Monoloco - Susann Blum - E-Book

Monoloco E-Book

Susann Blum

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Beschreibung

Vier Frauen, fünf Männer - die beiden ungleichen Cliquen verbringen einen unvergesslichen Abend in der Bar Monoloco. Doch kurz darauf verschwindet einer der Männer - Aron - spurlos. Steckt sein Vater dahinter, der Arons geheimnisvolle Gabe zu Geld machen will? Gemeinsam starten die anderen eine Rettungsaktion und begeben sich damit ins Abenteuer ihres Lebens ...

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

HINTERGRUND

Kapitel 1

«Komm schon! Erzähl, was du heute morgen verbockt hast», forderte Nora mich auf, als wir uns in der Mittagspause im Restaurant des Einkaufszentrums trafen. Ich zog die Augenbrauen hoch, nahm wortlos ein Tablett und stellte mich für die Essensausgabe in die Warteschlange. Bestimmt nicht würde ich ihr hier zwischen all den Menschen von diesem peinlichen Moment erzählen. Ich wollte überhaupt nicht an den Zwischenfall im Zug erinnert werden. Noras Talent aber war, mich gezielt zu durchschauen.

Ich wählte das Tagesmenü und wartete auf den Pastateller. Danach steuerte Nora auf einen ruhigen Bereich des Restaurants zu. «Hast du es deinem abstrusen Tagebuch anvertraut?»

Ich rollte mit den Augen und sie wusste, wie richtig sie lag. Dadurch versprach sie sich einen soliden Unterhaltungswert meiner Geschichte. Dieses Tagebuch, das war eigentlich ein Blog. Und ja, den gab es wirklich. Er war mein Parkplatz für alle Gedanken, die ich kaum zu denken wagte. Abgesehen von Nora wusste niemand, dass der Blog überhaupt existierte. Und auch sie hatte nie ein Wort darin gelesen – er war privat. Doch heute morgen wurde er mir schlimm zum Verhängnis. Mit Blick in Noras sensationslustige Augen begann ich zu erzählen.

«Ich saß im Zug, auf dem Weg zur Arbeit. Nach dem ersten Halt stieg ein Typ zu. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Er setzte sich auf den letzten freien Platz in unserem Abteil und kramte die längste Zeit in seinem Stoffrucksack herum. Plötzlich schaute er zu mir und schien etwas sagen zu wollen – tat es jedoch nicht. Dann aber bat er mich, seine Nummer anzurufen. Er hoffte, den Klingelton seines Phones zu hören. Also tippte ich die gewünschte Nummer ein und startete den Anruf. Es klingelte tatsächlich – aus dem aufgerissenen Innenfutter seines Stoffrucksacks, wenn ich es richtig gesehen habe. Das Problem war gelöst. Zum Dank nickte er mir zu.»

«Kommst du mir jetzt ernsthaft mit einer Männergeschichte?» Mit einem dezent verachtenden Blick unterbrach sie meine Erzählung, nicht aber ihr Essen. Sie konnte wunderbar gebannt zuhören und gleichzeitig Pasta essen. Und bereits folgte ihre nächste Frage. «Wie sah er denn aus?»

«Er war in unserem Alter, höchstens 30. Dunkle, etwas zerzauste Haare und helle, eisblaue Augen.» Nora hob ihren Blick. «Eisblaue Augen?» Sie witterte meine Nervosität von heute Morgen und ich versuchte mein Bestes, eben diese zu umschiffen. Schnell ergänzte ich: «Nun, er war kein klassischer Schönling, eher so … hm …» Für Nora war klar: «Du fandest den Typen attraktiv!» Sie neigte fragend den Kopf zur Seite. Ich fand auf die Schnelle kein Argument, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Kurzerhand schlussfolgerte sie: «Alles klar. Das war zu viel für dein braves Gemüt und du hast deinem schmutzigen Tagebuch davon erzählt.» Ich mochte es nicht, wenn sie den Blog so banal hinstellte. Aber ganz unrecht hatte sie nicht. Die Ausstrahlung des unbekannten Mannes hatte mich in seinen Bann gezogen. Hätte ich auch nur eine Scheibe von Noras unverfrorener Direktheit, bräuchte ich den Blog nicht, den ich heute früh tatsächlich als App auf dem Phone geöffnet hatte, um nach dieser Begegnung meine wirren Empfindungen in Worte zu packen. Sonst hätten sich die Gedanken zwischen meinem kribbelnden Körper verselbstständigt. Sowas kannte ich gar nicht von mir. Und Nora ahnte offenbar, wie unangenehm mir mein eigenes Gedankenkino war. Sie beugte sich vor. «Du weißt schon, … nur weil du diesen Idioten geheiratet hast, bedeutet das nicht, dass du nie mehr einen anderen Mann anschauen darfst.»

Ich kannte natürlich Noras Meinung über meine frühe, überstürzte Heirat. Aber ich hielt dennoch dagegen: «Ich fand ihn gar nicht attraktiv.» Oh doch, das fand ich definitiv. Mein Körper war wie elektrisiert gewesen, und als mich der Fremde mit seinen eisblauen Augen und einem verschmitzten Lächeln ansah, streikte jegliche Vernunft in mir. Und all das, was die Unvernunft produzierte, wanderte als Umschreibung auf meinen Blog. Ganz dreist klickte ich gar noch auf seine Nummer in den ausgehenden Anrufen. Denn dahinter verbarg sich sein Profilbild, das mich drei Stationen lang begleitete. So musste ich den direkten Blick zu ihm nicht noch einmal riskieren.

Dann aber war meine eigene Schamgrenze erreicht und der klare Verstand holte mich ein. Was eben noch prickelnd in mir kreiste, war jetzt nur noch peinlich. Ich markierte meine letzten Worte, um sie aus dem Blog zu löschen, und schloss die App sofort. Schnellstmöglich musste auch sein Profilbild vom Display verschwinden. Dazu tippte ich über seinen Kontakt und … huch, öffnete dabei versehentlich ein Nachrichtenfeld. In einem kopflosen Anfall von schusseliger Hektik landete daraufhin der gelöschte Blog-Satz aus dem Zwischenspeicher in eben diesem Textfeld. Ich zuckte vor Schreck zusammen, darauf folgte eine mittelschwere Panikattacke, während dieser mir die Nachricht durch zu schnelles und nervöses Tippen – oh, mein Gott – abgerauscht war.

Nora wusste nichts Besseres zu tun, als laut herauszulachen. Ich aber fühlte den Schock noch einmal, wie mir gegenüber ein Dreiklang ertönte und Mister Unbekannt nichtsahnend auf sein Display schaute. Seine Reaktion war der von Nora sehr ähnlich. Auch er lachte herzhaft auf. Überrascht, nicht verachtend. Amüsiert, nicht herablassend. Er blickte sofort zu mir und seine schalkhaft schönen, blauen Augen erfassten mich. Bevor ich vor Scham tot umfallen konnte, verschwand ich eiligst, um auf dem letztmöglichen Platz des Zuges zu warten, bis die Röte aus meinem Gesicht verschwunden war.

Noras Tag war gerettet. Sie sah mich an, als hätte ich ihr soeben das erste Kapitel eines aufregenden Abenteuers auf den Tisch gelegt. Mir half es in meiner endlosen Peinlichkeit ein wenig, dass sie die Dinge im Leben nicht so bierernst nahm. Nun wollte sie es aber wissen. «Was stand denn in der Nachricht an Mister Unbekannt?» Nun denn … ich holte mein Phone aus der Tasche und schob es Nora beschämt hinüber.

Der Mann hier kapert meinen Verstand und ich schwöre, bei seinem Anblick wackeln meine Brüste!

Nora verdrehte die Augen beim Lesen meiner Worte und war gleichzeitig höchst erfreut über meine Peinlichkeit. Nun, man musste sie kennen, um das richtig einordnen zu können. Es war ganz klar die Schadenfreude über mein Missgeschick, die aus ihr lachte. Es begeisterte sie aber auch, wie ich über meine eigenen Grenzen gestolpert war. Keine Frage, Nora lag sehr viel an meiner Freundschaft. Doch sie verurteilte schonungslos mein Leben als angepasste Person, meinen steten Weg des geringsten Widerstandes, mein regeltreues Auftreten, und am schlimmsten fand sie meine Entscheidung, Carlo geheiratet zu haben. Nun ja, sie verurteilte eher, dass ich mich zu dieser Entscheidung hatte drängen lassen und einmal mehr zum Spielball auf meinem eigenen Lebensweg wurde.

So wie früher, als ich mich von den Jungs hab herumschubsen lassen. Nie hatte ich mich gewehrt, wenn mir eine falsche Schuld angehängt wurde, und tapfer ertrug ich jede Form der Gemeinheit. Ganz im Gegensatz zu Nora. Sie war unerschrocken, kräftig und bis obenhin voll mit Widerstandsenergie. Damit hielt sie alle auf Abstand, die ihr dumm kamen, und hatte Kniehiebe zwischen die Beine verteilte, wenn die Jungs mich ärgerten. Manchmal riss sie diese auch mit Gebrüll zu Boden und setzte sich mit ihrem stolzen Gewicht einfach auf sie. Jede Strategie brachte Erfolg.

Inzwischen musste Nora mich nicht mehr mit Fäusten beschützen. Obschon – sie hätte es getan, wenn es nötig gewesen wäre. Noch immer aber war sie sicher, mich aus den hundert Schichten Angepasstheit schütteln zu müssen. Ich sollte auch die wilden und verrückten Seiten sehen und leben, so war sie überzeugt. Und ja, ich hatte durchaus diese andere Seite in mir. Sie existierte aber ausschließlich in schriftlicher Form auf meinem Blog. Das war gewissermaßen ein Dilemma, wie der allererste Beitrag zeigte:

_________

Mailyn, die Mischung aus Mai und Lyn

Mai weiß sich zu benehmen, widerspricht nicht, sucht jeden Fehler bei sich selbst, und ihre Bedürfnisse sind maximal zweitrangig. Sie ordnet sich den Menschen unter und bewundert jene, die Visionen haben und Ziele anpacken. Mit Risiken im Leben kann sie definitiv nicht umgehen. So tut sie lieber nichts als etwas Falsches. Nein, sie ist deswegen kein betrübter Mensch, sondern sieht in ihrer Bescheidenheit stets das Gute. Mit ihrem Lächeln auf den Lippen ist sie allseits beliebt und führt ihr geregeltes Leben in vorgefertigten Bahnen, ohne größere Ambitionen.

Lyn ist anders. Sie ist neugierig und stellt Fragen. Sie mag Offenheit und zieht es vor, die Dinge beim Namen zu nennen. Nur würde Mai niemals den Mund aufmachen, wenn Lyn Klarheit will. Lyn ist auch eine fantasievolle Träumerin, die Luftschlösser baut. Darin wohnen keine Prinzessinnen, sondern mutige Frauen, die sagen, was sie denken. Frauen, die jedes intensive Gefühl fantastisch finden und jede prickelnde Energie lieben.

Dieser Blog gehört Lyn.

_________

Der letzte Eintrag von heute Morgen: Ui, darauf war ich nicht vorbereitet. Nicht auf diesen Mann, nicht auf diese eisblauen Augen, nicht auf das Pulsieren in meinem Körper. Etwas breitet sich in meinem Innern aus. Ich kann es nicht stoppen. Ich will es nicht stoppen. Es weckt schlafende Zonen, denen ich lange nicht begegnet bin. Himmel, ist das faszinierend. Ein zufriedenes Lächeln huscht über mein Gesicht. Der Mann kapert meinen Verstand und ich schwöre, bei seinem Anblick wackeln meine Brüste!

Der daraus resultierte Lapsus kostete mich eine Nacht lang den Schlaf. Wie konnte ich bloß so ungeschickt sein? Warum hatte ich mich überhaupt je auf Lyn eingelassen? Und was nur sollte ich tun, wenn Mister Unbekannt einen Kommentar zurücksandte? Carlo kontrollierte täglich mein Phone. Ich war darüber nicht erfreut, nahm es aber hin. Doch ich wagte nicht, mir seine Reaktion auszumalen, wenn ein fremder Mann mich kontaktieren würde. Und was um alles in der Welt sollte ich tun, wenn der Typ noch einmal in den Zug stieg?

Kapitel 2

Es war der allerletzte Platz im Zug, den ich für die Fahrt zur Arbeit wählte. So groß war die Angst vor einer weiteren Begegnung mit Mister Unbekannt, die ich schon rein nervlich nicht überstanden hätte. Dann rollte der Zug an und ich hoffte inständig, der Typ von gestern möge keiner der vielen Pendler sein, die wie ich täglich genau diesen Zug zur Arbeit nahmen. Ich steckte mir die Kopfhörer in die Ohren und bespielte mich mit rhythmischer Musik, um die Müdigkeit in Schach zu halten. Mein Blick wurde dennoch leer, gezeichnet vom fehlenden Schlaf. Es dauerte nur noch 21 Minuten bis zum Coffee to go, den ich heute dringend brauchte, um den Tag im Einkaufszentrum zu überstehen und dabei permanent zu lächeln, wie man das im Verkauf eben tun musste.

Doch es kam, wie es kommen musste. Er ging tatsächlich suchend von Abteil zu Abteil und stand irgendwann im Sichtfeld meiner müden Augenwinkel – Mister Unbekannt. Ich wollte mich dringend in Luft auflösen, schaffte es aber nicht, meinen Willen durch zusetzen. Er hingegen schien die Situation keineswegs befremdlich zu finden. Beglückt, ja fast überschwänglich setzte er sich mir gegenüber hin. Mit seinem Schmunzeln ließ er mich in bodenloser Scham zappeln, die sich mit kribbelnder Aufregung mischte. Schnell starrte ich aus dem Fenster. Das wirkte gewiss lächerlich. Doch mir fehlte gerade jede Strategie, um mich vor einem weiteren Blick in seine Augen zu schützen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Mister Unbekannt kurzerhand eine Nachricht in sein Phone tippte, die sogleich auf meinem Display aufleuchtete.

Danke für deine beflügelnde Nachricht, stand da. Im Zeitraffer flitzte zuerst leichte Entzückung durch mich, gefolgt von einer beschämenden Erinnerung an die wackelnden Brüste, die in einem Anflug von Panik endete beim Gedanken an meinen Ehemann. Er durfte diese Zeilen auf keinen Fall sehen, er würde toben. Mein Kopf war blockiert.

Mister Unbekannt entschied angesichts meines Schweigens, sich auf meine Seite des Viererabteils zu setzen, und zwar unmittelbar neben mich. Richtig nah. Gelassen umfasste er meine unruhigen Hände, die wiederum das Phone festhielten. Die unerwartete Nähe und Berührung jagten meinen Puls nach oben. Doch noch immer begriff ich nicht, was er vorhatte.

«Schau, so kannst du den gesamten Chatverlauf löschen. Und wenn du hier bestätigst, kann keiner mehr diese Nachricht finden, der sie nicht sehen soll.» Er löste seine Hände von meinen, öffnete auf dem eigenen Phone mit wenigen Klicks unseren Chat und hielt es mir hin. «Versuch es!»

Ich war darauf konditioniert, Anweisungen zu befolgen, was mich in diesem Moment aus meiner Blockade rettete. Ich löschte den Verlauf und leerte das Archiv, genau wie er es mir erklärt hatte. Das war nun zufällig tatsächlich genau die Lösung für meine Sorge wegen Carlo. Meine gestrige Dummheit war somit auf allen Ebenen verschwunden und gelöscht, außer wohl aus seinem und definitiv auch nicht aus meinem Kopf.

«Mein Name ist Aron», sagte er erwartungsfroh, während er sich wieder auf den Platz gegenüber setzte. Meine Nerven flatterten. Ich sah keine Möglichkeit, wie ich in den verbleibenden 14 Minuten bis zu meiner Haltestelle seinen beängstigend schönen Augen entkommen konnte. Leider war ich eindeutig nicht die Person, die er vermutlich nach meiner virtuosen Formulierung vor sich zu haben glaubte. Meterdick stand mir meine Zurückhaltung im Weg und Carlo thronte mit reviermarkierender Präsenz vor jedem Körnchen meines Mutes. Alles zusammen bedeutete Stillstand in mir. Aron ertrug mein Schweigen anfänglich geduldig. Dann aber begriff er wohl, dass ich nicht die offene und wortgewandte Frau für seine Abenteuerenergie war. Er schweifte mit dem Blick zum Fenster und beobachtete die vorbeiflitzenden Außenquartiere. Irgendwann griff er erneut zu seinem Phone, woraufhin der Hinweis einer neuen Nachricht über mein Display segelte. Schon tippte mein Daumen darauf und ich las.

Folgender Vorschlag: Wir sprechen nicht, wir schreiben. Nur hier in diesem Zug. Und löschen danach beide den Chat. Einverstanden?

Sekundenlang starrte ich auf seine Worte. Lyn in mir muckste auf und witterte ihre Chance. Es war zu perfekt: kein Stress mit Carlo und auf vertrautem Terrain der schriftlichen Formulierungen. Das hier, das war ein Freipass. Ohne weiter abzuwägen, tippte ich los.

Dir ist schon klar, die gestrige Nachricht war nicht für dich zum Lesen bestimmt!

Okay. Ich hatte es gesendet. Die Zeit spielte mir in die Hände. Es blieben nur noch sechs Minuten bis zu meiner Haltestelle. Dann war ich weg.

Ja, das war mir klar. Deine Reaktion war unmissverständlich. Wann steigst du aus?

In fünf Minuten.

Er sendete schmunzelnd die nächste Nachricht. Ich raube dir also jeglichen anständigen Verstand?

Habe ich das echt so formuliert?

Absolut. Und dann hast du noch geschrieben …

Spar dir das!, tippte ich schnell.

Du meinst, das mit den Brüsten?

Ach, ich bin nicht stolz auf meine leichtsinnigen Worte.

Waren sie denn wahr, deine Worte?

Ich zögerte – und hielt mich kurz: Das schon, ja. Und bevor er noch eine Frage stellte: Ich muss gleich aussteigen!

Aron streckte mir zufrieden sein Phone entgegen. Darauf löschte ich zügig den gesamten Verlauf und das Archiv und eliminierte damit die digitale Spur unseres Wortwechsels. Während ich aufstand, gab ich ihm das Phone zurück und erhaschte noch einen Blick in seine eisblauen Augen. Dieser erreichte eine verhängnisvolle Tiefe in meinem Körper, in der das lustvolle Abenteuer lauerte. Dann hielt der Zug, ich ging Richtung Ausgang, trat auf den Bahnsteig hinaus und drehte mich nicht mehr um. Zügig ging ich los – Richtung Arbeit.

Kapitel 3

Es folgte ein Morgen im Zug. Darauf ein Übermorgen. Und weitere, tägliche Begegnungen mit Mister Unbekannt alias Aron und den vereinbarten Regeln – wir sprachen nicht, wir schrieben. Und löschten danach beide den Chat. 21 Minuten lagen jeden Tag zwischen der Haltestelle, bei der er zustieg, und meiner Endstation auf dem Weg zur Arbeit. Manchmal saßen wir zu zweit im Abteil. Längst aber nicht immer. Doch keiner der Anwesenden erahnte je unser Tun. Mitten im stillen Pendlerleben, in dem jeder in der Welt seines eigenen Displays blieb, gingen unsere Nachrichten hin und her.

Nennst du mir heute deinen Namen?

Nein, das ist nicht nötig.

Nicht nötig wofür?

Um mit einem Fremden zu schreiben.

Ich bin nicht fremd, ich bin Aron.

Heißt du tatsächlich so?

Gewiss. Du siehst in meinen Augen, dass ich nicht lüge.

Ich werde nicht hinschauen.

Warum nicht?

Ich muss mich heute noch auf die Arbeit konzentrieren.

Und ich lenke dich von dem ab, was du tust?

Deine Augen schon, ja.

Geht es hier wieder um deine Brüste?

Du denkst noch immer an meine Brüste?

Ja, durchaus.

Worüber genau denkst du nach?

Hm … Es ist nicht nötig, dass du das weißt.

Und wenn ich es trotzdem wissen will?

Dann musst du dir die Antwort verdienen.

Ich überlegte, was er damit meinte, und schrieb: Verdienen? Sind wir hier beim Bazar?

Nein, viel besser: Ich gebe dir ein Wort, du baust einen ehrlichen Satz dazu und dann sage ich dir, was du wissen willst. Einverstanden?

Hm. Was sollte ich davon halten?

Hm, was?

Ich fragte vorsichtig: Du siehst, dass ich verheiratet bin?

Natürlich. Du trägst den Ring am Finger.

Dann bin ich einverstanden. Nur: Die Zeit ist gleich um.

Aron überlegt nur kurz, danach folgte seine Nachricht. Mein Wort für dich lautet Mut. Gib mir die Antwort morgen.

_________

Guten Morgen. Hast du einen Satz parat?

Ich hatte gestern länger darüber sinniert. So schrieb ich: Ja.

Lass hören.

Mein Mut wohnt in der Fantasie.

Aron schaute eine ganze Weile auf meinen Satz. Du bist erstaunlich ehrlich.

Oder einfach eine schlechte Lügnerin. Bekomme ich nun meine Antwort?

Jene zu deinen Brüsten?

Ja, woran du dachtest, würde ich gerne wissen.

Wie ehrlich soll ich sein?

So ehrlich es geht.

Aron schmunzelte in sein Telefon und begann zu tippen. Ich habe mir vorgestellt, dich zu berühren, deinen Rücken zu streicheln, deine Brüste mit meinen Händen zu umschließen.

Ich schluckte leer. Fing mich aber schnell und es war zu befürchten, dass mir ein Grinsen übers Gesicht huschte. Seine nächste Nachricht folgte prompt. Na, zu ehrlich?

Nein, nein. Mein Mut wohnt wie gesagt in der Fantasie. Und da hätte ich das genossen und deinen Mund sachte mit dem Daumen berührt.

Würdest du dort, in der Fantasie, den Mut für einen Kuss finden?

Ich knabberte an meinen Lippen und rang nach einer Antwort. Diese fiel schlussendlich nüchtern aus. Es bleiben nur noch zwei Minuten.

Ich weiß. Und du vertraust mir vermutlich noch nicht.

Natürlich nicht. Doch …

Doch was?

Der Gedanke an den Kuss ist durchaus verlockend.

_________

Guten Morgen. Aron überfiel mich mit einem langen Blick in meine Augen. Es bedurfte einiges, um davon loszukommen.

Aron, du spielst mit mir.

Mag sein. Aber ich möchte es so gerne wissen.

Was möchtest du wissen?

Was du fühlst.

Beim Blick in deine Augen?

Ja.

Hm. Dann machen wir hier wieder Bazar?

Du gibst mir also auch ein Wort?

Er verstand schnell und ich wusste bereits, zu welchem Wort ich seine ehrliche Meinung hören wollte. Mein Wort für dich lautetRisiko.

Aron atmete hörbar ein und beugte sich auf dem Sitz nach vorne. In Denkerpose entschied er sich für eine Antwort und begann zu tippen. Ohne Risiko lernt man das Fliegen nicht.

Sein Blick wanderte sogleich zu mir, was ich aber nur aus dem Augenwinkel erkannte. Dann schrieb ich meine Frage. Warum sollte man fliegen lernen wollen?

Um die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen. Man sollte es zumindest versuchen.

Ich bin ungeschickt veranlagt und würde hart landen.

Das sagen alle, vor allem jene, die es nicht versuchen.

Hast du es denn je versucht?

Ja.

Und?

Ich bin hart gelandet.

Und wo liegt jetzt die Moral der Geschichte?

Ich würde das Risiko jederzeit wieder eingehen.

Du magst das Risiko?

Mehr als das mag ich die neue Perspektive. Und jetzt bist du dran. Was fühlst du beim Blick in meine Augen?

Ich zögerte, war aber keineswegs um eine Antwort verlegen. Der Blick in deine Augen bringt die Aufregung unkontrollierbar in mein System, das sonst verlässlich funktioniert.

Was genau wird ins System gebracht? Die Aufregung? … Oder eher die Erregung?

Das eine würde zum anderen führen.

Deshalb meidest du meinen Blick?

Genau.

Würdest du mich denn berühren wollen?

In der Fantasie?

In der Fantasie.

Ja, klar.

Wo? Seine Direktheit faszinierte mich und Lyn war präsent wie nie zuvor. Meine Hände würden sich von oben bis unten vortasten. Und meine Lippen würden folgen.

Kapitel 4

Zehn Tage war es her, seit Aron mein Leben aufmischte. Er war von Anfang an direkt, ein wenig unverschämt und gleichzeitig gnadenlos charmant. Das brachte mein Innenleben schwer durcheinander. Meine beiden Welten, die ich doch so schön ordentlich sortiert und in klarer Weise voneinander getrennt hatte, versanken im Chaos. Und dieses breitete sich schleichend in mein Leben aus.

Es war nicht so, dass ich mich plötzlich anders verhalten hätte. Ich bediente weiterhin geduldig die Kunden im Tierfachhandel, stand mit einem Lächeln hinter der Kasse, wartete täglich in der Kantine aufs Essen, schwieg, wenn sich jemand vordrängelte, kümmerte mich um den Haushalt, schüttelte die Kissen auf, wie Carlo es wünschte, kochte, was er mochte, und schaute abends mit ihm einen belanglosen Film, den die Welt nicht brauchte. Auch seine leeren Flaschen brachte ich fast jede Nacht unauffällig weg, so wie er es wollte, damit niemand denken würde, er hätte ein Alkoholproblem. Jeden Dienstag ging ich zudem bei meinem Vater vorbei, bügelte die Sachen, die er mir hinlegte, und hörte mir an, wie ungerecht die Welt zu ihm war: Die miesen Behörden, die arrogante Nachbarin und der beschissene Vermieter. Mit beständigem Nicken und keinerlei Rückfragen hielt ich sein Gejammer aus. Gottlob war ich nicht bei ihm aufgewachsen. Sein Interesse für mich war immer schon äußerst bescheiden gewesen und natürlich bemerkte er auch nichts von meinem anbahnenden Chaos.

Es gab nur eine, die es ahnte: Nora. Sie rätselte in alle erdenklichen Richtungen, keine aber auch nur nah dran an den Tatsachen. Doch ich musste schweigen, weil Nora war, wie sie war. Bei zu viel Intimität brach ihr Widerstand gegen die Männer auf. In ihrer Welt war jeder Mann ausbeuterisch und animalisch, wenn es um Sex ging. Und keine Frau sollte sich je darauf einlassen. Ich ahnte, worauf ihre Haltung beruhte, aber sprach nie mit ihr darüber. Verständlich, warum ich Mister Unbekannt nie wieder erwähnte.

_________

Der Zug verlangsamte. Bald würde Aron zum achten Mal in meinem Abteil Platz nehmen, wie immer absolut unauffällig. Wir saßen beide nur da und starrten in unser Phone, genau wie alle Pendler. Er hielt sich auch an unsere Abmachung. Nie mehr sprach er ein Wort zu mir. Ich hätte ihm auch nicht antworten können – echt nicht. So sehr Lyn es wollte, so stark hielt Mai dagegen. Aber so war wenigstens klar: Niemals würde sich die Fantasie mit meinem realen Leben mischen. Aron blieb ausschließlich während der gemeinsamen Zugfahrt ein Protagonist in meinem Leben. Und damit bewegte ich mich eh bereits auf dramatisch dünnem Eis. Das einzig Vernünftige wäre gewesen – und ich spielte täglich mit dem Gedanken –, einen Zug früher zur Arbeit zu nehmen und Aron zu vergessen. Doch so einfach war das nicht.

Der Zug hielt. Ich erkannte ihn bereits an den Schritten seiner stabilen Schuhe, mit denen er gewiss nicht in ein Büro ging. Auch die Hose mit den verschiedenen Seitentaschen sah eher praktisch aus. Das Hemd war aus hellkariertem Stoff und konnte auch als dünne Jacke funktionieren. Praktisch eigentlich für diese Jahreszeit. Wenn die Sonne schien, fühlte es sich vorsommerlich warm an, wenn die Wolken am Himmel standen, kamen winterliche Erinnerungen hoch. Er setzte sich. Sein Hemd war nur bis zur Mitte zugeknöpft, darunter war ein eierschalenweißes T-Shirt zu sehen und ein auffälliger, dunkler Anhänger, der bis hinunter zu seinem Bauch hing. In Arons Gesicht erkannte ich ein dezentes Schmunzeln. Mein Körper hatte sich noch immer nicht an den Anblick seiner eisblauen Augen gewöhnt und so erwachte jede Zelle in mir, während ich neugierig auf die erste Nachricht wartete.

Guten Morgen, schöne Frau.

So schön bin ich gar nicht.

Das liegt im Auge des Betrachters. Aber Ich habe dir natürlich ein Wort mitgebracht. Es lautet -Begehren.

Ich brauchte einen Moment, um meine Sätze zu finden. Begehren ist die süße Schlagsahne im Kühlregal des Supermarkts. Ich weiß, sie ist da, aber ich habe keine Ahnung, wie sie schmeckt.

Aron staunte einen Moment. Dann schrieb er: Das überrascht mich. Mir schien, dein Körper kennt sich mit Begehren aus.

Nein, mein Körper weiß nichts davon. Das, was du zu kennen glaubst, ist die Fantasie in meinem Kopf. Wie viel Begehren - oder begehrt werden - kennt denn dein Körper?

Hm. Meinem Kopf gefällt nicht alles, was mein Körper kennt.

Sehr philosophisch heute, der Herr.

Verrätst du mir endlich deinen Namen?

Nein, das tue ich nicht.

Hast du dich denn inzwischen an meine Augen gewöhnt?

Ihre Wirkung auf mich ist unverändert, falls du das meinst.

Aron schien sich über meine Nachricht zu freuen und tippte: Ein bisschen quälst du mich hier schon mit deinen Worten.

Das tut mir leid, Aron. Was könnte helfen?

Ich könnte gedanklich mein Hemd aufknöpfen.

Das wäre tatsächlich hilfreich, schrieb ich, so könnten meine Hände endlich über deinen Oberkörper gleiten.

Meine Fantasie wird sehr eigendynamisch bei diesem Gedanken.

Ich antwortete: Ich kenne das. Vielleicht sollten wir …

Und Aron spekulierte: … noch einmal über den Kuss nachdenken?

Ein Businessmann setzte sich neben mich und klappte seinen Laptop auf. Ich rutschte näher Richtung Fenster und berührte dabei leicht Arons Beine. Eine Sekunde lang schaute er hoch und traf genau meinen Blick. Ein Funkeln blitzte auf und sowohl über mein als auch über sein Gesicht huschte ein Schmunzeln.

Aron schrieb mit einem Zwinkern: Was für ein beschissenes Timing.

Ich lachte kurz auf. Der Businessmann schaute irritiert. Mein Blick verbündete sich mit dem von Aron und wir genossen beide die konfuse Situation. Danach legte Aron sein Phone auf den kleinen Ablagetisch zwischen uns und schloss kurz die Augen. Was gäbe ich darum, seine Gedanken zu hören. Kurz darauf griff ich nach seinem Phone und löschte gezielt den Chat mitsamt Verlauf. Der Zug bremste bereits, ich musste los. Eilig gab ich ihm sein Telefon zurück. In der Hektik berührten sich unsere Finger, was meinen Blick in sein Gesicht lenkte. Seine Augen konfrontierten mich mit Aufrichtigkeit, Leichtigkeit, Erregung und Spaß. Eine zauberhafte Mischung.

Ich konnte es nicht leugnen, das Chaos in mir gewann die Oberhand und die Veränderung pulsierte unaufhaltsam in mir.

_________

Tatsächlich. Die Veränderung pulsierte unaufhaltsam in mir. Und das zog eine Welle von Problemen mit sich, wie ich bald realisierte.

Natürlich gab es da auch die schöne Seite der Veränderung. Das Aufregende, das mich lebendig und mutig fühlen ließ. Diese Empfindungen waren wie verlorene Anteile, die rastlos in mir kreisten. Auch Neugier machte sich breit: Was geschah mit mir? Und warum? Dabei dachte ich nicht nur an Aron – aber auch: Die Vorfreude auf das Wiedersehen, die täglichen Dialoge, das Geheimnisvolle und seine Direktheit, die jede Begegnung unberechenbar machte. Und da waren auch diese Begriffe, die er täglich wählte. Zufall, Sichtbarkeit, Lust, Zufriedenheit, Selbstbestimmung … Sie nahmen Raum in meinem Denken ein, oft an das Gefühl geknüpft, daraus würde gleich ein Aha-Erlebnis entspringen. Die Kehrseite dieser unaufhaltsamen Veränderung war meine gedankenverlorene Zerstreutheit. Mir unterliefen diese Woche viele Fehler, die meisten zu Hause. Die Pasta war versalzen, ich holte Carlos’ Magensäure-Tabletten zu spät aus der Apotheke, verpasste, ihn an seinen Arzttermin zu erinnern, und gestern Abend vergaß ich prompt, die leeren Alkoholflaschen wegzubringen. Genau dieses Leergut sollte noch zum Problem werden.

Denn auch Carlo hatte sich verändert. Vor fünf Monaten war ihm sein Job gekürzt worden. Er arbeitete nur noch nachmittags. Seither nahm die tägliche Alkoholmenge stetig zu, was mir echt Sorgen bereitete. Denn dieses Teufelszeug brachte Carlos’ anstrengendste Eigenschaft zutage. Seine Ansicht, er könnte über mich bestimmen, da ich – dem war nun mal so – tief in seiner Schuld stand. Das führte zu heftigen Eifersuchtsschüben, obwohl nicht der geringste Anlass bestand – zumindest nicht bis vor zehn Tagen.

Meine Zerstreutheit triggerte seine ständigen Zweifel aufs Neue und es waren genau diese vergessenen Flaschen, die schlussendlich zu einem Kurzschluss führten. Er hatte mich mahnend am Oberarm gepackt und genervt durch die Küche geschubst, so dass ich gegen den Esstisch stolperte, auf dem die Flaschen zum Entsorgen bereitstanden. Einige davon waren ins Wanken geraten und kurz darauf am Boden zerschellt. Im Affekt war Carlo die Hand ausgerutscht und hatte mich im Gesicht erwischt. Sein Ehering traf mich knapp neben dem Auge und ich zuckte zusammen.

Carlo war eigentlich kein gewalttätiger Mensch. Etwas dominant vielleicht und schnell in seinem Stolz verletzt, aber er war kein Schläger. Nur der Alkohol machte ihn so unberechenbar. Ähnliche Aktionen gab es schon zuvor. Vor einem Jahr sehr selten, seit einigen Monaten etwas öfter. Er verschwand dann jedes Mal sofort und später kam eine Entschuldigung.

So auch an diesem Abend. Carlo verließ wortlos die Wohnung. Ich desinfizierte die Stelle neben meinem Auge, die etwas aufgeschlagen war, und drückte ein Cold Pack dagegen in der Hoffnung, es würde nicht weiter anschwellen. Das wäre mir sehr unangenehm gewesen. Nora würde mich zwar morgen in der Mittagspause nicht mit Fragen löchern können, denn sie hatte sich den Tag freigenommen. Doch abends wollten wir – es war längst so geplant – gemeinsam ausgehen. Spätestens dann mussten die Spuren der Gewalt verschwunden und mein Auge vorzeigbar sein.

Meine Gedanken schweiften ab, zu Mister Unbekannt – zu Aron. Außer seinem Namen wusste ich nichts von ihm. Ich hatte noch nie auch nur ein einziges Wort zu ihm gesagt. Also existierte Aron im Grunde nur in meinem Kopf. Und da hatte ich mich – wieso auch immer – eingelassen auf diese … ja, auf diese Anziehung. Es war halt schon so: Ich liebte das prickelnde Gefühl in meinem Körper. Früher war meine Fantasie so bunt und ich fand jede Zone meines Körpers spannend. Nora hingegen wollte schon mit 14 Jahren am liebsten einen Pakt schließen, in dem wir uns den Männern auf ewig verweigert hätten. Ich aber blieb noch jahrelang in meinen Fantasien von Berührung, Lust und Sinnlichkeit. Doch dann verstaute ich diese Träumerei irgendwo in der tiefsten Schublade des Lebens. Mit dem Stempel: unrealistisch und unerreichbar. Carlo vermochte daran nichts zu ändern. Im Gegenteil.

Die verführerisch vorsichtige Offensive von Aron hingegen brachte nun unerwartet etwas Farbe zurück. Ich kann kaum in Worte fassen, wie liebend gern ich mich weiter auf das tägliche Abenteuer einlassen und dessen Buntheit in mir genießen würde. Doch ich wusste von Anfang an, die Sache mit Aron war ein Spiel mit dem Feuer. Und an diesem Abend wurde ich mit den Tatsachen meines Lebens konfrontiert: Mein Auge schmerzte. Carlos Ausbruch gab mir einen Vorgeschmack auf das, was mir blühen konnte, wenn er irgendwann von Aron erfuhr. Ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte: Das Abenteuer Aron war eine Sackgasse. Eine Sackgasse, die mir vorübergehend eine bunte Fantasie schenkte, aber ansonsten nur Probleme mit sich ziehen würde.

Kapitel 5

Ich trug eine schwarze Hose und darüber ein Oberteil, das meine Rundungen gleichzeitig betonte und verdeckte. Mein Haar war zum Pferdeschwanz gebunden und im Gesicht hatte ich deutlich mehr Make-up aufgetragen als das Minimum, auf das ich mich sonst beschränkte. Damit kaschierte ich aber nur die Schwellung und die Farbstufen um mein Auge herum, die noch immer an Carlos Wutausbruch erinnerten. Beim flüchtigen Blick in mein Gesicht fiel beides zum Glück nicht auf. Aron schaute aber nicht flüchtig, als er sich zur gewohnten Zeit mir gegenüber hinsetzte.

Was ist mit deinem Auge?

Gibst du mir heute kein Wort?

Ich gebe dir eine Frage: Was ist passiert?

Wollen wir nicht da weitermachen, wo wir gestern stehengeblieben sind?

Nein. Ich würde gerne wissen, ob dich jemand geschlagen hat.

Aron ließ sich nicht ablenken. Er forderte eine Erklärung, die ich ihm unmöglich geben konnte. Ich fühlte mich überfordert. Wie sollte ich reagieren? Bald spürte ich etwas Schwermut, die mich umhüllte. Vermutlich war der Moment gekommen, meine Zweifel zu benennen. Ich schrieb: Die ganze Sache hier wird kompliziert.

Wer hat dir das angetan?