Mohr und die Raben von London - Vilmos & Ilse Korn - E-Book

Mohr und die Raben von London E-Book

Vilmos & Ilse Korn

4,8

Beschreibung

London 1856: Karl Marx, von seinen Freunden "Mohr" genannt, lernt den dreizehnjährigen Joe Kling kennen, dessen Familie in erdrückender Armut lebt. Der Junge arbeitet in einer Baumwollspinnerei, zwölf Stunden täglich, auch in Nachtschichten, obwohl das Gesetz Nachtarbeit für Kinder untersagt. Für kleinste Versäumnisse gibt es auch noch Strafabzüge vom Lohn. Dabei sparen die Klingkinder jeden Penny, denn die Mutter erwartet ein Baby - und sie wollen ihr ein Bett schenken. Bruder Billy geht als Anführer der "Rabenbande" seinen eigenen Weg. Er meint auch, Joe über dessen neue Bekanntschaft aufklären zu müssen: "Ein Mann mit Silberknauf am Stock und mit Zylinderhut und allem Drum und Dran … der hat Zaster." Dass die Familie des Emigranten Karl Marx mit ihren Kindern von spärlich fließenden Honoraren für Zeitungsartikel lebt, im Pfandhaus ein und aus geht und nur dank der Hilfe von Freunden über die Runden kommt, woher soll er das wissen? Und doch, wenn auch anders, als Billy meint, hilft Marx den Klings. Eines Nachts taucht er mit einem Inspektor in der Spinnerei auf, um das Recht der Kinder durchzusetzen. Doch als kurz darauf die "Rabenbande" einen Diebstahl begeht, den die Unternehmer den Aufsässigen in die Schuhe schieben wollen, scheint alles wieder infrage zu stehen.

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Die Originalausgabe erschien im

Eulenspiegel Verlag, Berlin, 2000

eISBN 978-3-359-50036-0

© 2014 Eulenspiegel Kinderbuchverlag Berlin

Eulenspiegel · Das Neue Berlin

Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Berlin

Cover: Verlag

www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

 

 

 

Karl Marx im Exil

 

 

Sie kamen aus einer finsteren Welt.

Die Rabenhecke mit ihren vor Schmutz starrenden Gassen lag hinter ihnen, aber noch eine Stunde lang führte ihr Weg durch enge, lärmerfüllte Straßen. Erst an den kleinen Vorgärten der Häuser von Maitland Park und Haverstock Hills verlangsamten die Geschwister ihren Schritt. Staunend schaute Becky durch die Gitter der schmiedeeisernen Zäune: Zwischen Herbstastern und Goldraute blühten noch späte Rosen. Joe mahnte zur Eile.

Endlich tat sich vor ihnen die Heide auf. Joe dehnte die Brust; er spürte warme Erde und Gras unter den nackten Füßen. Von Zeit zu Zeit warf Becky einen verwunderten Blick auf den Bruder. Sein bleiches Gesicht hatte Farbe bekommen, seine Augen waren weit geöffnet. Oft blieb er stehen. Alles war neu für ihn: Käfer mit schillernden Flügeln, summende Bienen, buntgefiederte Vögel. Auf grauem Stein lag, hingegeben an die Sonnenwärme, ein grünes Schuppentier, reglos. Nur seine schwarzen Perlaugen verrieten Leben. Lange stand Joe versunken.

»Sieh dort!« Er zeigte auf eine Reihe langhalsiger Vögel, die über ihnen in eiligem Flug der Ferne zustrebten.

»Wildgänse!« Becky sagte es leise, als könne ein lautes Wort die fliegende Himmelskette zerbrechen.

Die Heide von Hampstead mit ihren sanften Hügeln und Tälern lag am Rande der großen Stadt London. Bäume mit buntem Herbstlaub gab es dort, Sträucher, Ginsterhügel und Brombeerhecken, langgedehnte Wiesentäler und Hänge, dazu eine Luft, die das Atmen leicht machte. Doch man hatte Becky und Joe nicht hierhergeschickt, damit sie leichter atmen konnten. Ihr Aufenthalt diente nützlicheren Zwecken. Die elfjährige Becky musste mehrmals im Jahr für die Händlerin Quaddle, bei der sie im Dienst stand, Brombeerblätter sammeln. Da ihr Bruder heute Nachtschicht hatte, konnte er endlich einmal mitkommen und ihr helfen, Pilze zu suchen, die noch an einigen verborgenen Stellen zu finden waren. Champignons brachten der Händlerin in dieser späten Jahreszeit viel Geld ein.

Scheinbar großmütig, hatte sie deshalb den Kindern das Fahrgeld für den Pferdeomnibus bezahlt. Doch Becky und Joe, die seit Monaten auch die kleinste Münze sparten, waren den weiten Weg zu Fuß gegangen. Morgen wollten sie das Bett für die Mutter kaufen, für das sie die mühselig zusammengebrachte Riesensumme von fünfzehn Schilling angezahlt hatten.

Die Sonne stand schon hoch. Joe hatte bald das Pilzesuchen allein übernommen und sammelte auch Reisig, um der Mama etwas Holz mitzubringen. Endlich war der Pilzkorb gefüllt – drei Bündel Reisig verschnürt. Becky stand noch im Busch und stopfte unermüdlich die rauen Brombeerblätter in den großen Sack. Dornenranken machten ihr schwer zu schaffen. Joe suchte nach einem Rastplatz.

Auf einem Hügel standen Birken mit herbstgoldenem Laub. Solche Bäume hatte er noch nie gesehen. Staunend befühlte er ihre Rinde. Sie fühlte sich glatt wie Seide an und war weiß – silberweiß!

Am Fuße der Birke streckte er sich ins Heidekraut. Es duftete immer noch süß. Aufatmend verschränkte er die Arme unter dem Kopf und sah durch das flimmernde Blätterdach in das Blau des Himmels.

»Becky, komm! Hier oben liegt es sich weich wie in einem Bett!«

»Gleich! Muss nur noch den Sack zubinden!«

Noch einmal befühlte Joe die Birkenrinde und lachte. Weiß! So weiß wie die Möwen! Sein Gesicht entspannte sich. Als Becky sich über ihn beugte, war er schon eingeschlafen.

Der dreizehnjährige Joe Kling arbeitete seit Jahren in einer Baumwollspinnerei. Die harten zwölfstündigen Tag- und Nachtschichten unter der Peitsche der Aufseher hatten ihm früh alle Träume verscheucht und seinem Gesicht einen strengen, fast finsteren Ausdruck gegeben.

Der buntbewegten Welt war Joe bisher nur an den Themsebrücken und in den Docks begegnet, dort, wo die Möwen segelten und sich die großen Schiffe für ihre Meerfahrt rüsteten.

Von dem hochgelegenen Platz konnte man die Riesenstadt mit ihren vielen Türmen gut überblicken. Von links schob sich ein Dunstschleier über das Häusermeer. Dort lag der Hafen, ragten die meisten Fabrikschlote. An manchen Stellen blitzte silbern die Themse, die ihre großen Schleifen durch die Stadt zog. Schön war es hier oben. Becky lehnte ihren Kopf an die Birke.

Wie spät mochte es sein? Die Sonne wärmte noch, Joe schlief fest. Mochte er … hatte ja die lange Nacht vor sich. Behutsam schnippte sie ihm eine Ameise vom Arm, dann breitete sie die bunte Flickenjacke über ihn, die von der Mama manchmal lächelnd »Räuberfrack« genannt wurde. Joe hatte darauf bestanden, dass man zum Ausbessern bunte Flicken verwendete und auch noch dort welche aufsetzte, wo keine hingehörten. Becky verstand ihn gut: Wenn man täglich fadenscheinige, schwarze Röhrenhosen tragen muss, dazu ein graues Jackett und ein längst farblos gewordenes Hemd, dann sehnt man sich nach etwas Buntem.

Auch Beckys Kleid war grau. Vielleicht war der Stoff einmal blau gewesen oder grün. Noch nie hatte sie ein Kleid aus neuem Stoff besessen.

Ein gelbes Blatt schaukelte langsam herab. Ein später Schmetterling breitete seine Flügel aus und enthüllte seine samtene Pracht. Becky saß reglos. Über das Gras huschten Sonnenlichter. Die Augenlider wurden ihr schwer. Der Wind wehte kühler. Sie merkte es nicht.

Wie viel Zeit war vergangen?

Joe blinzelte, machte aber schnell wieder die Augen zu. Er wollte die Schlafwärme auskosten. Wie weich es sich auf Moos und Heidekraut lag. So – in der Schwebe zwischen Schlaf und Erwachen – hob sich das oft vorausgeträumte Bild immer stärker in sein Bewusstsein: Der Weg zu Patt! Keinem anderen Weg vergleichbar.

Er, Becky und Polly – alle drei neben Robin. Ja, Robin im aufgebügelten Anzug, der Händler wird sagen: So einen schmucken Bruder habt ihr? Sieht gut aus. Und klug. Scheint tüchtig zu sein. Dem trau ich. So ein Gesicht lügt nicht. Der zahlt mir den Rest. Lässt mich nicht sitzen.

Robin wird das Bett auf seine starken Schultern nehmen und es auf Beckys Wagen laden. Denn Becky ist mit dem Quaddle-Wagen gekommen und mit dem Hund Caro. Zwischendurch darf sich Caro ausruhen und ein Stück Brot schnappen, dazu einen Fleischbrocken. Fleischbrocken? Woher denn? Aber Becky hat es sich vorgenommen, so wird sie auch wissen, wie sie sich welche verschafft. Caro wird wedeln: Das ist ein Sonntag! Und die Leute werden Augen machen: Die Kling-Kinder haben ein Bett gekauft! Seht einmal! Für die Mary, die Spitzenklöpplerin.

Eine ferne Kirchenglocke zeigte die fünfte Stunde an. Becky riss erschrocken die Augen auf und zählte laut mit.

»Zwei … drei … vier … fünf!«

»Fünf?« Joe fuhr auf und war hellwach. »Nein – noch nicht fünf! Um sechs fängt die Nachtschicht an …« Ohne ein Wort zu verlieren, sprang Becky zum Brombeerbusch, holte den Sack und legte ihn neben die Reisigbündel.

Joe wehrte ab: »Die lassen wir hier. Wir müssen schnell laufen!« Er klopfte sich die trockenen Heideblüten ab.

»Hierlassen? Das gute Holz? Ja aber …« Becky verstummte. Hatte er denn vergessen, wie nötig die Mama das dürre Holz beim Teeaufbrühen gebrauchen konnte? Becky wusste recht gut, wie einem zumute ist, wenn der Schlaf morgens noch in den Gliedern liegt und man das Feuer mühsam anfachen muss. Oft genug musste sie kurz nach vier Uhr den beiden Quaddles das Frühstück richten. Nein, das Holz konnten sie nicht im Stich lassen. Sie fand einen Ausweg: »Wir verstecken zwei Bündel im Busch, da sucht sie niemand. Und nächste Woche hole ich sie. Hier – das kleinste nehmen wir mit.«

Sie reichte es dem Bruder und warf sich den Sack über die Schulter. Joe hatte gar nicht zugehört, seine Lippen zitterten.

»Ich darf nicht zu spät kommen!«, stieß er hervor. »Heute ist Lohntag. Wir brauchen morgen jeden Schilling. Wenn sie mir nun Strafgeld abziehen? Los, wir müssen es schaffen!«

Auf schmalen Tretpfaden rannten sie bergab. Joe keuchte. Der Pilzkorb wurde immer schwerer. Kalter Schweiß rann ihm in den Halsausschnitt. Das hastige Laufen, dazu die Angst, zu spät zu kommen, pressten ihm die Brust zusammen. Er erstickte fast. Endlich waren die Häuser zu erkennen.

»Lass uns ein wenig verschnaufen!«, bat Becky. Sie sah, dass der Bruder einen Asthmaanfall hatte. »Mit dem Pferdeomnibus geht’s schnell. Du kommst zurecht! Gib mir den Korb und nimm den Sack, der ist leichter!« Doch das ließ Joes Stolz nicht zu. Sie verhielten ein paar Augenblicke, dann hasteten sie weiter.

Am Rande von Haverstock Hill befand sich die Haltestelle für die Pferdeomnibusse. Gerade als die beiden aus der Heide herausbogen, kam einer herangerollt. Joe rannte das letzte kurze Stück unter Aufbietung aller Kräfte. Keuchend umklammerte er die Stange mit dem Stationszeichen. Sein Atem rasselte. Die Pferde waren heran. Zwei Frauen stiegen aus. Der Mann in Uniform auf der Plattform sah über die Kinder hinweg, als wären sie Luft.

»Weiter!«, schnarrte er und gab das Abfahrtszeichen.

»Halt! Halt!«, schrie Becky entsetzt, »wir wollen doch noch mit. Zur Oxford Street. Mein Bruder muss …«

Die Angst lähmte ihre Zunge, sie sah, wie der Schaffner ihr den Rücken zudrehte. Joes Atemnot war immer noch so schlimm, dass er kein Wort hervorbringen konnte. Mit angstverzerrtem Mund blickte er auf den Uniformierten. Nicht einmal den Arm konnte er heben, ihm war, als müsse er auf der Stelle ersticken.

Die Pferde zogen an. Der Wagen rollte. Becky wollte nicht aufgeben. Sie lief neben den Pferden her und rief bittend: »Ach, nehmen Sie ihn doch mit. Er muss zur Nachtschicht …« Tränen rollten über ihre Backen, die Stimme versagte. Einige der Fahrgäste redeten auf den Schaffner ein, so schien es ihr. Der Kutscher auf dem Bock knallte mit der Peitsche. Da rollte der Wagen schneller. Noch immer hielt Becky sich neben ihm.

Jetzt beugte sich der Schaffner heraus: »Für Lumpenpack mit Körben und Säcken fahren wir nicht!«

Aus war es! Müde kam Becky zurück, wischte sich mit dem Handrücken über die nassen Backen. Als sie den erschöpften und völlig verzweifelten Bruder sah, zwang sie sich zu einem zuversichtlichen Wort: »Auch mit dem nächsten schaffst du es noch!« Doch Joe starrte fassungslos dem davonfahrenden Wagen nach. »Ich komme zu spät! Am Lohntag sind sie doppelt gemein, da sperren sie schon das Tor vor der Zeit zu.«

Becky wusste es, doch sie tröstete: »Versuch es am anderen Eingang – bei den Spitzenfrauen. Dort haben sie einen freundlicheren Wächter.« Sie zupfte Joe ein paar Grashalme von der Jacke. »So – jetzt siehst du wieder ordentlich aus!« Mütterlich strich sie ihm das zerzauste Haar aus der Stirn. »Dich nehmen sie schon mit. Ich stelle mich mit dem Gepäck auf die andere Seite und fahre später.«

»Allein mit dem Kram? Nein, das geht nicht!« Über Joes Nasenwurzel bildete sich eine tiefe Falte. »Sie müssen uns mitnehmen! Jetzt kann ich wieder sprechen. Wir bezahlen wie andere Leute!« Er ballte die Faust. »Ich springe einfach auf, noch ehe er hält, und lasse mich nicht runterstoßen.«

Becky versuchte keinen Widerspruch. Sie wusste, wenn Joe so aussah, gab er nicht nach.

Das Gepäck hatte dem Schaffner missfallen, deshalb mühten sie sich, es günstiger zu stellen, damit es zwar griffbereit, aber nicht gleich zu sehen war. Dann blickten sie ungeduldig und voller Angst in die Richtung, aus der das Gefährt kommen musste. Joe hatte nur einen Gedanken: Wird das Tor schon verschlossen sein? Komme ich ohne Strafabzug hinein?

Wieder hörten sie Glockenschläge: halb sechs Uhr!

Wenn der nächste Omnibus ausfiel? Joes Hand umkrampfte die Stange. In diesem Augenblick wurden an einer Wegbiegung der etwas ansteigenden Straße die langsam trabenden Pferde sichtbar – noch fern und klein, doch das Peitschenknallen wurde vom Wind herauf getragen. Zugleich kam von der Heide her ein heller Amselruf.

Becky atmete auf und nickte erleichtert dem Bruder zu.

Da sah sie zwei Spaziergänger mit eiligen Schritten der Haltestelle zustreben. Sie trugen hohe modische Hüte und hielten Spazierstöcke in den Händen. Einer der beiden Männer hatte den Stock spielerisch in der Mitte gefasst. Ein silberner Knauf war zu sehen. Becky stieß Joe an, zerrte rasch den Sack zur Seite und stellte sich davor. Joe begriff noch nicht. Da packte sie auch das Reisigbündel und verbarg es hinter ihrem Rücken.

Jetzt übersah auch Joe ihre Lage. Stirnrunzelnd starrte er auf die Näherkommenden. Für Joe waren alle gut gekleideten Herren Feinde. Darum trat er, finster blickend, einen Schritt vor. Er war fest entschlossen, sich von »denen« den Platz auf dem Pferdebus nicht streitig machen zu lassen.

Der etwas größere, schlanke, in einen eleganten hellgrauen Frack Gekleidete trug einen dunkelblonden kurzgehaltenen Bart. Seine blauen Augen blickten lustig. Er redete lebhaft und laut.

An dem anderen fiel zuerst das bräunliche, vom mächtigen Haupt- und Barthaar umrahmte Gesicht auf. Seine Hand hielt eine fast zu Ende gerauchte Zigarre. Auch er trug die Kleidung der Bürger jener Zeit, einen dunklen Gehrock, der ihm für seine dreiunddreißig Jahre ein recht würdiges Aussehen gab.

Obwohl die beiden in Eile waren, brachen sie ihre lebhaft geführte Unterhaltung nicht ab, lachten laut und jungenhaft, durchaus nicht wie würdevolle Bürger.

Plötzlich zuckte Joe zusammen. Ein Wort war gefallen, dessen verächtliche Bedeutung er genau kannte.

Der Blonde hatte es so laut und spöttisch gesagt, dass man es nicht überhören konnte: »Diesem sauberen Cottonlord werden wir schon die Krallen beschneiden.« Er lachte. Das Lachen klang übermütig, aber auch grimmig. »Schade, Mohr, dass du nicht mitkommst!«

Cottonlord? Seltsam! Auch ihren Alten, den Fabrikherrn von Cross und Fox, nannte der Vater so. »Haben schon als Handwerksmeister ihre Leute geschunden«, hatte er gesagt und hasserfüllt hinzugefügt: »Dann haben sie sich die vielen Maschinen gekauft und sind Cottonlords. Für die sind wir Arbeiter nur ein Dreck.«

»Ich muss mit dem Bus zurück, General!«, sagte jetzt der mit dem schwarzen Bart. »Allerhand Quark liegt auf meinem Schreibtisch. Der Artikel für Amerika ist auch noch nicht ganz durchgesehen. Wirklich, Jammer und Schade, wäre gern dabei, wenn der Puter rot anläuft und überschnappt. Aber es geht nicht, nein!«

»Also dann bis morgen, Mohr! Bei dir in der Dean Street. Ich komme nach dem Aufstehen.« Er lachte. »Genau gesprochen: nicht vor elf und nicht nach zwölf. Vergiss nicht, dass morgen Sonntag ist. Und bestelle der ›Heiligen Familie‹ meine ergebensten Grüße. Besonders meinem Freunde Edgar, dem großen Feldherrn Musch. Ich bringe ihm drei Knöpfe mit. Rote, versteht sich. Aber das Lied vom ›Knotenstock und flotten Besen‹ muss morgen klappen!«

Während Joe den vermeintlichen General in Zylinder und karierten Frackhosen misstrauisch musterte, dabei immer noch über den Cottonlord grübelte, dem die Krallen gestutzt werden sollten, streifte Beckys Blick scheu den etwas kleineren, breitschultrigen Herrn. Der hatte aber einen Bart! So einen schönen, runden, seidigen! Noch nie hatte Becky bei irgendeinem Menschen so einen Bart gesehen. Alle Bärte, die sie kannte, waren dünn, strähnig, oft mit Speiseresten verklebt, meist blond oder grau. Dieser Bart war tiefschwarz, und ebenso rabenschwarzes Haar fiel dem Herrn unter dem Hut beinahe bis auf die Schultern. Bewundernd blickte sie ihn an, senkte dann rasch den Blick, denn dieser Herr – »Mohr« hatte der andere zu ihm gesagt – sah sie mit seinen großen dunklen Augen forschend an.

Ein einziger Blick auf die Kinder, die ihr armseliges Gepäck vor ihnen zu verbergen trachteten, hatte dem Mohr genügt, das Misstrauen, mit dem sie ihnen entgegenblickten, richtig zu deuten. Er nickte dem barfüßigen Mädchen freundlich zu und sagte, als kenne er es schon lange: »Ihr seid aber fleißig gewesen! Champignons … mhm!« Bewundernd sah er auf die Pilze. »Und jetzt geht’s heim?«

Becky überwand ihre Schüchternheit. Einer, der so eine gute Stimme hatte, konnte es nicht böse meinen. Sie trat einen Schritt auf ihn zu und sagte leise, doch bestimmt: »Mein Bruder Joe muss zur Nachtschicht, Sir. Der Pferdebusschaffner hat uns nicht mitgenommen, weil …« Sie seufzte, zeigte stumm auf Korb, Sack und Bündel.

Der mit dem schwarzen Bart wandte sich fragend an Joe: »Du musst zur Nachtarbeit? Heute? Am Samstagabend? Bei wem?«

Rasch aufeinander folgten die Fragen, ließen Joe keine Zeit zur Überlegung. »Bei Cross und Fox, Sir!«, antwortete er.

Der Mohr zog die Augenbrauen hoch: »Sieh an, das solltest du dir merken, Frederic. Cross und Fox, die Baumwollspinnerei! Der Alte ist meines Wissens Parlamentsmitglied und Kirchenvorstand obendrein. Aber Nachtschicht zum ›heiligen‹ Sonntag macht dem Kerl nichts aus. Und die Fabrikgesetze gelten wieder mal nur für die anderen.« Er hieb den Stummel seiner Zigarre mit einem gutgezielten Stockhieb auf die Straßenmitte.

»Der fromme Cross? Ausgezeichnet! Das passt mir gut in meinen Kram!« Der General lachte vergnügt. »Den könnten wir auch einmal aufspießen!«

Da waren die Pferde auf wenige Meter heran. Die Kinder standen eng aneinander gepresst und starrten dem Gefährt entgegen. Aufmunternd sagte der Blonde, und in seinen blauen Augen blitzte es: »Der Schaffner hat euch zurückgewiesen? Hattet ihr denn kein …?« Seine Hand fasste in die Tasche.

Doch Joe sagte beinah schroff: »Fahrgeld haben wir.« Verbittert fügte er hinzu: »Der Pferdebus fährt nicht für Lumpenpack, hat der Schaffner vorhin gesagt. Diesmal aber …« Er holte tief Luft, um sich stark zu machen.

Schon zurrte der Kutscher die Pferde zurück und dienstfertig sprang der Schaffner von der Plattform herab. Seine gelben Knöpfe blinkten. Auf der Brust schaukelte an geflochtener Schnur die Signalpfeife. Der Kutscher wies grinsend mit dem Peitschenstiel auf das Gepäck der Kinder. Sofort schob der Schaffner den schmalen, barfüßigen Jungen, der schon die Hand am Griff hatte, grob zur Seite und salutierte: »Bitte einzusteigen, die Herren!«

Joe hatte den hämischen Blick des Kutschers sehr genau eingefangen. Als er sich vom Schaffner wiederum zurückgedrängt sah, verlor er plötzlich allen Mut. Sein eben noch gestraffter Körper wurde schlaff, das Blut wich aus seinem Gesicht. Da hörte er, wie der Mohr mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, sagte: »Zuerst die Kinder!«

Joes Verkrampfung löste sich. Wie denn? Die Herren wollten …

Der Uniformierte stammelte: »Diese da?«

»Die Kinder gehören zu mir!«, kam es unbeirrbar aus dem Munde des Mohr. »Steig ein, Mary! Hier, zuerst den Korb. Na los, Joe!« Er gab ihm einen freundschaftlichen Schubs. Joe stolperte nach vorn.

»Ach so …?« Verwirrt trat der Schaffner zurück. Er war so fassungslos, dass er nicht einmal zugriff, als die beiden vornehmen Bürger den Kindern halfen, Sack, Reisig und Korb hochzuheben, und fasste sich erst, als der mit der schwarzen Löwenmähne schon neben den Kindern stand, dem Zurückbleibenden zuwinkte und lachend rief: »Auf Wiedersehen, General, und beste Grüße an den Cottonlord!«

Ein General? Sieh an! Der verblüffte Schaffner, der gar nicht merkte, dass es einen so jungen General schwerlich geben konnte, grüßte den Blondbärtigen mit ausgesuchter Höflichkeit. Dann gab er das Abfahrtssignal und sprang auf. Die beiden Freunde lachten sich zum Abschied spitzbübisch zu.

Jetzt zeigte der Schaffner auf das Gepäck. »Wenn ich gewusst hätte, mein Herr, dass das Ihre Kinder … hm, ich meine, dass dies Ihr Gepäck ist und die Kinder es für Sie tragen …?« Er starrte auf den Korb mit den prächtigen Pilzen.

Der Mohr überhörte die herausgestotterten Worte und wandte sich an die Kinder. »Nun, Joe, wie weit fahren wir heute?«

Der fuhr bei der Nennung seines Namens zusammen, verstand aber sofort. »Oxford Ecke Holboarn Road«, flüsterte er. Seine Hand suchte das Fahrgeld. Der Mohr winkte mit den Augen ab und reichte dem Schaffner ein Geldstück. »Also dreimal bis Oxford Street!«

Becky blinzelte dem Bruder zu, um dessen Lippen es triumphierend zuckte. Woher kannte der Fremde seinen Namen? Während der Schaffner mürrisch die Billette lochte, rückten zwei Arbeiter, die den Vorgang bemerkt hatten, zusammen, um den Kindern Platz zu machen. Ihnen gegenüber flüsterte eine federhutgeschmückte Dame missbilligend mit ihrem Mann. Der ließ seine Zeitung sinken, nahm auffällig die Brille ab und streifte mit hochmütigem Blick Mohr und die Kinder.

Der Schaffner fing diesen Blick auf. Barsch fuhr er die beiden an: »Ihr könnt stehen! Auch wenn der gnädige Herr für euch bezahlt hat, auch wenn er aus Güte gesagt hat, ihr gehörtet zu ihm. Kinder brauchen nicht zu sitzen.« Joe sprang erschrocken auf, doch der Mohr drückte ihn auf den schmalen Platz zurück: »Bleib nur! Du musst bei deiner Nachtarbeit noch lange genug stehen.« Er sah den Schaffner forschend an. »Sie haben es doch auch nicht leicht …«, er lächelte, »oder wohnen Sie vielleicht in West-End?«

»Ich? Nein! In Bethnal Green, Sir!«, stammelte der Schaffner verwirrt.

»Na also! In einem Arbeiterviertel! Man darf nie vergessen, woher man kommt, auch wenn man ein paar blanke Knöpfe am Rock trägt.«

Zwei Arbeiter, die ihnen gegenübersaßen und den Mohr interessiert beobachtet hatten, blinzelten sich zu. Sie gönnten dem Uniformierten die Zurechtweisung.

Das war für die Federhutdame zu viel. »Unerhört!«, sagte sie laut und hochmütig zu ihrem Manne. »Der Schaffner tut seine Pflicht. Solches Gesindel gehört nicht in unsere sauberen Omnibusse. Und noch dazu auf die Plätze!«

In diesem Augenblick spitzten alle Fahrgäste die Ohren und warteten auf die Antwort des Schwarzbärtigen, der das Ehepaar spöttisch musterte. Der Mohr sagte auch prompt und so betont, dass die Worte niemandem entgehen konnten: »Gesindel, verehrte Bürgerin, sind Leute, die nichts tun und nur von der Arbeit anderer leben. Diese Kinder aber, das kann jeder sehen, der nicht blind ist, arbeiten schon wie Erwachsene; obwohl Kinder eigentlich spielen sollten.«

Die Arbeiter stießen sich an. Der Bebrillte verschwand völlig hinter seiner Zeitung. Die im Federhut schnappte nach Luft, merkte aber, dass sie keine gutwilligen Zuhörer finden würde, und betrachtete mit verkniffenen Lippen die staubigen, dornzerkratzten Beine des Mädchens. Mit wachsendem Erstaunen war Joe der Auseinandersetzung gefolgt. Der schwarzbärtige Fremde hatte sich auf ihre Seite gestellt. Wer mochte er sein?

Als ihn Mohr erneut nach seiner Arbeit befragte, blieb Joe zunächst zurückhaltend.

»In einer Spinne!«, sagte er zögernd. »Ich meine – in einer Mulespinnerei, Sir.«

»In der Kreuzspinne!« Mohr schmunzelte.

Joe war fassungslos. Diesem Mister Mohr war nicht nur der Name seines Arbeitgebers bekannt, sondern auch dessen Schimpfname?

Zum ersten Mal wagte er einen offenen, anerkennenden Blick, den Mohr erwiderte. »Du arbeitest im Spinnsaal?«

Joe bejahte.

»Wie viele Kinder arbeiten dort?«

»Wie viele? Vielleicht hundert, es können auch mehr sein.«

»Und im Kardier- und Hechelraum? Hast du dort schon gearbeitet?«

»Ja«, flüsterte Joe mit wachsendem Staunen, »nur kurze Zeit. Der viele Staub … beim Wollekämmen fliegen tausend Fäserchen durch die Luft. Ich konnte es dort nicht aushalten. Auch bei den Nassspindeln nicht. Dort ist es am schlimmsten. Meine Schwester Dorothy ist schwer krank geworden. Unser Robin hat sie rausgeholt. Auch mich. Die Luft, wissen Sie … da kommen heiße Dämpfe. Man ist nass bis auf die Haut, und wenn sie dann die Fenster aufreißen …«

»Ich weiß!« Mohr nickte. »Arbeiten jetzt bei der Kreuzspinne immer noch Kinder im Kardierraum?« Als Joe nickte, wollte er noch wissen: »In welchem der beiden Fabrikhäuser arbeitest du? Whitechapel Road oder Parker Street?«

»Parker Street …« Dieser Mister Mohr wusste anscheinend in allem Bescheid. War er vielleicht doch ein Fabrikant oder ein Verwandter der Cross? Und wollte ihn am Ende aushorchen? Aber nein! Fabrikherren waren ganz anders. Die hatten harte, hochmütige Stimmen.

»Habt ihr oft Nachtschicht? Oder nur mal ausnahmsweise?«

»Regelmäßig!«, antwortete Joe sofort. »Wir wechseln jede Woche. Mal Nachtschicht, mal Tagschicht. Immer von sechs bis sechs. Und weil jetzt Konjunktur ist, wie sie sagen, müssen wir auch vom Samstag zum Sonntag dableiben. Sonst ist am Samstagmittag Schluss.«

Joe wunderte sich, dass der Schwarzbärtige kurz und scharf durch die Zähne pfiff, wie man es tut, wenn man einen Gauner ertappt hat. Vorsichtshalber ergänzte er: »Es ist nur wegen der Maschinen, sagt unser Aufseher. Die erlauben es nicht anders. Können nicht so lange stillstehen.«

»Die Maschinen? Haha! Die erlauben es schon! Nur der Profit nicht.«

Mohr blieb eine Weile stumm. Sollte man diesen scheinheiligen Kerlen William und Samuel Cross nicht die Sache etwas versalzen? Aber wie? Wenn ich ihnen den Ender auf den Hals hetzte? So eine Fabrikkommission, mitten in der Nacht? Eine hübsche Überraschung für den Herrn Parlamentarier. Die Sonntagszigarre wird ihm etwas bitter schmecken.

Joe sorgte sich plötzlich. Er hätte schweigen sollen. Es war den arbeitenden Kindern streng untersagt, über die Arbeitszeit und andere Regeln in der Fabrik genaue Auskunft zu geben.

Die Pferde trappelten über das holprige Pflaster. Der Mohr sah, dass dem Jungen die Augen zufielen, er sie aber immer wieder aufriss, um nach draußen zu sehen.

»Schlafe nur, wir passen auf«, sagte er zart. Joe seufzte befreit, lächelte und war schon eingeschlafen.

Lange betrachtete Mohr Joes entspanntes Gesicht. Er hatte schön geformte, weiche Lippen, doch ohne Farbe. Dichtes kastanienbraunes Haar. Eine Locke fiel ihm ins Gesicht. Wie bei meinem Lörchen, kam es dem Mohr in den Sinn. Der kupferne Glanz, die schöne klare Stirn … Wie alt mochte der Junge in der merkwürdigen Flickenjacke sein? Er schätzte ihn auf zwölf oder dreizehn. Tagsüber auf den Beinen, um für den Haushalt mitzusorgen, nachts wiederum stehend, vor den Spinnmaschinen. Und die Kleine im fadenscheinigen Kattunkleid? Mit der leicht verkrüppelten Schulter? Ein paar Jahre jünger? Wie mütterlich sie sich um den Bruder gesorgt hatte. Was für ein liebes, kluges Gesicht trotz des herben, versorgten Mundes.

Joes Atem rasselte. Becky flüsterte: »Er hat Asthma und dürfte gar nicht in der Mule arbeiten. Wenn ich doch für ihn gehen könnte. Aber mich nehmen sie nicht. Dabei bin ich schon elf, von neun Jahren an dürfen wir … Ich würde so gern Geld verdienen!« Dass man sie wegen ihrer verkrüppelten Schulter abgewiesen hatte, verschwieg sie.

Endlich rief der Schaffner ihre Station aus. Der Omnibus leerte sich. Sie befanden sich in der City, der Stadtmitte Londons. Mohr stieg mit ihnen aus und Becky fragte verdutzt: »Wohnen Sie denn hier?«

Doch Mohr wandte sich an Joe, dessen Erregung und Ratlosigkeit ihm nicht entgangen war. »Sorge dich nicht um deine Schwester und das Gepäck. Lauf los. Wenn du Glück hast, ist das Tor noch nicht zugesperrt. Es ist kurz nach sechs Uhr!«

Er schob den Jungen, dem der Dank in der Kehle steckenblieb, mit leichtem Druck vorwärts. Da sauste Joe los, ohne sich nach Becky und den Gepäckstücken umzusehen.

Der Pferdeomnibus rappelte weiter. Menschen eilten an Becky vorbei, stießen ärgerlich das sperrige Reisigbündel zur Seite. Um diese Zeit herrschte auf den Straßen, ob sie nun breit oder eng waren, ein wildes, lärmendes Gedränge. Besonders in der Oxford Street, einer der Hauptverkehrsadern der Riesenstadt. Menschen aller Schichten waren dort anzutreffen. Junge Leute, deren Arbeitszeit in den Büros der Bank- und Handelshäuser schon am Nachmittag beendet war, begannen ihren Samstagabendbummel. Herren in groß- und kleinkarierten Frackhosen aus feinstem Wolltuch, Männer in Barchentröcken über manchesternen Kniehosen schlenderten an den Auslagen vorbei, die London, die größte und reichste Stadt der alten Welt, ihren besitzstolzen Bürgern in Magazinen und Schaufenstern ausbreitete. Ehrbare Kleinbürgerfrauen in dunklen Kapotthüten mit breiten Seidenschleifen schleppten schwer an ihren sonntäglich gefüllten Körben und Einkaufstaschen. Sie hatten es eilig, wie jedermann, blieben aber neidischen Blickes stehen, wenn Damen der eleganten Welt über die Bürgersteige trippelten, um in ihre Kutschen oder gemieteten Droschken zu steigen. Hinter ihnen stelzten weißbestrumpfte Lakaien mit würdevollen Mienen und fingen die Blicke ein, die ihren gefüllten Delikatesskörben und Blumenbuketten, ihren Hut- und Tortenschachteln galten.

In solchen Augenblicken staute sich der Menschenstrom wie auf eine geheime Verabredung. Modegecken reckten ihre Hälse, Frauen in Kattunröcken und Kapotthütchen rissen die Augen weit auf, um nur ja nichts zu verpassen, und überschlugen dabei aufgeregt, wie viel Meter Seidenband und Spitzenrüsche man wohl für einen solchen oder ähnlichen Umhang benötigen würde, falls man ihn selbst schneiderte.

Bei so einem ungewollten Aufenthalt konnte auch ein wohlhabender Bürger beim Anblick einer schmucken Equipage von immer wachsendem Reichtum träumen. Aber sie alle knuffte die respektlose, vorwärts schiebende Menge weiter.

Nur verhärmte Arbeiterfrauen hasteten blicklos vorwärts. Die Welt der Gutgekleideten war für sie unerreichbar wie die Sterne, auch waren die Läden der »Oxy« nicht ihre Läden. Hinter den glänzenden Geschäftsstraßen lagen viele verwahrloste Gassen und Plätze, die Viertel der Armen. Wenn man Samstag zu spät kam, gab es dort nur noch das Schlechteste vom Schlechten für den sauer erworbenen Wochenlohn.

In der dahin wogenden schau- und kauflustigen Menge trieben sich noch alle Arten von Vagabunden umher, große und kleine Gauner, alte und junge. Ausstaffiert waren sie ihren Einnahmequellen entsprechend, die einen stutzerhaft und immer bereit, die feine Welt zu imitieren, trotzig und herausfordernd die anderen und, wie es schien, sogar stolz auf ihre verwegene Lumpentracht vom Trödelmarkt. Nicht zu vergessen die vielen barfüßigen Gassenjungen in ihren geflickten Röhrenhosen. An Häuserwänden oder vor den Auslagen lungerten sie herum, boten bisweilen auch Zeitungen an, immer aber mit dem ihrem Alter so eigenen geschärften Blick einen kleinen Verdienst erspähend oder einem Abenteuer auf der Spur.

Vor Becky, die ein wenig sorgenvoll dem rasch entschwundenen Bruder nachgeblickt hatte, tauchte ein Dicker in Pumphosen auf, dem die bunten Troddeln seiner französischen Mütze ins Gesicht baumelten.

»Platz da, my darling! Versperrst mir den Weg mit deinem Dukatensack!«, rief er laut, aber gutmütig und schob mit der Sicherheit eines Jongleurs seinen wie ein Weinfass durch die Menge. Becky, die eine Sekunde zu lange in offenkundiger Bewunderung auf seine Troddelmütze gestarrt hatte, wurde von ihm – oder vielmehr von seinem Bauch – wie ein schwankes Hälmchen erfasst und weitergeschoben. Laut lachend weidete sich der Rotnäsige an der Angst des Kindes und seiner Anstrengung, gegen den Menschenstrom zu seinen Habseligkeiten zurück zu gelangen.

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