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Hat ein mysteriöser, offenbar glimpflich abgelaufener Autounfall den bisher wenig erfolgreichen Lebensweg einer jungen Schulabbrecherin und Gelegenheitsprostituierten nunmehr völlig aus der Bahn geworfen? Während sich ihr bisheriges Dasein mit all seinen Wirrnissen und Nöten offenbar unvermindert weiter abspult, triftet die Ich-Erzählerin immer wieder in den dunkelsten Zeitabschnitt unseres vergangenen Jahrhunderts ab, wird darin in ebenso tragische wie gefahrvolle Szenarien verstrickt, und gerät am Ende selbst in die Todesmaschinerie jenes menschenverachtenden Regimes. Doch welche dieser beiden Daseinsebenen ist nun die tatsächlich real erlebte und erlittene Wirklichkeit? Und in welcher von ihnen erfüllt sich am Ende ihr eigenes Schicksal? Ein aufwühlender Roman von historisch zeitloser Aktualität. Und mit einem bis zur letzten Zeile unvorhersehbaren, spannungsgeladenen, die eigenen seelischen Tiefen unbarmherzig auslotenden Handlungsablauf.
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Seitenzahl: 441
Veröffentlichungsjahr: 2024
Edda Noreia
EDDA NOREIA
WOLFSMOND
ROMAN
edition fischerimR. G. Fischer Verlag
Die Handlung dieses Romans sowie die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden; eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und tatsächlich lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2024 by R. G. Fischer Verlag
Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main
Alle Rechte vorbehalten
Herstellung: rgf/1A
ISBN 978-3-8301-1915-9 EPUB
ERSTER TEIL
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
ZWEITER TEIL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
13. KAPITEL
14. KAPITEL
15. KAPITEL
16. KAPITEL
DRITTER TEIL
17. KAPITEL
18. KAPITEL
19. KAPITEL
20. KAPITEL
21. KAPITEL
22. KAPITEL
23. KAPITEL
24. KAPITEL
25. KAPITEL
VIERTER TEIL
26. KAPITEL
27. KAPITEL
28. KAPITEL
29. KAPITEL
30. KAPITEL
31. KAPITEL
32. KAPITEL
33. KAPITEL
FÜNFTER TEIL
34. KAPITEL
35. KAPITEL
36. KAPITEL
37. KAPITEL
38. KAPITEL
39. KAPITEL
SECHSTER TEIL
40. KAPITEL
41. KAPITEL
42. KAPITEL
43. KAPITEL
44. KAPITEL
45. KAPITEL
46. KAPITEL
47. KAPITEL
SIEBTER TEIL
48. KAPITEL
49. KAPITEL
50. KAPITEL
51. KAPITEL
52. KAPITEL
53. KAPITEL
54. KAPITEL
55. KAPITEL
ACHTER TEIL
56. KAPITEL
57. KAPITEL
58. KAPITEL
59. KAPITEL
60. KAPITEL
61. KAPITEL
62. KAPITEL
63. KAPITEL
64. KAPITEL
65. KAPITEL
Sie werden mich töten! Bald! Ich fühle es. Vielleicht schon heute Abend! Nach Sonnenuntergang! Sie exekutieren immer nach Sonnenuntergang!
Dann werde ich das Tageslicht nicht mehr sehen.
Unter einem fahlen dämmrigen Winterhimmel werde ich vor meine Henker treten, werde mich verzweifelt an ein vages inneres Wissen klammern, das mir suggeriert, mit diesem schrecklichen Geschehen nur die Vision einer längst vergangenen Realität zu durchleben.
Einer Realität, die irgendwann aus einem fatalen Grund meine Wahrnehmung verwirrt und mein Ich in ein tödliches Schicksal verstrickt hat. Und in die sich immer noch Szenen aus einem anderen, nicht weniger aufwühlenden, aber offenbar noch lange nicht zu Ende gelebten Erdendasein drängen.
Halt, Mädchen! Sieh dich um! Du sitzt im Todesbunker! Es ist zu Ende! Das Urteil ist gefällt! Es gibt kein Zurück! Und du weißt es! Also zwinge dich ein letztes Mal, diesen Ansturm halb verschütteter, halb erträumter Bilder und Emotionen abzuwehren!
Zu spät! Schon spüre ich, wie sich jene andere Wirklichkeit von Neuem über meine Gegenwart stülpt! Wie sie mich heimholt! Wie sie alte Erinnerungen, ein Kaleidoskop aus Wut, Trauer, Hoffnung und Verzweiflung, noch einmal in mir erweckt.
Jenes Haus dort!
Ich erkenne es wieder! Ich erkenne diesen traurigen Tatort einer verpissten Kindheit! Einer falsch gestarteten Jugend!
Wie ich ihn hasste!
Und wie sehr ich mich seinetwillen selber hasste!
Erneut sehe ich mich, wie einst, aus diesem Haus stürzen. Blindlings! Mit zerrissenen Kleidern und wütendem Herzen! Der Schock würgt noch immer meinen Hals wie diese Männerfaust.
Stolpernd schwanke ich durch schmutzige Schneepfützen eines aufgeweichten Wintertages auf das helle Band der Fahrbahn zu.
Hinter mir spüre ich Mirkos Atem.
Er holt mich ein! Zerrt mich zu Boden!
»Wehe dir! Nur ein Wort zu Lola! Und ich bring dich um!«
Ich stöhne! Ich schreie!
Aber da ist niemand. Nur dieser endlose, sich in Kurven windende Asphalt. Taumelnd, mit erhobenen Armen, schwanke ich die Straße entlang.
Da! – Ein Auto prescht heran! Verschlingt mich wie ein Ungeheuer!
Ich spüre den dumpfen Aufprall mit all meinen Sinnen. Irgendetwas schleudert mich hoch – lässt mich schweben –
Und dann der Fall! Das Ende!
Die Schwärze einer sekundenlangen Ewigkeit spuckt mich aus wie einen verdorbenen Bissen.
Ich liege im Straßengraben, die Arme ausgebreitet, als wollte ich fliegen.
Benommen hebe ich den Kopf.
Vor meinen Augen wölbt sich eine Böschung. Langsam beginne ich durch dichtes sonnenwarmes Gras zu robben, mich ein wenig hochzustemmen.
Aber was ist das?
Die Straße hat sich verändert. Ist schmal und staubig geworden. Die krummen Obstbäume zu beiden Seiten werfen ein Schattengitter über die unebene Fahrbahn.
Eine Weile noch bleibe ich liegen. Spüre die Sonne auf meinem Rücken. Ein Windstoß streift eine Strähne von meiner Wange.
Vorsichtig taste ich mein Becken ab. Etwas gebrochen?
Ich weiß es nicht.
Die Beine gehorchen mir nur widerwillig, während ich mich ächzend aufrichte, auf allen Vieren vorwärts krieche und von Neuem zusammensacke.
Was ist geschehen?
Mühsam beginnen sich meine Gedanken zu ordnen. Aber ich komme mit den Zeitläufen nicht zurecht.
War ich nicht soeben auf der Flucht?
Nun scheint sich die Welt um mich herum verwandelt zu haben, ist zum Psychogramm eines Traumbildes geworden.
Diese unwirkliche, lastende Stille um mich herum! Dieses verlorene Band der einsamen, gewundenen Landstraße! Diese Menschenleere!
Doch nein! Fernes Motorengeräusch erhebt sich in der Ferne.
Ich ducke mich, rolle zur Seite.
Was passiert jetzt? Das Dakapo eines Unglücks im Schnelldurchlauf?
Das Auto knattert heran, fährt vorbei. Staub wirbelt auf.
Ich versinke im Gras. Nur nicht bewegen!
Unerklärliche Angst presst mir den Atem ab. Was für ein irrationaler Moment! Ich kann nicht mehr denken! Nichts festhalten! Ich bibbere wie im Schüttelfrost. Und der Boden unter mir fängt an zu schlingern.
Längst hat diese teigige Stille alle fernen Geräusche verschluckt.
Ich bin allein. Ausgesetzt im Vakuum einer fremden Realität.
Und doch: Ich lebe! Bin aus Fleisch und Blut! Bin ich! Katja! Katja, die Freie! Unbeugsame! Unbesiegbare!
Mühsam, auf Knien und Ellbogen, richte ich mich auf. Hebe die Lider, nehme endgültig eine offenbar dubios verwandelte Umwelt in Augenschein.
Aber wo bin ich wirklich?
Da waren überall Schneereste in den Mulden der hügeligen, parzellierten Landschaft. Da waren ein paar aufgemotzte Einfamilienhäuser hinter den Kurven einer gut ausgebauten Überlandstraße. Und – ich blinzle empor – waren da nicht Kondensstreifen am blaugrauen Winterhimmel?
Und jetzt?
Wärme. Stille. Bläue und Sonnengold in der Luft. Und ein paar bescheidene, beinahe ein wenig heruntergekommen wirkende Dorfhäuser in der Ferne: eine Welt von gestern?
Und wieso vor allem diese weiße, schmale Landstraße? Die ich nun betrete wie einen verbotenen Pfad.
Dort, an der Biegung, steht eine Frau.
Ich stutze. Sie ist noch jung. Und sie sieht mir seltsamerweise ähnlich! Sieht beinahe aus wie ich! Und doch: Wie anders, wie durchsichtig sie wirkt!
Ich bewege mich auf sie zu. Möchte sie fragen. Möchte wissen, wo ich bin. Doch diese stille, geheimnisvolle Gestalt in ihrem engen, verführerisch geschnittenen Sommerkleid zeigt keine Regung.
Hat sie am Ende etwas mit meinem Unfall zu tun? Da war doch ein schnittiger Flitzer! Doch nein! Ich fantasiere! Ich habe den Unglückswagen kaum wahrgenommen.
Verwirrt schaue ich an mir hinunter. Meine Füße stecken in halbhohen Pumps. Das dünne schmale Kleid klebt an meinen Schenkeln.
Verflucht! Ich kenne diese Garderobe nicht! Was geschieht da mit mir?
Befangen winke ich der Fremden zu. Rufe einen schüchternen Gruß. Aber die Dame, Reisende, Dorfschönheit oder Nutte oder was immer sie auch darstellen mag, gibt keine Antwort. Starrt mich nur unentwegt an, mit einem saugenden und dennoch verlorenen Blick, als sähe sie durch mich hindurch in unerreichbar ferne Welten.
Ich lächle ein bisschen. Mir ist unheimlich zumute. Warum dieses Schweigen? Diese Reglosigkeit?
Ein kurzes Zögern, ein Wimpernschlag zerteilt den nächsten Augenblick.
Ich atme. Spüre, wie sich mein Brustkorb beim Atmen hebt und wieder senkt, spüre, wie die Benommenheit von mir abfällt wie ein durchsichtiger Schleier.
Die Frau aber ist verschwunden. Ganz plötzlich.
Ich drehe mich um, drehe mich um meine eigene Achse, schaue die Böschung entlang, schaue über die gelb und grün überhauchten Felder, über die weit hingestreckten Hügel hinter den Bäumen, doch da ist niemand. Der Platz, auf dem die Fremde stand, ist leer.
Ich gehe weiter. Nur fort von hier!
Die Straße ist scheinbar endlos, steigt an, fällt wieder ab, rollt sich vor mir auf, lockend und verführerisch wie ein noch ungelüftetes Geheimnis. Und ich muss ihr folgen, ob ich will oder nicht. Und gleichzeitig ist mir, als würde ich an ihrem Ende im Nirgendwo landen.
Dennoch beschleunige ich meine Schritte.
Die Landschaft weicht zurück. Größere Häusergruppen drängen sich in mein Blickfeld. Die Peripherie einer großen Stadt tut sich nach und nach vor mir auf, einer Stadt, die mir vertraut sein müsste, und die mir dennoch fremd erscheint.
Verwundert bleibe ich stehen.
Da sind Häuser mit Vorgärten. Noch unbebautes Land. Straßen, die in alle Richtungen führen.
Ich weiß nicht mehr weiter, kann mich nicht mehr orientieren.
Ein Gedanke durchfährt mich: Hat dieser Unfall am Ende mein Gedächtnis zerrüttet? Wurde ich aus meinem Erinnerungsvermögen geschleudert?
Nicht doch! Ich kann mich an alles erinnern! Ich weiß, wer ich bin und was geschehen ist.
Mirko! Dieses Scheusal! Lolas neueste Eroberung!
Es begann, wie es enden musste. Er war mir auf den Fersen. Von Anfang an. Wohin ich auch ging: Er war da! Mit seinen heißen, klebrigen Augen, der markigen Ausdünstung seines muskulösen Körpers, dem schamlosen Lächeln eines Landstreicherkönigs, das mich verfolgte bis in meinen Schlaf.
Und dann der Angriff! Der ungleiche Kampf! Mein Hass und meine Abscheu! Und zugleich dieses widersinnige Verlangen!
Übelkeit steigt in mir auf. Schwindel erfasst mich.
Vielleicht ist das alles ja doch nicht wirklich geschehen. Vielleicht liege ich noch immer irgendwo in einem Winkel meiner Behausung und träume einen langen und bösen Traum.
Ich kneife mich in den Arm. Es tut weh.
Hilfesuchend schaue ich mich um.
Da gehen Menschen, etwas altmodisch gekleidet, Figuren wie aus einem anderen Jahrhundert. Die Männer in weit geschnittenen Anzügen, Hüte auf dem Kopf. Die Frauen in knielangen schmalen Kleidern. Auch sie tragen sommerliche Hüte auf den wohlfrisierten Köpfen.
Ein paar junge Leute schlendern an mir vorüber. Sie lachen, machen mir Zeichen.
Sehe ich so einladend aus?
Ich fliehe in eine Seitengasse.
Das dünne Fähnchen, das ich anhabe, ist von ziemlich billiger Qualität. Und ich besitze weder Hut noch Handtasche.
Bin ich auch hier eine Unangepasste, eine Außenseiterin?
Verwirrt lasse ich mich auf den Eingangsstufen eines Hauses nieder. Meine Wangen glühen. Ich bin müde und hungrig. Und es scheint, als fände ich von hier nicht mehr so schnell nach Hause.
Vor Erschöpfung schließe ich die Augen. Sehne mich nach Vico, meinem Freund und Kumpel. Ich weiß, er wohnt da irgendwo hinter den Häuserschluchten dieser großen Stadt, die sich auf perfide Weise verändert hat.
Ich muss diesen Ort wiederfinden! Ich muss Vico finden! Gemeinsam werden wir diesen Albtraum verjagen.
Eine sanfte Berührung weckt mich aus meinen Gedanken.
Da stehen Männer in Uniformen um mich herum.
Einer von ihnen beugt sich zu mir herunter:
»Fräulein? Was ist Ihnen?«
Ich schaue auf, erschrocken und hoffnungsvoll zugleich. Mein Blick bleibt an einem martialischen Symbol an seiner Uniformkappe hängen.
Was soll das bedeuten?
Wer sind diese Leute? Tote? Oder die Manifestation einer verrückten Halluzination?
Aber der Typ da vor mir scheint sehr lebendig zu sein.
Er lächelt mir zu. Seine Hand greift nach der meinen, zieht mich zu sich empor.
»Kommen Sie, wir bringen Sie nach Hause. Wo wohnen Sie?«
Ich bringe kein Wort hervor.
»Ich weiß nicht«, sage ich schließlich verwirrt.
Diese Antwort ruft ein unterdrücktes Gelächter bei den beiden anderen Uniformierten hervor:
»Die junge Dame macht Spaß! Oder ihr Wohnort birgt ein Geheimnis. – Haben Sie einen Ausweis bei sich, Fräulein?«
»Ich hab mich nur verlaufen«, sage ich beklommen.
Die Anwesenheit dieser Männer schüchtert mich ein. Ich will nur noch fort. Setze mich, so gut ich kann, wieder in Bewegung. Doch der erste der drei Offiziere hat mich bereits untergefasst.
»Sehen Sie, dort drüben steht unser Wagen. Wir werden Ihren Wohnort schon ausfindig machen. Und wenn Sie erlauben, laden wir Sie vorher zu einem Glas Wein ein. Geht das für Sie in Ordnung?«
Ich kann mich kaum mehr auf den Beinen halten. Der Unfall, der Schock, mein zerrüttetes Gedächtnis, diese jenseitigen Halluzinationen von einer längst versunkenen Welt – all das drückt mich endgültig zu Boden.
Am Arm dieses Fremden, mehr getragen als geführt, überquere ich einen kleinen Platz, werde in einen geräumigen Oldtimer gehievt und lege tief aufseufzend meinen Kopf auf die hohe Lehne.
Ich will nichts mehr sagen, nichts mehr denken. Will nur schlafen, schlafen und diese schrecklichen Tagträume und ihre verstörenden Bilder für immer vergessen.
Aber die Stimme des Offiziers von vorhin reißt mich aus meiner Müdigkeit: »Kommen Sie, ein Schluck Alkohol wird Ihnen guttun.«
Ich werde aus dem Wagen gehoben, ein paar Schritte über den Gehsteig geleitet und in die farbenprächtige, spiegelnde Welt einer Hotelbar geschoben.
Wo bin ich da hingeraten?
Am Arm eines Uniformierten, flankiert von seinen beiden Kameraden, wandle ich wie auf Eiern auf eine schummrig beleuchtete Nische zu, lasse mich in eine fremdartige Welt aus Plüsch und Tangomusik sinken, deren wechselnde Silhouetten an mir vorüberziehen wie Figuren aus einer alten, abgetakelten Filmschnulze aus längst vergangener Zeit.
Was für ein Hier und Jetzt! Ich möchte meine mir abhandengekommene Gegenwart zurückholen, möchte schreien: Weg mit all dem Plunder aus einer versunkenen Welt, in der ich mich nicht mehr erkenne!
Aber die lächelnden Gesichter meiner Begleiter stoppen meine stumme Revolte: Tatsächlich! Ich bin nicht mehr ich!
Aber wer bin ich dann?
Offenbar errege ich Aufmerksamkeit. Ein Herr sitzt dort drüben an der Theke, dreht versunken an seinem Glas, während seine umschatteten Augen nachdenklich auf mich gerichtet sind.
Ich schiebe mich tiefer ins Dunkel der Nische, will nicht beobachtet werden. Meine unrühmliche Vergangenheit, so kurz und flach sie auch gewesen sein mag, macht mir noch immer zu schaffen. Ich bin im Grunde noch nicht abgebrüht genug, um mich ernsthaft in jenem von mir selbst gewählten, nicht gerade bürgerlichen Umfeld zu behaupten. Kein Wunder. Alle meine Unternehmungen wurden bisher von Aufmüpfigkeit, Dummheit und Verzweiflung gesteuert. Mit viel Glück hatte ich überlebt und war eben dabei, so hoffte ich wenigstens, endgültig erwachsen zu werden.
Dann aber versperrte mir diese unglückselige, überstürzte, unreife Affäre mit dem neuen jugendlichen Gefährten meiner Tante und Ziehmutter meinen weiteren Handlungsspielraum. Ich war gefangen. War schuldlos schuldig geworden.
Vermutlich hat er mich nicht wirklich gewürgt, hat mich nicht wirklich vergewaltigt. Mein Gewissen war es, das mich schreiend fliehen ließ, mein schlechtes, trügerisches Gewissen, das ich mir noch nicht abgewöhnen konnte.
Aber gleichviel: Ich sollte die Sache so schnell als möglich bereinigen. Meine fragile Welt ist zusammengebrochen, mein Selbstverständnis aus den Fugen geraten. Die Zukunft hat sich in eine dunkle bedrohliche Landschaft verwandelt.
Ratlos schaue ich mich um.
Die hellen Augen meines Galans tasten mich fragend ab, begegnen den meinen.
»Ich bin übrigens Lutz. Und das da sind Bernd und Udo.«
Gläser werden auf den Tisch gestellt, eine Bouteille Wein. Das rubinfarbene Rot leuchtet im Kerzenlicht.
Ich aber senke die Lider, um eine gewisse, längst erworbene Professionalität in meinen Augen zu verbergen. Höflich sage ich stattdessen: »Ich heiße Katja.«
Doch dann fällt der Augenblick jäh in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
Diese Menschen da, der intime Raum, die bunten Karaffen auf den gläsernen Regalen, die leise, diskrete Musik, all das ist nicht wirklich.
Auch ich bin nicht wirklich. Bin nur ein Bündel Müdigkeit, das, wer weiß warum, in eine fremde, unbekannte Welt gespült wurde.
Die fragile Erscheinung jener fremden Frau, diese einladende und zugleich unnahbare Mädchengestalt an der so einsam wirkenden Landstraße, schiebt sich zwischen meine verwirrten Gedanken. Mir ist, als säße sie jetzt neben mir.
Erneut schaue ich mich um. Und begegne wieder diesem ernsten, beobachtenden Blick jenes fremden Herrn.
Der Offizier, der sich Lutz nennt, hebt sein Glas.
»Auf uns! Und auf die neue Zeit!«
»Auf die neue Zeit!«, skandieren seine Kumpel.
Die Musik aus dem Hintergrund wird um eine Spur lauter, einige Paare drehen sich auf der Tanzfläche, eine weiche Tenorstimme singt: »Es leuchten die Sterne am Himmel für dich …«
Ich trinke. Aus irgendeinem Grund erscheint es mir klüger, angepasst und passiv zu agieren. Immerhin: Die Pistolentaschen meiner Begleiter flößen mir einigen Respekt ein.
Erst langsam, in traumhafter Unlogik, macht sich Panik in mir breit. Wie soll ich mich tatsächlich verhalten?
Einer der Uniformierten hat mich vorhin nach meinem Ausweis gefragt. Würde ich hier, in dieser Welt, tatsächlich von Gesetzes wegen in Bedrängnis kommen?
Mit unauffälligen Blicken versuche ich, meine Umgebung auszuloten. Da sitzen ein paar Männer in braunen Hemden und grellen Armbinden. Sie trinken Bier und Schnaps und debattieren mit geröteten Gesichtern.
Meine Begleiter nehmen keine Notiz von ihnen.
Ich nippe an meinem Glas und versuche, harmlos und amüsiert zu erscheinen, aber die Müdigkeit legt sich erneut wie ein Schleier um meine irrlichternden Gedanken.
Ich schließe die Augen.
»Fräulein Katja?« Der Offizier an meiner Seite fängt meine Schlaftrunkenheit auf.
Ich reiße mich hoch.
»Ich muss jetzt nach Hause.« Ich lächle mühsam. »Keine Sorge, ich wohne nicht weit von hier.«
»Schade. Sieht man sich wieder?«
»Vielleicht.«
Jetzt erst erfasse ich das Antlitz meines Begleiters ganz. Es ist schmal, nervig, braungebrannt und in den stahlblauen Augen spiegeln sich Stolz und Sturheit.
Im Laufe meiner selbst erwählten Freiheit habe ich gelernt, Männer zu taxieren. Und es waren immer nur ältere, hässliche und einsame gewesen, an denen ich für einen kurzen Moment der Zweisamkeit kleben blieb, unbeteiligt, unterkühlt und sehr verlogen.
Nun aber bin ich plötzlich zu einem schutzbedürftigen jungen Mädchen mutiert, einem sogenannten »Fräulein«, das nach einem kurzen Schwächeanfall nach Hause eilt, um seine Familie nicht im Ungewissen zu lassen.
In welch verlogene Rolle hab ich mich da hineinkatapultiert!
Man verabschiedet sich ritterlich, Lutz küsst mir die Hand.
Ich schiebe mich aus der Talmiwelt und glätte fröstelnd mein dünnes Kleid.
Der Abend verschluckt allmählich die befremdlich anmutenden Silhouetten der Vorübereilenden. Ein Blumenladen schließt seine Pforten. Es wird zusehends dunkler. Vor einigen Geschäftsportalen werden Rollläden heruntergezogen.
Und wohin jetzt?
Hastig dringe ich in das mich umgebende Straßengewirr ein. Noch bin ich in einer mir unbekannten Welt gefangen, ausgesetzt meinen undefinierbaren Ängsten, die mich ziellos vorwärtstreiben.
Die Gasse, die ich jetzt durchmesse, ist still, fast menschenleer.
Doch nein! Schritte hallen hinter mir. Schauer jagen über meinen Rücken. Mit gebeugtem Nacken haste ich weiter.
Aber die Schritte kommen näher, holen mich ein.
Abrupt bleibe ich stehen. Drehe mich um.
Da ist niemand. Ich bin allein.
Kopflos eile ich weiter, schwenke in eine weitere Gasse ein. Die Häuserfronten zu beiden Seiten ragen wie feindselige Wälle neben mir empor.
Verwirrt versuche ich mich zu orientieren. Der Name der Gasse ist mir fremd, dennoch ist mir, als sollte ich ihren Windungen folgen.
Da! Dieses Haustor! Es sieht aus wie der Eingang des derzeitigen Domizils meines ruhelosen Freundes.
Zögernd drücke ich auf die Klinke.
Schwärze starrt mir entgegen. Nein, hier bin ich falsch.
Langsam, unentschlossen trotte ich vor mich hin. Ein Schluchzen steckt mir in der Kehle. Wie, wenn ich tatsächlich verrückt geworden bin? Wenn ich nie mehr in meine eigene Welt zurückfinde?
Wieder ertönen Schritte hinter mir. Ich habe keine Kraft mehr, mich gegen jene fremde Annäherung zu wehren.
Erschöpft lehne ich mich an eine Hausmauer.
»Verzeihen Sie.«
Der fremde Herr aus der Hotelbar steht vor mir. Er ist größer, als ich dachte. Seine Hände berühren zart meine Arme.
»Ich bin Ihnen gefolgt, weil ich glaube, dass Sie Hilfe brauchen. Es geht Ihnen nicht gut, nicht wahr?«
Ich starre entgeistert in dieses ernste, besorgte Antlitz. Wer ist dieser Typ? Und warum interessiert ihn meine Befindlichkeit?
»Mir geht es gut!« Mit einem Ruck mache ich mich frei. »Ich will nach Hause. Das ist alles.«
»Hören Sie, ich bin Arzt. Ich wohne gleich hier um die Ecke. Kommen Sie mit mir in meine Praxis.«
»Was?!«
»Ich könnte Ihnen helfen.«
»Lassen Sie mich! Gehen Sie!«
Ich bin geistesgegenwärtig genug, um mich dieser Anmache mit ein, zwei Schritten zu entledigen. Panisch renne ich die Gasse entlang, biege um die Ecke und tauche tief aufatmend in eine dunkle, etwas verwilderte Parkanlage ein.
Da und dort stehen Bänke. Taumelnd sinke ich nach kurzem, ratlosem Umherirren auf einer von ihnen nieder. Lege, halb verborgen von mannshohen Büschen, meinen Kopf auf die geschwungene Lehne, ziehe die Beine an und verliere mich allmählich erschöpft in einem seichten Schlummer.
Eine leichte Brise streift meine Lider, zuckend jagen vage Lichtschauer durch mein Erwachen.
Langsam öffne ich die Augen. Und starre in eine sternklare Nacht. Im Schein der Straßenbeleuchtung wirft das schwarze Laub der Bäume dunkle Gitter auf den Parkweg.
Ich richte mich auf. Und schrecke gleich darauf hoch. Auf der Bank neben mir sitzt ein Mann. Es ist der Fremde aus der Bar.
Er hat den Hut tief in die Stirn geschoben. Sein Jackett, das mich offenbar umhüllt hat, ist zu Boden geglitten.
»Ich wollte Sie nicht wecken«, höre ich meinen Verfolger sagen. »Aber die Nächte sind noch kühl. Sie mussten ja frieren in Ihrem dünnen Kleid.«
Wie ertappt, bücke ich mich nach dem Jackett, aber der Fremde hat es bereits aufgehoben, legt es mir um die Schulter, fasst mich unter.
»Kommen Sie mit. Es sind nur ein paar Schritte.«
Verfluchte Hartnäckigkeit!
In diese kernig duftende Männerjacke gehüllt, lasse ich mich in einer mir unbekannten Straße in eines ihrer vornehmen alten Häuser entführen, gleite in einem schummrig beleuchteten Aufzug empor, lande in einem geräumigen Flur, von dem etliche Türen in verschiedene Räume führen.
Was will der Typ von mir? Und was soll ich in einer Arztpraxis?
Wortlos werde ich in einen kleinen Salon, offenbar das Wartezimmer, geführt. Werde in einen der gepolsterten Stühle gedrückt und alsbald mit einer Tasse heißen Tees versorgt.
Schweigend sitzen wir einander gegenüber.
»Ich heiße Arthur. Dr. Arthur Schumann.«
»Katja.«
Ich möchte nicht reden, aber das geduldige Warten dieses Fremden auf irgendeine Eröffnung meinerseits macht mich unsicher.
»Ich hatte einen Unfall«, sage ich schließlich in die Stille hinein. »Es war ein Auto. Auf einer Landstraße. Ich war ohnmächtig. Und dann …«
Ich verstumme. Wie soll ich darlegen, was mit mir danach auf dieser vertrackten Landstraße geschah?
»Wurden Sie verletzt?«
Ich schüttle den Kopf.
»Soll ich Sie untersuchen?«
»Nein.« Ich strecke beide Arme aus. »Sie sehen, es ist nichts.«
Und dann, nach einer Pause, beinahe gegen meinen Willen: »Ich hab bloß die Orientierung verloren. Das ist alles.«
Was sollen diese Fragen? Dieser Mensch gehört nicht zu meiner Realität. Er ist nur ein Teil jener Schattenwelt, die offenbar im Begriff ist, alles, was mein bisheriges Leben dominiert hat, zu verdrängen.
Aber noch ist mein anderes Ich nicht gänzlich ausgelöscht. Noch funktioniert mein Erinnerungsvermögen ungebrochen.
Ich möchte meinen Kumpel Vico wiedersehen, möchte seinen warmen Körper spüren und eingelullt von seinen überstiegenen Träumereien vom großen Geld ins Nichts einer jener Nächte tauchen, aus denen es immer wieder ein neues Erwachen und damit neue Hoffnung gab.
Aber dieser Typ hält meine Gedanken fest, lässt mich nicht fliehen, macht sich in mir breit, zieht mich in eine Tiefe hinab, die ich nicht ergründen will!
»Ein plötzlicher Schock«, höre ich Dr. Schumann sagen, »kann durchaus gravierende Verwirrungen auslösen.«
Welch bahnbrechende Neuigkeit!
»Hören Sie, mein Umfeld spielt mir bloß ein paar Streiche. Ich …« Mühsam setze ich zu einer Erklärung an, verstumme jedoch erneut. Zu abenteuerlich, zu fantastisch ist meine Geschichte, um sie in ein paar Sätzen plausibel wiederzugeben.
Dr. Schumann hat sich erhoben, geht ins Nebenzimmer, kommt mit einem Glas Wasser und einer Tablette zurück.
»Nehmen Sie das. Es wird Sie stabilisieren.« Er ergreift meinen Arm, fühlt den Puls.
Was zum Kuckuck soll das?! Hastig entziehe ich ihm meine Hand.
Hier bin ich fehl am Platz. Dieser Weg führt mich in die entgegengesetzte Richtung. Ich darf solch gefährlichen Verlockungen nicht mehr folgen!
Ich springe auf. In der Hast meiner Bewegung stoße ich an eine kleine Kommode. Mein Blick fällt auf ein gerahmtes Foto, das dort zwischen zwei Kerzenleuchtern steht.
Es zeigt ein noch jugendliches Frauenporträt, mit sanften Zügen und schwarzem Haar. Die Dame lächelt kaum, nur in ihren dunklen, umflorten Augen scheint sich ein kleines intimes Wohlwollen widerzuspiegeln.
Dr. Schumann folgt schweigend meinem Blick.
»Ihre Frau?«
Dr. Schumann antwortet nicht gleich.
»Wir sind geschieden«, sagt er schließlich trocken. »Es musste sein.«
Verständnislos starre ich meinen mir aufgezwungenen Gastgeber an.
Dieser nimmt das Bild und schiebt es hastig, mit ein wenig zittrigen Händen in eine Lade.
»Das sollte hier nicht stehen. Aber meine Zugehfrau kann sich offenbar nicht von alten Gewohnheiten trennen.«
Eine kleine peinliche Stille entsteht.
Ich kann diese Stille beinahe körperlich spüren. Unausgesprochene Worte machen sie schwer und melancholisch, voll diffuser Anklage.
Was hat diese rätselhafte Erklärung zu bedeuten?
»Meine Frau und meine Tochter leben jetzt im Ausland«, sagt Dr. Schumann in diese Stille hinein.
Und dann, etwas leiser: »Ich sollte mit ihnen gehen. Aber ich konnte es nicht. Ich konnte meine Heimat nicht verlassen. Nicht ohne konkrete Perspektiven.«
Ich gebe mir alle Mühe, das Gesagte zu begreifen.
Da ist zweifellos eine Tragödie geschehen, soviel ist sicher. Aber warum muss ich davon erfahren? Warum erzählt dieser Fremde gerade mir von seinen seelischen Verwundungen?
»Ich muss nach Hause«, sage ich schließlich befangen. »Man erwartet mich.«
Welch überflüssige Bemerkung!
In Wahrheit erwartet mich vor allem meine eigene innere Unruhe, eine selbstgezimmerte Zwischenwelt, erfüllt von Lebenshunger und Gleichgültigkeit.
»Aber Sie haben nichts überzuziehen«, höre ich Dr. Schumann sagen. »Sie sollten nicht so, wie Sie sind, hinaus in die Nacht!«
Beklommen werde ich mir erneut meiner dürftigen Aufmachung bewusst. Welch fragwürdiges Bild muss ich in seinen Augen abgeben. Eine Streunerin, im billigen Fähnchen, mit unklarem Hintergrund, auf die Hilfe Fremder vertrauend.
Ein Schal legt sich um meine Schulter.
Ich lächle verzeihungsheischend, und fühle einen Augenblick lang die Hand dieses ungewollten Wohltäters auf meiner Wange. Sie ist lau und schlaff, die Hand eines Toten.
Auch seine Stimme klingt jetzt wie aus einer anderen Welt: »Merkwürdig, wie sehr Sie mich an meine Tochter erinnern.«
Wortlos wende ich mich ab. Haste aus der Wohnung. Durchquere das matt beleuchtete Treppenhaus. Finde mich schließlich in den leeren Straßen hinter jener Parkanlage wieder, halte ein wenig inne, und renne dann los.
Ich laufe mit halbgeschlossenen Lidern. Fühle mein Herz schlagen. Höre das Keuchen meines Atems. Und spüre das holprige Pflaster der schmalen Gassen unter meinen Füßen.
Kälte stürzt plötzlich auf mich ein. Eine frostige Schwärze verschluckt meine Schritte. Und zugleich rinnt Schweiß in dünnen Bächen über meine Wangen.
Was für eine Verwandlung!
Laufe ich tatsächlich aus der nächtlichen Frische eines versunkenen Sommertages hinaus in einen froststarren Winterabend?
Irgendwann blendet Helligkeit meine Augen.
Vertraute Straßenzüge nehmen mich auf.
Bin ich gerettet?
Misstrauisch sehe ich mich um.
Da sind Menschen. Sie gehen geschäftig, gleichgültig, stumpfsinnig an mir vorüber, im vertrauten Outfit meiner Zeit, gefangen im Räderwerk ihrer Gegenwart. Viele andere Ichs. Die Normalität?
Ich möchte all diese Menschen berühren. Möchte ihre Aufmerksamkeit erwecken.
Stattdessen reihe ich mich stumm in den allmählich spärlicher werdenden Strom der Passanten ein.
Und mit jedem Schritt verblassen in mir die fremden, verstörenden Bilder aus einer anderen Zeit, einem anderen Leben, versinken als rätselhafte Artefakte meines Schicksals bis auf den Grund meiner zutiefst verwirrten Seele.
Ich friere. Automatisch vergraben sich meine Hände in den Jackentaschen.
Aber was ist das?! Diese Aufmachung! Winterjacke? Enge Jeans? Stiefeletten? Mein gewöhnliches Winteroutfit?!
Bin ich tatsächlich zurückgekehrt?
Doch ich friere noch immer. Trotz dieser wetterfesten Bekleidung. Nervös taste ich an meinen Hals. Da ist kein Schal.
Mit ein wenig Wehmut taucht vor meinem inneren Auge ein besorgter Fremder auf, dessen Hand zum Abschied flüchtig meine Wange berührt hatte.
Egal, ob es dich wirklich gibt oder einstmals gegeben hat, fremder Freund: Wir werden einander niemals wiedersehen. Werden nie mehr in deiner oder meiner Ausweglosigkeit verharren. Werden nie wieder vergeblich versuchen, einander näherzukommen.
Und das ist auch gut so.
Ich bin zurückgekehrt in mein altes, unglücklichglückliches Leben. Und niemand und nichts wird mich ein weiteres Mal daraus vertreiben!
Aufgescheucht bleibe ich vor dem Portal eines Kaufhauses stehen. Doch ein bekanntes Gesicht lässt mich sogleich wieder an Flucht denken. Unwillkürlich unterdrücke ich diese Regung. Ich muss schließlich meiner früheren Wahrnehmungskraft wieder vertrauen dürfen, muss mich ihr stellen.
Auch Lola hat mich erblickt. Mit ausgestreckten Armen kommt sie auf mich zu.
»Wo warst du die ganze Zeit über? Und warum lässt du mich ohne Nachricht?!«
Dieser mütterliche Tonfall des Vorwurfs! Diese Überherzlichkeit eines schlechten Gewissens!
Ich bin nicht mehr bereit, an die Echtheit dieser aufgeregten Begrüßung zu glauben. Und zugleich ist mir bewusst, dass ich dieser Frau auf eine gewisse Weise damit unrecht tue. Bei aller Unzulänglichkeit ihrer Lebensführung war sie stets darauf bedacht gewesen, mir eine angemessene, gutbürgerliche Erziehung angedeihen zu lassen.
Und wie bitter hab ich sie enttäuscht!
Ich erdulde eine Umarmung, sammle die zu Boden gesunkenen Einkaufstaschen auf und steuere im Schlepptau meiner einzigen mir verbliebenen Verwandten auf die Parkgarage zu.
Wie grazil und elegant meine Tante und Ziehmutter noch immer ist! Eine unverwüstlich jugendliche Sirene. Kompromisslos ihrer Strahlkraft vertrauend, und zugleich Opfer dieser Siegessicherheit. Ein trauriges und zugleich virtuos gehandhabtes Leben. Niemals werde ich sein wie Lola!
Der Wagen, in dem wir nun die erstandenen Pakete verstauen, wirkt strapaziert und abgenutzt. Es wäre also an der Zeit, sich einen neuen Geldgeber für den unverzichtbaren luxuriösen Lebensstil zu suchen.
Aber mit Mirko ist der finanzielle Abstieg vorprogrammiert.
Mirko! Dieser Schmarotzer! Dieses Gift meiner Nächte!
Und Projektionsfläche meiner einstigen Mädchenträume! Dieses gefährliche Tonikum für all meine überzogenen Pläne und Aktivitäten!
Ich sollte ihn endlich aus meinem Bewusstsein löschen!
Vergeblich wehre ich mich mit matten Ausreden dagegen, in das Gefährt zu steigen, um von Tante Lola zu deren schicker Behausung am Stadtrand gefahren zu werden.
Doch diese duldet keine Widerrede.
»Wie blass du bist! Und wie mager! Sicher treibst du dich den ganzen Tag auf den Straßen herum! Und isst zu wenig! Das kann so nicht weitergehen!«
Richtig! Dieser latente Zustand der Ungewissheit ist nichts für bürgerliche, ehrgeizige Ambitionen. Aber ich fühle mich nicht schlecht dabei.
Wenn nur nicht dieser ständige Geldmangel wäre!
Ich merke längst, dass ich in meiner Lebensführung abdrifte, für ein paar Scheine schon einige letzte moralische Hürden überspringe. Dass ich stehle, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet. Dass ich Schmiere stehe bei den meist gefahrvollen Unternehmungen meines kriminellen Freundes Vico und seiner Gang. Und dass mein Gewissen rein ist, wenn ich die Aktivitäten einer internationalen Drogenbande unterstütze.
Widerwillig schiebe ich mich neben den aufdringlich parfümierten Männerschwarm und starre in diesen hoffnungslosen, allmählich zu Ende gehenden Wintertag.
Was wird mich am Ziel dieser Fahrt erwarten? Und welche Ausreden werde ich diesmal gebrauchen, um mich dem Dunstkreis meiner ausgehauchten, einstmals streng überwachten Kindheit ein für alle Mal zu entziehen?
Im Haus ist es warm. Ich beginne aufzutauen wie ein Stück Eis. Vermutlich hab ich tatsächlich schon lange nichts mehr gegessen. Ein leichter Schwindel wirft mich auf die Couch, und meine Lider werden schwer.
Aber gleichzeitig bleibt etwas in mir, ein Rest von Vorsicht, hellwach.
Wo ist Mirko?
Endlich wage ich nach ihm zu fragen.
Lola hat sich in ein dünnes Hauskleid gehüllt. Ihre schlanken Finger ordnen nervös das Blumenarrangement, das den Couchtisch ziert.
Mirko sei auf einer Fernfahrt, wird mir beiläufig berichtet.
»Mirko arbeitet wieder?«
»Seit heute Morgen.« Ein ehemaliger Kumpel habe ihn um seine Aushilfe gebeten.
Was für eine Neuigkeit! Mirko auf großer Tour. Mirko, der Gigolo und Lebenskünstler wieder hinter dem Steuer! Eine hübsche Vorstellung.
Ich atme befreiter.
Beinahe ist es jetzt so wie früher. Unter dem gedämpften Licht der Stehlampe lässt es sich behaglich schwatzen. Wir essen, wir trinken Wein. Warum kann es nicht mehr so sein wie einstmals in besseren Tagen?
Lola nutzt die Gunst der Stunde.
Führt mir mit sanftem Nachdruck erneut meine eigene, selbst verschuldete Lage vor Augen. Die Schule hingeschmissen. Ohne Lehrstelle. Ohne Zukunftsperspektiven. Und das Ende von alledem?
Ich spüre echte Sorge in ihrer Stimme. Denkt sie an ihren eigenen Werdegang?
Ich lächle. Ich schweige. Ich trinke.
Heute sollten wir nicht diskutieren. Der Ernst des Lebens ist ausgesperrt. Ich bin soeben einer bedrohlichen Welt entkommen.
Mein Kopf wird schwer. Vielleicht gibt es mich morgen nicht mehr. Mein Verstand könnte kippen. Dann ist doch ohnehin alles egal.
Träge genieße ich den Augenblick.
Wenn Lola wüsste! Ihr Lover ist ganz offensichtlich ein Stück Dreck. Soviel ist sicher. Aber auch ich kann nicht anders, als so zu sein, wie ich eben bin. Obwohl ich mich zuweilen ernstlich ändern möchte. Ehrenwort!
Ich bin betrunken. Ich lache.
Der Schlaf umfängt mich mit zärtlichen Gesten. Tante Lola lässt mich gewähren. Sie hat sich ins Badezimmer zurückgezogen.
Ich taumle fast auf dem Weg zu meinem alten Zimmer.
Doch diese offene Tür zum quasi ehelichen Schlafzimmer lässt mich zögern.
Da ist das gemeinsame Bett.
Langsam trete ich näher. Werfe mich der Länge nach auf die Decken. Schnüffle am Polster.
Was für ein Narkotikum atme ich da! Der Verführer hat seine Duftnote hinterlassen. Eigens für mich!
Ich schlage auf das Kissen ein. Vergrabe die Wange darin. Hass und Abscheu erfüllen mich. Ein Strom von Flüchen ergießt sich über diese Bettstatt.
Doch eine verhängnisvolle Schwere hält mich auf ihr gefangen.
Das Geräusch einer sich entleerenden Badewanne, leichte Schritte im Korridor reißen mich jäh aus meinem Delirium.
Ich rapple mich hoch. Ordne Decken und Kissen. Schleiche aus dem verbotenen Reich fremder Ekstasen, und schließe die Tür meines Zimmers so leise als möglich.
Das Ende eines langen Tages legt mich endlich flach. Ich ruhe wie in einem Sarkophag, mit gefalteten Händen und keuschen Lippen.
Aber der Schlaf will nicht kommen.
Irgendwann tauche ich, erschöpft und mit schweren Gliedern, aus den Wogen einer verworrenen Bilderwelt empor.
Es ist noch Nacht. Doch die Vorahnung eines neuen Tages dünnt bereits die Schwärze des Himmels aus.
Wie eine Schlafwandlerin erhebe ich mich und trete ans Fenster. Starre lange auf die grauen Silhouetten der kahlen Sträucher unter mir.
Und mir ist, als löse sich dort unten langsam eine schmale Gestalt aus dem Astgewirr, höbe grüßend den Arm, um schließlich nach und nach mit dem steigenden Licht des Morgens zu verschwimmen.
Am nächsten Tag galt es, Lolas entschlossener Fürsorglichkeit zeitgerecht zu entkommen.
Ich war schmeichelweich und voll guter Vorsätze. Aber tief in mir breitete sich Kälte aus, ein ratloses Beharren auf all dem Bösen, das man bisher in meinem Charakter wahrzunehmen glaubte.
Mit viel Glück verpasste ich also nicht wie sonst den morgendlichen Bus.
Ich bin entschlossen. Ich brauche Gewissheit. Gewissheit über mich und meine absonderlichen Visionen.
Da ist die Straße. Sie durchschneidet den hellen, glitzernden Tag und gibt all ihre platten Geheimnisse preis: Sieh her! Da ist nichts, was du nicht schon seit langem kennst. Keine staubigen Kurven und malerischen Windungen, keine krummen Obstbäume zu beiden Seiten, keine verloren wirkenden Dörfer hinter den Feldern in der Ferne.
Gestern, auf der Fahrt zu Lolas Haus war es bereits dunkel gewesen, die widerspenstige, abgenutzte Gegenwart gehüllt in diese wohltuende nächtliche Verschwommenheit, Spielwiese meiner Illusionen, die mir stets ungezählte fantastische Möglichkeiten vorgaukelt, und die ich so sehr liebe.
Aber heute gilt es, die Dinge zu überprüfen, zu hinterfragen und schließlich, wenn nötig, entschlossen zu handeln.
Vor allem aber brauche ich Gewissheit über meine eigene geistige Befindlichkeit.
Bei Vico sollte ich sie finden. Dieser Typ macht keine Umwege, wenn es gilt, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
Zielstrebig und gleichzeitig ein bisschen verwundert über diese Zielstrebigkeit, durcheile ich die Straßen und Gassen meinem derzeitigen Domizil entgegen. Wie viel innere Sicherheit, wie viel seelischen Halt wird sie mir auf meinen möglicherweise fragwürdigen zukünftigen Wegen geben?
Vicos Wohnungstür trägt kein Namensschild: minimale Vorsicht bei seinen gefahrvollen Aktivitäten. Doch im Geist sehe ich zuweilen unser beider Namen in goldenen Lettern auf einem zukünftigen Türschild prangen. Eine ehrbare, spießbürgerliche Zukunft? Komischer Gedanke!
Mein Geliebter umfängt mich mit einer stummen Umarmung.
Keine Fragen, keine Vorwürfe. Wir geben einander Freiraum und ersparen uns unnötige Worte.
Ich bin da. So wie ich immer da sein werde, wenn uns unsere gegenseitige Sehnsucht ruft.
Wortlos liegen wir auf Vicos noch warmem Bett. Unsere Blicke greifen ineinander. Vicos Augen sind müde, blau umschattet, das Gesicht ist bartstoppelig. Eine lange und gefahrvolle Nacht liegt hinter ihm. Ich sehe es seinem geringschätzigen Lächeln an, das sich sofort verwandelt, wenn er mich berührt.
Nun blüht das alte Vertrauen zueinander wieder auf, das wir sosehr brauchen. Und die Blessuren, verursacht durch unseren Übermut und die Schlechtigkeit der Welt, können heilen, mit jeder Minute, die zwischen uns verrinnt.
Unsere Lippen formen lautlose Worte, sprechen von Dingen, die nicht gesagt werden müssen und die dennoch unsere Bande enger zu knüpfen vermögen.
Wir schweigen und lieben uns. Wir lassen etwas vom eigenen Ich in dem anderen zurück. Und wir lösen schließlich dieses ekstatische Ineinanderfließen, behutsam, beinahe unbewusst: Der Tag fordert seinen Tribut.
Aus seinem Nachttisch zieht Vico ein geheimnisvolles Etui.
»Da. Kleine Überraschung.«
Erstaunt nehme ich das Präsent in Empfang, öffne es nicht gleich. Ich liebe Überraschungen nicht allzu sehr. Vielleicht, weil sie selten halten, was sie versprechen. Aber diese hier überwältigt meinen sonst so spröden Enthusiasmus.
Auf schwarzem Samt ruht ein goldenes Halsband. Wundervolle Arbeit! Ein Prachtstück und der Traum jedes Mädchens. Besonders wenn es sich in stetiger Geldnot befindet, so wie ich.
Vico legt es mir um.
Ich strahle, zeige meine Dankbarkeit in vielen Küssen. Und unser Liebesspiel beginnt von neuem.
Aber irgendwann landen wir in der Sackgasse unleugbarer Tatsachen.
»Woher hast du das Geld?«
»Frag nicht.«
Ich weiß es auch so. Ich löse mich aus der Umarmung, richte mich auf, bin wieder die abgebrühte Streunerin, die an nichts glaubt, außer an die unabwendbaren Scheußlichkeiten des Lebens.
»Ein Coup?«
Vico grinst. Er weiß, was jetzt über ihn hereinbrechen kann: Fragen und nochmals Fragen. Sein abwehrendes Lächeln soll meiner Suada einen Riegel vorschieben: Keine Sorge, ich weiß, wie weit ich gehen darf.
Ich sage nichts, ziehe mich seufzend auf mein bewährtes Schweigen zurück.
Wozu auch fragen? Da ist wohl ein großer Fisch an Land gezogen worden. Und diese Gang, bei der Vico einiges zu sagen hat, wird sich kaum darum kümmern, was so eine Kleinkriminelle wie ich dann und wann zu bedenken gibt.
Immerhin: Vico, der Drogenkurier, ist clean. So wie ich es bin. Und er ist vorsichtig, hält das Risiko so gering wie möglich. Und das soll auch so bleiben. Und wenn es trotzdem einmal schiefgehen sollte … Aber ich bin heute nicht aufgelegt für Hypothesen und bedrückende Überlegungen.
Mein eigenes Leben trudelt im Augenblick, soviel ist sicher, hängt in einer Schieflage.
Ich möchte darüber reden, möchte erklären, analysieren, oder aber einfach meine Geschichte erzählen. Aber ich weiß nicht, wo und wie beginnen.
Erstaunt und betroffen über mein eigenes Dilemma, lasse ich von all meinen Befürchtungen ab. Die Kette glänzt unter dem einfallenden Licht im Spiegel, macht mich übermütig. Ich werde sie vor Tante Lola verbergen, so wie ich den Großteil meines aktiven Lebens vor ihr verberge.
Vico kennt jedoch meinen hängenden Blick, meine zittrige Ruhe, die nichts vorzutäuschen vermag.
»Was ist los, Bambina?«
Einiges, mein Lieber. Aber du würdest eine mögliche bittere Wahrheit nicht ertragen.
Katja, eine Psychopathin? Eine psychisch Kranke? Nie und nimmer!
Wie recht du hast! Ich bin gesund wie ein Fisch im Wasser. Und dennoch hat mich eine morbide Ahnung ergriffen, die mir allen Ernstes meinen sonst so stolzen jugendlichen Übermut zu stehlen beginnt.
Lass uns daher diesen Übermut festhalten, solang es geht! Ich gleite sonst ab in Tiefen, von denen wir besser nichts wissen sollten.
Vico quittiert mein Schweigen mit besorgter Fürsorglichkeit. Niemals werden wir beide die traurige Gewissheit akzeptieren, dass in Wahrheit jeder von uns verzweifelt allein sein wird, wenn es darauf ankommen sollte.
Ich versuche, mit gewohnter Leichtigkeit über meine Sorgen hinwegzugleiten.
»Weißt du was? Diesen Tag wollen wir feiern. Er gehört uns. Ich hab was auf der hohen Kante. Zeit, den Zaster loszuwerden.«
Ein Schatten huscht über Vicos Gesicht. War das Täuschung?
Ich kann mir denken, wo ihn der Schuh drückt. Meine Einkunftsquelle ist es, die Vico partout nicht gefallen will.
Offiziell bin ich Serviererin. Kein übler Job im Augenblick. Aber es gibt Besseres. Und wenn das Geld auf der Straße liegt, warum es nicht aufheben?
Doch ich bin keine Professionelle. Dann und wann ein Date, ausgehandelt hinter der Theke, zwischen ein paar Drinks, um das gemeinsame Budget aufzubessern, ist sicherlich in Ordnung und vor allem ganz und gar notwendig.
Vico hat sich überwunden.
»Behalte dein Geld. Ich bin bei Kasse. Und heute gehen wir groß aus.«
Das ist ein Wort!
Wir brauchen so etwas von Zeit zu Zeit. Diese große Geste. Den Luxus. Er hält uns auf Trab. Ist unser Motor. Unser Lebenselixier. Ist das Schiff, auf dem wir über die Unbillen des Daseins gleiten.
Ich werde geschmückt sein. Ich werde sorglos sein. Und vor allem: Ich werde diesen Tag als Fixpunkt in meinem Hier und Jetzt festmachen, als gelte es, ihn für immer festzuhalten.
Vico ist bester Laune, und er weiß, was sich gehört. Das Restaurant ist in der obersten Preisklasse angesiedelt. Er selbst hat sich fein gemacht, ist tadellos rasiert, tadellos gekleidet. Seine Augen glitzern vor Unternehmungslust.
Was ist los mit ihm? Hat sich Fortunas Füllhorn über ihn ergossen? Hat er bereits alle unsere Zukunftssorgen gelöst?
Auch ich bin entspannt, fühle mich heute tatsächlich als Königin. Mein Kleid ist eine günstige Neuanschaffung und unterstreicht dezent die Kostbarkeit von Vicos Goldschmuck.
Die Blicke der Männer irritieren mich nicht. In einer Örtlichkeit wie dieser glaube ich sicher zu sein. Meine übliche Klientel verkehrt zumeist nur in solchen Lokalen, in denen auch ich außerhalb meiner Arbeitszeit anzutreffen bin.
Diese Vorsicht meinerseits ist lediglich eine gewisse Rücksichtnahme auf Vico der mich schließlich als seine zukünftige Frau betrachtet. (»Sobald ich genug Moneten beisammen habe, wird geheiratet. Basta!«) Seine süditalienische Herkunft lässt sich offenbar nicht verleugnen, wenn es um so etwas wie Ordnung in den eigenen Familienverhältnissen geht.
Wir essen uns durch ein mehrgängiges Menü, trinken erlesenen Wein und genießen die gedämpfte Atmosphäre des Exquisiten.
Nach und nach aber schwindet mein Übermut und eine gewisse Schwere, eine Art Hilfsbedürftigkeit macht sich in mir breit.
Ich möchte die Last meiner diffusen Ängste abwerfen. Aber da ist niemand, dem ich sie aufbürden könnte.
Doch nein! Vico muss von meinen unerklärlichen Erlebnissen wissen. Irgendwann! Bald! Noch heute, wenn es geht!
Seit gut einem Jahr, seit meinem überstürzten Ausbruch aus Lolas Fürsorge, ist seine Absteige auch die meine. Ich brauche einen Unterschlupf, eine feste Adresse, die mir zugleich Standfestigkeit verleiht, denn ich bin noch unsicher in meiner selbst erschaffenen Freiheit, nach der ich mich so sehr gesehnt hatte.
Aber meine Pläne sind vage, konfus zuweilen, auf schnelles Geld ausgerichtet. Eine fatale Warteposition hält mich fest.
Aber worauf warte ich? Auf das große Unbekannte? Nie zuvor habe ich weniger an das große Glück geglaubt als eben jetzt.
Ich nippe an meinem Glas.
Irre, traumzerrissene Bilder gehen durch meinen Kopf. Hab ich das alles tatsächlich erlebt?
Da waren fremde Straßen, fremde Menschen, eine befremdliche Welt. Wie und wem soll ich davon erzählen, um sie auch mit meinem Verstand zu realisieren?
Mein nachdenklicher Blick auf Vicos entspannten Zügen scheucht diesen auf.
Er lacht. »Warum siehst du mich so an? Gefalle ich dir nicht?«
Mein Hübscher, du gefällst mir wohl. Aber im Grunde gefällt mir nichts an unserem derzeitigen Leben.
Vielleicht war es der erste Schritt auf unseren gemeinsamen Abgrund zu, als ich dich auf einem Open-Air-Konzert kennenlernte.
Die Musik dröhnte, riss uns in den Strudel vervielfachter Ekstase. Der Alkohol machte unsere Knie weich und aus unseren Köpfen wirbelnde Kreisel.
Wir hielten uns aneinander fest, und unsere Lippen suchten automatisch bei dem jeweils anderen Halt.
In irgendeinem Winkel unseres Herzens hatten wir wohl aufeinander gewartet, bewegten uns von da an vorsichtiger durch unsere Schattenwelt, waren zum ersten Mal darauf bedacht, nicht vorzeitig auszugleiten und abzustürzen.
Wir verlassen den luxuriösen Ort unseres heutigen Festes mit einem gewissen Fatalismus.
Wie immer absorbiert die Nacht, diese Vertraute aller Ganoven, unsere Lügen, unsere Unaufrichtigkeiten, unsere Niederlagen und unsere Siege. Macht uns ein weiteres Mal zu Verschwörern, die bereit sind, gemeinsam selbst das Undurchführbarste zu wagen.
In Vicos Behausung herrscht, wie zumeist, die bohemienhafte Unordnung der Nachtarbeiter. Im lässigen Durcheinander der Dinge versuchen wir ernüchtert, einander aus dem Weg zu gehen, und die Mühe gegenseitiger Rücksichtnahme macht uns stumm.
Ich stehe lange unter der Dusche, als gelte es, ein anderes Ich, eine querulante Doppelgängerin von mir abzuwaschen.
Aber wer bin ich wirklich?
Im Spiegel sehe ich eine Maskierte, eine Fremde. Irgendetwas hat sich von mir gelöst, ist zu meinen Feinden übergelaufen, will mich aus meiner Sicherheit drängen, will mich denunzieren.
Doch warum? Was hab ich getan?
Im Schein der Nachttischlampe empfinde ich Vicos schlaff gewordenen Körper auf dem Bett wie den eines Fremden. Die öden Augenblicke flüchtiger Begegnungen, die trägen Stunden bezahlter Gemeinschaft steigen in mir auf wie Kotze.
Was in aller Welt will man von mir? Wo finde ich Ruhe? Wo kann ich endlich sein, wie ich bin?
Meine Tränen rinnen lautlos über meine Wangen, während sich Vico über mich beugt.
»Bella! Was ist los?!«
Ich schluchze. Es tut auf eine grausame Weise wohl, alle Schleusen zu öffnen. Wie lange schon hab ich diese Tränen zurückgehalten?
Nun sollten mich Worte erlösen. Sollten sich ohne mein Zutun formen, sollten mich am Ende zum Verständnis aller unbegreiflichen Vorkommnisse bringen.
Aber ich kann nichts als weinen.
Vico lässt es kopfschüttelnd geschehen. Er umarmt mich, aber ich spüre seine Angst. Balanciert er doch selbst am Abgrund entlang, immer bemüht, mich, soweit es möglich ist, aus der Gefahrenzone zu halten.
Irgendwann fange ich endlich zu reden an. Aber das ist nur ein Versuch, der schon am Anfang zum Scheitern verurteilt ist.
Da war Mirko. Oder sein tödlicher Virus, der mich kopflos machte. Der mich fliehen ließ.
Mirko! Wie absurd, diesen Namen auszusprechen!
Ausgerechnet vor Vico, dem Kumpel gefahrvoller Nächte, dem eifernden Liebhaber!
Aber da war noch etwas, weit Irrationaleres.
Da war diese Frau. Sie stand am Beginn meines verwirrenden Abenteuers. Eine Gestalt, hingepflanzt wie ein Wegweiser. Stumm und beredt zugleich. Ihr ins Gesicht zu sehen, kam dem Beginn einer perfiden Verzauberung gleich, der ich mich nicht mehr entziehen konnte.
Aber wohin führt mich dieser Weg? Ein Weg, der offenbar – das fühle ich – noch lange nicht zu Ende ist.
Vico schafft es, mich zu beruhigen. Sein geduldiges Schweigen sollte ich jetzt mit Worten füllen.
»Ich glaube, ich bin krank«, stoße ich hervor. »Ich seh’ Gespenster.«
»Gespenster? Du meinst Tote?«
Ich gebe keine Antwort.
»Meine Großmutter hat mit Toten gesprochen«, sagt Vico schließlich. Er sagt es mit einem bubenhaften Grinsen, das mich augenblicklich in Rage bringt.
Ich stoße ihn von mir. Verschanze mich auf meiner Bettseite hinter meiner Decke, versinke in wütender Opposition.
»Im Ernst«, lässt sich Vico nach einer Weile vernehmen, »das ganze Dorf ging bei ihr ein uns aus. Alle Leute wollten eine Botschaft hören.«
Er schiebt sich zu mir heran, beginnt mich zu streicheln.
»Tut mir leid, Amore. War nicht bös gemeint.«
Ich antworte nicht.
»Was genau siehst du denn?«
»Leute«, sage ich nach einer Pause unwillig. »Aus der Vergangenheit.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter! Ich bin dann eine von ihnen, verstehst du?! Kapierst du das?! Eine von ihnen!«
Mein Freund starrt mich verständnislos an. Offenbar muss er nachdenken. Seufzend fällt er auf sein Kissen zurück.
Armer Vico. Meine Antwort war wohl ein wenig zu rätselhaft für ihn.
Ich sehe bereits den Graben, der sich zwischen uns auftut. Er wird größer und größer. Und ich kann nichts dagegen tun.
Vico schweigt noch immer. Wenn er doch lachen, sich in Banalitäten flüchten wollte! Dann wüsste ich, wo wir beide stehen. Dann könnte ich mich vor mir selber mit einer Platitude aus der Affäre ziehen, und diesem Spuk ein Ende machen.
Langsam drehe ich mich zu ihm um.
»Vergiss, was ich gesagt habe. Ich bin okay. Ehrenwort.«
»Bald sind wir über den Berg«, sagt Vico, offenbar glücklich darüber, mich wieder im Hier und Jetzt zu haben. »Nur noch diese eine Sache. Dann bin ich draußen.«
»Welche Sache?« Ich bin alarmiert. Jetzt ist es Vico, der in Rätseln spricht.
»Besser, du weißt nichts Konkretes darüber.«
»Weil es zu gefährlich ist?«
Ich bin hellwach. Ahnte ich es doch! Vicos kryptische Bemerkung von heute Nachmittag! Die Goldkette! Das noble Restaurant! Das alles riecht nach einem geplanten großen Deal! Und Vico steckt vermutlich schon mittendrin!
»Und wenn sie euch schnappen?«
»Keine Sorge. Das sind Profis. Keine Dilettanten.«
Wir schweigen.
Vico macht die Lampe aus.
Die jähe Finsternis stürzt auf mich ein, erschreckt mich wie in fernen Kindertagen. Doch langsam kehren die nächtlichen Konturen zurück, machen das Dunkel alltäglich.
Ich starre in diese vertraute Alltäglichkeit, bis meine Lider schwer werden. Die Grenzen zwischen den Welten verschwimmen. Mir ist, als läge ich wieder in einem Graben neben einer staubigen Landstraße, ausgesetzt einer fremden Welt, die mich umschließt wie ein riesiges Gefängnis.
Ich erhebe mich, fange an zu gehen, setze Schritt vor Schritt, bahne mir mühsam querfeldein meinen Weg.
Die Hitze flimmert vor meinen halb geschlossenen Augen. Das Blut pocht in meinen Schläfen. Die trockene Erde zerbröckelt unter meinen Füßen.
Ich kann mich kaum noch vorwärts bewegen. Jeder Schritt schmerzt. Bis in die letzte Faser meines Körpers hinein spüre ich diesen Schmerz, der mich schließlich zu Boden zwingt.
Aber ich muss weiter! Darf nicht verharren! Mein Leben hängt davon ab.
Dort vorn, am Ende der Felder, dieser weite blassblaue Horizont: Ich werde ihn erreichen! Schon spüre ich, wie mein Ich beginnt, sich in Lichtkaskaden zu verwandeln. Wie diese strahlende Helligkeit sich in mir ausbreitet, mehr und mehr, bis hinein in mein verzagtes Herz, das sich danach sehnt, endlich in dieser weiten, gleißenden Galaxie zu verströmen.
Die frühe Dunkelheit schwemmt bereits die ersten Gäste in das intim beleuchtete Etablissement.
Aus purer Gewohnheit taste ich mit aufmunternden Blicken ihre Gesichter ab. Der heimliche Nebenjob der Bardame kann beginnen.
Dieser Typ dort drüben scheint in Abenteuerlaune zu sein. Er erwidert mein stereotypes Lächeln, hebt seine Hand und dirigiert mich wie eine ferngesteuerte Puppe an seinen Tisch.
Mein gekonnter Hüftschwung scheint ihn zu amüsieren. Er bestellt Champagner. Sein Lächeln wirkt einladend. Seine Augen suchen die meinen.
Donnerwetter! Mein Ruf scheint mir vorauszueilen. Ich muss mich kostbarer machen. Ich bin nicht jedermanns Liebchen.
Das Lokal beginnt sich zu füllen.
Dunkle Gedankensplitter verlieren sich im Nebelgrau des scheidenden Tages. Ich lasse mich treiben. Die Nacht ist noch lang genug, um ihre verborgenen Schätze zu heben. Die Ausbeute wird nicht allzu groß sein, aber sie wird mein Budget immerhin für einige Tage aufbessern.
Ich giere nicht nach Geld. Schnell verdienter Zaster verflüchtigt sich ebenso schnell. Aber ich giere nach Eigenständigkeit, nach den Tröstungen eines finanziellen Polsters, wenn es – wie häufig in meinem bisherigen Leben – wieder einmal hart auf hart kommen sollte.
Vico reagiert zumeist spröde auf meine Erwägungen. Aber im Grunde sind wir ein gut eingespieltes Team. Unsere Hände sind flink, unser Gewissen bleibt flexibel. Wir riskieren einiges für unseren bescheidenen Luxus. Auch wenn wir es vermutlich nicht allzu weit damit bringen werden.
Ein Lachreiz sitzt mir in der Kehle. Was für ein Selbstbetrug! Es tut gut, sich zuweilen selbst zu prüfen: Wann hast du zuletzt deine Lebensplanung hinterfragt?
Aber es gibt im Grunde nichts zu planen. Ich lebe! Hier! Heute! Jetzt! Und eine leichte Verwunderung darüber macht mich keineswegs an mir selber irre.
Nur einmal in meinem noch nicht allzu langen Dasein hatte ich diese Tatsache nicht so gleichmütig hingenommen. Eine Überdosis von was auch immer hatte mich verlockt, hatte mich überwältigt.
Wollte ich wirklich sterben?
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht wollte ich einfach nur am Ende eines langen und gefährlichen Weges gerettet werden. Von meiner eigenen Furchtlosigkeit meinetwegen, die meinen Körper immer wieder so köstlich betäubte, ohne meine Seele von ihren Schlacken zu befreien.
Die Tage und Nächte hinterher waren grässlich. Und aufregend zugleich. Ich hatte eine Schwelle überschritten. Wenn auch nur beinahe.
Aber ist dieses ganze beschissene Leben nicht immer nur ein »Beinahe«? Die Erlösung wird im Anderswo versprochen. Eine gut gemeinte Lüge. Denn dieses »Anderswo« ist vermutlich nur ein »Nirgendwo«. Und es gewährt uns sicher nicht die Erfüllung unserer diesseitigen Träume. Die sich bereits in ihr Gegenteil verwandeln, sobald man sie nur einigermaßen imaginiert hat.
Jemand berührt meinen Arm.
Ich schrecke auf. Träumereien sind so ungefähr das Letzte, was man sich in diesem leichtlebigen Milieu leisten kann.
Ein Kunde von ehedem (War es vor Tagen? Vor Wochen?) streift an meinen nackten Arm, macht mich unwirsch und gefällig zugleich.
Ich habe heute noch so gut wie nichts an Barem in Aussicht. Ich muss mich aus meiner angestammten Lethargie befreien, meinen Hang zur Selbstverneinung stoppen.
Einladend werfe ich meine Blicke um mich, weise gleichzeitig den Kerl neben mir in seine Schranken. Heute nicht, mein Bester. Ich bedarf der Abwechslung. Deinen welken ausgebrannten Körper ertrage ich vielleicht ein andermal. Nicht heute.
Der Typ, auf dessen Tisch ich jetzt die Bestellung platziere, lässt mich nicht aus den Augen, scheint mich zu taxieren.
»Darf ich Sie zu einem Glas einladen?«
»Nicht jetzt. Später vielleicht.«
Ich stecke mein Territorium ab.
Wir sprechen leise, beinahe vertraulich.
Ich habe meine Netze ausgeworfen. Und da zappelt bereits ein fetter Brocken. Geschäftsmann? Bankier? Anwalt?
Quatsch! Es sind fast immer nur die Kleinbürger, die sich auf den Pfaden des Verbotenen bis hierher in dieses zweitklassige Etablissement verirren.
Dennoch: Könnte dieser da nicht gerade heute eine Ausnahme sein?
Fast automatisch verständigen sich unsere Gesten.
Du also? – In Ordnung. Ich werde keine Spielverderberin sein. Aber der Preis muss stimmen.
Ich betrachte meinen Kunden mit unverhohlener Neugier. Gut sitzender Anzug, gepflegte Hände, Alter Mitte vierzig vielleicht.
Wohlan. Alles ist möglich.
Das übliche Ritual einer Verabredung vollzieht sich beinahe wortlos. Man wird mich nach Arbeitsschluss draußen am Parkplatz erwarten.
Im Gewirr der üblichen Abendgäste verlieren sich unsere Signale. Ich bewege mich im Rhythmus einer inneren Musik. Der Tag geht ohne große Intermezzi zur Neige. Mein Date für heute ist fixiert.
Die späte Stunde holt mich endlich aus meinem Alltagstrott. Im Spiegel des Waschraums sehe ich die Schatten meiner Seele über meine Züge gleiten. Rasch das Makeup aufgefrischt, den Augenlidern einen Glamourglanz verleihen, den Schwung der Lippen erblühen machen.
Routine und ein vages Angstgefühl, verborgen hinter meiner schamlosen Jugend, machen sich in mir breit.