Momentum - Roger Willemsen - E-Book + Hörbuch

Momentum Hörbuch

Roger Willemsen

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Beschreibung

»Das Leben kann man nicht verlängern, aber wir können es verdichten.« Roger Willemsen »Momentum« ist nicht nur ein sehr persönliches Buch der Erinnerung, sondern zugleich eine einzigartige Anleitung, die entscheidenden Augenblicke unseres Lebens zu erkennen: Augenblicke von atmosphärischer Intensität stehen neben Entscheidungssituationen, Dialoge von großer Komik neben stillen Natur- und Kunstbetrachtungen, Kindheitsmomente neben Augenblicken der Liebe. Sind sie die Trittsteine im Lebenslauf? Sind sie das Glück?

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Zeit:8 Std. 13 min

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Roger Willemsen

Momentum

FISCHER E-Books

Und die goldene Wolke blieb über Nacht.

Michail Lermontow

Erwachen im Werden. Während die Wimpern den ersten Lidschlag tun, die Trägheit des Auges kein Bild, ein Muster bloß produziert, während das alte »Es träumte mir« in ein »Ich träume« und das »Es denkt mich« in ein »Ich denke« übergeht, entsteht mit dem beginnenden Tag die erste Frage: Wo stieß mir dies Ich zu, das gerade denkt, als habe es nie gedacht? Was wollte das Bewusstsein, als es wurde?

 

Die junge Mutter schreit unter Presswehen. Die Amme schlägt über dem Schoß die Hände zusammen und frohlockt:

»Es ist ein Kind! Ein Kind!«

Nicht lang, und dieses Kind steht nachts im Schlafzimmer der Mutter und weint:

»Mein Gehirn hört nicht auf!«

 

Die Bewegungsform des Kindes, das war das Laufen mit herabgelassener Hose in so kurzen Schritten, wie es die Klammer des Hosenbundes eben zuließ. Ich muss mich wohl in dieser Aufmachung ständig von einem Fleck zum anderen bewegt haben. Deshalb ist die früheste und präziseste Vorstellung vom Laufen mit der Einschränkung des Laufens verbunden.

 

Ein winziger Hund mit den traurigen grauen Augen eines Trinkers, der immer hart am Rande der Tränen gebaut hat. Er besitzt das Profil einer Göre von Toulouse-Lautrec, stupsnasig und mit einer Strähne über der Stirn. Vor dem Haus werden Laub und Zweige verbrannt, der Geruch der Rauchwolke kommt süß und holzig herüber und mischt sich mit dem Geruch der frischgemahlenen Kaffeebohnen, die gerade noch in der Mühle knirschten. Der Hund dreht sich im Rauch wie zum Tanz.

 

Die junge italienische Mutter, die zweimal kurz hintereinander ihre rechte Brust herausholt und dem Kleinkind gegen das Gesicht schwappen lässt, als wolle sie es ersticken. Das Kind blökt. Die Mutter zieht eine Grimasse, als habe ihr Liebhaber, dieser nachgemachte Affe, sie zurückgewiesen.

 

Ein Erwachen: Ich komme in den Briefen meiner Mutter vor. Sie schreibt an meinen Onkel: Er ist in der Schule als Spanierin aufgetreten, er hilft im Garten, sein Lieblingsbuch heißt »Robert, der Schiffsjunge«. Meine Mutter liest mir einen Brief dieser Art wie zur Belohnung vor. Ich bin in diesen Zeilen der »gute Junge«, der ich für mich selbst nicht bin. Aber er interessiert mich. Gerne würde ich mehr von ihm erfahren. Hervorgebracht, wie ich nun bin, werde ich zur Figur in einer Familie von Figuren, ausgestattet mit einer Wirklichkeit, wie diese sie besitzen, wie »Robert«, wie »Freitag«, wie »Sigismund Rüstig«. Im Reich der Beschreibungen kann man Eigenschaften erwerben, die man für sich selbst nicht hat. Das Ich entsteht in einer Vermutung über dieses Ich. Sie fragt nicht, wer ich bin, eher, wer könnte ich sein?

Abends nehme ich deshalb meiner Schwester das Besteck aus der Hand, ziehe auch Essig und Öl heran und sage:

»Lass mich mal machen. Ich versteh was von Salat.«

 

Ein Schulweg voller Astern. Fräulein Kaskel mit ihrer feinen, durchscheinenden Haut und ihrem schwebenden Gang kommt auf dem Weg zur Schule durch die Felder. Sie hätte schön sein können, ohne ihre defensiv vorgetragene Religiosität, die sich anfühlte, als lebe sie ungesund mit dem Herrn. Ihr Unterrocksaum hat sich hinten gelöst und schaukelt, einer Gardine ähnlich, auf der Höhe ihrer Kniekehlen. So feixt die kleine undisziplinierte Erinnerung, lebendiger als alles, was Frau Kaskel mir je vom Herrn gesagt hat.

Schau, das übersprungene Leben, das mit dem schweifenden Blick bloß überflogene. Der Unterrock ist zu sehen, damit sich die kleinen Jungen mit den Ellenbogen in die Seiten boxen, die Knie zusammendrücken, um sich bloß nicht in die Hose zu machen vor Lachen. Die Kaskel!

An den Rändern von Aktionen spielen sich manchmal solche Szenen ab. Als habe das Leben keine Kraft, sich überall gleichermaßen zu konzentrieren! Frau Kaskel ist darin wie ein Schmetterling ohne Flügelschlag, einer, der auf den Bahnen eines nicht sichtbaren Auftriebs gleitet. So verschwimmt die Natur: das Schwirren der Libelle, die in der Luft steht, der Rand der Wolke, die Ausdehnung der Flechte, der trübe Schimmer des Spinngewebes, das Wegstreben der Wiesenfläche, der Glast, the mist, der Dunst, der Hauch, der zitternde Spitzensaum eines Unterrocks.

 

Der Geruch des Pfarrers ist der gleiche wie er von den klebrigen Zellophanfolien der Bände aus der öffentlichen Leihbücherei ausgeht. Dazu das angegraute Beffchen, das unfrische Hemd, die weißen Haare auf den Händen und diese trockene, selbstgewisse, ordentliche Art, von Gott zu reden! Sein Glaube wirkt wahrhaftig, weil der Mann so phantasielos ist. Manchmal steht er zwischen uns Kindern und schmarotzt ein paar Anekdoten, Halbsätze, Pointen aus dem robusten Kinderleben. Sonst hat er bloß seine Heiligengeschichten.

Ganz anders der »Herr Vikar«, der in der Volksschule im schwarzen Talar zum Unterricht erscheint und einen rußigen, mystischen Namen trägt: Herr Goral. Seinen Talar dagegen trägt er wie ein Heiratsschwindler, und etwas an ihm, das spüren wir selbst als Kinder, wirkt verlebt, wie ein Bonvivant mit den Jahren verlebt wirkt. Wir haben keine Ahnung, was ein Vikar ist. Vermutlich eine Art Fachmann in Gottesfragen, näher dran am Schöpfer als ein Religionslehrer und in der kirchlichen Feldarbeit erprobt. Mit Herrn Goral tritt die Legende ins Leben, hat er doch wirklich als Missionar in Afrika gearbeitet. Davon erzählt er Geschichten, in denen die Neger nackt sind, singen und tanzen und große schwarze Töpfe mit riesigen Brocken Fleisch auf dem offenen Feuer erhitzen.

»Unglaublich!«, rufen wir Kinder.

»Das könnt ihr mir glauben!«, widerspricht Herr Goral. »Das müsst ihr mir glauben!«

Angesichts der vielfältigen Verwendung des Wortes »glauben« werden wir ein bisschen unsicher mit dem Wort.

Zu Hause lässt sich mein Vater alle Geschichten des Herrn Goral nacherzählen. Darüber lacht er, dass ihm die Adern an den Schläfen hervortreten. Anschließend werden wir ermahnt, keine der Geschichten dieses Vikars mehr für bare Münze zu nehmen, denn sie seien »samt und sonders erstunken und erlogen«.

Mit diesem Tag hat Herr Goral unwillentlich eine Mission erfüllt, er hat eine komplizenschaftliche Allianz zwischen Vater und Kindern geschlossen, wird uns doch zum ersten Mal erlaubt, die eigene Vernunft über die eines Erwachsenen zu stellen. Im Genuss dieses einzigartigen neuen Verhältnisses bringen wir immer weitere Geschichten von Herrn Goral heim, schmücken sie aber vor dem Vater immer weiter aus und fühlen uns bei der Darstellung seiner Lügengeschichten bald selbst nicht mehr der Wahrheit verpflichtet. Die Erzählungen seiner Lügengeschichten sind nun ebenfalls gelogen, und am Ende bekommt niemand so viele Lügen aufgetischt wie mein Vater.

Während sich die Lüge so als eine fruchtbare Muse erweist, reibt sich das Blattgold des »Glaubens« ab. Herrn Goral nicht zu glauben, aber an einen Gott zu glauben, der sein Dienstherr ist – diesen Widerspruch können wir unmöglich auflösen, deshalb triumphiert schließlich die lachende Rationalität in der Gestalt meines Vaters, der zur Figur der Aufklärung wird, wenn auch im Zustand der Verblendung.

 

Martha spürt auf dem Weg in die Kirche einen Stein im Schuh, bleibt aber nicht stehen, um ihn herauszunehmen, »weil doch unser Herr Jesus auch so furchtbar hat leiden müssen«. Nach der Messe ist der Schuh voll Blut, die Wunde reicht bis zum Knochen. Martha muss operiert werden. Im Krankenhausbett besteht sie darauf, dass ihre Augen auf ein Kruzifix blicken können. Ich klingle beim Herrn Pastor. Die hübsche Haushälterin, Fräulein Walburga, öffnet. (Sie wird Jahre später schwanger werden, den Vater des Kindes nicht nennen, die Bewohner des Dorfes werden darauf den Pastor und Fräulein Walburga aus der Gemeinde treiben, die beiden werden getrennt gehen, in verschiedene Richtungen, niemand wird glücklich dabei.) An diesem Nachmittag erhalte ich von Fräulein Walburga und Herrn Pastor einen hölzernen Christus, den ich auf zwei flachen Händen an Marthas Bett trage wie in einer Prozession. Die Füße Jesu inspizierend, stellt sie aber fest, dass sie vom Holzschnitzer unversehrt dargestellt wurden, und weist so den Herrn zurück.

 

Als Kind habe ich geglaubt, Fremdsprachen seien nichts anderes als die Vokalmusik der Erwachsenen, keine landläufigen Sprachen also, sondern eine Art Zeitvertreib für Leute, denen das Hervorbringen von Geräuschen zur Unterhaltung reicht. So hörte ich zu, wie sie zweistimmig, dreistimmig intonierten, manchmal auch lange solistisch, und Worte hervorbrachten, wie sie Irre erfinden: Derapti felisam, morbozzo, ferfaderissen.

Einmal überlasse ich mich ganz dem gutturalen Wechselgesang von zwei Afrikanern und einer Afrikanerin in einer Bonner Milchbar. Hin und her schwappt der Redefluss, als ein Mann an den Tisch tritt und den dreien kommentarlos einen freien Stuhl wegnimmt, diesem Gesocks. Die Afrikanerin empört sich in der auf und ab schaukelnden Melodie ihrer Sprache. Der Mann mit dem Stuhl zieht trotzdem ab. Die Frau intoniert eine Lage tiefer. Aus dem Orgeln ihrer afrikanischen Verwünschungen steigen zwei deutsche Vokabeln auf wie Fontänen. Sie nennt den Mann erst »Quadratsocke«, dann »Affenlaus«. So spuckte die Musik die Sprache aus.

 

Die letzte Handlung des wachen Tages im Kinderbett: im Liegen mit dem rechten Fuß das hochgerutschte linke Hosenbein des Schlafanzugs herabzuschieben, dann umgekehrt. Dabei rutscht die Hose am tätigen Bein wieder halb hoch. Korrektur. Zuletzt, wenn beide Enden der Hosenbeine auf Höhe der Knöchel liegen, folgt noch das Strecken der Beine mit einer Muskelspannung, die Botenstoffe ausschüttet und sie über das Einschlafen schickt.

»Verschon uns Gott mit Strafen.«

 

In der Volksschule spielt Herr Garbe manchmal das kleine Beethoven-Menuett Nr. 2 in G-Dur auf dem Flügel. Er sieht weinerlich aus, wenn er es spielt, und wir bezeugen Respekt – weniger dem Mann mit seinen komischen Empfindungen im Gesicht als vielmehr dem schwarzen Instrument mit den Klängen im Bauch. Obwohl der Flügel niemals abgeschlossen wird, wagt niemand, Hand an ihn zu legen, wenn Herr Garbe nicht im Raum ist. Mag sein, dass wir den Ernst des Lehrers nicht verstehen, der im Spielen immer weiter den Mund zur wunden Grimasse verzieht, wehrlos aber sind wir vor der Süße der Melancholie, die von der Melodie hochdampft.

Später, als wir das Menuett schon besser kennen, dürfen wir uns, während Herr Garbe spielt, an den Händen nehmen und im Kreis dazu schreiten. An einer bestimmten Stelle sollen wir uns loslassen, umdrehen und mit einem neuen Partner im Kreise weitergehen. Da weicht dann die Melancholie der Feierlichkeit eines höfischen Zeremoniells, das ich vor mir sehe wie auf einer hässlichen braun-grünen Tapisserie, und im Moment zwischen dem Lösen der einen Hand und dem Ergreifen der neuen empfinde ich, von Musik überschwelgt, das Glück, das mit dem Einbruch der Freiheit in die Ordnung verbunden ist und mit dem Erfassen einer anderen Hand.

 

Als Kind war ich schlampig, unfähig, die Dinge zusammenzuhalten, dabei unkorrigierbar selbst durch den Satz: »Du wirst in deinem Leben noch bittere Tränen vergießen über deine Unordnung.« Der Satz blieb stehen, der elterlichen Autorität wegen, und weil »mein Leben« darin vorkam, für das ich kein Gefühl hatte. Tatsächlich sammelte ich vieles, verlor aber auch vieles, eine Kaurimuschel, einen Kaninchenschädel, einen Hornlöffel, ein altes Puppenauge in einer Metallkapsel.

Einmal bekomme ich zum Geburtstag ein Paar gefütterter grauer Lederhandschuhe, die »exquisit« genannt werden und »eigentlich noch zu schade« für mich. Ich schlage im Wörterbuch das Wort »exquisit« nach und besitze von dem Tag an meinen ersten »erwachsenen Gegenstand«. Tage später habe ich die exquisiten Handschuhe fallen oder liegen gelassen, jedenfalls sind sie weg. Als ich den Verlust bemerke, renne ich wie besessen im Zimmer auf und ab, wühle in meinen Wollsachen im Schrank und flehe zu Gott. Ich laufe alle Wege ab, besuche jede Wohnung von Freunden, traue keinem, der bloß bedauernd den Kopf schüttelt, schaue lieber selbst nach.

Zuletzt gehe ich an einem Nachmittag in die Schule und frage die dicke Putzfrau, deren fremdartiger Name Rogatzki mich seltsam erregt, und die ganz allein jeden Nachmittag die Klassenzimmer putzt. Auf mein Bitten, ein Flehen mehr als ein Bitten, fahndet sie in einer Kiste mit verlorenen bunten Stoffsachen, lauter aufgegebenen, entehrten, vermissten Utensilien, die vermutlich auch schon betrauert worden sind. Aber meine Handschuhe finden sich nicht. Da setze ich mich draußen auf die Treppenstufen und weiß nicht mehr, wohin in der Welt. Aber ich sehe noch, wie Frau Rogatzki in der Tür erscheint und mir in ihrer speckigen Hand ein paar verwaschene grüne Wollhandschuhe zum Ersatz hinhält, und ich fühle noch, wie beim Anblick dieser abgetragenen, filzigen Wollhandschuhe die Tränen steigen.

 

In der Grundschule kommt einmal ein neues Mädchen in die Klasse. Es kommt mitten im Unterricht, als wir gerade das Lied »Die schöne Lilofee« lernen und eben angestimmt haben: »Es freit ein wilder Wassermann auf der Burg wohl über dem See«. Der Reim geht auf »Lilofee«.

Das Mädchen ist groß, hat den Teint einer Orientalin und hält ihr langes schwarzes Haar in der Faust, als müsse sie sich festhalten im Augenblick, da die umwerfenden Blicke der neuen Mitschüler sie treffen. Sie heißt Ottilie und wirkt wie eine Erwachsene mit ihrem fraulichen Wuchs, ihrem wehmütigen, wahrscheinlich unsicheren Lächeln. Sie setzt sich, wir lernen weiter das Lied von der schönen Lilofee, und ich stelle mir die Frau aus dem Lied so vor wie die in der Schulbank da vorn.

Später hat sie sich als einsam entpuppt. Wahrscheinlich war sie zu groß und zu dunkel, mit dem schwarzen, dicken Haar in der Faust einschüchternd und in ihrem schläfrigen Phlegma irgendwie bedrohlich. Noch dazu roch sie nach Harz oder schwerem Wein oder Suppe. War ich auch nicht befreundet mit ihr, dann doch vertraut genug, sie sogar zu Hause zu besuchen. Allerdings wartete ich vor dem Holztor zum Hof, bis sie mich holte, weil immer große Hunde vor ihrer Haustür streunten. Kaum sah ich sie an, wollte ich sie lächeln machen, zusehen, wie durch den Schleier ihrer Wehmut die Belustigung brach. Das war schön.

Einmal zieht sie mich an der Hand über eine Wiese, um mir am anderen Ende, gleich beim Zaun, ein Loch in der Erde zu zeigen, in dem sich ein Wespennest befindet. Erst fasst ihre Hand die meine nur im Affekt, dann mag sie sie nicht mehr lösen, des Schauers wegen. Zuletzt nähern wir uns auf Zehenspitzen dem Loch, das struppig umwuchert, schwarz und kreisrund in das Erdinnere führt, und aus dem die Wespen schweigsam heraustorkeln, um vereinzelt in die Sommerluft zu schwirren. Es kitzelt mich am Gaumen vor Entsetzen, und nachdem wir uns rückwärts schleichend wieder einige Schritte vom Loch entfernt haben, drehen wir uns um, laufen die ganze Strecke bis zum Hoftor atemlos zurück und lösen die Hände erst hier.

Wir wissen es noch nicht, werden aber bald wissen, dass in diesem Wespenloch die Unschuld der schönen, jungen Lilofee für immer verschwand.

 

Lieber Horst ich schreibe dir noch einen Brief in dem drinsteht dass du dich kaum sehen lässt und das ist doch keine Freundschaft oder nicht. Horst du gehst ja jetzt mit mir schon lange aber wir sehen uns kaum. Damit will ich nicht sagen dass ich Schluss mache nein ich gehe noch mit dir nur dass du dich nur sehen lässt wenn dein Freund keine Zeit hat mit dir zu gehen kommst du zu mir und fragst ob ich noch mit dir gehe so ist es doch oder nicht Horst das finde ich nicht gut von dir. Nun aber tüsch und zwei große dicke Schmatzche auf deinen Mund wie meistens.

 

Zum Karneval tritt eine stumpfe Mitschülerin in die Reihen der Maskierten, in eine trübe Folie geschweißt. Sie wird nicht gefragt, sagt aber:

»Ich gehe als Träne.«

Die Hübscheste der Klasse kommt in einem braun-grünen, ölig enganliegenden Overall mit Kapuze. Sie wird umringt, mit Fragen bestürmt und ist erstaunt:

»Sagt bloß, ihr erkennt nicht, was ich bin!«

Nein wirklich, so etwas haben wir nie im Leben gesehen.

»Ich gehe doch als Alge.«

Die Alge habe ich nie wiedergesehen, aber als ich die Träne Jahre später treffe und sie mir erklärt, dass sie nicht Schauspielerin werde, denn da führe »der Weg nach oben doch nur durch die Betten der Produzenten«, sehe ich vor meinem inneren Auge ein Bett, in dem die Träne liegt in ihrer Folie, eingeschweißt in den Geist einer Zeit, die das Wort »Sittenstrolch« noch kannte und den Weg in die Bürgerlichkeit mit Gemeinplätzen pflasterte.

 

Ein Mann hinter einem vergitterten Fenster auf seinem rosa bezogenen Bett. Im Spiegel sieht er zwischen alten Mahagoni-Möbeln sich selbst, durch das hohe Fenster treibendes Blau, treibendes Grau, ziehendes Licht. Tritt er ans Fenster, stockt die Bewegung im Haus gegenüber, wo kleine Mädchen zanken, größere vor Spiegeln stehen, Mütter Fußmatten ausklopfen und jeder als ein Passant vorbeikommende Blick sagt, dass sein eigener Blick nichts, dass er leer ist. Und das Mädchen gegenüber jauchzt, den glatzköpfigen Bären im Arm, und ist froh wie die Ballerina mitten in der Pirouette.

 

Die Wohnung liegt da wie lange verlassen. Das Licht fließt nur unwillig ab, jetzt, da es Nacht wird. Kein Zimmer war eingerichtet darauf, heute noch betreten zu werden. Diese Wohnung ist ein Dachboden, der die Requisiten der frühen Jahre beherbergt, eine Pfauenfeder, ein paar Papp-Orden, ein gälisches Kreuz aus Torf, eine Klarinette von einem Prager Flohmarkt. Es ist ein Raum voller Klaviermusik. Und dann das Hühnerfrikassee der Kindheit. Und jede einzelne Kaper. Die Wohnung ist eingerichtet, als sei sie bereit, verlassen zu werden für immer. In Gegenwart verwandelt, wird sie flüchtig. Der nicht persönliche Blick, der sie bald streifen wird, könnte all dies »Altwaren« nennen, »Verlassenschaften«. Im Augenblick aber ist die Wohnung noch so persönlich wie vor dem Aufbruch zu einer Reise oder wie beim Heimkehren. Sie besitzt eine Realität, die unfühlbar wurde, als sie vertraut war, und die vergessen werden musste, um jetzt endlich wieder wirklich werden zu können.

 

Im Frühsommer stirbt in seinem Bett der Onkel. Unter den Büschen im Garten rascheln die Hühnchen, und zwei, drei Frauen kommen auch ins Haus und weinen ein bisschen.

»Wenn ich ihn nicht gehabt hätte«, sagt die eine, »hätte ich ihn nicht gehabt und großes Leid erlitten.«

Dann weint sie wieder. Sie ist ihm ähnlich. Trotzdem verdirbt uns der Tote nicht den Sommer, die erste selbstgemachte Limonade, im Herbst das Pilzesuchen und das Schulfest. Der Sohn des Verstorbenen sagt:

»Ich möchte mich gerne mit ins Grab nehmen.«

»Hören Sie sich diesen Schmerz an!«, wehklagt die Nachbarin.

»Bisschen dicke«, antwortet die Tochter.

 

Aus der Finsternis tritt mir ein winziges Mädchen entgegen mit Augen, die unter einer Urban-Army-Mütze wie Leibesöffnungen klaffen. Auf seinen blauen Wollhandschuhen hält es ausgestreckt zwei unterschiedlich große Portionen Schnee.

»Eis?«, fragt die Winzige.

Das Wort schmilzt auf dem Weg zu mir. Ich kreise mit dem Finger über den beiden Handschuhen.

»Von dem da ein bisschen.«

Das Mädchen löst von dem Haufen eine Portion ab, legt sie mir in die Hand. Dankend trage ich sie behutsam davon. Als ich mich umwende, ist das Mädchen Jahre älter geworden und feuert den Rest des Schnees hohnlachend auf ein parkendes Auto. Ich tue das Gleiche. Als sich unsere Augen treffen, sehen die ihren tollkühn aus: Wer ist hier erwachsen?

 

Von allen kleinen Jungen, die man nach dem großen Sommer nach ihrer liebsten Ferienbeschäftigung fragt, geben die meisten an »Fernsehen und Computer«, viele auch »Fußballspielen«. Ein einziger aber sagt: »Maulwurfshügel-Zertrampeln«. Man sieht ihn da in Gummistiefeln über die Felder kommen, über die Wiesen, in einer Mission, die ihn über den Horizont hinaus in die Erdkrümmung trägt, ein literarischer Mensch, eine Künstlerfigur. Er hinterlässt dieses eine, in sich stehende Bild, hinterlässt seinen Schatten. Kann sein, dass es sich schon um der Kindheit willen lohnt zu leben. Sollte selbst ihr Glück unfühlbar sein, kann es als Bild oder als Dämmerung später doch noch Erscheinung werden.

 

Als ich zum ersten Mal in voller Vergegenwärtigung vor dem Meer stand, ertrank ich im Augenschein. Was wird aus den Dingen, die sich im Spiegel des Meeres reflektieren? Sind sie nicht alle noch da, die gesunkenen Schiffe, die Silhouetten der Frachter, die Flaschen sogar, die auf den Wellen tanzten? Ist das Schillern der Wellen also eigentlich der Tanz der winzigen, in ihnen gespiegelten Bilder? Nie wieder war die Brandung wie damals, als sie in jeder Welle eine Bilderflut war.

 

Im Traum küsst mich Céline Dion, und ich wehre mich ganz fürchterlich. Davon wache ich auf. Es ist morgens um fünf. Als ein Geschlagener wanke ich in die Hotelküche, wo ein Mann sitzt mit zwei offenbar schlecht synchronisierten Glasaugen. Ich bitte ihn um eine Apfelsine, sie liegt neben ihm. Er sagt: »Ich muss an der Rezeption anrufen und fragen, wo die Apfelsinen sind.« Bin ich überhaupt erwacht?

 

Ich sitze nachts unter den Bäumen. Durch die belaubten Kronen scheint ein Stern, als liege er auf einem Blatt.

 

Wie sich die Zusammenhänge geändert haben: Als ich anfing, Sätze zu verstehen, war der Satz »Und sie lebten glücklich bis an ihr Ende« nicht des Glücks und nicht des Endes wegen groß, sondern es war das Klima, in das er strahlte, ein Satz, dem Leben zufloss wie einem Reservoir. Ich hatte Häuser mit Fensterläden gesehen, Blumenstöcke, die Liebe war voller Küsse auf frische Wangen und voller Landwirtschaft.

Inzwischen ist dieser Satz gekapert worden vom Bild des Glücks über der Halbfett-Margarine oder vom Geräuschdesign der zugeschlagenen Wagentür. Das alles soll Glück vermitteln, Dauer verheißen. Es ist, wie wenn die Frau in jener Krise, die man so nüchtern als »Partnerschaftskrise« bezeichnet, sagt: »Denk an die schönen Momente, die wir miteinander hatten.« Und der Mann blickt vor sich hin und kann sich nicht erinnern. Da waren Zeit, Strecke, Fläche, Raum, Wolkenkontinente und Klangabfall, doch wo sind die Momente?

Zum Ausgleich sah ich mir, wo immer ich konnte, die jungen Liebespaare an: Sie küssen sich wie an ein Sauerstoffgerät angeschlossen, umklammern sich wie den Balken auf hoher See. Es geht immer um alles, sie küssen an allem vorbei, auf das ganze Leben zu und werden diesen Kuss am Ende vielleicht doch vergessen, während er den Betrachtern erhalten bleibt.

 

Was man als ein Ideal empfindet, ist manchmal Ausdruck ohne Bewusstsein, und manchmal reicht ein Kinderfoto, dies festzuhalten. Da steht Béla Bartók mit seiner Schwester Elsa. Er fasst sie in seinen Arm ganz fest, so sehr braucht er sie. Ihre Hand dagegen hat sie auf seinem Oberschenkel gestelzt abgestellt wie die Füße eines Vogels, als kratze, als scharre sie in den Falten seiner Pumphose. Zwei große dunkle Augenpaare tauchen in den Blick des Betrachters. Das Tuch ist fein, das Schuhzeug gelackt. Die Kinder stieren in eine Zeit, ein Medium und einen Blick.

Das Foto verblaut an den Ecken, ein Riss läuft über die Gelatine, sie splittert. Während die Kinder immer noch unbeirrt, aber eingeschüchtert in die Zukunft schauen, platzt das Bild mit diesem Blick, platzt es von innen heraus.

 

Mutter zum Sohn: »Was isst du da?«

»Teilchen.«

»Das hast du doch sonst nie gegessen.«

»Schon.«

»Was hast du denn da für einen Kratzer?«

»Ich weiß nicht.«

»Das weißt du ganz genau.«

»Weiß ich wirklich nicht.«

»’türlich weißt du das, aber ich bin ja bloß deine Mutter. Da, steck den Stift ein, der geht nur verloren.«

»Später.«

»Nicht später, du vergisst ihn bloß wieder.«

»Mutter, bitte.«

»Hat die Tasche auch kein Loch?«

»Nein.«

»Lass mich lieber mal kucken.«

»Bitte, Mutter, ich bin nicht mehr sechs.«

»Jetzt tu bloß nicht so erwachsen. Und pass auf, du krümelst alles voll. Siehst du, ein Loch!«

Stundenlang. Lebenslänglich.

 

»Aber du hast es doch nicht da hineingelegt! Du bist doch gar nicht mehr ins Haus gegangen! Warum solltest du das denn tun? Du warst doch nicht noch mal an deinem Koffer! Aber das passt doch hinten und vorne nicht. Das ist so untypisch für dich. Oder hast du sie doch mitgenommen? So was machst du doch nicht.« Pause. »Ich kenn dich.« Indikativ.

Als Kinder spielten wir: »Du wärst nach Hause gekommen, und ich hätte im Bett gelegen, du hättest mich erst nicht gesehen, dann wärest du …« Konjunktiv.

 

Einmal nur ist in dem Dorf, so lange ich dort lebte, ein Verbrechen geschehen. Einmal nur hat der Polizist, den wir noch »Schutzmann« nannten, in einem Kriminalfall zu ermitteln, und er kopiert, was er aus dem Fernsehen kennt. Seine Uniform ist sein Ausweis. Sie erlaubt ihm jede Frage. Doch haben ihn die vielen Filme ein bisschen wirr gemacht. So läuft er denn herum wie Heinz Drache und baut sich schon auf der Straße zur Überlebensgröße auf: »Name des Vaters?« Er geht weiter. »Wo waren Sie gestern um 20 Uhr 30?« An der nächsten Ecke: »Woher haben Sie dieses Kleid bezogen?« Er drückt sich gewählter aus als sonst. Manche seiner Ergebnisse trägt er in ein Notizbuch ein. Ich bleibe ihm auf den Fersen. Wie eine Flipperkugel ist er, die vom Stromstoß der Antworten durch die Welt gepeitscht wird. Auch meine Mutter gibt Auskunft. Zwischendurch lobt er sie deshalb für ihre dichten Haare, und sie sagt den wunderlichen Satz:

»Ach, früher sind in meinem Haar die Kämme zerbrochen.«

Er schaut sie an, und auf dem Grund seiner Augen sind wie auf dem Meeresboden Flecken.

 

In der Schule: Ich bin fast halbwüchsig, die Lehrerin ist von einer offensiv zur Schau gestellten Leiblichkeit, die ich nicht bemerke, besitzt aber die große, fleischige Nase eines Kasperles, die ich gar nicht übersehen kann. Als Gesamterscheinung schüchtert sie mich ein. Einmal muss ich einen Schüler zeichnen, wie er dasitzt, auf seiner Bank. Ich will, dass sein Kopf auf den Armen liegt, zur Seite geneigt. Also lege ich erst meinen Kopf auf die Seite und fahre mit dem Finger meine Halslinie nach, um sie von dort, aus dem Gefühl der Fingerspitzen, mit dem Bleistift auf das Papier zu übertragen. Die Lehrerin fängt meinen Blick auf, sieht mich unverwandt an und geradeaus. Ich zeichne die Halslinie, aber sie will nicht gelingen. Immer wieder radiere ich an dieser Linie herum, die Lehrerin tritt hinter mich, wirft einen warmen Körperschatten. Da fühle ich, während ich radiere und radiere, zum ersten Mal in meinem Leben eine geschlechtliche Erregung. Dann nimmt sie mir den Bleistift aus der Hand und zeichnet die Linie aus dem Handgelenk, indem sie mit dem Stift über das Papier streicht wie mit der Spitze einer Fasanenfeder. Als sie weitergeht, ihren Duft mit sich führend, will ich nichts als radieren, radieren, radieren.

 

Als in ein Telefonat zwischen Toto und mir infolge einer Fehlschaltung plötzlich eine fremde Frauenstimme einbricht, und wir beide rufen: »Hallo Schatz!«, erwidert die Frauenstimme: »Was heißt hier Schatz?«

 

Wenn wir früher, als die Erwachsenen noch von ihren »Entbehrungen« sprachen, die wir uns »nicht vorstellen« könnten, wenn wir in dieser Zeit, als die Frauen in der Werbung noch große Busen hatten, damit ihre Mütterlichkeit uns alle anstecke und tröste, wenn wir also zu der Zeit, als das Deutschland der Witzseiten noch voller Handwerker und Briefträger war, wenn wir da in eine Metzgerei eintraten, empfand ich dies als eine Fleischwerdung von allem. Auch die Verkäuferinnen, der Schlachter, die Kundinnen waren aus Salami und Cervelatwurst gepresst, mit Beinen wie Bierschinken und Nasen wie Nierchen, und alle waren nackt und demonstrierten ihre Innereien, schamlos durchblutete, schiere und schillernde Filetstücke.

Für die Imagination war der Weg vom Leib zum Fleisch etwa so weit wie der vom Aktbild zur Röntgenaufnahme. Während mein Blick über die indezente Auslage schweift wie der eines Mormonen über die Illustrierten am Kiosk, lässt sich meine Mutter die Wurst erklären. Bei einer, die ihr besonders empfohlen wird, fragt sie bei der Metzgersfrau nach:

»Essen Sie die auch selbst?«

»Bedaure, Gnädigste«, sagt diese, und meine Mutter wird augenblicklich ungnädig, »das ist Kundenwurst.«

Was Klassenbewusstsein ist, lernte ich zuerst am Fleisch.

 

Als ich alt genug war, ging ich ins Bordell und stellte fest, dass ich nicht alt genug war, denn ich war zu nichts gut. Die Frau, die ich wählte, stand nicht in der Tür und fasste mich auch nicht an, um mich ins Zimmer zu ziehen, sondern sie lag auf dem Bett, schaute Fernsehen und blickte bloß kurz auf, um zu fragen:

»Hast du Lust?«

»Lust« war nicht das richtige Wort.

Zuletzt liegen wir bloß so auf dem Bett, und sie sagt, ich solle mir »ihren Bären« mal ruhig angucken. Das Wort ist entsetzlich, am Bären selbst aber ist nicht viel zu sehen. Immerhin sind mir aus einem dicken Buch mit dem Titel »Die Ärztin im Hause« (»Prämiert auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1911«) einige lateinische Namen für Körperzonen geläufig. »Mons Pubis«, sage ich und zeige darauf, »der Schamhügel.« Sie schüttet sich aus vor Lachen.

»Und, du kleiner Klugscheißer, kennst du noch mehr?«

Mir fällt aber bloß noch ein, dass man Brüste, die am Rücken angewachsen sind, wissenschaftlich als »retropositio mammae« bezeichnet. Sie bezweifelt, dass Brüste am Rücken anwachsen können.

Als meine Zeit um ist, sagt die Frau mit der pudrigen Aura und dem Künstlernamen Vanessa:

»Dass du beim nächsten Mal nicht ohne neue Vokabeln anrückst! Ich frag dich ab!«

Schon die Vorstellung eines »nächsten Mals« ist verschwörerisch und quasi privat. Also verbringe ich die folgenden Tage mit erregenden Vokabeln und bilde mir ein Verhältnis ein. Ach, Vanessa.

Was ich an Vokabeln für uns suche, soll etwas Exklusives, ganz auf sie und mich Zugeschnittenes sein. Am Ende entscheide ich mich zur Selbstbeschreibung für den Ausdruck »aura seminalis«. So nennt man »die Ausstrahlung der Keuschen«. Für Vanessa aber wähle ich »odor lupanaris«, »der Geruch der Wölfinnen«. So haben die alten Römer den Duft der Huren genannt. Sie hört es zufrieden.

»Dann komm her«, sagt sie und bewegt ihre Schulter, ihre Brüste, ihre Schenkel sogar meinen Riechküssen entgegen. Es kommt etwas Zerstäubtes über mich, etwas Gespenstisches, sehr Aufregendes, und ich schwelge in dieser Reise über ihre Blößen. Als meine Zeit um ist, muss ich versprechen wiederzukommen, mit neuen Wörtern. Sie stellt es dar wie eine Hausaufgabe, seufzt, zieht sich an und sagt dabei den rätselhaften Satz:

»Du hast Glück, du lernst langsam.«

 

Brotrinden mit Butter; das Kind kommt auf den Rücksitz; iss auf, sagt der mütterliche Mund; komm nach Hause, wenn die Lampen angehen; der Ruf geht über die Feldwege, über den Sportplatz. Der Schulweg steht voller Dahlien, Bartnelken, Zinnien; aus einem Rohr tropft Wasser in eine Tonne, in der, flauschig aufgequollen, ein Maulwurf schwimmt. Das Mädchen knöpft mein Hemd so weit auf, dass ihre kühle Hand hineingeht, gleitet über die Trommel des Bauches, unter dem Gürtel durch, abwärts. Ich werde das Gefühl später mit Hilfe eines Blechlöffels wiedererwecken, dabei ein Gesicht machen wie beim Laufen, später ein zerrissenes, dann ein eingestürztes Gesicht. Warum ist die Liebe so anstrengend?

Nur in kleinsten Einheiten versteht man das Verschwinden der eigenen Kindheit, erfasst man sie in den Bildern vom Saum der Ereignisse, als man darauf starrte, wie sich das Handeln vom eigenen Selbst entfremdete und ein leeres, unkonzentriertes Handeln dazwischentrat.

Mach los, ich habe jetzt keine Angst mehr davor, dass du dich schmiegst, erfährst, wie ich rieche, dass du nahe kommst, überhandnimmst. Ja, jetzt sehe ich das Mädchen, das ich »Frau« nenne, vor mir als ein Massiv künftigen Wissens: Der Abend wird verstreichen, ich werde erfahren, wie sich ihr Haar unter den Handteller legt, wie ihre Haut nachgibt, wie ihre Hand greift, welches Tempo ihr Begehren hat, wie ihr Atem riecht. Mindestens so sehr wie auf alle diese Dinge freue ich mich auf das Wissen.

 

Ein Behagen, das daraus entsteht, etwas nicht zu machen: eine Wohnung nicht zu beziehen, ein Bild nicht aufzuhängen. Man trennt sich von der Möglichkeit, dem bereits warm simulierten Leben, und findet sich im Transit, zögernd zwischen Nicht-Mehr und Noch-Nicht, das Eintreffen der Entscheidungen abwartend.

Verwandt das Glück, der Unbekannte zu sein, der etwas ist und tut, aber gleich anschließend spurlos und unauffindbar verschwindet. Seine Tat ist noch in der Welt, aber sie ist Wirkung ohne Verursacher. Etwas so Abgeschnittenes in die Welt zu schicken, sie alogisch zu machen, bewirkt, dass sich irgendwo Wohlgefallen wie ein Farbnebel ausbreitet.

 

Die Ereignisse werden uns knapp. Als Gegengift erfinden wir den »Tag der unbotmäßigen Handlungen« und sammeln die Gesichtsausdrücke. Ich gehe in eine Bäckerei und sage der Verkäuferin einen Satz aus dem Schreibmaschinenlehrbuch: »Viktor, bringe dieses Holz nach Xanten.« Dann verlasse ich die Bäckerei und weiß, dass ich im Leben der Bäckerin einen kleinen Nebel hinterlassen habe, eine Fassungslosigkeit. Vielleicht hat sich dieses Leben für einen Moment aus der stabilen Seitenlage bewegt und einen Effet empfangen. Ihr Gesicht ist so. Ich sage zu einem Mann, der seine Sonnenbrille hochgeschoben hat: »Sie haben auf Ihrem Kopf Ihre Brille liegen gelassen.« Er schaut verächtlich. Am Fuß der Rolltreppe: »Vorsicht, sie fährt falsch rum.« Ich bekomme den Vogel gezeigt. Zu einer Dame: »Sie haben heute zwei Frisuren auf dem Kopf.« Sie hatte schon vorher ein Das-geht-Sie-gar-nichts-an-Gesicht. Jetzt hat sie es von »stumpf« auf »scharf« gestellt. Zum Polizisten: »Ich bin heute, der ich morgen war.« Er ist nicht zuständig, wird mich aber im Auge behalten. Zu einem lachenden Geschäftsmann: »Heiter sieht anders aus.« Sein Lachen wird plötzlich von einem Fragezeichen überwölbt.

Der Ausbreitung der Verunsicherung sehe ich gerne zu. Sie tut den meisten Gesichtern gut. »Würden Sie mich kaufen?« Die Passantin hat keine Zeit. Abends stelle ich mich vor ein Theater und verlange vom Publikum ein Eintrittsgeld ins Leben. Abwinken. Ich sage zu einem Paar, das ich eindringlich beobachtet habe: »Dies sind nicht meine einzigen Augen, da täuschen Sie sich mal nicht«, zu einem Halbwüchsigen: »Du wirst wieder zu Samen werden«, zu einem Ehepaar: »Würden Sie sich bitte mal küssen?«. Sie tun es. »So, jetzt aber mal ran an den Speck!« Sie tun es lachend wieder und wieder und aus Überzeugung. Ende des Tages.

 

Irgendetwas, wahrscheinlich eine Verliebtheit, von der ich noch nicht weiß, lenkt mich schon seit dem Morgen ab. Aber wohin? Ich stochere im Schlaf herum, in der Musik. Nichts. Als ich vom Fenster aus die Straße beobachte, kommt die blonde Schreibwarenladenbesitzerin mit ihrem jungen Schäferhund vorbei. Ich gehe hinunter und sage: »Warum kommen nur Sie aus dem ganzen Viertel nie zu mir herauf? Ich bin doch auch nur ein Mensch.« Verabschiede mich rasch und lasse sie in einer Stimmung zurück, die für beide wie ein Versprechen ist. Zwei Monate später, als wir nebeneinander unter zwei Decken liegen, wachträume ich den Satz: Wenn man nachts unter zwei Decken schläft, ist man wie durch Nationen voneinander getrennt.

 

Auch die Paare haben ihre Altarbildtradition, erstarren im Gesten-Palaver, sprechen von »Anbetung«. Diese verherrlichte, aber glücklos begehrte Frau hat eine Wette verloren. Jetzt muss sie sich nur in ihrem Herrenoberhemd auf den Tisch stellen und sich vom Bett aus betrachten lassen. Unsicher begibt sie sich in Position. Ihre Augen, spöttisch verengt, funkeln abwärts, mustern den Betrachter, wie er mit seinem Blick an ihren Beinen aufwärts schwenkt, über die Scham, dem Bauch entgegen, zu den Beinen, in den Blick zurückkehrt. Sie hält die Bildwerdung länger aus als er die Bildbetrachtung. Zugleich wächst ihre Unerreichbarkeit ins Maßlose. Sie steht und lässt sich sehen, wohl wissend, dass sie im selben Augenblick zu etwas wird zwischen Ikone und Evergreen. Jetzt weiß sie plötzlich auch selbst, dass sie ihre Herrlichkeit besitzt, und stellt den rechten Fuß einen halben Meter weit aus, in einer dreist provozierenden Pose, in der der ganze Stolz auf ihre Leiblichkeit liegt, und lässt den Jungen da unten verkümmern. Der aber genießt gerade seine Schwäche.

 

Gerade habe ich eine neue Armbanduhr gekauft. Nun stehe ich am Datumsfenster und blicke in die Zeit, in der ich meine erste Uhr im Preisausschreiben eines Schuhfabrikanten gewann. Auch sie besaß ein Datumsfenster, das allerdings von einer Gardinenstange zertrümmert wurde beim Fechten im Kinderzimmer. Da hing der Tag heraus wie ein ausgelaufenes Auge und schielte nach dem Zifferblatt, während sich der Uhrmachermeister bekümmert darüber beugte und weiter zur Kundin sprach:

»Wie viele Familien hat die Liebe ruiniert!«

So einen Gedanken hatte ich noch nie gehört.

 

Heute hatte ich das Gefühl, der neue Tag kommt nicht in jede Gegend. Der alte steht immer noch zwischen den Häusern und lehnt an den Hügeln. Der neue Tag erblaut auf den Kleidern, die sich an den Zweigen der Weiden aufgehängt haben. Sie sind eben schwer genug, damit sich die Spitzen dieser Zweige in den Fluss senken und diesen zeichnen können. Ein Seismograph, der die leisesten Erdstöße registriert.

 

Einmal stand im Garten des Hauses gegenüber eine Frau mit sommersprossigem Gesicht, kurzen Locken und einem empörend sinnlichen Mund. Sie war nicht mehr ganz jung, aber allein, sie hängte die Wäsche auf und hatte ihr Lächeln ganz um ihren Mund versammelt, während sich die kalten Augen auf die nasse Jeans konzentrierten, die, mit dem Hosenboden zur Erde, an der Leine landete.

Diese Frau kommt und geht wohl zweimal pro Woche durch ein Gartentörchen. Habe ich Glück und sehe sie, kann ich einen Gruß hinüberrufen, den sie mit einem Lächeln beantwortet. Sie trägt ein Kopftuch und einen halblangen Mantel mit der Eleganz einer Wirtschaftswunder-Frau und untertreibt gern ihren Gruß.

Über Nacht bleibt sie in einem Zimmer weit oben. Sobald sie es betreten und das Licht eingeschaltet hat, tritt sie ans Fenster, reißt den Vorhang temperamentvoller zu, als ich es ihr zugetraut hätte, und einmal löscht sie das Licht zwar, hebt aber im Dunkeln trotzdem heimlich eine Vorhangspitze und blickt auf unsere Fassade. Beim nächsten Mal habe ich deutlich aus diesem Fenster Tanzmusik klingen hören, die aber aus einer anderen Welt kam, aus fremden Ländern, schwer verständlich, aber nachdrücklich rührselig wie Klezmer oder Fado.

Unter ihrem Fenster steht ein verschossener gelber Liegestuhl mit gebrochener Armlehne. Ich denke mir, dass es ihr Stuhl sein muss, finde ihn traurig und rührend, hat sie doch das Zeug zu einer Neureichen-Witwe, die nur entdeckt werden muss. Eines Tages möchte ich sie hier sitzen sehen. Eine solche Frau. Auf einem solchen Stuhl.

Einmal konnte ich sie in einem ebenerdigen Zimmer eines ganz anderen Trakts des Gebäudes erkennen. Es war sehr spät, und ich habe noch genau das Bild ihrer Hand vor Augen, die durch eine angelehnte Tür nach dem Lichtschalter tastete. Aber ich erkannte ihre Hand und sie am blonden, sommersprossigen Arm und dem Schlafanzugärmel. Dann erlosch das Licht.

Früher vermutete ich sie hinter dem einen Fenster da oben. Inzwischen denke ich, dass sie überall erscheinen kann. Ich bin schon oft vor erleuchteten Fenstern auf und ab gegangen und habe hochgeblickt, Schlüsse gezogen und Konjunktive geblasen. Gestern sollen aus ihrem Zimmer Gläserklirren und eine Männerstimme gedrungen sein, und meinem Zeugen zufolge erschien ein Mann »in Adams Leder« am Fenster. Als ihr Gruß heute Morgen ein bisschen verächtlich ausfiel, mochte ich sogar das. Sie zuckte die Achseln mit dieser Attitüde, mit der auch Dschingis Khan sein Sengen und Morden verteidigt hätte: »So bin ich eben.« Ich könnte sagen: Ich liebe diese Frau für die Art, wie sie missverstanden wird. Aber nein, wahrscheinlich liebe ich mich selbst dafür.

 

Und manchmal entfaltet sich morgens die Idee, einen schönen Tag zu machen, nicht, um ihn zu verschleudern, eher, um ihn zu bekleiden wie man ein Amt bekleidet. Das ist die nie erschöpfte Liebe zum leeren Tag, wenn der Schnee nicht aufhört zu fallen, die Balkontür offen steht, und in den Schwaden der kalten Luft gehe ich vor sieben Uhr durch die Zeilen, und heute haben sogar, in den fallenden Schnee hinein, die Vögel gesungen, als sei ihre Freude, am Leben zu sein, in jedem Ton geläutert und rein.

 

Ein Feiertagsmorgen, Raureif auf den Autos, die Rasenflächen silbernadelsteif. Während ich das Kaffeewasser aufsetze, fällt mir in der gegenüberliegenden Hauswand der dicke Junge ins Auge, der, eingewickelt in eine Wolldecke aus dem Fenster hängend, den Bürgersteig mustert. Etwas vom kranken Kindchen oder vom einsamen Witwer hat sein Bild. Er ist so wohlig frei gestellt und unbeteiligt in den Rahmen gedrückt, doch ebenso ist er ganz Auge. Ja, sein angekränkelter Zustand ist der eines Zwischenreichs, aus dem er zurück- und vorausblickt, die Entfernungen messend. Und beides liegt gleich weit weg. Was bleibt, ist der leichte Schmerz nur, die wabernde Übermüdung, die von der Krankheit eingeräumte Verantwortungslosigkeit. Er ist auch der Knabe nicht mehr, dessen Foto sein junger Vater alle zwei Wochen erneuerte und herumzeigte mit den Worten: »Jetzt kommt er halt in das Alter, wo es besonders spannend ist …«

Weiß und schwammig ist er geworden, trägt die Krankheit wie einen Titel und blickt auf die Gerechten und Ungerechten: Unten lässt einer seinen Wagen an und fährt hupend davon. Eine Frau im violetten Bademantel räumt zwei Stockwerke tiefer Unrat auf den Balkon. Ein Mann eilt auf dem Bürgersteig vorüber, der Gegenwind hebt ihm die Tolle von der Halbglatze wie ein Rhabarberblatt. Alles beobachtet der Junge mit sichtbarer Teilnahme, verfolgt die Handlung seines Lebens. Alles kommt, als werde es von außerhalb seines Blickfeldes losgeschickt, um ihm zu erscheinen. Ich verfolge die Objekte seiner Teilnahme nicht, sondern bloß seine Teilnahme. Durch seine Augen suche ich die frühmorgendliche Straße. Als er mich entdeckt hat, erstarrt er, und das ab dem Augenblick, da wir, wie zwei Fliegenaugen, einander einmal eine Facette zugewandt haben und auf dem Feinschliff dieser Facette trüb wurden.

 

Dreimal habe ich im Leben eine Flaschenpost verschickt. Die erste warf ich in den Rhein. Drei Tage später erhielt ich eine Antwort aus Andernach. Der Hund eines Spaziergängers hatte sie gefunden. Dieser war im Schützenverein, liebte das Brauchtum seiner Heimat, und unsere Korrespondenz schlief zwei Briefe weiter ein, ohne dass es zu einer Begegnung gekommen wäre.

Die zweite warf ich ins Meer bei Kiel. Monate später schrieb mir ein kleines Mädchen aus Nordschweden. Sie schickte ein Passbild, auf dem sie ramponiert aussah. Gefunden hatte die Flasche ihre ältere Schwester, die aber kein Interesse am Schreiben hatte. So korrespondierte ich mit der Kleinen ein halbes Jahr. Dann hatten wir uns erschöpft.

Die dritte Flaschenpost verschluckte der Atlantik vor vielen Jahren.

Zu jeder Zeit habe ich mir andere Empfänger vorgestellt: eine Dame mit Veilchenaugen, einen Russen, der den Wodka »Vaterlandsweinchen« nennt, einen Kunstmaler mit hängender Wampe, eine Hip-Hop-Queen.

Einmal überquere ich die Straße einer Großstadt. Da stehen Mann und Frau zwischen zwei parkenden Autos, der Mann stumpf, die Frau agitiert. Nichts passierte, vielmehr war gerade etwas passiert. Sie schreit ihn an: »Nun tu doch was!« Und wieder: »Nun tu doch was!« Plötzlich sehe ich meine dritte Flaschenpost, wie sie von einer Hand aus den Wellen gefischt wird. Seit Jahren wartete ich darauf, im Leben einmal den Satz zu hören: »Nun tu doch was!« Jetzt ist er eingetroffen.