhin lag das Smartphone nun ganz ruhig auf meiner Handfläche. Es zeigte 0:00 Uhr.

Gefühlt eine Stunde später zeigten alle Uhren unverändert Mitternacht und ich gab es auf, mich mit Brickmanns Exposé herumzuplagen. Die Lampen, der Toaster und das Internet funktionierten, doch niemand schrieb über die seltsamen Vorkommnisse. Es war sogar so, dass keiner irgendwas schrieb. Ich schwang mich aufs Fahrrad und fuhr die stille Allee bis zur Hauptstraße hinunter. Dort wurde mir klar, dass in dem Dampf aus der Honig-Gin-Flasche wirklich üble Halluzinogene schwimmen mussten.

Ein paar Autos warteten lautlos vor der grünen Ampel. Ein Taxifahrgast war in der Bewegung des Einsteigens eingefroren. Und der Dackel neben mir im Grünstreifen hörte nicht auf, sich an den Stamm einer Linde zu erleichtern. Das dachte ich zumindest, bis ich begriff: Die Zeit stand still.

Die Welt stand still.

Das Hundepipi stand still.

Benommen radelte ich durch die geräuschlose Stadt, sah ein in der Luft erstarrtes Rotkehlchen und eine Inline-Skaterin, die, Arme und ein Bein weit von sich gestreckt, im Begriff war zu stürzen. Doch sie fiel nicht.

Die Gedanken in meinem erschöpften Gehirn rotierten, suchten verzweifelt eine Erklärung, die ich längst hatte. Mit zitternden Gliedern stieg ich ab, warf das Fahrrad von mir. Ich drehte mich um die eigene Achse, schrie in die ohrenbetäubende Stille der endlosen Nacht.

Niemand antwortete. Ich war allein.

Halb euphorisch, halb apathisch stolperte ich durch die Fußgängerzone, fraß mich durch den Waffelladen und kleidete mich im Kaufhaus neu ein. Irgendwann landete ich im Café neben unserer Geschäftsstelle, in dem ich mir täglich vor der Arbeit einen Cappuccino kaufte. Es war nur ein einziger Gast zugegen, ein mittelalter Typ in einem ozeanblauen Rollkragenpulli, der vor der Theke stand, den Blick auf das Handy-Display gerichtet. Wie lang würde es noch leuchten?

Die Erkenntnis, dass ich mir genau wie alle anderen nur »Scheiß« vom Dschinn gewünscht hatte, überschwemmte mich heiß. Ich hätte mir Weltfrieden wünschen können oder das Ende der Energiekrise. Bei Diskussionen mit der Familie fielen mir immer gute Lösungen ein, doch jetzt hatte ich ohne nachzudenken meinen Wunsch verschwendet.

Der Schreck, der mir in die Glieder fuhr, als ich vor der im Kaffeesatzausklopfen erstarrten Barista stand, ließ meine Schuldgefühle abrupt verpuffen. Verdammt. Was, wenn ich nie wieder Kaffee trinken kann? Zum Glück fand ich heraus, dass die Kaffeemaschine funktionierte, wenn ich sie bediente. Vorsichtig balancierte ich mein Tablett um den Herrn im blauen Pulli herum – falls ich ihn versehentlich umschubste, hatte er keine Chance sich abzufangen und würde sich womöglich verletzen. Ich nahm in der Sitznische am Fenster Platz und nippte an meinem Kaffee. Um diese Zeit müsste die Sonne aufgehen.

Es blieb dunkel. Die Erde hielt die Luft an. Nur ich, ich atmete.

Ich wurde ruhig. Die Stille und Bedürfnislosigkeit meiner Umgebung taten mir gut.

Ich akzeptierte, dass der Dschinn echt war.

Ich akzeptierte, dass die Zeit nicht mehr weiterlief. Aber ich akzeptierte nicht, dass mein Wunsch verschwendet gewesen sein sollte. Ich würde das Beste daraus machen, wie lange der Spuk auch dauern mochte.

An Wein hatte ich übrigens kein einziges Mal mehr gedacht.

Zuerst brachte ich die Hecke meiner Mutter in Ordnung. Ich las mich tief in Anlagestrategien und den aktuellen Aktienmarkt ein und schichtete die Fonds in Mamas magerer Vorsorgeversicherung um. Ich stockte sie mit meinem Ersparten auf. Und, weil ich schon dabei war, optimierte ich Simones Aktienportfolio auch. Dass ich dafür Unterschriften fälschen und Passwörter knacken musste, war mir egal. Ich korrigierte Toms Text. Da er Müll war, las ich mich in diese Thematik ebenfalls ein und schrieb die Arbeit neu. Ich bereitete sieben Salate für das Teamevent zu und stellte sie in den Bürokühlschrank. Akribisch packte ich um die erstarrte Susi herum Umzugskartons und richtete ihre neue Wohnung mit Herzblut ein. (Ein Kompendium über Türschlösser und wie sie zu knacken sind, hatte ich bereits durchgeackert.)

So vergingen um die drei Jahre. Nach dem Erwachen brühte ich mir im Café einen Cappuccino auf, schlängelte mich danach um den Pullimenschen herum und wechselte stets ein paar Worte mit ihm, die natürlich unerwidert blieben. Irgendwann reichte mir der Eiertanz. Ich zerrte die Sitzbank aus der Nische, umfasste den Typen und setzte ihn auf das Polster. Er war aus der Balance geraten, deshalb stabilisierte ich ihn mit einem Tisch. Seine Handy-Hand legte ich auf die Tischplatte. Das Display leuchtete nach wie vor.

Josi: Tut mir leid, Ian. Wollen wir es nochmal versuchen?, las ich unbeabsichtigt die offene Nachricht und drehte den Kopf weg. »Sorry.«

Spontan setzte ich mich Ian gegenüber. »Ich habe mein Leben in Ordnung gebracht, nur das öde Exposé für Brickmann muss ich noch fertigstellen.«

Ians Haltung hatte sich durchs Hinsetzen so verändert, dass er mir ins Gesicht blickte. Es wirkte, als würde er mir zuhören. Ich mochte die feinen Fältchen um seine Augen. Wenn er nicht gerade erstarrt in einem Café herumsaß, lachte er bestimmt viel.

»Aber was mache ich als Nächstes? Reisen, meinst du? Würde ich gern. Mit dem Auto ist es schwierig, da überall Fahrzeuge herumstehen. Ich muss gut auf mich aufpassen, weil mich bei einer Karambolage kein Notarzt retten würde. Ich könnte fliegen lernen. Ja, stimmt, schlecht fürs Klima.« Ich geriet ins Grübeln. »Vielleicht kann ich das irgendwie ausgleichen?«

Ich lernte fliegen. Monatelang saß ich im Café und studierte die Theorie, verbrachte dann Jahre im Simulator. Ich beschäftigte mich mit Jura, verbesserte mein Englisch und übte fremde Unterschriften. Oft lieh ich mir Ians Handy für die Recherche; meines hatte ich seit dem verhängnisvollen Honig-Gin-Abend nicht mehr angerührt. Und den Honig-Gin selbst auch nicht. Wenn ich nicht weiterkam, scrollte ich zur Ablenkung durch Ians Social Media Accounts, löschte meinen Durst nach lebendiger Menschlichkeit. Was ich dabei über Ian erfuhr, mochte ich, und wenn ich mich mit ihm unterhielt, fühlte ich mich verstanden. Als ich endlich aufbrach, stimmte mich der Abschied wehmütig.

»Bis bald«, versprach ich.

Es ging glatt. Auf dem Radar sah ich die in der Luft stehenden Jets und wich ihnen aus; die Landungen blieben holprig, aber gelangen. London, Genf, Borneo – für mich sonnenlose Orte. Nachdem ich meine Aufgaben in diversen Konzernzentralen erledigt hatte, gönnte ich mir einen Ausflug zum Strand im Norden der südostasiatischen Insel. Wie erfroren lagen die Wellen vor mir, und so unendlich still. Der Sonnenaufgang nur ein Hauch von Orange am Horizont, ein vergessenes Versprechen. Ich brachte es nicht über mich, in die bleierne Düsternis einzutauchen. Einsamkeit krallte sich in mein Herz – ich sprang auf, schüttelte den Sand ab und radelte zum Flughafen.

Ian kam mir nicht mehr alt vor, denn ich hatte mich verändert. Erste Altersflecken sprenkelten meine Handrücken, und die Falten, die das Kissen im Schlaf in mein Gesicht drückte, klammerten sich hartnäckiger an meine Haut. Es war mir egal. Ich umarmte Ian, genoss die Wärme seines Körpers. Das Glück verfloss, als mein Blick auf Ians Handy fiel. Eifersucht schoss mir durch die Adern, ich presste die Lippen zusammen und dachte voll Missgunst: Ian braucht dich nicht, Josi. Impulsiv verschob ich den Chatverlauf in den Papierkorb und leerte diesen. Ich schämte mich; dennoch tat es gut, Josi eliminiert zu haben, und Ians Blick blieb wohlwollend, auch als ich meine neuen Pläne mit ihm teilte.

Ich brach in Büros und Fabriken ein, las mich durch Verträge und Gerichtsurteile, fuhr reglose Sicherheitsleute auf Bürostühlen zu Netzhaut-Scannern, hackte mich in E-Mailkonten, erweiterte parallel meine Kenntnisse zu Waffen- und Munitionstechnik. Der Rücken schmerzte, die Augen ließen nach. Ich reiste erneut, Italien, Belgien, Frankreich, Großbritannien und endlich, endlich wieder Tageslicht: Ich flog über Amerika in den Sonnenuntergang hinein. Weiter: Russland, China, Israel, Indien, Nordkorea, Pakistan.

Als ich heimkehrte, war Ian aus meiner Sicht ein junger Mann. Mein Herz raste bei seinem Anblick voll Freude – und vor Anstrengung nach dem kräftezehrenden Trip. Ich ließ mich auf den Stuhl fallen, nahm seine freie Hand.

»Ich hab’s geschafft«, flüsterte ich, die ungeübte Stimme heiser. Der Blick aus seinen mitternachtsblauen Augen fuhr mir tief in die Seele, zwang mich zu einem Geständnis. »Ich schätze, dass hier wieder alles anläuft, wenn ich abtrete. Mir bleiben nur noch ein paar Stunden, das fühle ich. Ich habe weit über 20.000 Schlafzyklen in dieser einen Nacht erlebt, mein Körper meint, das sollte reichen.« Meinem Geist reichte das noch lang nicht, aber dieses Detail verschwieg ich. »Ich werde dich vermissen. Ich wünsche dir, dass du mit Josi dein Glück findest.«

Moment mal. Wie sollte ihm das gelingen, nachdem ich Josis Versöhnungsversuch gelöscht hatte? Schlechtes Gewissen glitt mir heiß in den Nacken. Ich musste die Nachricht wiederherstellen!

In Ians Kontakten fand ich Josis Adresse nicht und mir fehlte die Zeit, die Stadt zu durchkämmen. Es blieb nur eine Möglichkeit.

Die Honig-Gin-Flasche taumelte auf dem Tisch. Funkelnder Rauch verdichtete sich zu einer wohlbekannten Gestalt.

»Herzchen!« Der Gin-Dschinn überschüttete die Luft neben meinem Kopf mit Küssen.

»Ich weiß, dass du deine Ruhe willst und ich meinen Wunsch schon verbraucht habe, aber ich brauche echt Hilfe«, stieß ich hervor.

Jim drehte sich mit wachsendem Erstaunen im Kreis und hob einen langen Zeigefinger. »Moment. Ich muss mich erst kalibrieren.« Er stockte in der Bewegung und starrte mich groß an. »Was hast du gemacht?«

»Mir keinen Scheiß gewünscht.«

»Sieht so aus.« Jim nickte langsam. »Und jetzt müssen wir zu Josi und die Nachricht neu tippen.«

In die Kabine einer honiggelben Piaggio Ape gepfercht, knatterten wir durch die Nacht. Das Wohnungsschloss zu knacken war eine Lappalie; das Smartphone fanden wir auf der Matratze neben Josi. Mit arthritischen Fingern und wehem, aber reinem Herzen tippte ich: »Tut mir leid, Ian. Wollen wir es nochmal versuchen?« Senden. Ich atmete tief durch.

Jim hatte mich zufrieden beobachtet. Wir setzten uns auf die Steinstufen des Wohnhauses, warteten auf das Ende meines Lebens, das Ende der Nacht.

Ich atmete tief durch. »Danke, dass du mir geholfen hast, obwohl ich keinen Wunsch mehr frei hatte.«

»Hm, was das angeht ...« Jim räusperte sich. »Könnte sein, dass ich ein bisschen geschwindelt habe.«

Ich wandte mich ihm so ruckartig zu, dass meine Rückenwirbel knackten. »Was?«

»Die Leute wünschen sich doch immer –«

»Scheiß, ich weiß.«

»Darauf hatte ich keinen Bock mehr. Wie du wollte ich nur meine Ruhe haben. Vorzugsweise in meiner Flasche. Deswegen habe ich ...« Die folgenden Worte verloren sich in Gemurmel, ich entschlüsselte sie dennoch.

»Du hast mir verschwiegen, dass mir doch drei Wünsche zustehen?!« Wenn mein gebrechlicher Körper es mitgemacht hätte, wäre ich entrüstet aufgesprungen. So aber entlud sich die Wut in einem heftigen Hustenanfall. Der Gin-Dschinn klopfte mir sanft auf den Rücken, bis ich wieder Luft bekam.

»Beruhige dich. Ich nehme an, du würdest die Auswirkungen deiner nächtlichen Taten gerne noch miterleben? Als junger, gesunder Mensch?«

»Nichts lieber als das«, keuchte ich.

Lächelnd zog er die Taschenuhr aus dem Dekolleté. »Punkt Mitternacht. Perfekt.« Er drückte meine Schulter. »Dein Wunsch sei mir Befehl, Herzchen.«

Ich stürzte ins Café. Ein Glück, Ian war noch da. Er saß auf seiner Bank und starrte auf den Bildschirm an der Wand.

Atemlos glitt ich auf meinen Platz gegenüber. »Hallo.«

Er sah erst kurz, dann länger zu mir. »Hallo.« Sein Tonfall klang anders als erwartet, doch seine Stimme war genauso wohltuend wie sein Lächeln. »Das ist so krass.« Kopfschüttelnd zeigte er auf den Monitor.

Kernwaffen und waffenfähiges Uran weltweit verschwunden. Wie zur Stunde bekannt wurde, haben alle Atommächte die Friedensverträge bereits unterzeichnet. Gesparter Etat wird Hilfsorganisationen zukommen.

Triumph sprudelte durch meine Adern.

Internationales Verbot von Palmöl durchgesetzt. Sämtliche indonesischen und malayischen Plantagen wurden zu Schutzreservaten erklärt.

Ich zeigte auf sein Smartphone. »Du hast eine ungelesene Nachricht.«

»Egal.« Er schob Josis Text achtlos weg. »Wieso steht die Welt schlagartig Kopf – im positivsten Sinne?« Seine mitternachtsblauen Augen musterten mich eingehend. »Und warum kommst du mir so bekannt vor?«

»Du wirst es nicht glauben, aber ich kann beide Fragen beantworten«, lachte ich. Die restliche Nacht verbrachten wir im Café und als es die morgendlichen Sonnenstrahlen in goldenes Licht tauchten, stiegen mir Tränen in die Augen.

»Das gibt’s doch nicht ... Wir wurden ausgeraubt! Alle Kaffeesäcke sind verschwunden!«, gellte plötzlich der Schrei der Barista aus dem Lager.

Ich versank in meinem Sitz und unterdrückte ein unschuldiges Pfeifen, da senkte sich eine Hand schwer auf meine Schulter. »Gut, dass ich Sie hier finde! Telefonisch sind Sie ja nicht zu erreichen. Haben Sie das Exposé fertig? Um neun findet das Meeting statt.«

Mist.

Sarah Malhus

Project Opera

Corvin sah auf die Uhr. Der Doppelpunkt zwischen den beiden Zahlen blinkte unermüdlich und zeigte so, dass die Zeit auch wirklich verging.

»Nicht mehr lang«, murmelte Corvin. Zum wiederholten Mal visierte er durch das Fernglas die rote Tür an, aus der jeden Moment seine Partnerin auf das Flachdach treten musste.

Da! Endlich kam Bewegung in die Sache. Die Tür schwenkte nach außen. Corvin griff nach seinem Gewehr und nahm den Eingang ins Visier.

Zuerst spuckte das Gebäude Ava aus. Ihr folgte ein riesiger, glatzköpfiger Mann. Dutzende Ringe, Ketten und Ohrschmuck funkelten auf seiner Haut, angestrahlt vom Neonlicht von Sanctuary City.

Corvin sah, wie der Mann die Lippen bewegte, doch er hörte kein Wort. Unwirsch klopfte er auf den In-Ear-Kopfhörer. Es rauschte, fiepte, rauschte wieder.

Wird echt Zeit für neue Ausrüstung.

»... sich der Preis erhöht«, ertönte es plötzlich in Corvins Ohr.

»Deal ist Deal, Shiny. Du kannst nicht einfach den Preis erhöhen.« Ava verschränkte die Arme vor der Brust.

»Was ein Mistkerl«, zischte Corvin und nahm Shinys Brust ins Fadenkreuz.

»Doch, kann ich. Ein anderes Angebot kam rein, das ich als guter Geschäftsmann berücksichtigen muss.«

»Viertausend waren abgemacht. Ich hab sie hier. Nimm das Geld oder die Ware wieder mit.«

Corvin grinste. Er hatte die kaltschnäuzigste Partnerin von allen.

»Ich habe ein Angebot über fünf-fünf. Geh mit oder ab nach Hause, Püppchen.«

»Oh, oh!« Corvin legte den Finger an den Abzug.

Ohne Vorwarnung trat Ava mit ihrem Plateaustiefel in Shinys Gesicht. Der kippte mit einem überraschten Laut nach hinten und prallte auf das Flachdach.

»Was zu viel ist, ist zu viel.« Ava stemmte die Hände in die Hüften.

Durch das Visier beobachtete Corvin, wie seine Partnerin Shinys Jackentaschen durchsuchte und schnell fündig wurde.

»Lass ihm das Geld da, Av«, sagte Corvin in sein Mikro.

»Aber der Kerl hat mich beleidigt!«

»Wir können froh sein, wenn er nicht wegen deiner Aktion die ganze Stadt nach uns absuchen lässt. Steck das Geld dahin, wo du den Schlüssel rausgenommen hast und dann ab ins Nest.«

»Schon gut. Pluster dich mal nicht gleich so auf, kleiner Rabe.«

»Nenn mich nicht so.«

Ava sah zu ihm herüber und streckte die Zunge raus.

»Wir treffen uns daheim«, erwiderte Corvin und verschwand in der Dunkelheit.

Wolkenverhangen lag die Stadt da, ein Mosaik aus Licht und Schatten.

Das Klacken der Einstiegsluke zum Nest verriet Corvin, dass seine Partnerin zurückkehrte. Er löste den Blick von der Skyline. »Du hast dir mächtig Zeit gelassen.« Er musterte ihr Gesicht, während sie sich die Stiefel von den Füßen zog.

»Hier«, sie legte die Schlüsselkarte auf die von Kerben überzogene Tischplatte. »Ich bin gespannt, welche Tür sie uns öffnet.«

Corvin griff nach der Karte und steckte sie in sein Netbook. Nach wenigen Sekunden spuckte es eine Adresse aus.

Ava beugte sich über Corvins Schulter und stieß einen leisen Pfiff aus. »Wow, nicht übel. Dort gibt es bestimmt eine Menge zu holen.«

»So eine exklusive Adresse haben wir noch nie erwischt«, murmelte Corvin. Er drehte sich zu Ava um. »Das könnte auch eine Falle sein. Wir sollten da nicht hingehen.«

»Wir gehen. Immerhin hat uns die Karte einiges an Zaster gekostet. Und das übrigens nur, weil du«, sie bohrte ihm einen Zeigefinger in die Brust, »mich dazu genötigt hast, den Bewusstlosen zu bezahlen.« Genervt pustete Ava sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Mit flinken Fingern öffnete Corvin ein weiteres Programmfenster und gab den Namen der Hausbesitzerin in die Suchmaschine ein. Diese zeigte sofort mehrere Zeitungsartikel und Kurznachrichten über einen Auftritt im Resilience Theatre an. Seit einer guten Stunde stand Miss Blanche auf der Bühne und sang. »Hm.«

»Was?«

»Die Opernsängerin hat heute einen Auftritt.«

»Hach, schade. Ich habe mich schon gefreut, ihr diese unverschämt teure Smaragdkette abzuluchsen, die sie so gern trägt«, seufzte Ava theatralisch. »Na gut, Madame hat sicher noch mehr Zeug, das mir hervorragend stehen würde.«

Corvin stand auf und ging hinüber zu der Glasfront, die einen so atemberaubenden wie furchteinflößenden Blick auf die Stadt freigab. Er legte die Stirn an das kühle Glas und schloss die Augen. »Ich ziehe es vor, meinem Instinkt zu vertrauen.«

»Und ich ziehe es vor, Geld zu machen«, hörte Corvin Avas honigwarme Stimme an seinem Nacken. Er drehte sich um. Seine Partnerin stand so nah, dass sich dabei ihrer beider Lippen streiften. Das Glitzern in Avas Augen weckte Corvins Hunger. Nach ihr, nach Reichtum, nach Freiheit.

»Na gut«, flüsterte er. »Wir gehen. Aber es wird eine schnelle Nummer. Rein und wieder raus. Keine Alleingänge.«

Ava kicherte. Das wohlige Geräusch umspülte Corvins Geist und hinterließ ein warmes Gefühl. »Das gilt hoffentlich nur für den Einbruch, nicht für später.«

»Hör auf, Av. Konzentrier dich.« Corvin hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. »Pack deine Sachen, wir müssen los.«

Mitternacht. Jetzt war die Nacht am schwärzesten. Um Energie zu sparen, schaltete Sanctuary City für die nächsten Stunden die Lichter ab. Nur die großen Bezirksscheinwerfer blieben in Betrieb. Corvin sah dennoch auf die Uhr. Vier Nullen strahlten ihm ätzend grün entgegen. Es wurde Zeit.

Vor ihnen lag die Villa von Yveline Blanche. Opernsängerin und Aushängeschild der Stadt. Sie bewarb so ziemlich jede Kampagne der Regierung. Ursprünglich stammte sie aus den unteren Bezirken, doch ihre Gesangskünste hatten ihr den Weg in die Oberschicht geebnet.

»Du hackst die Alarmanlage, ich checke das Gelände«, flüsterte Ava.

Corvin streifte den Rucksack ab und zog sein Netbook heraus. »So gut wie erledigt.«

Schnell fand er eine geeignete Stelle, um das System anzuzapfen. Die Häuser der Oberschicht wurden fast alle von der gleichen Sicherheitsfirma betreut und Corvin kannte sich in deren Programm aus wie in seinem eigenen Wohnzimmer. Doch mit jeder Überwindung des Sicherheitssystems lernte die Firma dazu, sodass es ohne Schlüsselkarte kaum noch eine Möglichkeit gab, das System zu hacken. Zum Glück gab es genug Angestellte, die zu einem zusätzlichen Taschengeld nicht Nein sagten und Kopien der Karten verkauften.

»Hab ich dich«, murmelte Corvin und sah mit Genugtuung, wie sich ein Schloss nach dem anderen auf dem kleinen Bildschirm öffnete. Nun stellten alle Türen mit elektronischem Schloss kein Hindernis mehr dar. Routiniert fror er auch alle Überwachungskameras und Bewegungssensoren ein. Corvin hob den Blick und ließ ihn über das Gebäude und den umgebenden Garten schweifen. Nirgends brannte ein Licht. Er trennte das Netbook vom Haussystem und sah zu seiner Partnerin auf. »Hast du Wachleute gesehen?«

»Ja, zwei streifen hier rum, aber nicht sonderlich motiviert.«

»Gut, dann lass uns reingehen.«

Ava half Corvin mittels Räuberleiter über den zwei Meter hohen Zaun, bevor sie selbst hinüberkletterte. Geduckt eilten sie im Laufschritt über den Rasen auf das Hauptgebäude zu.

Jäh schälte sich eine Silhouette aus dem Schatten des Hauses. Einer der Wachmänner näherte sich. Hastig suchten Corvin und Ava Schutz bei einem großen Busch. Das Geräusch der Schritte brach abrupt ab. Corvin hielt den Atem an. Sekunde um Sekunde dehnte sich zur Ewigkeit, bis der Wachmann endlich weiterging.

Ava fing Corvins erleichterten Blick auf. Weiter?, fragte sie mit einer Kopfbewegung. Er nickte.

Nach einigen Schritten standen sie auf der Terrasse. Mit einem leisen Klicken gab die Glastür dem Druck durch Corvins Hand nach. Sie schlüpften hindurch und schlossen sie wieder.

»Sauber«, flüsterte Ava und ging tiefer in den Raum hinein.

Sie standen in der Küche. Im diffusen Licht der digitalen Anzeigen verschiedenster Geräte erkannte Corvin viel Marmor, viel Gold. Waren die Gagen wirklich so üppig oder verdiente die Opernsängerin noch mit etwas anderem ihr Geld?

»Hoch in den ersten Stock?«, fragte Corvin.

Ava nickte und lief voran, durch eine imposante Flügeltür in das Esszimmer, hinaus in die Eingangshalle und von da die Treppen hinauf. Sie folgten einem langen Flur, bis sie vor einer weiteren Flügeltür standen.

»Hm, abgesperrt.« Ava griff an ihren Gürtel, zog einen Dietrich hervor und machte sich am Schloss zu schaffen. Kurz darauf gab es nach. »Nach dir«, hauchte Ava.

Vor ihnen breitete sich ein üppiges Zimmer aus, in dessen Zentrum ein riesiges Bett stand.

»Das Schlafzimmer. Zielsicher«, bemerkte Corvin anerkennend.

»Sie postet viel auf Social Media. Zu erahnen, wo das Schlafzimmer ist? Ein Kinderspiel.« Ava grinste.

»Hier ist bestimmt auch ein Safe«, murmelte Corvin und begann, einen Schrank nach dem anderen zu öffnen.

»Auch ohne Safe liegt hier genug herum, das sich leicht zu Geld machen lässt.«

Corvin hörte, wie ein Schmuckstück nach dem anderen klimpernd in Avas Lootbag landete.

»Für mich ist da bestimmt auch was dabei«, ergänzte Ava mit verliebter Stimme.

»Denk ans Geschäft«, rief Corvin ihr ins Gedächtnis. Er ging auf die Knie und steckte den Kopf zwischen die Röcke der zahllosen Roben, die im Schrank hingen. »Nope, kein Safe.« Er rappelte sich auf und suchte kurz unter dem Bett, bevor er die Bilder kontrollierte, die an den Wänden hingen. »Nichts.« Corvin schnaubte. »Komm schon, wo bist du?«

»Die Frau ist unglaublich«, flüsterte Ava erstaunt. »Lässt einfach so Geldbündel im Nachtschrank liegen.«

Sich um die eigene Achse drehend inspizierte Corvin den Raum. Sein Blick blieb an einem hölzernen Barschrank hängen, der so aussah, als wäre er aus der Alten Zeit. Er musste ein Vermögen wert sein. Das geschliffene Glas funkelte bei jedem Schritt, den Corvin darauf zu machte. Als er eine der Türen öffnete, schwappten die Flüssigkeiten in den Flaschen sanft hin und her. Den Jahreszahlen auf den Etiketten zufolge standen hier weitere Zehntausende.

Corvin überprüfte den restlichen Schrank. An der Tür unten links zog er vergeblich. Neugierde ergriff ihn und er zog sein Dietrichset aus der Tasche.

»Hast du was?«, hörte er Ava fragen.

»Vielleicht.«

So alt der Schrank schien, umso neuer entpuppte sich das Schloss, das Corvin nun zu knacken versuchte.

»Shit.« Ungehalten ließ er den abgebrochenen Dietrich fallen und holte den nächsten aus dem Etui. »Ich hatte es fast.«

»Ruhe«, zischte Ava plötzlich.

Alarmiert drehte Corvin den Kopf und sah durch den Türspalt einen näherkommenden Lichtkegel.

Bitte lass sie nicht die Tür kontrollieren, betete Corvin. In der unbequemen Position verkrampften seine Hände, doch er traute sich nicht, auch nur einen Finger zu krümmen.

Der Schein der Lichtquelle verharrte unmittelbar vor der Tür, das grelle Gelb der Lampe sickerte in den hellen Teppich.

»Ja, Zac? Was? Ja, ich komm gleich. Lass mich nur kurz das Obergeschoss fertig checken.«

Die Türklinke wurde nach unten gedrückt. Corvin spürte, wie seine Partnerin sich in den Schatten anspannte, bereit, im Notfall alles für ihr beider Überleben zu tun.

»Wie? Warum sagst du das nicht gleich? Ich komme in den Kontrollraum.«

Die Klinke schnappte ruckartig nach oben. Die Tür blieb verschlossen und der Lichtkegel verschwand binnen weniger Sekunden.

»Das war knapp.« Ava kam aus ihrer Deckung. »Wir sollten abhauen.«

»Gleich. In dem Schrank muss was Wertvolleres sein als nur alter Schnaps.« Corvin schloss und öffnete ein paar Mal seine Hände, bevor er sich erneut an der Schranktür zu schaffen machte. Mit einem befriedigenden Knacken gab das Schloss nach. Die Tür schwenkte auf und zum Vorschein kam mattschwarz gebürstetes Metall, in dessen Mitte ein Tastenfeld saß.

»Ah, ein Standardmodell.«

Corvin griff in seinen Rucksack und zog die Taschenlampe hervor. Er drehte sie an und hielt sie auf das Eingabemodul. War der Safe an das Sicherheitssystem angeschlossen und würde Wachleute alarmieren, wenn er den falschen Code eingab?

»Av, siehst du irgendwas, was nach einem Hinweis für den Safe aussieht?«

Er hörte, wie es hinter ihm raschelte.

»Probier mal 231281.«

»Wie kommst du darauf?«

»Hier liegt ein Foto von ihr, als sie jünger war. Auf der Rückseite steht Mein erster Auftritt! mit Datum, einkringelt.«

Corvin atmete tief durch, dann drückte er nacheinander die Tasten. Ein Surren ertönte, dann sprang die Safe-Tür ein Stückchen auf. Corvin öffnete ihn zur Gänze. In dem kleinen Innenraum des Safes befand sich etwas, das wie ein schmuckbesetztes Ei aussah, und eine schmale Mappe. »Moment, das sieht doch nach ...« Corvin zog die Mappe hervor. Über deren Deckel stand quer CONFIDENTIAL, Stempel diverser Sicherheitsstufen waren aufgebracht und wieder durchgestrichen worden. Corvin löste das Verschlussband und zog die Blätter heraus. »Project Opera«, murmelte er und überflog die Blätter eines nach dem anderen. »Av?«

»Ja?«

»Wir müssen das an die Öffentlichkeit bringen.« Er hielt ihr die Mappe hin.

»Was ist das?« Sie durchblätterte die ersten Seiten.

»Die Regierung will die unteren Bezirke von der Energieversorgung trennen, um den hohen Bedarf der Oberschicht zu decken«, fasste Corvin den Inhalt knapp zusammen.

Ava griff nach seinem Rucksack und stopfte die Mappe hinein. »Wir werden dafür sorgen, dass morgen ganz Sanctuary City davon weiß«, erwiderte sie grimmig. »Und jetzt nichts wie raus hier!«

Corvin schloss den Safe, damit die Hausherrin nicht sofort bemerkte, dass dieser aufgebrochen worden war, als jäh der Alarm losschrillte. Grelles Licht erstrahlte und stach ihm in die Augen.

»Was zu Hölle?«, brüllte Ava über den Lärm hinweg.

»Der Safe hat einen umgekehrten Alarm! Fuck!« Corvin rannte zu einem der Fenster, entriegelte es und riss die Läden auf. »Los, los, los!«

Im gleichen Moment wurde die Schlafzimmertür aufgerissen. Beide Wachmänner standen im Türrahmen, ihre Waffen auf Corvin und Ava gerichtet. »Stehen bleiben! Hände hinter den Kopf! Runter auf den Boden!«

Ava wirbelte herum und sprang aus dem Fenster, Corvin hechtete hinterher. Hinter ihnen wurde das Feuer geöffnet. Den Geräuschen nach zu urteilen, waren die Wachmänner mit den neuesten Blastern ausgestattet.

Corvin landete unsanft, halb auf dem Rasen, halb in einem Busch, der über erschreckend viele Dornen verfügte. Sie blieben in seiner Haut stecken, als er sich zur Seite rollte. Dabei sah er seine Partnerin auf den Zaun zu sprinten. Corvin stemmte sich hoch, um ihr zu folgen. Ein flammender Schmerz schoss durch seinen rechten Knöchel und ließ ihn stürzen.

»Aahh, fuck!« Er biss die Zähne zusammen, zog sich mit den Armen weiter vorwärts, während die Blasterschüsse um ihn herum in die Erde einschlugen. »Komm schon, beweg deinen Arsch!«, knurrte er, kämpfte sich auf die Füße und lief auf Ava zu. An seinem linken Ohr zischte ein Schuss vorbei. Corvin spürte die Hitze, die ihm gleichzeitig einen Angstschauer über den Rücken jagte. Sein schmerzender Knöchel trieb ihm Tränen in die Augen, das Gesicht seiner Partnerin verschwamm, einzig ihr weißblondes Haar zeigte ihm den Weg. Jäh spürte er einen Stich im Rücken. Waren da etwa auch Dornen?

»Corvin!« Ava kreischte. Er lief doch so schnell er konnte.

»Corvin, nein!«

Die Welt sackte zur Seite. Aber warum? Er war fast bei seiner Ava. Gleich würden sie den Zaun überwinden und in der Dunkelheit verschwinden.

»Komm schon«, schrie Ava ihm ins Ohr, zog an ihm. Waren sie schon am Zaun? Hatten sie es geschafft?

»Bleib bei mir, Corvin! Bitte, bleib bei mir!«

Etwas Nasses traf ihn im Gesicht, jäh schmeckte er Salz auf den Lippen. Was ging hier vor sich? »Ich bleibe bei dir«, wollte er sagen, doch es kam nur Röcheln aus seinem Mund. Er musste husten. Das Salz wich dem Geschmack von Eisen.

»Ich liebe dich, kleiner Rabe«, hörte er Ava an seinem Ohr flüstern. »Ich werde dich immer lieben.«

Wieso war es plötzlich so dunkel? Verdeckten Wolken den Mond? Wo war der Zaun? Corvin streckte die Hand aus, umfing etwas Weiches, das ihm Sicherheit gab. Gleich würden er und Ava Zuhause sein.

Die Wachleute hatten aufgehört, aus dem Fenster zu feuern. Bestimmt standen sie bald hier unten im Garten und würden Ava entweder fesseln oder ihr einen Blasterstrahl durch den Kopf jagen. Sie wusste nicht, was ihr lieber war.

Ihr Blick verharrte auf dem leblosen Körper ihres Partners. Sein Rucksack schwelte aus dem Loch, das der Blaster hindurchgeschossen hatte. Erst dort hindurch, dann durch Corvin. Eine Welle unfassbarer Wut überspülte Ava, aber sie konnte nicht bleiben. Sie zerrte Corvin den Rucksack vom Rücken, drückte ihm einen Kuss auf die blutbehafteten Lippen.

Einen Herzschlag später war sie auf den Beinen und sprintete auf den Zaun zu. Wut, Hass und Trauer verliehen ihr ungeahnte Kräfte, katapultierten sie auf den Zaun. Maschendraht schnitt in ihre Finger. Sie zog sich nach oben, rollte sich darüber und ließ sich auf der anderen Seite nach unten fallen. Der Aufprall trieb ihr die Luft aus den Lungen.

»Stehenbleiben oder wir schießen!« Die Wachmänner standen vielleicht drei Meter von ihr entfernt auf der anderen Seite des Zaunes.

»Ihr schießt doch sowieso!«, brüllte Ava zurück, rollte sich weiter in die Nacht hinein, um weniger Angriffsfläche zu bieten. Ihre Muskeln schmerzten, protestierten bei jeder Bewegung.

»Der hier ist tot«, rief der andere Wachmann.

»Wo ist die andere?«

Kurz herrschte Stille. »Dort!«

Erde spritzte neben Avas Gesicht empor, als ein Blasterschuss sie knapp verfehlte. Ava sprang auf und rannte los. Wenn sie jetzt getroffen wurde, fein, aber sie musste laufen, sonst hauchte sie ihr Leben definitiv in den Hügeln von Sanctuary City aus.

Aus welcher Richtung sind wir vorhin gekommen, verdammt?

Vor ihr tauchten jäh Scheinwerfer auf. Ava sprang zur Seite und lief weiter.

»Haltet sie auf!«, brüllte einer der Wachmänner hinter ihr. Das Fahrzeug hielt, Ava hörte die Türen aufgehen, doch sie drehte sich nicht um.

»Eröffnet das Feuer!«

Ohne ein weiteres Wort erhellten die Spuren dreier Blaster die Nacht. Avas Lungen brannten, jeder Luftzug tat weh und trotzdem rannte sie weiter. Sie sah nicht zurück, lief einfach den Hügel hinab, immer weiter, bis ins Nest.

Mit angezogenen Knien saß Ava auf der Couch und starrte mit brennenden Augen auf die Mappe, die offen vor ihr auf dem Tisch lag. Wegen ihr war Corvin gestorben und nun irgendwo, wo Ava sich nicht von ihm verabschieden konnte. Tränen liefen über ihre heißen Wangen. Sie wollte ihn suchen, doch so zerschunden, wie sie war, wäre sie leichte Beute.

Nach der notdürftigen Versorgung ihrer schlimmsten Wunden hatte Ava sich die Akte vorgenommen, die detaillierte Pläne enthielt, wie die Stadt zukünftig aufgeteilt sein sollte. Ava sah Zäune, Kontrollpunkte, Wachtürme. Es war abscheulich. Doch wie passte die Opernsängerin ins Bild? Welchen Vorteil zog sie daraus, dass sie der Regierung half, diesen absurden Plan in die Tat umzusetzen? Avas Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Bloß nicht an morgen denken. Und übermorgen. Tage ohne Corvin an ihrer Seite. Monate. Jahre.

Jäh plingte ihr Communicator. Sie beugte sich vor. »Unbekannter Kontakt?« Sie griff nach dem Gerät. »Wer ist da?«

»Ihr wart in meinem Haus.«

Ava riss die Augen auf.

»Ihr habt die Mappe, richtig?«

Sie knirschte mit den Zähnen. »Ich habe die Mappe. Mein Partner liegt auf deinem Rasen, erschossen von deinen fucking Wachleuten!«

Die Stimme wurde weicher. »Das tut mir leid. Ich habe nicht zugelassen, dass sein Leichnam einfach verschwindet. Nenn mir einen Ort, wo ich ihn dir übergeben kann.«

»Das ist eine Falle.«

»Nein, das ist mein Weg aus dieser beschissenen Lage. Ich bin eine Gefangene. Denkst du, ihr habt durch Zufall die Schlüsselkarte zu meinem Haus bekommen?«

Ava schluckte trocken und schwieg.

»Verbreite den Plan, aber sag nicht, woher du ihn hast. Das wäre mein sicherer Tod.«

»Ha! Als ob ich darauf hereinfallen würde. Du hast meine Nummer herausgefunden. Was hält dich davon ab, mir nicht gleich die Obrigkeit auf den Hals zu hetzen?«

»Wie gesagt: Ich bin eine Gefangene, du bist mein Schlüssel nach draußen.«

»Ich traue dir nicht.«